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Luisa Francia

Die Schatzhüterin

Klassische Märchen neu erzählt

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© für die Originalausgabe: 2010 nymphenburger in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2012 nymphenburger in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Schutzumschlagmotiv: Luisa Francia

www.salamandra.de
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-485-06013-4

Inhalt

Warum Märchen?

Ach, was muss man oft von bösen

Hexen hören oder lesen …

Als Kind quälte mich die Tatsache, dass Hexen und Zauberinnen fast immer böse alte Frauen waren, die Menschen, vorzugsweise Kinder, fraßen und nur danach trachteten, unschuldige Wesen zu verderben. Damals glaubte ich, Märchen erzählten von Menschen, Orten, Ereignissen, doch in Wirklichkeit beschreiben sie natürlich keine bereits entstandene Realität, sondern sie sind Landschaften der Seele, Entwürfe, die Wirklichkeit erst schaffen sollen. Sie sind ein Spiegel unserer Träume und Seelenbilder und so sind sie natürlich auch immer ein Spiegel der Machtverhältnisse, in denen wir leben. Märchen prägen unsere Vorstellung von der Wirklichkeit von Kindheit an. Umso verhängnisvoller ist es für Mädchen, wenn Märchen ein Frauenbild festschreiben, das uns im Leben immer wieder ausbremst: die schöne Königstochter, die selbstverständlich heiraten muss, die gequält wird, wenn sie sich herausnimmt, nicht jeden x-beliebigen Prinzen zu akzeptieren; die böse alte Hexe, die Kinder frisst; die vom Neid zerfressene Stiefmutter, die hundsgemeinen Stiefschwestern und so weiter.

Gerade die Märchen der Gebrüder Grimm sind oft grausam, ja gnadenlos. Sie beschreiben Kampf und Sieg, das Überleben des Überlegenen, die Zerstörung der alten weiblichen Kraft, des Wissens der weisen Frauen und spiegeln so die Bestrebung ihrer Zeit, die alte kulturelle Vielfalt, die unterschiedlichen Glaubensformen, das magische Weltbild zu zerstören und die christliche Moral über alles zu stellen.

Sosehr ich als Kind von Märchen fasziniert war, so sehr misstraute ich ihnen auch, denn ich konnte einfach nicht verstehen, warum all diese bösen Hexen, diese buckligen, gefährlichen alten Weiber, nette junge Männer und Frauen quälten und umbrachten. Und schon als Kind dachte ich: »Da will einer, dass wir denken sollen, dass alte Frauen böse sind.« Ich selbst verstand mich ausgezeichnet mit alten Frauen und war gern in ihrer Nähe.

Wenn ich nach Identifikationsfiguren in Märchen suchte, wurde es kompliziert. Ich war nicht besonders scharf darauf, einen Prinzen zu heiraten, ich wollte auf keinen Fall schweigend zwölf Nesselhemden nähen müssen und all die bösen Stiefmütter, Stiefschwestern und Hexen bedrückten mich. Warum rettet die Muttergottes ein Mädchen, um es dann mit einer unlösbaren Aufgabe zu überfordern: »Du darfst in jedes Zimmer gehen, doch die dreizehnte Tür darfst du nicht öffnen!«

Die angeblich so weisen Frauen, die eigentlich machthungrig und manipulativ waren, inspirierten mich nicht.

So sah ich mich am liebsten in der Figur des gestiefelten Katers, den ich auch einmal in einer Aufführung in unserer Turnhalle spielen durfte. Das war meine Welt – ein gestiefeltes Katzentier, das zaubern konnte, das listig und witzig war. Dieser gestiefelte Kater musste nicht putzen, waschen, kochen, heiraten, irgendwelche Leute versorgen.

Ein anarchisches Vieh war das.

Doch es gab auch dieses Schneewittchen – das Szenario irritierte mich: Für sieben Zwerge den Haushalt führen! Gab es denn keine interessantere Aufgabe für eine Frau in einem Märchen? Da musste eine den Riesen lausen, eine andere wurde von einem Drachen gefangen gehalten – von den Schrecken des Alltags einer Hausfrau war nie die Rede. Und wenn sie nicht gestorben sind, so putzen sie noch heute!

