Herbert Koch
Einfach glauben
Botschaften des Jesus von Nazareth
Titelfoto: pa/GODONG/Fred De Noyelle
Montage: Publik-Forum
Auflage: 1/2012
© Dezember 2012
Publik-Forum Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 2010, 61410 Oberursel
www.publik-forum.de
ISBN 978–3–88095–240-9 (E-Book)
ISBN 978–3–88095–226-3 (Print)
Er könne menschliche Sehnsucht nach Vergebung verstehen und auch die Vorstellung eines vergebenden Gottes, hat Bernhard Schlink, einer der herausragenden deutschen Schriftsteller der Gegenwart, in einem Interview mit dem evangelischen Magazin »chrismon« 2008 geäußert und dann hinzugefügt: »Aber warum lässt Gott, wenn er uns vergeben will, seinen Sohn ans Kreuz schlagen? Warum vergibt er uns nicht einfach?«
Ins Zentrum kirchlicher Lehre aller Konfessionen zielt diese Frage, die von Schlink nicht als erstem Literaten, sondern schon des Öfteren und auch mit leidenschaftlichem Protest aufgeworfen wurde. Hoch kritisch ist sie deshalb. »chrismon« hat sie gleichwohl abgedruckt, sich aber in der ungestalteten Liberalität, die ein Hauptmerkmal der protestantischen Gegenwart ist, jeder Antwort zu dieser Frage enthalten. Lässt man den Leser mit ihr lieber allein, so ließe sich rückfragen, gerade weil sie so leicht nachvollziehbar ist, die Vorstellung aber, diese Frage wirklich ergebnisoffen zu erörtern, lähmende Hilflosigkeit auslöst?
Denn es ist nun einmal so, dass die Verkündigungstradition der Kirchen, ihre sakramentale Praxis wie auch jedes zweite Kirchenlied und alle Liturgie um den einen und einzigen Mittelpunkt einer Erlösungslehre kreisen, die besagt, dass der grausame Kreuzigungstod Jesu nach Gottes Heilsplan ein Sühnopfer war. Dieses diente der Befreiung der erbsündigen Menschheit vom Zorn Gottes über ihren Ungehorsam und zur künftigen Wiedererlangung des ewigen Lebens mit Gott, dessen der Mensch durch seinen »Sündenfall«, wie ihn die Paradiesgeschichte vom Anfang der Bibel erzählt, verlustig gegangen ist. Nur durch das blutige Leiden Jesu am Kreuz könnten die Straffolgen Gottes für diesen Sündenfall wieder aufgehoben werden, weil nur er als durch den Heiligen Geist gezeugter Sohn Gottes und vom Propheten Jesaja geweissagter »Gottesknecht« selbst sündlos war und so einen unerschöpflichen Schatz der Vergebung Gottes erwerben konnte. Dessen verbindliche Verwaltung sei der Kirche übertragen. Und allein aus göttlicher Liebe sei das alles so geschehen.
Noch weit ausführlicher, kürzer aber nicht, ließe sie sich wiedergeben, die kirchliche Erlösungslehre; Grund und Gegenstand von Einfachglauben kann sie nicht werden. Im letzten Jahrzehnt ist sie von etlichen Theologen international unterschiedlicher Kirchenzuordnung auch sehr entschieden infrage gestellt worden. Dass Gottes Liebe zu den Menschen in einer schrecklichen Gewalttat an einem Unschuldigen ihren höchsten Ausdruck gefunden haben soll, ist nicht wenigen ein in seiner inneren Überspannung unerträglicher Gedanke. Ausgerechnet darin Gottes Liebe erblicken zu sollen, macht vielen Menschen, wenn sie sich ernsthaft damit auseinandersetzen, diesen Gott mindestens unheimlich, wenn nicht empörend.
Zumal die christliche Religion, wäre dies tatsächlich ihr unaufgebbares Zentrum, eine menschheits- und religionsgeschichtliche Rückentwicklung vollzogen hätte: Menschenopfer zur Sicherung göttlicher Gewährleistung der Lebensgrundlagen, wie man sie etwa in der altmexikanischen Maja-Kultur und anderswo historisch nachweisen kann, gehören in die Frühzeit der Menschheitsgeschichte und waren zur Zeit der Kreuzigung Jesu längst durch den Übergang zu einer Tieropferpraxis abgelöst. Ein höchst bedeutender Bibeltext ist in diesem Zusammenhang die Erzählung über die – am Ende nicht vollzogene – Opferung Isaaks, des so lange erwarteten spätgeborenen Sohnes Abrahams in Kapitel 22 des ersten Mosebuchs. Eine schreckliche, für die Verwendung im Kindergottesdienst absolut ungeeignete Geschichte wird da erzählt. Ihre dennoch positive Botschaft – weil ein Engel Gottes Abraham noch in den Arm fällt und sich anstelle Isaaks ein Widder zur Opferung findet –, bedeutet für Israel religionsgeschichtlich betrachtet nichts Geringeres als die Abschaffung des Menschenopfers durch Gott selbst und seine Ersetzung durch das Tieropfer.
