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Buchinfo:

Jesus – was war er für ein Mensch?

Für die einen war er ein politischer Rebell, für die anderen der Messias und Gottes Sohn. Die Erwartungen an ihn waren riesengroß. Doch nicht nur seine Eltern und engsten Freunde verzweifelten manchmal geradezu an ihm, weil er ihre Vorstellungen nicht erfüllte. Dennoch oder gerade deswegen haben er und seine Lehre Sprengkraft bis heute. Wie ist das möglich? Um das Geheimnis dieses Mannes zu ergründen, nimmt Alois Prinz den Leser mit in die damalige Zeit. Wir erleben hautnah, unter welchen Lebensumständen und in welch politisch aufgeheizter Zeit Jesus aufwuchs, wie er handelte und was ihm wichtig war.

Autorenvita:

Imageauthor

© Christina Häusler

Alois Prinz, geboren 1958, gehört zu den hochkarätigen und viel beachteten Autoren im Bereich Biografien. Er studierte Literaturwissenschaft, Politologie und Philosophie, parallel dazu absolvierte er eine journalistische Ausbildung. Mit seiner Familie lebt er am Stadtrand von München. Bekannt wurde er durch seine Biografien über Georg Forster, Hannah Arendt, Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, Franz Kafka, den Apostel Paulus, rebellische Söhne und zuletzt Joseph Goebbels. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen u.a. den Evangelischen Buchpreis für die Arendt-Biografie und den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Biografie über Ulrike Meinhof.

Bei Gabriel erschien zuletzt seine Anthologie „Mehr als du denkst. Zehn Menschen, die ihre Bestimmung fanden“.

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INHALT

EINFÜHRUNG

Am Jordan oder Jesus, das Ärgernis

1.

Kaiser, Könige und die Liebe des Volkes

2.

Der goldene Sarg und die hölzerne Krippe

3.

Engel und Soldaten in Nazaret

4.

Die große Loslösung

ZWISCHENFRAGE

Wie sah Jesus eigentlich aus?

5.

Kinder des Lichts und die Fallen des Teufels

6.

Tage in Kafarnaum

7.

Der sanfte Rebell

8.

Mitten in der Welt

9.

Der goldene Überfluss

10.

Pfeile des Teufels und die Sünde der Feigheit

11.

Auf dem Weg nach Emmaus

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

EINFÜHRUNG

AM JORDAN
ODER
JESUS, DAS ÄRGERNIS

Betanien, was so viel heißt wie »Bootshausen«, so wird im Johannesevangelium der Ort am Jordan genannt, wo Jesus von Johannes dem Täufer getauft worden sein soll. (Joh 1,28)*

Die Uferbereiche nahe der Stadt Jericho, wo man die Taufstelle vermutet, sind heute ein Ziel für Gläubige aus aller Welt. Pilger in weißen langen Hemden steigen der Reihe nach in den Fluss und lassen sich von einem Priester rückwärts ins Wasser tauchen. Der Jordan ist ein schmales Flüsschen, in dem das Wasser mehr steht als fließt. Damals, in den Tagen des Täufers Johannes, soll der Fluss noch zwei- bis dreihundert Meter breit gewesen sein. An einer Furt, wo der Fluss weniger reißend und nicht so tief war, hatten die Jünger des Johannes eine Treppe ins Wasser gebaut. Davor drängten sich die Menschen. Johannes war eine Berühmtheit und die Leute kamen von weit her, um ihn zu hören und sich von ihm taufen zu lassen. Am Ufer entlang standen nicht wie heute Autos und Busse, sondern Kamele und Esel, beladen mit Decken und Zeltplanen. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus nennt Johannes einen edlen Mann, dessen »wunderbare Anziehungskraft« eine »gewaltige Menschenmenge« anlockte.1

Und das, obwohl sie von Johannes keine angenehmen Worte und erbaulichen Predigten zu hören bekamen. Vielmehr beschimpfte er sie wüst als »Schlangenbrut« (Mt 3,7) und drohte ihnen zornig mit einem entsetzlichen Gericht, wenn sie nicht bereit wären, ihr Leben radikal zu ändern. Zu den donnernden Reden des Täufers passte auch sein Aussehen. Er hatte eine wilde Haarmähne, bekleidet war er mit einem groben Umhang aus Kamelhaar, und alles, was er aß, waren Heuschrecken und wilder Honig.