Mit meiner Schwester und meiner Freundin spielte ich deshalb auch nie Märchen nach, sondern wir erfanden die Geschichte von drei Mädchen, die zum Theater gingen und tanzten, aber eben nicht so verhängnisvoll wie die arme kleine Karen im Märchen »Die roten Schuhe«. Nur ein Sadist hatte sich doch so eine Geschichte ausdenken können, in der ein Kind rote Schuhe geschenkt bekommt, dafür bestraft wird, sich fast zu Tode tanzt und dem schließlich die Füße abgehackt werden. Psychologen und Märchenforscher wie z. B. Bruno Bettelheim behaupten zwar, wir brauchten die Grausamkeit der Märchen als eine Art Ventil. Doch wie wunderbar ist das Leben, wenn Grausamkeit gar nicht erst vorkommt!

Viele Märchen beschreiben eine Initiation: Konfrontation mit der Natur, mit Urkräften, mit der eigenen Kraft, Bewältigung von Schwierigkeiten, Entdeckung des Wunderbaren. So können sie auch in den Menschen, die diese Geschichten hören oder lesen, innere Kräfte und Fähigkeiten freisetzen. Interessanterweise haben viele Hollywoodfilme dieses Initiationsmodell übernommen. In den erfolgreichsten Filmen geht es fast immer darum, dass die Heldin oder der Held in eine Krisensituation gerät und sich daraus befreit/befreit wird, um schließlich die Erfahrung in den Alltag wieder einzubringen – ganz wie im Märchen.

Als ich acht Jahre alt war, bekam ich zu Weihnachten das Märchenbuch »Die güldene Kette«, eine Sammlung von Märchen aus aller Welt. Dieses Buch war außerordentlich klug und liebevoll zusammengestellt. Es kamen fast keine bösen Frauen vor, dafür Zauberinnen, Patinnen, Muhmen, Großmütter, von denen eine lernen konnte. Ich habe dieses Buch noch heute und lese immer wieder darin. Es ist mittlerweile zerfleddert und abgewetzt und liegt neben meinem Bett. Obwohl die Geschichten für mich eine Art Initiation waren, ließen sie doch Fragen offen. Zum Beispiel die: Müssen eigentlich alle Wunder, alle Vergnügungen und Freuden an den beschriebenen, immerhin durchaus auch einmal starken Frauen vorbeigleiten? Gab es denn nicht einmal eine Frau, die aus der normalen Welt ausbrach und ein völlig anderes Leben führte? Ein märchenhaftes Leben im jubelnden Einklang mit Pflanzen, Tieren, fantasievollen jungen Männern? Das einzige Märchen, das unter diesem Aspekt vor meinen Augen bestehen konnte, war »Die Gänsehirtin am Brunnen«. Es beschreibt eine Wirklichkeit, wie sie in den Entwürfen meiner Seele vorkam: ein eitler machthungriger Herrscher, eine kluge Tochter, die, von einer Zauberin vor den Gewaltfantasien des Vaters beschützt, in die Kunst der Frauen eingeweiht und mit der Wildnis vertraut gemacht wird. Die junge Frau hütet Gänse – in der Mythologie sind sie die Führerinnen in die Unterwelt, die Hüterinnen des archaischen Wissens. Ein Prinz, der sich im Wald verirrt, wird von der Zauberin auf die Probe gestellt, bevor er die junge Frau überhaupt zu Gesicht bekommt.

In meinem Märchenbuch heißt diese Geschichte nun »Das Gänsemädchen« und ich habe sie ein wenig verfeinert, um die drohende Hochzeit abzuwenden. Denn, mal ehrlich, fast alle Frauen träumen zwar von dieser Traumhochzeit, doch wenn sie dann einmal verheiratet sind und der Alltag seinen Grauschleier über sie wirft, bleibt von den süßen Träumen nicht mehr so viel übrig.