Aber auch dieses hat, als Jesus auftritt, in Israel durch seine Propheten längst eine prinzipielle Relativierung erfahren. »›Was soll mir die Menge eurer Opfer?‹, spricht der Herr«, heißt es beim Propheten Jesaja, »ich habe sie satt, die Brandopfer […] und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke« (Jesaja 1, 11). Um ganz anderes geht es stattdessen: »Lernt Gutes tun; trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!« (1, 17). Bei Hosea wird es sprachlich besonders eindrucksvoll in poetischer Form ausgedrückt: »Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes, nicht am Brandopfer« (Hosea 6, 6). Schlichter, aber ebenso klar heißt es in den Sprüchen Salomos: »Recht und Gerechtigkeit tun ist dem Herrn lieber als Opfer« (Spr. 21, 3).
Es ist nun alles andere als zufällig, wenn das zitierte Wort des Propheten Hosea in leicht veränderter Form in einer Jesusrede des Matthäusevangeliums wieder vorkommt. Denn bei Jesus wird konsequent angewendet und durchgehalten, was Hosea durch Verwendung der poetischen Form der Aussagendoppelung (Parallelismus membrorum) zum Ausdruck bringt: Liebe (Mt.: Barmherzigkeit) und Erkenntnis Gottes fallen zusammen, gehören so eng zueinander, dass sie quasi eins werden. Es gibt keine nur auf mich selbst eingegrenzte, von der Beziehung zum Nächsten unabhängige Beziehung zu Gott: »Es werden nicht alle, die zu mir sagen Herr, Herr ins Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel« (Mt. 7, 21). Zu den Letzteren gehört der gnadenlos stolze Pharisäer in der Beispielgeschichte vom Pharisäer und Zöllner nicht. Denn den Willen Gottes, der dessen Wesen entspricht, gibt Jesus ganz einfach mit dem Satz wieder: »Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!«
Diese stets integrierte Gottes- und Nächstenbeziehung ist auch das durchgängig prägende Merkmal des Umgangs Jesu mit der Thematik von Schuld und Vergebung, paradigmatisch zur Geltung gebracht in der Vergebungsbitte des Vaterunsergebets: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.« Den ersten Teil dieser Bitte auszusprechen, ohne den zweiten anzufügen, wäre ein sinnloses, Gott verfehlendes Gebet. Der Zöllner, der in der Beispielgeschichte Jesu neben dem Pharisäer im Tempel steht, sagt zwar lediglich: »Herr, sei mir Sünder gnädig«, aber es ist damit natürlich klar, dass sein Bekenntnis nicht ohne Folgen für sein Verhalten bleiben wird. Man denke an den Zöllner Zachäus, an dessen Wiedergutmachungsgelübde. Es resultiert aus seiner Begegnung mit Jesus, aus seiner Erfahrung, von ihm nicht wie von allen anderen verstoßen zu werden. So wird es in Lukas 19 erzählt. Es ist bezeichnend, dass der einzige (!) Text in den synoptischen Evangelien, in dem auch Jesus einmal das Bild eines zornigen Gottes zeichnet, vom »Schalksknecht«, wie ihn die Lutherbibel nennt, handelt (Mt. 18, 23 ff., vgl. oben, Kapitel 2). Denn dieser hat sich die Barmherzigkeit Gottes sozusagen in die Tasche gesteckt, um seine eigene Unbarmherzigkeit gegenüber seinem Mitknecht noch lohnender zu machen. Eine Häresie nicht der Lehre, sondern der Tat liegt hier vor, die vom Wesen Gottes nichts begriffen hat und deshalb am Ende ohne ihn auskommen muss.
Dieses Gleichnis schließt der Evangelist mit Bedacht ganz unmittelbar an die von Petrus an Jesus gerichtete Frage an: »Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er an mir sündigt? Bis zu siebenmal?« Woraufhin er die Antwort bekommt: »Nicht siebenmal, sondern siebzig mal siebenmal.« Petrus verwendet in seiner Frage die Zahl Sieben im Sinne einer realen, nachzählbaren Mengenangabe. Dass mit einem Mal nicht auszukommen ist, so viel ist ihm offenbar klar. Aber wann ist es eigentlich genug? Wann ist »die Schmerzgrenze erreicht«? Wie oft muss man und ab wann nicht mehr? Wann ist auch einmal Schluss mit immer demselben?
