Nr. 2832
Der Gegner in mir
Drei Parteien wollen die Herrschaft über die ATLANC – die Tochter der Synkavernen findet ihre Bestimmung
Marc A. Herren
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.
Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.
Atlan, der unsterbliche Arkonide, will dem Tribunal in dessen Machtzentrum gegenübertreten, um die Wahrheit zu erfahren. Bis zur Passagewelt Andrabasch ist er bereits vorgestoßen, doch dort lauert auch DER GEGNER IN MIR ...
Atlan – Der Arkonide sucht einen Weg aus der WEYD'SHAN.
Shukard Ziellos – Der Genifer kämpft gegen einen übermächtigen Gegner.
Vogel Ziellos – Der Genifer will zusammen mit Lua die ATLANC retten.
Lua Virtanen – Ihre Bestimmung liegt in ihren Genen.
Erster Nachmittag.
Zeitrechnung der Cüünen
»Wollen Sie nicht einen Moment lang stehen bleiben?«, fragte mich Amtum Hehre von Orbagosd. »Ich bin mit Ihrer Psyche zwar nur unzulänglich vertraut, aber ich denke, Sie sollten ein wenig zur Ruhe kommen.«
Ich schüttelte den Kopf. Ging weiterhin nervös auf und ab, wie ich es seit einer gefühlten Stunde tat. Um uns lagen die toten Cherrenped'shan. Bei manchen von ihnen musste ich bei der wilden Schießerei Teile des Verdauungstraktes getroffen haben. Von ihnen ging ein bestialischer Gestank aus.
Was hatte ich nur getan? Wie hatte ich dermaßen ausrasten können?
Du hast dein Leben gerettet, sagte die finsterkalte Stimme prompt. Dein Leben, mein Leben. Das Leben der beiden Cüünen.
Die Stimme war jene des Balgfetzens, den ich im Moment der größten Not unter mein Hemd geschoben hatte. Nun saß er da, mitten auf meiner Brust, teilweise auch in meiner Brust. Ich spürte haarfeine Auswüchse, die sich tief in die Haut gebohrt hatten.
Der Balgfetzen nährte sich an mir, von mir. Er wurde von Minute zu Minute stärker. Seine Gedankenkraft, mit der er mich ausfüllte, mich immer stärker kontrollierte, nahm im gleichen Maße zu.
Zuerst hatte er mir nur Kraft gegeben. Kraft und den Willen, mich aus der scheinbar ausweglosen Situation zu befreien, nachdem wir von den Cherrenped'shan massiv angegriffen worden waren.
Mittlerweile war der Balg ein Teil von mir. Er war mein Symbiont, ich sein Wirtskörper. Seine Worte füllten meinen Schädel, überlagerten meine eigenen Gedanken, sodass ich sie manchmal kaum hörte.
Dabei war ich mir gar nicht mehr sicher, ob es tatsächlich seine Worte waren oder ob mein eigener Geist sie aufgrund der Gedankenwelten des Balgs ausformulierte.
Letztlich war es nebensächlich.
Ich musste den Balg loswerden, so schnell es ging.
Du musst mich nicht loswerden. Wir sind eine Gemeinschaft. Ich helfe dir, und du hilfst mir.
Nein, gab ich zurück. Wir sind keine Gemeinschaft. Ich bin ich. Ich benötige deine Hilfe nicht mehr. Ich will dich nicht in mir haben!
Ich überlegte krampfhaft, was ich tun konnte, um das Ding an meiner Brust loszuwerden. Der Balg wartete auf Atlan. Auf ihn hatte er es abgesehen.
Atlan war bisher nicht von seiner Audienz beim Pensor zurückgekehrt. Wie viel Zeit blieb mir, um das Unglück abzuwenden? Stunden? Minuten? Sekunden?
Ich blickte zu den Cüünen.
Waren sie der Schlüssel zu meiner Rettung? Seit ich die Cherrenped'shan niedergemäht hatte, ließen mich Amtum und Gosgad nicht mehr aus den Augen. Sie hatten mitbekommen, dass bei mir etwas nicht mehr stimmte. Aber sie hatten nicht bemerkt, dass ich den Balgfetzen an mich genommen hatte. Die Cüünen gingen davon aus, dass ich aufgrund der ausgestandenen Todesangst geistig durchgedreht war.
Was sollte ich also tun?
»Amtum Hehre von Orbagosd, ich muss Sie ...«
Eiseskälte ging von meiner Brust aus, raste durch den Körper, die Wirbelsäule hinauf und explodierte in meinem Kopf. Ich stolperte, fiel ächzend auf die Knie, krümmte mich unter Schmerzen zusammen.
