Joe R. Lansdale

Straße der Toten

Deutsch von

Robert Schekulin & Doreen Wornest

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Impressum

DEADMANS ROAD

Die Originalausgabe ist 2010 bei Subterranean Press erschienen.

Dead in the West | Erstdruck in Eldritch Tales 10-13 (1984-1987)

»Deadmans Road« | Erstdruck in Weird Tales 343 (Februar/März 2007)

»The Gentlemans Hotel« | Erstdruck in The Shadows, Kith and Kin

(Subterranean Press, 2007)

»The Crawling Sky« | Erstdruck in Son of Retro Pulp Tales

(Subterranean Press, 2009)

»The Dark Down There« | Erstdruck in Deadmans Road

(Subterranean Press, 2010)

Robert Schekulin übersetzte das Vorwort und den Roman Dead in the West,

Doreen Wornest die vier längeren Erzählungen.

© 2010 by Joe R. Lansdale

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2013 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektur: Hellfrid Niesche

Titelbild: Steffen Winkler [www.ste-comic.de]

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]

Satz und E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-56-1 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-942396-70-7 (E-Book)

Inhalt

Impressum

Widmung

Der Reverend reitet und reitet und reitet ...

DEAD IN THE WEST

1. Teil: Der Reverend

2. Teil: Die Zusammenkunft

3. Teil: Das letzte Gefecht

STRASSE DER TOTEN

DAS GENTLEMAN’S HOTEL

DER SCHLEICHENDE HIMMEL

TIEF UNTER DER ERDE

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Phantastik im Golkonda Verlag

Widmung

Die ursprüngliche Version von Dead in the West erschien in den Ausgaben 10 bis 13 von Eldritch Tales. Es war eine Hommage an die Pulps, besonders an Weird Tales. Die vorliegende, grundlegend überarbeitete Fassung ist nicht nur eine Hommage an die Pulps, sondern auch an Comics wie die berühmt-berüchtigten von EC und Jonah Hex (die frühen Hefte), und vielleicht vor allem an Horror-B-Movies wie Curse of the Undead, Billy the Kid Versus Dracula, Jesse James Meets Frankenstein’s Daughter und dergleichen.

Die erste Version von Dead in the West war Al Manachino gewidmet. Diese Version hier ist für meinen Bruder, John Lansdale, der viele gute Vorschläge machte, die ich meist beherzigt habe, manche davon – er möge mir verzeihen – aber auch nicht.

Also, dieses Buch ist für dich, John. Hoffentlich gefällt es dir.

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Die Stunde ist gekommen, Abschied zu nehmen

von diesem Körper aus Fleisch und Blut.

Möge ich erkennen, dass der Körper vergänglich ist

und rein äußerlich.

– Tibetanisches Totenbuch

Aber wir konnten Lazarus nicht halten,

denn er schüttelte uns ab,

und gezeichnet vom Bösen ging er eilig davon;

die Erde, die seinen Leichnam beherbergt hatte,

gab Lazarus lebendig wieder frei.

– Nikodemus 15, 18 (Ein verlorenes Buch der Bibel)

Vor Gespenstern und Geistern

und langbeinigen Biestern

und nächtlichen Heimsuchern

beschütze uns, o Herr.

– Altes schottisches Gebet

Der Reverend reitet und reitet und reitet ...

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Als ich klein war, mochte ich Comics, und ich mochte Filme, und am meisten mochte ich Bücher und Geschichten überhaupt. Die ersten beiden Vorlieben brachten mich zu den Büchern, und obwohl mir dann Bücher und Geschichten wichtiger wurden, blieb ich auch meiner Liebe zu Comics und Filmen treu. Sie beeinflussten meine eigenen Sachen, vor allem die frühen.

Von den Comics war ich ganz besonders hingerissen, weil sie sich nicht ums Genre scherten. Es konnte alles darin vorkommen, munter vermischten sie Western mit Science Fiction, Fantasy, Horror und sogar mit Liebesgeschichten. Und mit Historischem, aber das war manchmal fragwürdig.

Jedenfalls vermischten sie die Genres. Sie waren schön bunt, und das gefiel mir.

Bei den Filmen war es so, dass ich mir einfach alles anschaute, ob Musical, Liebesfilm, Krimi, Drama oder Komödie, am liebsten aber alles irgendwie Phantastische. Die Universal-Horrorfilme begeisterten mich, aber es zog mich auch zu den eher trashigen Filmen von Leuten wie Roger Corman.