Der Evangelist Lukas nennt ziemlich genau den Zeitpunkt, als sich seiner Schilderung nach an der Taufstelle am Jordan etwas Ungewöhnliches ereignet haben soll. (Lk 3,1-22) Der Kaiser in Rom hieß Tiberius, Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Antipas, ein Sohn des Herodes des Großen, war Tetrarch von Galiläa und Kaiphas Hohepriester in Jerusalem. Die Amtszeiten dieser Personen sind bekannt, legt man nun noch die damalige Zeitrechnung zugrunde, dann muss es ein Tag Ende des Jahres 27, Anfang des Jahres 28 n. Chr. gewesen sein.

Wieder sind viele Menschen an den Jordan gekommen, um sich von Johannes taufen zu lassen. Unter ihnen ist ein junger Mann Mitte zwanzig. Als die Reihe an ihm ist, steigt er zu Johannes ins Wasser. Aber der sonst so temperamentvolle und hitzköpfige Johannes wird plötzlich kleinlaut, zögerlich, ja unterwürfig. »Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir?«, sagt Johannes im Matthäusevangelium. (Mt 3,14) Der junge Mann besteht darauf, von Johannes getauft zu werden, und schließlich geschieht es so.

Dieser Vorfall sorgt unter den Leuten am Fluss für erhebliche Unruhe. Denn viele von ihnen halten Johannes für einen Propheten oder gar für den geweissagten Messias. Johannes hatte eine solche Verehrung immer energisch zurückgewiesen und darauf beharrt, dass er nur ein Vorläufer sei und nach ihm einer komme, der viel größer sei als er. Und nun zeigt er vor einem jungen Mann so viel Respekt und Ehrfurcht. Ist denn an diesem Mann etwas Besonderes? Keiner kennt ihn. Nur so viel ist zu erfahren, dass er Jesus heißt, aus Galiläa kommt und der Sohn eines Bauhandwerkers namens Josef ist.

Mit der Taufe am Jordan begann das öffentliche Wirken des Jesus von Nazaret. In den folgenden Wochen und Monaten machte er immer mehr von sich reden. Er zog in der Gegend um den See Gennesaret umher, heilte Kranke und hielt Reden, wie man sie noch nie gehört hatte. Immer mehr Menschen schlossen sich ihm an und verehrten ihn als einen Propheten oder sogar als den Messias, der das Volk Israel von der römischen Herrschaft befreien würde. Mit seinen Ansichten zog er den Argwohn der jüdischen Schriftgelehrten auf sich, und für die römischen Besatzer waren Wanderprediger wie dieser Jesus gefährliche Unruhestifter, die im Verdacht standen, die römische Herrschaft infrage zu stellen und ihre Landsleute zum Widerstand aufzuwiegeln. Schließlich wurde Jesus verhaftet und hingerichtet, am Kreuz, wie man es nur mit Schwerverbrechern machte.

Mit seinem Tod brach für seine Anhänger, die sich der »neue Weg« (Apg 9,2) nannten, eine Welt zusammen. Für viele unter ihnen war es eine bittere Tatsache, dass sie sich in Jesus getäuscht hatten und die ganze Bewegung um ihn erbärmlich gescheitert war. Jahrelang waren sie einem Mann gefolgt, von dem sie sich so viel erwartet hatten. Einige hatten gehofft, dass Jesus den entscheidenden Aufstand gegen die Römer anführen werde. Andere hatten erwartet, dass mit Jesus das ersehnte Gottesreich anbrechen werde und sie darin bevorzugte Plätze einnehmen würden. Nichts davon war eingetroffen. Stattdessen war ihr Meister am Kreuz gestorben wie ein x-beliebiger Verbrecher.

Die Frauen und Männer, die dem Mann aus Nazaret gefolgt waren, zerstreuten sich in alle Winde und damit schien diese kleine jüdische Sekte ausgelöscht und vergessen zu sein. Aber schon nach kurzer Zeit tauchten die Jesus-Leute wieder auf und behaupteten, ihr Meister sei nicht tot, sondern von den Toten auferstanden. Die Nachricht vom Zimmermannssohn aus Galiläa, der in Wahrheit Gottes Sohn war, der die väterliche Liebe Gottes zu den Menschen verkündete und selber lebte, der hingerichtet wurde und wieder auferstanden war, verbreitete sich nun unaufhaltsam. Entscheidend trug dazu ein Mann namens Paulus bei, der nur wenig jünger war als Jesus. Er, der sich vom fanatischen Verfolger der Jesus-Leute zum Apostel gewandelt hatte, verhinderte, dass die Lehre des Nazareners eine rein jüdische Angelegenheit blieb. Er brachte die »frohe Botschaft« auch zu den Heiden. Überall in Kleinasien und sogar in Griechenland und in Rom entstanden Gemeinden der Christen, wie sie jetzt genannt wurden.