Die Cüüne rollte augenblicklich zu mir. Ich fühlte ihre starken Arme, die mich an sie zogen.
»Tun Sie etwas! Stehen Sie nicht nur herum!«, herrschte sie Gosgad an.
Durch einen Tränenschleier sah ich, wie der Cüüne ebenfalls zu uns kam. Fast scheu streckte er eine Hand nach mir aus und tätschelte meinen Kopf. »Es ist gut, Shukard«, sagte er. »Sie haben nur getan, was Sie in diesem Moment tun mussten. Sie konnten nicht wissen, dass wir die Cherrenped'shan früher oder später hätten zurückdrängen können.«
»Hätten wir das?«, hörte ich Amtums Stimme sagen. »Mir schien, wir waren nicht gerade im Vorteil, als der junge Mensch in das Geschehen eingriff. Gut möglich, dass er uns das Leben gerettet hat.«
Die Cüüne wiegte mich in ihren Armen wie ein kleines Baby. Seltsamerweise genoss ich die Berührung. Die Kälte, die der Balg durch die Nervenbahnen direkt in mein Hirn geschickt hatte, ebbte langsam ab. Ich konzentrierte mich auf die Wärme, die von Amtums Händen und Armen ausging.
Dann drückte sie mich von ihr weg, betrachtete mich mit aufmerksamem Blick. »Geht es Ihnen wieder etwas besser? Was wollten Sie vorhin sagen, bevor Sie gestürzt sind?«
»Ich ...«
Sofort schoss die Kälte zurück in meinen Kopf. Sie erinnerte mich auf eine perverse Art an das Gefühl, wenn ich als Kind etwas zu hastig gefrorene Speisen in mich geschaufelt hatte. Nur dass die Kälte, die der Balg in meinem Hirn explodieren ließ, um ein Vielfaches stärker war.
»Lassen Sie ihn erst einmal zum Atmen kommen, bevor Sie ihn weiter verhören«, sagte Gosgad, der mir wieder den Kopf tätschelte.
»Ich denke nicht, dass Sie gerade eine große Hilfe sind, Gosgad Hehrer von Trynn! Es wäre besser, wenn Sie den Eingang zu dieser Lagerhalle kontrollierten. Womöglich ist es den Cherrenped'shan gelungen, Verstärkung anzufordern, als der Junge begann, sie abzuschießen.«
Gosgad kratzte sich am Hals. »Wäre es dann nicht besser, wenn wir uns von hier zurückziehen würden?«
»Damit uns Atlan suchen muss, wenn er zurückkehrt?«
»Da haben Sie auch wieder recht.«
Gosgad wandte sich ab und ging zu der Öffnung im Technogeflecht, die ich geschaffen hatte, als wir die Lagerhalle betraten.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Amtum Hehre von Orbagosd.
»Es geht ... besser«, brachte ich heraus.
Ich wartete auf einen neuen Angriff des Balgs, aber der kam nicht.
Wir sind eine Gemeinschaft, säuselte der Balg in meinen Gedanken. Ich greife dich nicht an, und du greifst mich nicht an. So einfach ist es.
Ich stöhnte. Wie um alles in der Welt besiegte man einen Gegner, der sich im eigenen Kopf ausbreitete?
Gar nicht. Man unterlässt es. Man akzeptiert die Situation, wie sie ist.
Amtum sah mich besorgt an. Dann deutete sie auf meinen Rucksack. »Sie haben doch dieses medizinische Notfallset in Ihrem Beutel. Gibt es darin auch Mittel gegen ... gegen psychische Notfälle? Etwas, das Ihren Schock mindert?«
Ich schüttelte träge den Kopf. »Nein, das nicht. Nur gegen Wunden und andere Verletzungen.«
»Kann ich sonst etwas für Sie tun?«
Sofort spürte ich, wie der Balg in mir aufmerksam wurde. Auf jedes falsche Wort, auf jeden falschen Gedanken würde er sofort reagieren, mir die engen Grenzen aufzeigen, in denen ich mich von nun an zu bewegen hatte.
Doch, da gibt es etwas, das die Cüüne für dich, für uns, unternehmen kann.
Und was ist das?, fragte ich zurück.
Sie muss die Reste von mir zerstören!
»Wie?«, rief ich. In meiner Verblüffung hatte ich laut gesprochen.