Ich war völlig begeistert von diesem Zeug, und es setzte sich tief in meinem Hirn fest.

Am populärsten waren damals wohl Westernfilme. Erstaunlich, dass es heute nur noch so wenige gibt. Im Fernsehen tummelten sich die Westernserien wie Ameisen auf einem Marmeladenbrot beim Picknick. Am besten waren Gunsmoke, Maverick, Have Gun, Will Travel, Rawhide, Wagon Train, Wanted Dead or Alive (mit Steve McQueen), Bonanza und The Westerner – hoffentlich habe ich den letzten Titel richtig im Kopf, Sam Peckinpah hatte die Serie konzipiert, und der überaus sympathische und ebenso unterschätzte Brian Keith spielte den Helden. Weitere gute, vielleicht nicht ganz so gute Serien waren Cheyenne, Sugarfoot, The Virginian und Bronco, und das sind jetzt von diesen ganzen Serien, die ich regelmäßig oder gelegentlich anschaute, nur diejenigen, die mir spontan einfallen. Auch an The Lawman kann ich mich noch erinnern – dafür schrieb, glaube ich, der große Richard Matheson Drehbücher –, an Laramie, an Tales of the Texas Rangers und so weiter. Sie merken schon, worauf ich hinaus will. In den Sechzigern gab es jede Menge Western.

Später kamen dann wunderbare schräge Western wie Wild Wild West dazu, kein bisschen ernst gemeint, aber aufregend, gut gemacht und originell. »Weird Western« könnte man sagen. Ich war ja bereits Western-Fan, aber das war nun wirklich was ganz Besonderes. Es setzte sich mir, genau wie meine Vorliebe für Horror, tief im Gehirn fest ... und wartete ab.

Auf der großen Leinwand waren Western ebenfalls vertreten. Sogenannte A-Movies und B-Movies. Ich schaute sie mir haufenweise an. Das konnte man damals auch, weil es gar nicht so ungewöhnlich war, samstags in die Nachmittagsvorstellung zu gehen und anschließend sitzen zu bleiben und sich die Doppelvorstellung danach reinzuziehen. Ich verbrachte nicht selten den ganzen Tag im Kino. Und oft schaute ich mir einen Western an. Wenn ich an so einem Samstag drei Filme hintereinander sah, konnte es passieren, dass alle drei Western waren.

Damals dauerte es länger, bis die Kinofilme ins Fernsehen kamen. Heute wird ein Film, der nicht mehr im Kino läuft, schon im Fernsehen gezeigt, sobald die DVD auf dem Markt ist, was einem manchmal vorkommt, als wäre es nur ein paar Wochen nach dem Kinostart. Daran habe ich mich immer noch nicht gewöhnt.

Damals mussten wir warten.

Einer jener B-Western, auf die ich wartete, hieß Curse of the Undead. Im Kino hatte ich ihn verpasst. Spät abends sah ich ihn dann irgendwann, und die Grundidee schlug bei mir ein wie ein Blitz. Ein Vampir im Wilden Westen. Au weia!

Inzwischen habe ich den Film mehrmals gesehen, und die Zeit ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Die Spezialeffekte wirken heute eher dürftig. Und überhaupt war er von Anfang an nicht so besonders. Aber der Hauptdarsteller war eben der Typ aus der Serie Rawhide, und der Vampir war echt gruselig. Er hatte auch etwas sehr Menschliches an sich. Er benutzte sowohl seine Zähne als auch seinen Revolver, und er war verliebt. Der Film setzte sich tief in meinem Hirn fest, und dort schwelte er.

Andere »Weird Western« waren Jesse James Meets Frankenstein’s Daughter oder Billy the Kid Meets Dracula.

Als Comic-Fan las ich Jonah Hex, das zwar nicht wirklich so schräg war, wie ich es hinterher in Erinnerung behielt, aber irgendwie merkwürdig, mit einem merkwürdigen Helden.

All diese Vorlieben rotteten sich in meinem Hinterkopf zusammen, umschlangen sich und balgten miteinander, wie ein Alligator sich mit seiner Beute im Wasser wälzt, wenn er sie nach unten drückt.

Und dieser Alligator wälzte sich weiter.