Deshalb habe ich dieses Märchenbuch geschrieben – um den Frauen lustvolle Alternativen zum ewig gleichen Denkmodell zu entwerfen, um das Wunderbare zurück in den Alltag zu holen, um Frauen in ihrer Kraft zu bestärken und neue Wirklichkeitsentwürfe zu erfinden. Um Männer anzuregen, starke Frauen zu finden und auszuhalten. Denn nur die Kraft, die in Frauen schlummert (das größte ungenutzte Energiepotenzial der Welt), kann unseren Planeten noch vor der totalen Zerstörung retten. Protest und Widerstand sind wohl notwendig, doch Lebensfreude wird sich als die stärkere Wandlungskraft erweisen. Diese Lebensfreude will ich in meinen neu erzählten Märchen hervorrufen. Denn Märchen sind Landschaften im Kopf, die als Nährboden für neue Lebensmodelle die Wirklichkeit verändern können.

Dornröschen

In alten Zeiten wurden Königreiche nicht nur von Königen und Königinnen geführt, sondern auch von Feen. Die Zeit wurde nach dem Mond gemessen und für jeden Mond im Jahr war eine Fee zuständig. Stand der Wintermond am Himmel, so kam die Traumfee und leitete die Geschicke der Menschen, ihr folgten die Eisfee, die Wasserfee, die Pflanzenfee, die Tierhüterin, die Erdfee, die Blütenfee, die Feuerfee, die Früchtefee, die Glücksfee, die Fee der Künste, die Fee des Lichts und die Fee der Dunkelheit und der Nacht. Dreizehn Feen begleiteten das Leben aller Menschen. König und Königin hatten für die dreizehn Feen dreizehn Teller und einmal im Jahr wurden alle Feen zum großen Fest eingeladen. Doch der König hatte eine verhängnisvolle Idee.

»Es passt mir nicht«, sagte er, »dass wir uns immer nach diesen Feen richten müssen! Und auch der Mond ist mir unheimlich. Ich möchte zwölf goldene Teller für zwölf Sonnenmonate haben und die Feste nach der Sonne feiern.«

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte die Königin.

»Wir laden die Fee der Dunkelheit nicht ein, die mag ich sowieso nicht«, entgegnete der König. Die Königin protestierte, doch kam sie gegen den König nicht an.

Die Königin war schwanger und bekam eine kleine Tochter. Zur Geburt der Tochter wurden zum ersten Mal die Feen zum Mahl der goldenen Teller geladen. Die Fee der Dunkelheit bekam keine Einladung. Die zwölf Feen saßen an ihren zwölf Tellern. Eine nach der anderen stand auf und sprach einen Wunsch für die kleine Prinzessin aus. Wohlstand, Gesundheit, Lebensfreude usw. Als nur noch die Glücksfee ihren Wunsch sprechen sollte, flog die Tür auf. Da stand die Fee der Dunkelheit. Die Gäste erstarrten.

»Die Prinzessin soll sich mit fünfzehn Jahren an einer Spindel stechen und sterben!«, rief sie zornig.

Die Glücksfee stand auf und wiegte den Kopf hin und her.

»Der Zorn meiner Schwester ist berechtigt«, sagte sie, »doch will ich ihren Wunsch wandeln. Die Prinzessin soll in eine tiefe Trance fallen.«

Die Stimmung war nicht mehr zu retten, die Königin löste das Fest auf und machte ihrem Mann große Vorwürfe. Sie zog aus dem Schlafzimmer aus in einen anderen Flügel des Schlosses und hütete ihre Tochter wie ihren Augapfel.

Das kleine Mädchen war überaus lebendig, klug und sehr fröhlich und alle Menschen, die ihr begegneten, liebten es, weil es so freundlich war.