»Ich fragte Sie, ob ich sonst etwas für Sie tun kann, Shukard«, wiederholte Amtum prompt ihre Frage.
In meinem Kopf entstanden Gedankenbilder, in denen der Balg mir zeigte, was er von mir erwartete.
»Für mich nicht«, sagte ich dann. »Aber es könnte sein, dass von Veyqens Umhang immer noch eine Gefahr ausgeht. Wir sollten die Überreste vernichten, bevor Atlan zurückkehrt.«
»Und wie sollten wir das tun?«
Ich deutete auf die Feuer, die im hinteren Teil des Lagers nach wie vor schwelten. »Wir könnten sie verbrennen. Passen Sie aber auf, dass Sie nicht mit ihnen in Berührung kommen!«
Die Cüüne sah mich einen Moment lang verblüfft an. »Das sollte ich bewerkstelligen können. Allerdings dachte ich mehr an Ihre eigene Gesundheit.«
Ich versuchte mich an einem Lächeln. »Mir geht es wieder etwas besser. Es war nur ... die Aufregung. Sie verstehen?«
Ich fühlte mich tatsächlich besser. Viel besser. Der Balg belohnte mich dafür, dass ich seine Anweisungen eins zu eins umgesetzt hatte. Die Eiseskälte verschwand aus meinem Hirn. Dafür strömten neue Kräfte durch meinen Körper.
»Ich verstehe«, sagte Amtum.
Sie fuhr ihren Waffenarm aus und rollte zu dem Podest, in dessen Nähe die restlichen Fetzen des Balgs am Boden lagen. Die ledrige Haut sah harmlos aus.
Was hatte der Balg vor? Wollte er auch die beiden Cüünen geistig übernehmen? Im Biologieunterricht hatten wir einmal Lebewesen durchgenommen, die sich durch Teilung vermehrten. Sie trennten Teile von sich ab, aus denen identische Kopien entstanden. War der Balg in der Lage, das Gleiche zu tun?
Nein, das bin ich nicht, sagte die finsterkalte Stimme des Balgs. Wir beseitigen nur ein paar Spuren.
Vorsichtig sammelte Amtum die Fetzen mit ihrem Waffenarm auf und rollte mit ihnen in den hinteren Teil des Lagerraumes, wo die Cüüne sie in die schwelenden Flammen warf.
Amtum beobachtete ihr Werk einige Sekunden, dann kam sie zurück.
»Sie sind zerstört. Haben wir die Gefahr damit endgültig gebannt?«
»Ja, das haben wir«, sagte ich, einem Impuls meines Symbionten folgend.
Wärme durchflutete meinen Körper. Der Balg war zufrieden mit mir.
*
Lua Virtanen gab sich alle Mühe, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Aber die Aufregung ließ sie nicht los: die unheimliche Nähe zu dem Tolocesten, das in seiner Intensität schwankende Sirren der Technoklause; Vogel Ziellos, der einen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte, dessen Hand sich aber eiskalt anfühlte und heftig zitterte.
Sie waren unterwegs in den sagenumwobenen Sektor T, die Heimat der Tolocesten in der ATLANC. Über ihre mit tt-Progenitoren aufgerüstete Haarsträhne hatte Lua von Vor der Atomwachts Plänen erfahren. Er wollte mit ihnen durch die Synkavernen zu den Introversen Gefilden vorstoßen, um die zerstörerischen Machenschaften der radikalen Pioniere, Infininauten genannt, zu unterbinden.
Falls ihre Mission fehlschlug, war die ATLANC dem Untergang geweiht. So hatte sich die Lage jedenfalls präsentiert, als Lua und Vogel von ihrer Expedition in das Richterschiff zurückgekehrt waren. Lua fragte sich immer wieder, ob die Pioniere tatsächlich so blöde sein konnten, die Existenz ihrer aller Heimat zu gefährden.
Andererseits hatte sie den Auftritt von Morgaine Sternenwaag im Unsteten Turm noch allzu gut in Erinnerung. Die Klonschwester von Guineva Sternenwaag war ganz klar verblendet gewesen. Argumentieren und gutes Zureden allein hätte sie niemals von ihrem Vorhaben abbringen können. Von dem, was das bedeutete, hatte sie einen erschreckenden Eindruck über die Zeitfenster des Unsteten Turmes erhalten. Morgaine hatte beabsichtigt, das ANC zu überlisten und neue Pilotin des Schiffs zu werden, das als STERNENWANC zu dem angestrebten infiniten Flug hätte starten sollen.