Die Antwort, die Jesus gibt, hebt die Frage auf eine andere Ebene. Er greift die Sieben als reine Symbolzahl auf, indem er sie noch mit siebzig multipliziert. Sie ist ja das klassische Zahlensymbol für die Fülle, das Ganze, das Unbegrenzte. Das muss Petrus erst noch verstehen, dass es um das Prinzip des Vergebens geht, um Vergebung als eine lebensdienliche Grundeinstellung der unaufhebbar auf die Zwischenmenschlichkeit angelegten und angewiesenen menschlichen Existenz. Vergebung als Prinzip ist die stets neue Gegenkraft zu der mitunter so großen Kleinlichkeit des nachtragenden Rechthabens; des Nicht-vergessen-Könnens, weil nicht vergessen Wollens; des chronischen Gekränktseins; des jahrelang nicht miteinander Redens; des am Ende gar füreinander Gestorbenseins.
Letzteres, eine im gegebenen Falle nicht unübliche Ausdrucksweise, gibt besonders deutlich zu erkennen, dass Vergebung als Grundgestimmtheit jedoch nur in dem Maße lebensdienlich wirksam werden kann, in dem sie sich zwischen Menschen tatsächlich abspielt und zu einem Teil der Lebenswirklichkeit wird zwischen Einzelnen wie auch Menschengruppen. Das ist es ja, was sich bei der Heilung des Gelähmten, seiner Rückkehr ins gemeinsame Leben auf das Wort hin: »Deine Sünden sind dir vergeben«, in so erstaunlicher Weise abspielt (siehe oben, Kapitel 1). Woraufhin die kaum fassbare Erkenntnis lautet, Gott habe »solche Macht den Menschen gegeben« (Mt. 9, 7). Um diese Macht als Friedens- und Lebensstiftung unter den Menschen geht es und nicht um die Tilgung von Ungehorsam gegen einen gekränkten göttlichen Gebieter.
Es ist dieser Vers des Matthäusevangeliums mit seiner Aussage eine der kirchlich am meisten übersehenen, in ihrer Bedeutung geradezu missachteten Bibelstellen überhaupt. Was sich hinreichend damit erklärt, dass seine Ansage auf nichts Geringeres hinausläuft als auf die Entbehrlichkeit, ja geradezu Fragwürdigkeit der Vermittlung von Vergebung durch den Klerus der Kirche in Gestalt von vorgeblich ihm exklusiv übertragenen sakramentalen Handlungen, durch die allein der durch das Sühnopfer Christi erworbene Vergebungsschatz den »Gläubigen« zuteil wird. Wie könnte dabei der Gefahr zu entrinnen sein, dass der kirchlich-kultische Vorgang der sonntäglichen Messfeier an die Stelle der tatsächlichen Lebenswirklichkeit tritt? In ihr allein aber kann sich Vergebung als wahrhaft notwendiges Element gelebten Lebens nur abspielen.
Denn die Frage, die der Schriftsteller Hermann Kesten aufgeworfen hat, hat ihr unbestreitbares Recht, welche Moral eigentlich jemand vertrete, der »seine Schuld bezahlen lässt durch den Opfertod eines anderen«. In keinem Werk eines christlichen Theologen wird man diese Frage aber in dem Sinne, in dem Kesten sie gestellt hat, wiederfinden. Wo das Neue Testament schließlich so reichlich Ethisches enthält. Auf Fragen, die gar nicht erst gestellt werden, kann es aber bekanntlich auch keine Antworten geben. Deshalb: Könnte es sein, dass die Briefliteratur des Neuen Testaments so voll von Erörterungen und Einschärfungen christlicher Moral ist, weil sich eine solche gerade nicht ganz selbstverständlich aus der Botschaft ergibt, dass Christus »sich selbst für uns gegeben hat als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch« (Epheser 5, 2)?
Was sich jedenfalls bei der Sichtung des eigenen Umgangs des zum Sühnopfer erklärten Nazareners mit dem Problem von Schuld und Vergebung zeigt, ergibt ein anderes Gottesverständnis. Hubertus Halbfas hat es in seinem bemerkenswerten Büchlein »Glaubensverlust« (2011) sehr treffend zusammengefasst: »Eine kultische Stellvertretung, wie sie sich in Tieropfern darstellt, liegt auf einer Ebene, die Jesus fremd ist. Was sich die Menschen in der Liebe schuldig bleiben, verlangt gegenseitige Vergebung – Feindesliebe nicht ausgenommen –, lässt sich aber nicht durch Sühnopfer löschen.«
Die Entwicklung der kirchliche Dogmatik durch die Jahrhunderte hat wohl zu keiner Thematik das Gottesverständnis, für das Jesus stand, so sehr verdunkelt wie zu der von Schuld und Vergebung. Es ist das schon daran abzulesen, dass im jesuanischen Reden und Handeln Sünde und Vergebung nicht wie im kirchlichen das alles strukturierende Zentralthema ist. Dies ist auch bei ihm eine zweifellos wichtige, aber nur eine unter verschiedenen Frage- und Infragestellungen des menschlichen Daseins, die er im Sinne von Einfachglauben transparent macht. Armut und Reichtum etwa sind, wie zu sehen war, bei Jesus ein Kapitel, dessen Bedeutung dem Vergebungsthema mindestens gleichkommt.