Dann, eines Tages in den späten Siebzigern, bekam ich Curse of the Undead wieder mal im Fernsehen zu sehen, und ich dachte bei mir: Na ja, ganz nett, aber das könnte ich besser, wenn ich einen Film drehen könnte. Und die Idee, ein Drehbuch für einen Weird Western zu schreiben, war geboren.

Das Problem war nur, dass mir niemand eine Filmvorlage abkaufen würde. Ich hatte noch nie ein Drehbuch geschrieben, ich las keine, ich wusste kaum darüber Bescheid, und obendrein hatte ich zu der Zeit noch nicht mal einen Roman verkauft.

1980 schrieb ich dann einen Roman mit dem Titel Act of Love, außerdem fünfzig Seiten eines weiteren, den ich letztendlich The Nightrunners nennen sollte (ursprünglich hieß er Night of the Goblins), und innerhalb von fünfzehn Tagen verfasste ich Dead in the West, den Weird Western, der mir im Kopf herumgespukt war. Er war wie das B-Movie geschrieben, das ich gerne gemacht, das ich gerne gesehen hätte, und erschien als Fortsetzungsgeschichte in mehreren Folgen in Eldritch Tales.

Da es ein gewisses Interesse an der Verfilmung dieses Fortsetzungswesterns gab, verfasste ich in einer langen Nacht ein komplettes Drehbuch, ohne vorher jemals in eines reingeschaut zu haben. Für das Drehbuch änderte ich ein paar Dinge ab. Es wurde ziemlich gut.

Aber es wurde nie ein Film daraus. Immerhin fand es Beachtung, was mich dazu brachte, aus der Drehbuchfassung den Roman zu machen, den Sie hier in Händen halten. Er ist ein bisschen anders als die ursprüngliche, derbere und trashigere Fassung. Später habe ich das Drehbuch noch etwas überarbeitet, und im Laufe der Jahre habe ich auch den Roman noch etwas aufpoliert.

Als der Roman erstmals erschien, war das beim Verlag Space and Time, dessen Lektorat einiges im Text veränderte. Plötzlich waren da jede Menge Strichpunkte, und wo ich »sagte« hingeschrieben hatte, stand nun manchmal ein »murmelte« oder »antwortete« oder so.

Ich habe nichts gegen Strichpunkte. Ich setze selbst gelegentlich ein Semikolon. Aber mir waren es jetzt viel zu viele. Ich schmiss sie möglichst wieder raus, aber die Zeit bis zur Deadline war knapp, und so blieben doch ein paar drin, und auch das eine oder andere »murmelte«. Den Lektor trifft keine Schuld. Die Schuld liegt bei mir. Ich hätte sorgfältiger arbeiten müssen.

In der vorliegenden Fassung sind nun möglichst alle überflüssigen Strichpunkte und jegliches unnötige Gemurmel eliminiert. Schund hin oder her, es gibt gut Geschriebenes, und es gibt schlecht Geschriebenes, und wer statt »sagte er« oder »sagte sie« andere Wörter verwendet, schafft nur Verwirrung.

Niemand kann tatsächlich einen Satz knurren oder grunzen. Versuchen Sie’s mal. Sie können knurren oder grunzen, und sie können dabei vielleicht auch etwas murmeln oder nuscheln, aber normalerweise geht das einfach nicht. Und es lenkt mich beim Lesen ab. Ich kann es nicht leiden, beim Lesen dauernd das Gefühl zu haben, dass gleich wieder irgendein Ersatzwort für »sagte« kommt.

... bemerkte er.

... erwiderte er.

... befahl er.

... murmelte er.

... knurrte er.

... grunzte er.

... furzte er. (Kleiner Scherz.)

Und so weiter.

Noch schlimmer wird es, wenn man nicht nur die Schlichtheit des »sagte« beseitigt, sondern auch alle Klarheit, mit Formulierungen wie:

... reagierte er begeistert.

... sprach er mit absoluter Deutlichkeit.

... schnaubte er vernehmlich.

... jaulte er entrüstet.

Wuff! Wuff!

Ja, ich weiß, auch viele von mir geschätzte Autoren verwenden diese Dinger, aber ehrlich gesagt, mich nerven sie. Selbst wenn sie mich mal nicht so stören, versuche ich dann doch immer wieder, einen Satz zu jaulen oder zu grunzen, zu knurren, zu schnarren oder auszuspucken (echt schwierig), und, na ja, das hört sich dann alles nicht so schön an.