Lua Virtanen fühlte einen eiskalten Schauer im Nacken, als sie daran dachte. Die Pioniere – oder zumindest die Infininauten-Splittergruppe – waren dermaßen auf diesen endlosen Flug in der Synchronie fixiert, dass ihnen dafür jedes Mittel recht war.
Selbst wenn sie die Welt der ATLANC aus den Angeln zu heben drohten.
Die Infininauten mussten begreifen, dass die ATLANC ernsthaft gefährdet war, falls sie ihren Angriff auf die Schnittstellen im Sektor S nicht aufgaben.
Aber wie, bei allen missratenen Genexperimenten, löste man im Kopf von verblendeten Wesen ein Umdenken aus? Die Infininauten mussten mittlerweile mitbekommen haben, welche Auswirkungen ihre Bemühungen im Rest des Schiffs zeitigten.
Oder wussten sie am Ende gar nicht, was außerhalb ihres eigenen Wirkungsbereichs vor sich ging? Womöglich warteten sie, blind für alles andere, irgendwo in den Introversen Gefilden darauf, dass ihr Kommandotrupp im Sektor S die Schnittstellen zerstört haben würde, sodass die erschlossenen Gebiete fortan als Blasenlandschaften frei in den Synkavernen herumtrieben ...
»Gleich sind wir im Sektor T«, flüsterte Vogel, riss sie aus ihren Gedanken.
Lua blinzelte. Die Sicht aus der Technoklause war verwirrend. Das Gefährt bestand aus acht blinkenden Reifen, die eine Kugel formten. Vier der Reifen bildeten durch Sprossen verbundene Paare. Zwischen den Sprossen wechselte der Freiraum mit geschlossenen Flächen, von denen das unterschiedlich starke Surren ausging, das sie umhüllte.
»Ob wir die ersten Transterraner sind, die den Tolocesten-Sektor betreten?«
Lua dachte kurz nach. »Ich meine gehört zu haben, dass die CyboGen-Transterraner einmal im Leben den Sektor T besuchen dürfen – sofern sie ausgewählt wurden, ihren Schlitten mit Tolocestentechnik aufzurüsten.«
Vogel zuckte mit den Schultern. »Dann hätte der Lampionkopf Guineva Sternenwaag ruhig mitnehmen können.«
»Lampionkopf«, drang es verzerrt aus dem Amulett, das Vor der Atomwacht um den Hals trug. »Die Komponisten sind deren viele, aber ein Haus ist nie ohne Fenster.«
Vogels Körper versteifte sich. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Bitte verzeih mir!«
Der Toloceste schwenkte seinen Kopf in Vogels Richtung. Die dunklen Flecken im leuchtenden Kopf schienen ihn nachdenklich zu betrachten. »Ohne Fenster, der Blick ist starr.«
Dann wandte sich das rätselhafte Wesen wieder seinen Gerätschaften zu.
»War das nun gut oder schlecht?«, flüsterte Vogel.
»Gut, nehme ich an. Ich glaube nicht, dass die Tolocesten so etwas wie Beleidigung verspüren können. Vielmehr wird er dich aufgeklärt haben, dass er verstanden hat, was du mit ›Lampionkopf‹ gemeint hast.«
Die Technoklause wurde langsamer, je näher sie an ein mächtiges Schott kamen. Lua kannte es nur aus dem Heimatunterricht, als sie die Tolocesten durchgenommen hatten.
Das Tor zum Sektor T.
»Jetzt wird's spannend«, hauchte Vogel neben ihrem Ohr. Sein Schnabel klapperte leise.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Lua, wie sich die beiden schweren Flügel des Schottes öffneten. Die Technoklause wurde wieder schneller und glitt durch das offene Schott hindurch.
»Da!«, stieß Vogel aus und zeigte auf etwas in ihrem Rücken. »Guineva ist uns gefolgt!«
Automatisch drehte Lua den Kopf. Tatsächlich erkannte sie Guinevas Schlitten auf der anderen Seite des Schottes. Sie würde doch wohl nicht versuchen, ohne Erlaubnis der Tolocesten in deren Sektor einzudringen?
Aber Guineva bremste ihren Schlitten rechtzeitig ab, sah ihnen bloß nach. Dann schlossen sich die schweren Torflügel mit einem harten metallenen Geräusch.
Lua und Vogel wandten sich synchron um. Und blickten zum ersten Mal in den Sektor T.
Was immer sie erwartet hatte – es war nicht das gewesen, was die junge Geniferin nun sah.