Insbesondere aber werden gerade bei diesem Thema alle Intentionen Jesu verfehlt, wenn Sünde, Schuld und Vergebung als ein Komplex gesehen werden, der allein zwischen dem Einzelnen und (seinem) Gott spielt. Viel zu groß ist Gott für Jesus und viel zu umfassend seine Barmherzigkeit, als dass er selbst in seiner Befindlichkeit durch menschliches Fehlverhalten tangiert sein könnte. Schuldig wird man allein an seinem Nächsten. An ihm vorbei sündigen allein gegen Gott kann man nicht; dieser Gedanke ist Jesus völlig fremd. Gott dienen am Mitmenschen vorbei ist sinnlos, kann man nicht. Weshalb es in der Bergpredigt zum Thema Opfern heißt: »Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe« (Mt. 5, 23). Denn nun erst sind sie wieder so fest ineinander verwoben, wie sie allein lebensdienlich sein können: die Beziehung zu Gott und die zum Mitmenschen.
Auch der Deutschen Bischofskonferenz nachzusagen, dass sie das begriffen habe, fällt schwer angesichts der Art, in der sie die Aufarbeitung ihres Umgangs mit den zahlreichen klerikalen Missbrauchsfällen in der Vergangenheit betreibt. Im März 2011 vollzog sie mit dem »Kniefall von Paderborn« einen öffentlichen Bußakt, zu dem man sich demonstrativ durch einen speziell für bekennende Sünder bestimmten Nebeneingang in den Paderborner Dom begab zum Scham- und Schuldbekenntnis vor einem mittelalterlichen Kruzifix, dem Symbol schlechthin für den Erwerb der Gnade Gottes durch das Sühnopfer des Gottessohnes. Vor dem Haupteingang des Doms waren gleichzeitig Missbrauchsopfer versammelt, darunter ein Priestersohn, der als Kind zum Zwecke der Vertuschung seiner väterlichen Herkunft in einem kirchlichen Heim verborgen wurde und dort 14 Jahre lang Prügelstrafen und sexueller Gewalt ausgesetzt war. Das Szenarium glich aufs Haar der Situation, die bei Jesus in der Bergpredigt beschrieben ist. Den Weg hinaus vor die Tür zu den Opfern aber hat in Paderborn keiner der Bischöfe gefunden. »Original und Fälschung« könnte man den Vergleich auch betiteln und Hermann Kestens Frage erneuern, welche Moral es eigentlich bedeutet, wenn man seine Schuld bezahlen lässt durch den Opfertod eines Dritten.
Mit welcher Konsequenz Jesus Sünde und Vergebung in eine rein horizontale Perspektive rückt, dafür steht am eindrucksvollsten die mit »Jesus und die Ehebrecherin« überschriebene Episode am Anfang von Kapitel 8 des Johannesevangeliums. Handschriftenfunde weisen aus, dass es sich bei diesem Textabschnitt um eine nachträgliche Einfügung in das circa ein Jahrhundert nach dem Tode Jesu niedergeschriebene Evangelium handelt, dessen Jesusreden schwerlich als historisch original gelten können. Der Text Johannes 8, 1-10 aber zeigt in Wortwahl und Stil große Nähe zum Markus- und Lukasevangelium. Dies lässt wie auch die Tatsache, dass die Johannesüberlieferung ihn trotz seiner Andersartigkeit nicht hat fallen lassen, auf ein hohes Alter und die Wiedergabe einer möglicherweise historischen Begebenheit schließen.
Jesus befindet sich, so wird hier erzählt, frühmorgens schon im Tempel, und es versammelt sich eine große Zuhörerzahl um ihn. Wie stets sind seine Reden inhaltlich ein Ärgernis für die »Schriftgelehrten und Pharisäer«. Denn sie bringen ihn auch hier gezielt in eine provokative Testsituation, indem sie eine Frau herbeibringen und in die Mitte stellen, die man »beim Ehebruch ergriffen« hat. Für Ehebruch aber war nach 3. Mose 20, 10 die Todesstrafe vorgesehen und im Falle des sexuellen Verlobungsbruchs nach 5. Mose 22, 23 die Steinigung als Hinrichtungsform. Das Interesse der Pharisäer und Schriftgelehrten kann in diesem Falle allerdings gar nicht dahin gehen, die überführte Frau möglichst umgehend hinzurichten. Denn das wäre nicht durchführbar gewesen, weil die Berechtigung zur Vollstreckung von Todesurteilen allein der römischen Besatzungsmacht vorbehalten war. Die Aktion ist vielmehr ganz auf Jesus gerichtet, dessen Art des Umgangs mit Sündern und Außenseitern man nicht billigen kann. Ihn fordert man nun zum Urteil in diesem eindeutigen Fall heraus in der Hoffnung auf eine Reaktion, durch die er sich als einer entlarvt, der sich selbst über das Gesetz Gottes stellt. »Aber Jesus bückte sich«, heißt es nun, »und schrieb mit dem Finger auf die Erde.« Eine Geste der demonstrativen Gleichgültigkeit gegenüber dem geilen Interesse an der Sünde anderer.