Zunächst wurden die Erinnerungen an Jesus mündlich weitergegeben. Doch dann begann man in den Gemeinden, diese Geschichten zu sammeln und sie aufzuschreiben. Die Verfasser dieser Berichte hatten von Anfang an mit einem Problem zu kämpfen. Wie sollten sie über jemanden schreiben, dessen »Reich nicht von dieser Welt« war, wie es im Johannesevangelium heißt, und der doch auch ein Mensch war aus Fleisch und Blut, der aß und schlief, der Hunger und Durst kannte, der lachte und weinte, der Schmerzen erlitt und eines gewaltsamen Todes starb.

In der frühen Kirche wurde heftig darüber gestritten, wie man diese zwei Seiten des Jesus von Nazaret, seine göttliche und seine menschliche, verstehen und wie man sie beschreiben kann. War Jesus nun zur Hälfte ein Mensch und zur anderen Hälfte ein Gott? Oder war er nur ein bisschen Mensch und hauptsächlich Gott? Oder war er nur scheinbar ein Mensch? Oder war er nicht wirklich Gott, sondern nur Gott ähnlich?

Auf einem Konzil in der kleinasiatischen Stadt Chalkedon wollte man im fünften Jahrhundert diesen Spekulationen ein für alle Mal ein Ende bereiten, indem man festlegte, dass Jesus »wahrer Mensch und wahrer Gott« gewesen sei. Er war demnach also beides – und beides ganz. Das ist schwer zu verstehen. Es ist ein Paradox.

»Wahrer Mensch und wahrer Gott« – diese Formel ist weniger eine Lösung als eine Aufgabe. Denn wie kann man das Leben eines Menschen erzählen, der ein Mensch und zugleich Gott war, und beides ganz? Einige Wissenschaftler und Autoren haben in erster Linie die menschliche Seite des Nazareners betont und sahen ihn als einen Religionsstifter, als großen Lehrer, als einen genialen Psychologen oder einen politischen Rebellen. Bei anderen wiederum überwiegen die göttlichen Eigenschaften Jesu, und das führt oft so weit, dass er zu einer abgehobenen Gestalt wurde, die über der menschlichen Welt schwebt und kaum noch mit den Füßen die Erde berührt. Wie kann man ein zu einseitiges Bild von Jesus vermeiden? Wie schafft man es, ihn zu sehen als »wahrer Mensch« und »wahrer Gott«?

Auch seine Zeitgenossen hatten offenbar ihre Schwierigkeiten mit Jesus. Selbst seine engsten Freunde sind manchmal schier verzweifelt an ihm, weil er einfach nicht die Vorstellungen erfüllte, die sie sich von ihm machten. Denn er trat ganz anders auf, als man es sich von einem religiösen Führer oder einem Volkshelden erwartete. Er lebte arm und anspruchslos. Er gab sich mit Leuten ab, die in den Augen rechtgläubiger Juden gebrandmarkte Außenseiter und Sünder waren. Er bekleidete kein hohes Amt, verdiente kein Geld und genoss kein Ansehen wie die Tempelpriester in Jerusalem. Er war wehrlos und ließ es geschehen, dass man ihn verfolgte und schließlich tötete. Als er am Kreuz hing, zeigte es sich am deutlichsten, dass die meisten seiner Freunde ein falsches Bild von ihm hatten.

Schon vorher, als sie noch gemeinsam durch Galiläa gezogen waren, hat Jesus seine Begleiter immer wieder ermahnt, sich nicht über ihn zu ärgern. (Lk 7,23; Mk 14,27) Denn ärgerlich war es für seine Gefährten, dass Jesus sich oft so ganz anders benahm, als sie es erwarteten und erhofften. Seine Jünger hätten es gern gehabt, dass Jesus ihnen eindeutige Zeichen und Antworten gibt, um Klarheit darüber zu haben, wer er war und was er wollte. Jesus ging auf solche Forderungen nicht ein. Er wollte seinen Jüngern und Begleitern nicht die Zweifel, die Ungewissheiten nehmen. Denn ihm nachzufolgen, das sollte ein Wagnis sein und bleiben.