Es gab keine Gebäude, wie sie sie von den Sektoren der Markleute her kannte. Auch keine Kabinen oder auf den ersten Blick erkennbare technische Module.
Der Sektor T erstreckte sich wie eine einzige weite Ebene aus hellem, glitzerndem Sand, in dem sich Dutzende von Tolocesten tummelten. Eine Wand oder gar einen Horizont konnte Lua nicht erkennen. Irgendwo schien der Boden nahtlos in die Decke überzugehen, die gleichermaßen mit dem funkelnden Sand bedeckt war.
In unregelmäßigen Abständen erhoben sich an Boden und Decke sanfte Hügel, zwischen denen die Technoklausen der Tolocesten schwebten. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wären die Gebilde an dünnen Seilen befestigt. Bei näherer Betrachtung stellten sich die Seile als Sand heraus, der sowohl von der Decke als auch vom Boden rieselte, durch die Klausen floss und am anderen Ende wieder herausströmte.
Der größte Unterschied zum restlichen Schiff bestand aber in der unüberschaubaren Anzahl von Synkavernenfäden, die es in diesem Sektor gab.
Das Dimensionsgarn, wie sie es nannten, zog sich als hauchfeine, dunkelsilbrige Fäden mal frei schwebend quer durch Räume, mal waren sie in Wänden, der Decke oder dem Boden eingelagert.
Dabei handelte es sich um die künstliche Dimension, in deren Innern die Synkavernen eingelagert waren. Was von außen wie haarfeiner Faden aussah, mochte einen Teil der Introversen Gefilde enthalten. Oder die speziellen Triebwerke des Schiffs, die Trans-Chronalen Treiber, die den Flug durch die Synchronie erst ermöglichten.
»Wie ... wie kann das sein?«, murmelte Vogel. Er zeigte auf einen Tolocesten, der sich an einem Synkavernenfaden entlanghangelte. »Haben wir nicht gelernt, dass dem Dimensionsgarn keine materielle oder energetische Existenz zukommt?«
»Na ja. Haptisch sind sie ja schon spürbar ... Aber ich weiß auch nicht, wie sie das genau machen.«
Lua ließ den Blick durch die Sandwelt gleiten. Die Tolocesten im Sektor T konzentrierten sich allesamt auf die Fäden. Einige starrten sie nur an, andere liebkosten sie mit trichterförmigen Händen. Und dann gab es jene Tolocesten, die auf den Fäden balancierten oder sich wie Klettertiere an ihnen entlanghangelten.
»Der gesamte Sektor T scheint nur dem Zweck zu dienen, auf die Synkavernen zugreifen zu können«, sagte Lua. »Es gibt hier keine ...«
Eine heftige Explosion in unbestimmter Ferne ließ die beiden Geniferen zusammenzucken.
Synchron drehten die Tolocesten ihre Lampionköpfe in Richtung der Explosion, von der man nach dem hellen Blitz nur noch dunklen Rauch sah. Zwei Tolocesten bewegten sich mit ungeahnter Agilität darauf zu.
»Darf ich?«, fragte Lua Vor der Atomwacht, der unbeweglich neben ihnen stand.
Der Toloceste antwortete nicht. Also nahm sie den mechanischen Tentakelarm, der vom Gerätekomplex der Technoklause herabhing, und verband ihn mit ihrer Strähne.
Sofort entstanden Bilder in ihrem Kopf. Sie sah einen Tolocesten, der zitternd im Sand lag. Quer über seinen Körper verlief ein schwarzer Striemen. Die Haut des Tolocesten warf entlang des Striemens weiße Blasen. Einige platzten auf, und silberfarbenes Sekret rann heraus.
»Das Dimensionsgarn reagiert hier besonders empfindlich auf die Manipulationen der Pioniere«, stieß sie atemlos aus.
Lua ertrug den Anblick des leidenden Tolocesten nicht länger und trennte die Verbindung zwischen ihrer Strähne und dem Tentakelarm.
»Die Waage, sie neigt sich«, kam es verzerrt aus dem Amulett des Tolocesten. »Sie neigt, sie bricht, sie löst sich auf.«
»Aber deswegen sind wir doch hier«, sagte Lua. »Nicht wahr? Um die Zerstörungen aufzuhalten und dafür zu sorgen, dass das Gleichgewicht im Innern der Synkavernen wieder hergestellt wird.«
»Lang ist der Weg und uneben. Das Ziel ist dort und hier, aber immer weit.«
»Meint er damit, dass er nicht sicher ist, ob er die Introversen Gefilde überhaupt erreichen kann?«, wollte Vogel wissen.