Schlechter Stil wäre auch, so was wie »... reagierte sie begeistert« hinzuschreiben.

Wenn die Reaktion begeistert war, dann müssen mir die Figuren und die ganze Szene das vermitteln, und nicht erst ein Hinweis am Ende des Satzes. So was ist schlicht Faulheit.

Wie auch immer, solche Dinge habe ich geändert. Sollten mir jedoch ein paar davon durch die Lappen gegangen sein, so nehmen Sie das meinem Büchlein bitte nicht übel. Ich habe mein Bestes getan, alles so hinzukriegen, wie es eigentlich gedacht war, habe also bloß Einzelheiten geändert und nichts groß umgeschrieben.

Jedenfalls liest sich das Ganze nun doch ganz flott und unterhaltsam, und darauf bin ich stolz.

Obwohl in einem Kleinverlag veröffentlicht, fand der Roman einige Beachtung; es gab über die Jahre mehrere Filmoptionen, zuletzt erwarb ein französischer Filmemacher eine für gutes Geld und ... machte nichts daraus. Es wurde nie verfilmt. Das Drehbuch habe ich immer noch.

Eine Schande. Da würde ein netter kleiner Film draus.

Aber ich glaube, es wurde auch ein nettes kleines Buch draus.

Im Laufe der Jahre wurde ich oft ermuntert, doch noch ein weiteres Buch über den Reverend zu schreiben. Aber mir fehlte immer die zündende Idee dafür.

In letzter Zeit hatte ich aber einige Ideen für kürzere Erzählungen, die zeitlich nach dem Roman spielen. In diesen Geschichten ist der Reverend ein noch viel finsterer, ein richtig verbohrter und verbitterter Typ, der nicht lange fackelt. Obwohl man sagen muss, dass sich das in der letzten Geschichte – »Tief unter der Erde« wird hier erstmals veröffentlicht – wieder etwas aufhellt und sich der Reverend da von einer etwas anderen Seite zeigt.

In Ihren Händen halten Sie hiermit alle Geschichten über meinen revolverschwingenden Prediger, der im Kampf gegen das Böse durch den Wilden Westen zieht. Vielleicht wird es ja weitere geben. Zum Beispiel würde ich ganz gerne mal erzählen, was passiert, wenn er meinem anderen Helden über den Weg läuft, dem Gott der Klinge. Wer weiß ...

Ein Letztes noch. Beim Schreiben dieser ganzen Geschichten habe ich einmal den Namen des Reverend vergessen. Ich habe dann einen Namen aus einem schnell runtergeschriebenen Western verwendet, den ich als Ray Slater verfasst hatte, ein Roman mit dem Titel Texas Night Riders. Das wurde mir aber erst bewusst, als ein Rezensent mich darauf ansprach. Jenen Namen, Rains, hatte ich noch im Kopf, und ich benutzte ihn anstelle von Reverend Mercers richtigem Namen. Keine Ahnung, warum. Dead in the West ist ein deutlich besseres Buch als Texas Night Riders, trotzdem hatte ich jenen Namen noch im Kopf und habe die beiden im Unterbewusstsein verwechselt. Dies nur zur Erklärung, falls Sie sämtliche Geschichten kennen – außer der einen hier erstveröffentlichten – und sich gefragt haben, ob Rains und Mercer wohl dieselbe Figur sind, weil sie sich so sehr ähneln.

Die Antwort lautet ja.

Es war nur eine Namensverwechslung, und das habe ich nun, zum Nutzen und Frommen aller Unschuldigen oder Schuldigen, korrigiert. Jetzt ist alles so, wie es sein soll.

Ich wünsche Ihnen beim Lesen ebenso viel Vergnügen, wie ich beim Schreiben hatte. Diese Geschichten sind so was wie ein Rückfall in die Ära der Pulps. Sie sollen nicht groß zum Nachdenken anregen, sondern vor allem Spaß machen. Es sind traditionell und zügig erzählte, spannende und ziemlich brutale Geschichten.

Wenn Sie so etwas mögen – und ich hoffe es –, dann sind Sie hier richtig.

Und, wer weiß, vielleicht wird es irgendwann ja weitere Geschichten um den Reverend geben.

Auch das hoffe ich.

Doch genug jetzt.