In ihrer Kindheit hielten sich alle streng an das Gebot der Königin: Die Kleine darf keine Spindel berühren und keiner Spinnerin begegnen. Doch allmählich vergaß man den Fluch der Fee der Dunkelheit und die junge Prinzessin bewegte sich überall frei, entließ ihre Wächter und war unbesorgt.

Eines Tages erhielten Königin und König eine Einladung einer befreundeten Königsfamilie. Man machte sich Sorgen, denn an den Grenzen ihres Königreichs gab es Überfälle und Kämpfe. Die Prinzessin blieb im Schloss zurück, denn die Königin fürchtete, Räuberbanden könnten die Kutsche überfallen. Die Reise blieb jedoch friedlich, auf einer sonnigen Waldlichtung packten die mitreisenden Köchinnen ihre Köstlichkeiten aus und zu Vogelgesang und Bachplätschern wurde gegessen und getrunken.

Ein Rabe rief dreimal.

Da sagte die Königin: »Um Himmels willen. Dreimal rief der Rabe, etwas Unwiderrufliches wird geschehen …«

Sie erstarrte und wurde knochenbleich. »Unsere Tochter ist jetzt fünfzehn Jahre alt …«

»Ja, und?«, fragte der König.

»Der Fluch«, antwortete die Königin. »Wir haben den Fluch vergessen. Den Fluch der dreizehnten Fee.«

»Ach was«, sagte der König, »da passiert schon nichts. Dreizehnte Fee! Papperlapapp!«

»Wir müssen sofort zurück«, entgegnete die Königin und Tränen strömten über ihr Gesicht.

»Es gibt gar keine Feen mehr«, beschwichtigte der König.

Zu der Zeit, als die Prinzessin geboren wurde, wäre ihm so ein Satz nie eingefallen, denn da waren die Feen im Reich allgegenwärtig. Doch als die dreizehnte Fee nicht eingeladen wurde und beim Festmahl der zwölf goldenen Teller vor zwölf Feen ihren Fluch aussprach, erhoben sich ihre Feenfreundinnen, verließen das königliche Gastmahl und wurden nie mehr gesehen. So kam es, dass die Menschen die Feen vergaßen. Die Prinzessin wuchs heran, wurde vom wilden Kind zum klugen und einfühlsamen jungen Mädchen und gerade gestern war sie nun fünfzehn Jahre alt geworden.

Weil die Königin nun gar keine Ruhe gab, willigte der König ein und die Dienerschaft packte sogleich die Stühle und die Tische, das Geschirr, das Besteck, die Tücher, die Körbe mit Obst, die Töpfe mit feinstem Gemüse und Fleisch, die Pasteten, das Brot wieder ein. Alle bestiegen die Kutschen und die Wagen und los ging’s – nach Hause.

Etwas sehr Seltsames geschah nun: Je näher sie dem Schloss kamen, desto langsamer wurden die Pferde. Und als sie das Schlosstor erreichten, fielen plötzlich alle in einen Zustand der Starre, in eine Art Wachschlaf – die Pferde, die Menschen, die Hunde, die eben noch begeistert gebellt hatten, die Fliegen, die eben noch von der Dienerschaft fortgewedelt worden waren, die Schweine, die vor dem Tor in der Erde gewühlt hatten, alles fiel aus der Wirklichkeit, aus der Zeit. Nur die Pflanzen begannen zu wachsen. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit schossen die Blumen, die Büsche, die Sträucher in die Höhe, das wilde Kraut rankte über die Mauern, über Tore und Türen, über Fenster und Öffnungen und bald war alles überwuchert und man konnte das Schloss mitsamt allen Lebewesen nicht mehr sehen.

Was war geschehen?

Während sich das Königspaar auf den Weg gemacht und das Schloss verlassen hatte, hatte sich die junge Prinzessin gefreut, dass sie endlich einmal ungestört den Garten erkunden konnte. Sie machte sich im Trubel des Aufbruchs ganz heimlich davon, stieg die große Treppe hinunter zum Garten, roch an den Pflanzen, lockte ein Eichhörnchen, sang mit den Vögeln – und da entdeckte sie den alten Turm.