Als die Eiferer aber weiter hartnäckig auf Antwort dringen, erhebt er sich und konfrontiert sie seinerseits mit einer Herausforderung. Von der juristischen Ebene wechselt er auf die moralische, woraufhin er die Richtung ihres Urteilens umkehren kann gegen sie selbst: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.« Dann bückt er sich erneut und schreibt weiter auf die Erde. Am Triumph des Rechtbehaltens durch diese entwaffnende Aufforderung ist er nicht interessiert. Sie entfernen sich daraufhin alle, die Ältesten zuerst, deren Lebenserfahrung ihnen am ehesten Einsicht in die Wahrheit erlaubt, um die es hier geht. Als Jesus dann wahrnimmt, dass niemand übrig geblieben ist, die Frau zu verurteilen und hinzurichten, sagt er zu ihr: »So verurteile ich dich auch nicht. Geh hin und sündige von nun an nicht mehr.«
Wohlbemerkt: Die Sünde wird Sünde genannt und nicht vergleichgültigt. Aber sie wird aus der Vertikalen in die Horizontale verlagert, woraus sich für ihre Bewältigung eine ganz neue Struktur und Perspektive ergibt. Nicht an Gott, sondern aneinander werden Menschen schuldig, und weil niemand davon frei ist, hat auch niemand ein Recht zu einem Strafhandeln an seinem Mitmenschen im Namen Gottes. Es ist original jesuanischer Geist, der in dieser im Johannesevangelium aufbewahrten Überlieferung solches tödliche Strafhandeln von einem neuen Gottesverständnis her in die Religionsgeschichte verweist.
Auch bei Paulus ist das bewusst, wenn er zum Beispiel an die Gemeinden in Galatien schreibt: »Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid, und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest« (Gal. 6,1). Auch hier ist klar und die Grundlage des Ratschlags, dass niemand sündenfrei ist. So können sich, wenn sich das zeigt, in der Gemeinde nie Gerechte und Ungerechte gegenüberstehen, sondern immer nur Menschen, die für ein menschengerechtes Miteinander gemeinsam darauf angewiesen sind, sich an der Barmherzigkeit Gottes auszurichten. Auch hier ist es die Horizontale, in der sich allein abspielt, was Vergebung heißt, von Paulus wunderbar beschrieben als »zurechthelfen mit sanftmütigem Geist«. Diesen Geist atmet auch der 1. Thessalonicherbrief, das älteste der erhalten gebliebenen Schreiben des Apostels, zum Beispiel in Kapitel 5, 15: »Seht zu, dass keiner dem anderen Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt jederzeit dem Guten nach untereinander und gegenüber jedermann.«
Letzteres macht klar, dass es um ein Prinzip geht, das nicht nur innerhalb der christlichen Gemeinde wirksam zu werden vermag, sondern auch darüber hinaus seine Wahrheit unter Beweis stellen kann; Widerlegung statt Vergeltung des Bösen: »Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem« (Röm. 12, 21). In außergewöhnlich schwerwiegenden Fällen von Betroffensein mag es dem Einzelnen allerdings einfach zu viel abverlangen, Vergeltungsverzicht auch innerlich zu bejahen. Übermenschliches kann im Namen eines barmherzigen Gottes nicht die Erwartung sein. Um Mensch zu bleiben, kann es aber auch ein menschliches Recht, an die Stelle Gottes zu treten und in seinem Namen vergeltend zu handeln, christlich nicht geben.
In dem Maße aber, in dem sich die Kirche wandelte zur Gott repräsentierenden, für ihn handelnden Institution, wurden Schuld und Vergebung wieder in die vertikale Perspektive gerückt. Folglich wird es wieder als ein Geschehen abgehandelt, das seinem Wesen nach wenn nicht allein, so doch hauptsächlich zwischen den Menschen und Gott spielt. So kommt dann wieder die Möglichkeit zustande, »mit Gott im Reinen« zu sein, mit seinem Mitmenschen, mit dem man im Konflikt lebt, zugleich aber nicht und dennoch ein »guter Christ« zu sein. Der »Paderborner Kniefall« der deutschen Bischöfe lässt sich hier einordnen. Aber nur so konnte eine mit größtmöglicher Macht ausgestattete Kirche zustande kommen, woran die Theologen, die die dazu passende Lehre formulierten, als Kleriker auch das größtmögliche Interesse hatten. Denn sie werden nun den »Gläubigen« gänzlich unentbehrlich für den sakramentalen Erwerb der Vergebung Gottes durch das Sühnopfer Christi. Und dies ist nun einmal die entscheidende Voraussetzung für nichts Geringeres als das ewige Leben.