Viel Spaß, oder wie Roy Rogers und Dale Evans immer sagten: »Hals und Beinbruch.«

Joe R. Lansdale (höchstpersönlich)

DEAD IN THE WEST

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Prolog

Nacht. Ein schmaler, von Bäumen gesäumter Postkutschenweg schmiegt sich in einer langgezogenen Linkskurve an ein dunkles Kiefernwäldchen. Mondlicht, ab und an verdeckt durch dahinziehende Wolken. Von Weitem wird allmählich eine Stimme vernehmbar.

»Ihr verdammten, hasenfüßigen, furzenden, langohrigen Maultiere! Ihr Esel! Los, schneller, ihr faulen Biester!«

Eine Kutsche kam um die Kurve gerattert. Wie riesige Glühwürmchen schaukelten beiderseits des Kutschbocks die Laternen. Unter lautstarkem Schimpfen wurde sie langsamer und kam schließlich am Rand des osttexanischen Kiefernwäldchens zum Stillstand.

Bill Nolan, der Kutscher, wandte sich mit dem guten Auge Jake Wilson zu, seinem bewaffneten Beifahrer. Ein Indianerpfeil hatte ihm das andere Auge genommen, und eine Augenklappe verdeckte die leere Höhle.

»Also, beeil dich, verdammt«, sagte Nolan. »Wir sind spät dran.«

»Ich hab das Rad nicht abgerissen.«

»Aber beim Radwechsel hast du auch nicht groß geholfen. Jetzt geh schon pissen!«

Jake stieg vom Kutschbock und schlenderte zum Waldrand.

»He!«, rief Nolan, »warum gehst du so weit weg?«

»Es sind Damen anwesend.«

»Brauchst ja nicht in die Kutsche pissen, verdammter Schwachkopf.«

Jake wurde vom Wald verschluckt.

Ein eleganter junger Herr streckte den Kopf aus dem rechten Seitenfenster.

»Hey«, sagte er, »reden Sie nicht so. Es sind Damen anwesend.«

Nolan beugte sich zu dem jungen Mann hinab. »Hab ich schon gehört. Aber ich sag Ihnen was, Sie Kleingeld-Zocker: Die Dame da neben Ihnen, Lulu McGill, die würd Ihnen für ’n Dollar vorn einen blasen und Sie hinten lecken.«

Dem Glücksspieler fiel die Kinnlade herunter, aber bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, riss ihn eine Frauenhand ins Wageninnere, und Lulu ließ ihren betörenden Rotschopf sehen.

»Gottverdammich, Bill Nolan«, sagte sie, »so was hab ich mein Leben nich für ’n Dollar gemacht, und das weißt du genau, und jetzt bin ich eine Dame.«

»Was du nicht sagst.«

Lulu wurde wieder ins Wageninnere gezerrt, und statt ihrem Kopf erschien nun erneut der des Spielers. »Sie ist nicht die einzige Frau in der Kutsche«, sagte er.

Von innen war Lulus schrille Stimme zu hören: »Soll das heißen, ich bin doch keine Dame, du Arschloch?«

»Und da ist auch noch ein junges Mädchen«, fuhr der Spieler fort, »und wenn die nicht gerade schlafen würde, bekämen Sie’s jetzt mit mir zu tun. Haben wir uns verstanden?«

Nolans rechte Hand tauchte kurz ab und kam mit einem alten Walker-Colt wieder hoch, den er nun auf den Spieler richtete.

»Hab schon verstanden«, sagte Nolan. »Aber bleiben Sie lieber ganz leise. Nicht dass das Mädchen noch aufwacht, und Sie müssen hier den Helden spielen. Ich würd Ihren blöden Schädel nämlich glatt auf den Weg hinter uns pusten, und das wollen wir doch nicht, oder? Also ziehen Sie schön wieder den Kopf ein und halten die Klappe.«

Der Glücksritter zog den Kopf ein und nahm wieder Platz, hob seine Melone vom Polster neben sich und setzte sie, etwas weniger keck als zuvor, wieder auf.

Millie Johnson, die attraktive Brünette ihm gegenüber, starrte ihn an. Das schlafende Mädchen, Mignon, hatte den Kopf auf ihren Schoß gelegt. Und neben ihm kochte Lulu vor Wut.

Er riskierte einen Blick. Ihre Zornesröte wetteiferte mit ihrer Haarfarbe.