»Geh niemals in den alten Turm!«, hatte ihre Mutter sie schon gewarnt, als sie noch ein kleines Kind war. Nun sind solche Warnungen ja geradezu eine Aufforderung für ein aufgewecktes lebendiges Kind, genau das zu tun, wovor gewarnt wurde. Die Prinzessin rieb sich die Hände, das konnte ja spannend werden. Sie zog an dem alten Holztor. Es bewegte sich nicht.

»Geh da nicht hinein!«, hörte sie eine feine Stimme in ihrem Inneren. Doch eine andere Stimme war stärker: »Hinein und erforschen, was darin zu finden ist.«

Nach einer ganzen Weile Ziehen und Zerren, als sie schon ganz verschwitzt und verdreckt war, rief sie plötzlich aus: »Nun öffne dich doch, du altes Tor!«

Sie berührte die Klinke und mühelos schwang das Tor auf. Nicht einmal das leiseste Quietschen war zu hören. Eine schmale Holztreppe führte hinauf zur Spitze des Turms. Die Prinzessin stieg hinauf. Nun wurde ihr doch ein wenig bang. Sie fühlte sich plötzlich so schwer. Ihre Kraft schien zu erlahmen, Zweifel und düstere Gedanken quälten sie. Wo war die wilde Kraft ihrer Kindheit? Wo ihre Unbekümmertheit, ihre Lust am Leben? Sie spürte nur ihre schweren Beine, ihren ungelenken Körper, ihr Kopf war umnebelt, als betrete sie eine andere Welt. Vor ihr befand sich nun eine kleine Holztür. Sie drückte die Klinke hinunter, die Tür ging auf und da saß eine Frau und spann. Zuerst dachte die Prinzessin, die Frau sei alt und hässlich, doch als sie näher trat, sah sie, dass da eine junge Frau saß, ihre langen dunklen Haare fielen bis zum Boden, ihre Hände drehten die Spindel und zupften Wolle. Wie gebannt schaute die Prinzessin auf die flinken Hände der Spinnerin.

»Komm nur näher«, sagte die freundlich. »Ich habe dich schon erwartet.«

»Wer bist du? Warum hast du mich erwartet?«, fragte die Prinzessin.

»Ich bin die Fee der Dunkelheit«, antwortete die Spinnerin. »Und heute werde ich dich begleiten, wenn du zur Frau wirst.«

»Ich verstehe kein Wort«, erwiderte die Prinzessin verwundert, die zwar verwirrt, aber keineswegs mehr ängstlich war.

»Was ist eine Fee und wie kannst du mich begleiten? Wie werde ich zur Frau?«

»Hier, nimm die Spindel«, bat die Fee und die Prinzessin ergriff die Spindel, berührte die scharfe Spitze und da geschah es – sie fiel in einen Zustand der Starre und mit ihr erstarrte das ganze Königreich. Die Wäscherinnen ließen die Wäsche fallen und sanken zu Boden. Der Koch, der gerade dem Küchenjungen eine Ohrfeige geben wollte, erstarrte und sackte mitsamt dem Jungen zu Boden. Die Stallknechte fielen über die Pferde, die ebenfalls zu Boden sanken. Eine nie gekannte Stille senkte sich über das Schloss, den Garten, den Hof, das Königreich. Es war, als hielte das ganze Universum die Luft an. Blut strömte auf den Boden des alten Turmzimmers. Die dreizehn Feen standen im Kreis um die Prinzessin. Sie waren die Einzigen, die sich bewegen konnten. Die Prinzessin war in eine andere Welt geglitten.

Die Feen berührten sie mit den Fingerspitzen und begannen, ein Gewebe aus Tönen über ihr zu wirken, mit dem sie die junge Frau ganz einhüllten. Wie im Schlaf vernahmen alle Kreaturen dieses Lied und schienen zu lächeln.