Unter dieser erneuten Verkehrung der Perspektive war es dann auch möglich, bestimmte Verhaltensweisen zur Sünde oder gar zur besonders gefährlichen, »schweren Sünde« zu erklären, obwohl sie ihrer Natur nach zwischen Mensch und Mitmensch gar nicht spielen können. Musterbeispiel dafür ist die Onanie, mit der von den Klerikern der Kirchen jahrhundertelang die Gewissen pubertierender Jugendlicher drangsaliert wurden. Von Jesus wie von Paulus her betrachtet ist ihre Qualifizierung als Sünde aber gar nicht möglich.
Der Vorrang der vertikalen Gehorsamsperspektive als Sinngebung der Gebote Gottes prägt bis heute auch die Reaktionsweise des Staates auf Verletzungen gesetzlicher Normen. Analog zur Position Gottes im kirchlichen Sündenverständnis definiert die Strafrechtslehre den Staat als das eigentliche Tatopfer krimineller Handlungen, indem diese konsequent als Verletzungen der staatlichen Rechtsordnung abgehandelt und abgeurteilt werden. Regulierung der Beziehung zwischen Täter und Tatopfer einschließlich der Behebung materieller Tatschäden bleibt dagegen aus dem Strafrecht weitgehend ausgeklammert.
Analog zu den Bußleistungen, die der Priester im Beichtstuhl dem Sünder für seine Verfehlungen auferlegt, verhängt der Strafrichter eine Geld- oder Freiheitsstrafe, die er im gesetzlich vorgegebenen »Strafrahmen« für der »Tatschuld« angemessen hält. Erlittenen Schaden kann das Tatopfer nur zivilrechtlich einklagen. Das aber ist nur selten mit Aussicht auf ein positives Ergebnis möglich, weil der Staat ja durch sein Strafhandeln den Täter – je härter bestraft, desto mehr – daran hindert, Wiedergutmachung von angerichtetem Schaden leisten zu können. In welchem Maße Gefängnisse zudem Rückfälle produzieren, ist hinreichend bekannt. In Bezug auf alle Eigentumsdelikte, die die ganz überwiegende Mehrzahl der Straftaten ausmachen, kann man das geltende Strafrecht also durchaus als ein absurdes System bezeichnen, das die Schäden, auf die es sich bezieht, nicht bewältigt, sondern selbst noch zu reproduzieren hilft. Allein im Falle von Taten, die in einem ernst zu nehmenden Sinne als gefährlich zu gelten haben, weil sie gegen die Gesundheit oder das Leben von Menschen gerichtet sind, ist Freiheitsentzug sachlich gerechtfertigt, sofern Wiederholungsgefahr prognostiziert werden muss.
Bemerkenswerterweise belegt die Altes Testament genannte Hebräische Bibel für das Alte Israel ein Strafrecht im heutigen Sinne nicht. Die als »Bundesbuch« bezeichneten Kapitel 21 bis 23 des 2. Buchs Mose legen für das »Torgericht«, das bei Bedarf die Oberhäupter der angesehensten Familien eines Ortes bilden, ausschließlich Regelungenzur Schadenswiedergutmachung fest. Beispiele: Wessen Vieh unrechtmäßig das Feld eines anderen abweidet, hat diesem das Beste vom Ertrag seines Feldes oder Weinbergs abzugeben.
Wer Vieh stiehlt, es schlachtet oder verkauft, hat für ein Rind fünffachen, für ein Schaf oder eine Ziege vierfachen Ersatz zu leisten. Wer im Streit einem anderen eine Körperverletzung zufügt, die ihn arbeitsunfähig und pflegebedürftig macht, hat für den Verdienstausfall und das »Arztgeld« aufzukommen.
Nicht Bestrafung als vergeltende »Zufügung eines Übels«, wie die kirchlich unwidersprochene Sinngebung von Strafe lautet, sondern angemessene Schadenswiedergutmachung ist hier das Prinzip. Reale Wiederherstellung von sozialem Frieden ist das Ziel. Nichts wird im Namen Gottes vollzogen, alles geschieht auf sehr nüchterne, pragmatische Weise in der horizontalen Erstreckung gemeinsamen menschlichen Lebens und seiner Konflikte. Rein schiedsgerichtlich werden diese im Torgericht abgehandelt. Das biblische Hebräisch kennt dementsprechend kein sprachliches Äquivalent für unseren heutigen Begriff der Strafe. Die berühmt-berüchtigte Formel »Auge um Auge, Zahn um Zahn« hat, wenn sie zur Entstehungszeit des Bundesbuchs überhaupt noch von Bedeutung ist, lediglich die Funktion einer Leitlinie für die Bemessung von ausgewogenen Wiedergutmachungsleistungen. So ist darin beispielsweise festgeschrieben, dass der Besitzer eines Sklaven, wenn er diesem im Zorn ein Auge oder einen Zahn ausschlägt, ihn daraufhin freizulassen hat. Die »Talionsformel« kommt also gerade nicht im wörtlichen Sinne zur Anwendung, sondern im übertragenen: Dem auf Dauer bestehenden Schaden steht mit der Freilassung eine Maßnahme als Wiedergutmachung gegenüber, die ihrerseits dauerhaft wirksam ist.