»Du bist ja wirklich ein toller Hecht«, sagte sie.

Der Spieler sah zu Boden.

Nolan verstaute den Colt wieder und steckte sich eine Zigarre in den Mund. Er holte seine Taschenuhr hervor und klappte sie auf, zündete ein Streichholz an und sah auf die Uhr. Seufzend steckte er sie wieder weg und schaute in die Richtung, in die Jake verschwunden war.

Nichts zu sehen.

»Kann der nicht in den Wind pissen wie jeder echte Kerl?«, sagte Nolan und zündete sich die Zigarre an.

Jake wedelte den letzten Tropfen von seiner Palme und knöpfte sich den Hosenladen zu.

Als er sich umdrehte, um zur Kutsche zurückzustapfen, sah er in der Nähe einen Strick an einem Ast baumeln. Vorhin hatte er ihn gar nicht bemerkt, doch jetzt war der Mond hervorgekommen, und er konnte ihn deutlich erkennen. Er ging hin und berührte das Seil, zog daran, fuhr mit der Hand an der Schlinge entlang – und hatte sich prompt die Haut aufgerissen.

»Auuu.«

Er drückte sich die wunde Stelle an den Mund und saugte daran. Während er sich von dem Seil abwandte, krabbelte eine große spinnenähnliche Kreatur daran herunter, von einem Ast über Jakes Kopf bis dorthin, wo sein Blut die Hanffasern benetzt hatte. Das Spinnending leckte am frischen Blut. Und veränderte sich. Wurde größer, plumpste vom Seil, wand sich am Boden, veränderte sich weiter. Am Ende seiner Verwandlung schlüpfte es rasch ins Dickicht des Waldes.

Von all dem bekam Jake nichts mit. Er ging einfach weiter, bis er beinahe wieder am Straßenrand angelangt war. Als er gerade aus dem Gestrüpp ins Freie treten wollte, wuchs eine Gestalt vor ihm empor. Etwas Menschenähnliches.

Jake sperrte den Mund auf, um zu schreien. Vergeblich. Er kam nicht mehr dazu.

Nolan gähnte.

Verdammt. Er wurde müde. Echt müde.

Er schmiss den Zigarrenstummel weg.

Kramte eine neue Zigarre und ein neues Streichholz hervor. Öffnete wieder seine Taschenuhr, zündete ein Streichholz an und hielt es dicht ans Ziffernblatt.

Eine riesige Hand mit langen Nägeln legte sich darüber, erstickte die Flamme und zerquetschte in einer einzigen Bewegung die Uhr mitsamt Nolans Fingern. Uhr und Finger knackten und knirschten laut. Noch lauter schrie Nolan. Aber nur kurz.

Dann waren die Fahrgäste dran.

Später, mitten in tiefster Nacht – der Mond war inzwischen völlig von dunklen Wolken verdeckt, und die Sterne leuchteten so matt wie blinde Augen –, rollte die längst überfällige Postkutsche aus Silverton endlich in Mud Creek ein. Der Kutscher auf dem Bock trug einen dunklen Umhang und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen.

Niemand stieg aus. Keine Freunde oder Verwandte kamen herbei, um die Fahrgäste zu begrüßen. Die verspätete Ankunft wurde überhaupt nicht bemerkt, denn man hatte die Kutsche schon vor Stunden abgeschrieben.

Die Pferde schnaubten und rollten verängstigt mit den Augen. Der Kutscher zog die rostige Bremse an und ließ die Zügel fallen. Lautlos und sanft wie eine Staubwolke stieg er ab.

Der Mann ging nach hinten und warf die Gepäckdecke zurück. Eine lange Kiste ragte schief darunter hervor. Er riss sie an sich und hievte sie sich auf die Schulter. Und als wäre die Kiste nicht mehr als ein trockenes Holzscheit, rannte er damit mitten auf der Straße zur Pferdestation hinüber, wobei seine Stiefel kleine kurzlebige Staubteufelchen aufwirbelten.

Eine Türangel quietschte, und dann war es, abgesehen vom Schnauben der Kutschpferde und einem fernen Donnergrollen über den schwarzgrauen Wäldern von Osttexas, wieder still.

1. Teil: Der Reverend

Und er weiß nicht, dass Totengeister dort hausen ...

– Sprichwörter 9, 18

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