»Beschützt, bewahrt, geborgen«, murmelten die Feen und legten die Prinzessin auf ein Bett aus Rosenblättern, Beifußkraut und Lavendel. Dann wedelten sie mit ihren Händen in der Luft und alle Wesen konnten sich wieder bewegen, alle Wesen, außer denen im Schloss. Die Pflanzen, die um die Schlossmauer herumgewachsen waren, waren nun durchsetzt von Brombeerranken, Rosensträuchern und anderen wilden dornigen Büschen.

Nur noch der Sage nach kannten die Menschen außerhalb des Schlosses die Geschichte der Königsfamilie. Man erzählte sie und begann: »Es war einmal …«

Doch gab es auch junge Männer, die sich in den Kopf setzten, das Schloss im Dornenwald zu finden und die Prinzessin zu befreien. Wenn es einer versuchte, schlug er wohl mit seinem scharfen Schwert in die Dornen, doch geriet er tiefer und tiefer in die Dornenhecke und musste darin schließlich verderben.

Auch diese Geschichten der Prinzen, die den Kampf mit der Dornenhecke gewagt hatten, erzählte man sich. Niemals war einer zurückgekehrt und so fanden sich schließlich auch keine jungen Männer mehr, die es wagen wollten, da einzudringen.

Eines Tages kam ein junger Mann daher. Er war barfuß, sein Hund Fedor und sein Rabe Nero begleiteten ihn.

»Was ist denn das für eine Riesenhecke!«, staunte er, als er im Garten des Wirtshauses genau auf die Dornenhecke schaute.

»Ach, es ist besser, du weißt es nicht«, sagte die Wirtin. »Schon viele junge Männer haben ihr Leben darin gelassen, weil sie die Prinzessin …«

Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund, schon hatte sie zu viel gesagt.

»Prinzessin?«, rief der Junge aus. »Was ist mit ihr?«

Die Wirtsleute erzählten ihm die ganze Geschichte. Fedor hatte sich auf die Füße der Wirtin gelegt und der Rabe Nero krächzte immer wieder, wenn die Erzählung stockte.

Als der Junge nun die ganze Geschichte vernommen und sich auch noch die vielen Warnungen der Wirtsleute und der Dorfbewohner angehört hatte, die mittlerweile um ihn versammelt waren, beschloss er, sich der Hecke auf ganz andere Art zu nähern.

Zuerst nähte er sich einen Umhang aus den Blüten, die er vorsichtig aus der Hecke zupfte. Dann begann er, die Hecke zu umkreisen und dabei zu singen. Sein Hund Fedor sang mit ihm und der Rabe krächzte jeweils am Ende eines Gesangs. Von nah und fern kamen die Leute aus den Dörfern und bestaunten diesen verrückten Jungen, der, in einen Blütenumhang gehüllt, singend die Hecke umkreiste. Schließlich begannen sie, mit ihm zu singen und mit ihm um die Hecke herumzuwandern und etwas Wundervolles geschah: Die Hecke wurde lichter und lichter, die Brombeersträucher zogen ihre stacheligen Zweige zurück und so etwas wie ein Weg wurde sichtbar. Die Pflanzen der Hecke begannen, in den Boden zu sinken.

Gleichzeitig bewegte sich die Prinzessin, die immer noch von den dreizehn Feen umgeben war. Sie schien aus einem tiefen Schlaf zu erwachen, reckte und streckte sich, gähnte, lachte und sagte: »So ein seltsamer Traum! Ich wurde zur Frau und da waren dreizehn Feen.«

Die Feen verblassten, zogen sich zurück und wedelten mit ihren Händen in der Luft. Da erwachte der ganze Hofstaat, die Wäscherinnen zogen die Wäsche aus dem Wasser, die Stallknechte wichen den Hufen der Pferde aus, die ebenfalls erwacht waren und nun wieherten und ausschlugen. Der Koch wollte dem Küchenjungen die Ohrfeige geben, doch der war schneller und sprang auf und davon.