Sollte die Vergeltungsformel aber in einer archaischen Frühzeit der Menschheitsgeschichte tatsächlich einmal im Wortsinne gegolten haben, so legt sich von der Tradition des Bundesbuchs her die Vermutung nahe, dass sie auch in dieser Zeit nicht den Sinn der Anstachelung von Vergeltungshandeln hatte, sondern als eine Schutzformel gedacht war. Sie hätte dann eine Art von Sicherung dargestellt gegen das bis heute wahrnehmbare Phänomen der Neigung von Gegenaggressionen zum Überschießen: für ein Auge also nicht zwei, sondern ebenfalls nur eins! Eskalationsverhinderung wäre dann der letztlich auch hier friedensdienliche Zweck.
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass das Alte Testament auch einen Katalog von todeswürdigen Vergehen kennt: Mord, Menschenraub, Schlagen oder Verfluchen der Eltern, Ehebruch und Vergewaltigung. Mit diesen Delikten wird offenbar eine göttliche, als heilig angesehene Sphäre tangiert. Jahwe gilt damit als unmittelbar betroffen, was bei einer quasi magischen Sicht des Heiligen automatisch die Auslöschung des Täters zur Folge hat. Schon bloßer Kontakt mit dem Heiligen ist in dieser Vorstellungswelt lebensgefährlich: »Weh mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen […] und habe den König, den Herrn Zebaoth, mit meinen Augen gesehen«, heißt es aus dem Munde des Propheten Jesaja in der Wiedergabe seiner Berufungsvision in Jesaja 6, 1-7. Auch Jesaja, obwohl von Gott auserwählt, muss daraufhin erst durch einen Engel, der seine Lippen mit glühender Kohle berührt, entsühnt werden.
Jesus aber ordnet in Johannes 8 auch den Bereich der mit diesem Hintergrund als todeswürdig begründeten Vergehen seinem Gottesbild unter, das man von daher aufgeklärt nennen könnte. Auch diese Art von Delinquenz und ihre Bewältigung wird in die horizontale Sphäre des Zwischenmenschlichen eingeordnet. Die ist in der heutigen Gesellschaft allerdings weithin geprägt durch die vorgebliche Wahrheit des Satzes »Strafe muss sein«. Er gehört zu den auch kirchlich kaum je hinterfragten Selbstverständlichkeiten. Dabei ist das ein durchaus leicht widerlegbares Prinzip. Nur eines von etlichen Argumenten: Gäbe es anstelle des Strafrechts eine Kriminalitätsbewältigung durch ein staatlich kontrolliertes Wiedergutmachungsrecht, so lautete das letzte Wort über den »Straftäter« nicht: »Er hat gesessen«, sondern, »Er hat es wiedergutgemacht.« Dies entspräche dann der Art, in der Jesus auf Sünder und Außenseiter zugegangen ist. Es kann also auch in diesem Zusammenhang noch viel Gutes aus Nazareth kommen, Bereitschaft vorausgesetzt, von dem Nazarener wirklich zu lernen.
Kommerzielle Werbung kennt offenbar keine Tabus. Die Aufforderung Jesu »Folgt mir nach!«, die er nach den Evangelienberichten am Beginn seines öffentlichen Wirkens an diejenigen gerichtet hat, die seine ersten und ständigen Begleiter wurden, findet im Internet inzwischen als Werbeslogan für Reisen ins »Heilige Land« Israel Verwendung. Dennoch: Sie ist ein klassisches, bedeutendes Thema christlicher Frömmigkeits- und Theologiegeschichte: die »Nachfolge Jesu«. Zum prominentesten Repräsentanten dieses Themas in der Christentumsgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde kein Geringerer als Dietrich Bonhoeffer.
Aber wie kommt das Fragezeichen hinter die Kapitelüberschrift? Inwiefern gerade bei diesem Thema? So könnte jemand mit nachvollziehbarer Verwunderung fragen, der sich erinnert, dass es dazu im Matthäusevangelium eine Stelle gibt, die wegen ihrer bedingungslosen Konsequenz besonders einprägsam ist. Indem da nämlich erzählt wird, dass einer zu Jesus gesagt habe, er wolle sich ihm gern anschließen, wolle aber erst noch seinen Vater beerdigen; woraufhin er die Antwort bekommen habe: »Folge du mir und lass die Toten ihre Toten begraben!« (Mt. 8, 22). Auffallend schroff ist diese Antwort, auf die noch zurückzukommen sein wird. Umso klarer ist sie aber auch. Den Begriff der Nachfolge Jesu versieht diese Antwort in der Tat eher mit einem Ausrufe- als mit einem Fragezeichen.