»Ich verstehe ihn auch nicht besser als du.« Spontan tippte Lua den Tolocesten mit ihrem Zeigefinger an. »Vor der Atomwacht? Bist du sicher, dass wir dir überhaupt helfen können? Wir waren nur vor Jahren einmal in den Introversen Gefilden und dabei waren wir auf dem Hinweg sogar bewusstlos. Weshalb hast du uns überhaupt mitgenommen?«
Der Toloceste wandte sich um. Er wirkte plötzlich seltsam kraftlos. Sein Lampionkopf pendelte kurz zwischen Vogel und ihr hin und her, blieb dann mit den drei dunklen Flecken direkt vor ihrem Gesicht stehen.
»Geborene des ANC. Sie bricht die Waage, sie fügt sie zusammen.«
Lua runzelte die Stirn. »Was meinst du mit ›Geborene des ANC‹? Das ist nun schon das zweite Mal, dass du den Begriff verwendest, und ich kann mir immer noch nichts darunter vorstellen. Könntest du ihn mir vielleicht mit anderen Worten erklären?«
Der Toloceste richtete sich auf. Dann deutete er mit einer Trichterhand auf sie. »Geborene des ANC. Waage, Richterin, Kind.«
»Lua ist die Geborene des ANC?«, fragte Vogel erstaunt. »Aber was bedeutet das? Bin ich ebenfalls ein Geborener des ANC?«
Der Lampionkopf wogte zu Vogel. »Geborener des ANC?«, kam es ebenfalls als Frage aus dem Amulett. »Schläfer, ja. Geborener, allenfalls.« Damit wandte sich der Toloceste dem Gerätekomplex der Technoklause zu.
Das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Vogels Schnabel schlug zweimal zusammen, ohne dass er etwas sagte.
Lua ergriff Vogels kalte Hand und drückte sie. »Was er uns auch immer sagen will – es ist gut, dass wir zusammen auf dieser Mission sind.«
Vogel blickte sie nur verstört an.
»Ich habe auch Angst, weißt du?«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Als Kind hatte ich immer wieder Albträume, die sich um die Synkavernen drehten. Ich hatte Angst, dass ich mich im Dimensionsgarn verfangen könnte und in die Synkavernen hineingezogen werde. Und nun sieht es so aus, als würde genau das geschehen. Ohne dich würde ich wahrscheinlich vor Angst sterben.«
Die Flaumfedern um Vogels Schnabel verzogen sich zum typischen Vogel-Lächeln. »Wir werden es durchstehen. Ich meine – was kann einer Geborenen des ANC schon groß zustoßen?«
Sie schmunzelte. »Genau.«
Innerlich fröstelte sie beim Gedanken an die Synkavernen. Um deren wahre Natur rankten sich unter den Transterraner Legenden. Sie alle kannten die Überlieferungen eines Plüschwesens namens »Pucky«, das die Synkavernen während der Eroberung der ehemaligen CHUVANC erlebt hatte.
Im Laufe der Zeit hatten sich viele findige Erzähler des Themas Synkavernen angenommen und farbige – und meist auch sehr gruselige – Geschichten erfunden, die sie dann während der Erzählgelage vorgetragen hatten.
Einer solchen Geschichte zufolge beobachteten unsichtbare Augen aus den Dimensionenfäden heraus die kleinen Kinder. Lua hatte nächtelang kein Auge zugetan.
Die Technoklause rollte auf eine Gruppe von drei Tolocesten zu. Wie auf ein geheimes Kommando hin ergriffen zwei der seltsamen Wesen einen der Fäden und brachten ihn mit gezieltem Ziehen zum Schwingen.
Nach einer Weile entstand im Schwingungsbereich ein dunkler Fleck, der sich rasch vergrößerte. Der dritte Toloceste gab ein Zeichen, worauf Vor der Atomwacht die Technoklause auf den dunklen Fleck zusteuerte.
Vogel schrie auf, Lua stimmte ein.
All ihre früheren Albträume ... Jetzt würden sie wahr werden. Sie kniff die Augen zusammen, machte sich auf Schmerzen gefasst.
Und dann ... waren sie ... durch?
Lua spürte einen kalten Hauch, der sie umwehte. Neben ihr vernahm sie Vogels Wimmern. Ihre Hände verkrallten sich ineinander.
Lua schüttelte sie ab, öffnete vorsichtig die Augen.
»Was ...«, murmelte sie.