Die Prinzessin stieg die Treppe wieder hinunter in den Garten. Da kam ihr schon der singende Junge mit seinem Hund und seinem Raben entgegen. Sie lachte laut auf, er lachte mit und alle Menschen, die mit ihm durch die Hecke gewandert waren, fingen auch an zu lachen. Lachend erwachten die Königin und der König und alle freuten sich mit der Prinzessin, die nun eine Frau war.

»Bleib in meiner Nähe«, sagte die Prinzessin zu dem Jungen. »Ich kann einen brauchen, der so schön singt und der lachen kann.«

Und das tat der Junge. Er baute sich eine Holzhütte zwischen den Rosen und die Prinzessin kam jeden Tag, um mit ihm, seinem Hund und seinem Raben zu spielen. Die Rosen aber, die rings um das Schloss blühten, waren bald so berühmt, dass die Menschen von nah und fern kamen, um sie zu bestaunen.

Amandas Geheimnis

In einem kleinen Dorf hatte einmal ein Mann ein Wirtshaus. Eigentlich gehörte es seiner Frau Lina, doch kaum hatten die beiden geheiratet, hatte er alles übernommen und behandelte Lina schlecht. Es war kein Geheimnis, dass er Frauen nachstellte, und so wollte auch kaum eine bei ihm arbeiten. Gäste kamen nicht allzu oft. Die Leute vom Dorf mieden den Wirt und Reisende machten einen Bogen um das Gasthaus, denn es hatte keinen guten Ruf.

Die gute Lina litt unter diesen Verhältnissen, doch wie so viele Frauen brachte sie nicht den Mut und die Kraft auf, dem Mann entgegenzutreten. Sie kochte, putzte und tat alle Arbeit und manchmal setzte sie sich hinter dem Haus zu den alten Steinen und weinte. Dass das noch nie geholfen hat, war klar, doch sie wusste sich einfach keinen anderen Rat.

Der Wirt und seine Frau Lina hatten eine Nachbarin, Amanda. Diese Amanda war nun gerade das Gegenteil von Lina. Sie hatte von ihren Eltern ein kleines Häuschen geerbt, gerade groß genug, um darin munter zu leben. Einen Mann hatte sie nicht.

»So viel Ärger brauche ich nicht«, sagte sie nur, wenn eine der Dorfbewohnerinnen neugierig nachfragte; damit erntete sie Heiterkeit und Verständnis. Zwar hätten diese Frauen ihre braven Männer nicht für alles in der Welt fortgegeben, na ja, vielleicht die eine oder andere schon, doch jede hatte ihr Päckchen zu tragen, wie es im Dorf hieß.

Natürlich wusste Amanda, wie groß das Unglück der armen Lina war, in der Nachbarschaft bleibt es nicht verborgen, wenn geschlagen, geschrien und geweint wird. Doch war Amanda durchaus nicht von der Sorte Frauen, die immer gleich anderen zu Hilfe eilen. Sie erledigte ihre Angelegenheiten. Zu denen gehörte, Kräuter zu sammeln und Heilessenzen daraus zu machen. Sie kümmerte sich nicht um den Tratsch im Dorf. Wenn ein paar Frauen auf dem Dorfplatz zusammenstanden, stellte sie sich wohl einmal dazu und hörte sich die Geschichten an, doch sie blieb nie lange.

Die Frauen wussten, dass Amanda ein wenig »sonderbar« war. Wenn sie krank waren, gingen sie dennoch gleich zu Amanda, denn die hatte Salben und Tinkturen, die den Schmerz oder die Wunden linderten. Lina kam oft abends zu ihr, sie plauderten und Amanda gab ihr etwas zur Stärkung mit, obwohl sie wusste, dass kein Kraut gewachsen war, um einer Frau zu helfen, die sich nicht wehrt.