So ist es wohl auch gewesen, als Jesus vor fast 2000 Jahren einen Kreis von »Jüngern« um sich sammelte. Klare Entschiedenheit gehörte offenbar zu seinen Erwartungen. Unser Verb »folgen« und die damit eng verwandten Substantive tragen allerdings eine bestimmte Geschichte in sich. Und diese sollte, dem Missverständnis vorbeugend, nicht ausgeblendet werden, wenn von der Bibel her »Nachfolge« das Thema ist. Denn »folgen« findet im allgemeinen Sprachgebrauch auch im Sinne von »gehorsam sein« Verwendung. Gehorsam aber war jahrhundertelang der in Staat und Kirche herrschende oberste Sinn und Zweck aller Erziehung und eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die erste deutsche Demokratie einem totalitären System zum Opfer fallen konnte: »Führer befiehl, wir folgen dir!«, so lautete bekanntlich die Parole Nr. 1 der Partei der »Nationalsozialisten«.
Diese Parole war zunächst von ihrem Führer Adolf Hitler nur dieser Partei vorgegeben. Nach deren politischer Machtübernahme 1933 wurde sie jedoch folgerichtig zum zentralen Strukturprinzip des Regierungssystems erklärt sowie zur Grundorientierung für möglichst ausnahmslos alle Köpfe des Staatsvolkes. »Der Führer« wurde zur Bezeichnung Hitlers schlechthin, zum alleinigen Titel des Diktators. Seine so benannte Funktion wurde entsprechend zum Leitbild seiner zahlreichen Unterführer und Gefolgschaft zu leisten zur geforderten Generaltugend aller »Volksgenossen«.
Hitlers politischen Autobiografie »Mein Kampf« kann man entnehmen, wie geradezu besessen der spätere Diktator von der Idee des »Führerprinzips« war und in welchem Maße darin sein tiefsitzender Hass auf alles Demokratische zum Ausdruck kam. Die Stärke einer politischen Gruppierung, so schrieb er, liege »keineswegs in einer möglichst großen und selbständigen Geistigkeit ihrer einzelnen Mitglieder«, sondern allein in dem disziplinierten Gehorsam, mit dem die Angehörigen einer Bewegung »der geistigen Führung Gefolgschaft leisten«. In jedem Kampfe siegreich sei, wer »die überlegenste Führung und zugleich die disziplinierteste, blindgehorsamste, bestgedrillte Truppe hat«. Niemals ersetzbar sei dieses Zusammenwirken von Führer und Gefolgschaft durch den demokratisch herbeigeführten – nach Hitler »erbettelten« – Mehrheitswillen. Denn die Majorität »ist nicht nur immer eine Vertreterin der Dummheit, sondern auch der Feigheit«. In welche Abgründe die Wege führten, auf denen nach diesem Führerprinzip nicht gegangen, sondern im Gleichschritt marschiert wurde, ist bekannt. Sie waren so entsetzlich und folgenreich, dass sie für den Journalisten Ulrich Wickert noch 1990 zum Anlass wurden, angesichts der unverhofften Wiedervereinigung Deutschlands ein Buch mit dem Titel »Angst vor Deutschland« herauszugeben; ein Sammelband mit einer Vielzahl von Beiträgen höchst prominenter Autoren. Was wird es bedeuten, wenn zu der inzwischen einigermaßen demokratiegeübten Gesellschaft der westlichen Bundesrepublik Deutschland ein 17 Millionen Menschen umfassender Bevölkerungsanteil hinzukommt, für den es sechzig Jahre lang nur ein Leben in totalitären Systemen gegeben hat? Wenig verwunderlich ist es von daher, dass der Beitrag Arthur Millers, des großen amerikanischen Schriftstellers jüdischer Abkunft, in diesem Band mit der Frage beginnt: »Übernehmen die Deutschen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazizeit?«
Dietrich Bonhoeffer, 1906 geborener Leiter des Predigerseminars der zum »Dritten Reich« distanziert stehenden Bekennenden Kirche (BK), hat sich in solcher Verantwortung wohl schon 1937 gesehen, als er das bekannteste Werk seiner theologischen Hinterlassenschaft herausbrachte. Es trägt den Titel »Nachfolge«, der offenkundig antithetisch gewählt ist zum nazistischen Führer- und Gefolgschaftsprinzip. Schon im Wintersemester 1935/36 war »Nachfolge« Bonhoeffers Thema in seinen Vorlesungen als Privatdozent der Berliner Universität gewesen, bevor ihm 1936 die Lehrbefugnis durch das Reichserziehungsministerium entzogen wurde. Mit den »Nürnberger Rassegesetzen« vom September 1935 hatte zu dieser Zeit die Verbrechensgeschichte des Dritten Reichs gegenüber den Juden bereits ihren Anfang genommen. Durch diese Gesetzgebung waren die Juden in Deutschland völlig rechtlos, quasi vogelfrei geworden.