Es machte den Wirt unruhig, dass seine Frau immer zu Amanda ging. Was hatten die beiden Frauen da zu besprechen? Redeten sie schlecht über ihn? War diese Nachbarin nicht eine Hexe mit ihren Kräutern und ihrem Blick, der ihn schon lang verunsicherte? Wenn er Amanda auf der Straße begegnete, wich er ihr aus wie ein geprügelter Hund. Er hasste sich selbst dafür, dass er, ja, Angst vor ihr hatte. So ging er eines Abends, nachdem er sich Mut angetrunken hatte, einmal zu ihr. Doch wenn er gehofft hatte, seine männliche Kraft bei ihr anzubringen, so wurde er schnell eines Besseren belehrt. Er hatte sich eigentlich vorgestellt, sie in ihre Schlafkammer zu drängen und sich auf sie zu legen. Stattdessen saß er artig am Tisch, verlangte Kräuter gegen seinen Rheumatismus, die er auch bekam, und nachdem er gegangen war, konnte er nicht fassen, wie ruhig und brav er gewesen war und wie viel Geld er ihr für die Kräuter gegeben hatte!

Er ging nie wieder zu Amanda und wenn seine Frau am Abend hinübereilte, schaute er ihr nur schief nach und sagte nichts.

In einer Vollmondnacht war Amanda im Wald unterwegs, um Waldbingelkraut zu sammeln, das gerade in der Vollmondnacht besonders hellsichtig machen konnte. Sie berührte die Blätter der Pflanze und wurde hellwach und unruhig. Da war etwas oder jemand in ihrer Nähe. Es fühlte sich nicht menschlich an. Sie blieb, ganz ruhig gegen einen alten Eichenbaum gelehnt, sitzen, rief die Göttin Freya und ihre kämpferische Schwester Gullveigh.

»Freya, Katze, Vogel, Baum,

kommt in meinen wachen Traum.

Gullveighs Zorn und Freyas Lachen

sollen meine Kraft entfachen.

Helft mir sehen,

handeln,

wandeln.«

Sie schnippte mit den Fingern und drehte sich um ihre eigene Achse, wobei sie Windgeräusche und Wasserplätschern imitierte. Sie bückte sich zur Erde und sprang in die Luft, sie umarmte den Eichenbaum und fühlte, wie die Kräfte von Freya und Gullveigh in sie hineinströmte. Ein tiefes Lachen stieg auf. Lautlos rollte sie sich auf der Erde.

Als Freya und Gullveigh zu ihrer Seite waren, schlich sie geräuschlos barfuß dorthin, wo sie diese beunruhigende Energie spürte. Sie blieb stehen. Da kauerte der Wirt mit seinen wilden schwarzen Locken und seinem behaarten Körper und fraß ein Reh gerade wie ein Wolf. Er riss ihm Fleisch aus den Rippen und verschlang es. Er spürte etwas und drehte sich um. Seine hellen blaugrauen Augen leuchteten hungrig auf. Da erkannte er Amanda. Er ließ von dem Reh ab und richtete sich auf. Wie er so kleingewachsen und behaart vor ihr stand, hatte er tatsächlich mehr von einem Tier als von einem Menschen. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht.

»Ja, ich habe ein Geheimnis«, sagte er lauernd. »Nun hast du es herausgefunden und dafür musst du sterben.«

Amanda lächelte ihn an.

»Ich habe auch ein Geheimnis«, sagte sie. Sie schnippte mit den Fingern und sprach:

»Klein und fein,

mein Schwein,

folge mir in meinen Garten,

wo die anderen warten.«

Und der Mann, der wie ein Wolf ausgesehen hatte, wurde klein und dick, seine hellen Augen starrten Amanda ungläubig und fassungslos an. Vor ihr stand nun wie gebannt ein schwarzes Schwein, das sich nicht bewegen konnte und hilflos grunzte. Amanda sang das Lied des Waldes und des Feuers, der Quellen und des Sturms. Der Wirt in Gestalt des kleinen Schweins musste dastehen und zuhören, wie die wilde Frau sang und tanzte. Sie nahm ihn gar nicht zur Kenntnis. Erst als sie fertig war, wandte sie sich ihm zu: »Komm, mein Kleiner!«