Dieses Wagnis, sich auf ihn einzulassen, gehört wesentlich zu dem, was Jesus Glauben nannte. Und dieses Wagnis bleibt auch uns Heutigen nicht erspart. Darum ist es gefährlich, sich über Jesus allzu sicher zu sein. Ein allzu selbstgewisses Wissen über Jesus nimmt uns jedes Risiko. Es ist eine Abkürzung zu Gott, die uns eher von ihm wegführt. Und selbst zweitausend Jahre Christentum, Generationen von Theologen, Berge von gelehrten Abhandlungen, unzählige Lehren der Kirche, Zeugnisse von Heiligen und Menschen, die ihm nachgefolgt sind – all das gibt uns keine Gewissheit über Jesus von Nazaret, die wir einfach nur zu übernehmen bräuchten. Um ihm nahezukommen und sein Geheimnis zu verstehen, müssen wir zu allen Zeiten mit ihm gleichzeitig werden. Das heißt, wir müssen ihn sehen und gleichsam mit ihm leben wie seine Zeitgenossen und Begleiter – mit denselben Zweifeln, mit derselben offenen Frage, wie die Sache wohl ausgeht.

Jesus selbst hat zu seinen Lebzeiten immer wieder Hinweise gegeben, wie man ihn sehen, wie man zu ihm stehen soll. In den Schriften des Evangelisten Lukas ist auch Johannes der Täufer unsicher darüber, mit wem er es zu tun hat. (Lk 7,18-23) Als Johannes im Gefängnis sitzt, lässt er über Freunde an Jesus die Frage richten, wer er sei. Jesus antwortet Johannes nicht, indem er etwa sagt: »Ich bin der Sohn Gottes«, oder »Ich bin der Messias«. Er teilt Johannes auch nicht seine Botschaft mit. Er sagt ihm nur, was er getan hat, dass er Kranke geheilt und Arme getröstet hat. Diese Auskunft soll Johannes genügen, um zu verstehen, wer Jesus ist.

Unsere Situation heute ist nicht anders als die von Johannes. Auch wir können erfahren, was Jesus gesagt und getan hat, und wir müssen diese Worte und Taten richtig auslegen und deuten, um zu wissen, wer Jesus war. Das heißt aber auch, dass das Leben des Jesus von Nazaret nicht abtrennbar ist von seiner Lehre. Auch das unterscheidet ihn von anderen großen Gestalten der Weltgeschichte. Die Lehren eines Aristoteles kann man verstehen, ohne dass man wissen muss, wie und zu welcher Zeit dieser griechische Gelehrte gelebt hat. Man braucht auch nichts über den Menschen Karl Marx zu wissen und kann trotzdem den Marxismus studieren. Und wer klug genug ist, kann sich mit der Relativitätstheorie beschäftigen, auch wenn er noch nie etwas von Albert Einstein gehört hat.

In all diesen Fällen ist die Lehre ablösbar vom jeweiligen Erfinder oder Entdecker. Bei Jesus ist das nicht möglich. Er hat nicht nur eine Botschaft verbreitet, sondern er hat seine Botschaft gelebt. Seine Lehre und sein Leben sind eins. »Die Person Jesu ist seine Lehre und seine Lehre ist er selbst«, so drückte es Joseph Ratzinger aus.2 Insofern ist auch das Christentum keine Lehre, es ist eine »Existenz-Mitteilung«3, und das einzige Vorbild für diese Mitteilung ist das Leben des Jesus von Nazaret. Er, der sich »Menschensohn« nannte, hat vorgelebt, wie ein Dasein im absoluten Vertrauen auf die göttliche Liebe aussehen kann. Dieses Leben bleibt für alle Zeiten das Vorbild für alle, die dem »Menschensohn« nachfolgen wollen. Nachfolge bedeutet mithin, die innere Freiheit zu gewinnen, wie Jesus sie besaß, und die Mitmenschlichkeit zu praktizieren, wie er sie geübt hat.

Auch für das Christentum ist das Leben Jesu die Grundlage und die einzige Orientierung. Nach Karl Jaspers, der Jesus zu den »maßgebenden Menschen« zählt, geht von ihm auch heute noch eine große »Lebendigkeit« aus, die für Jaspers ihren Grund in seiner »Radikalität« hat.4 Eine Radikalität freilich, der es nicht darum geht, immer dagegen zu sein, sondern die immer eine Alternative aufzeigt, ein Leben, das möglich und »sinnvoll« ist. Jesus ist somit auch das »Dynamit«, das die Kirche und das Christentum vor Erstarrung bewahrt und beide zwingt, sich immer wieder zu hinterfragen. Jesus wollte ein Ärgernis sein in dem Sinne, dass er sich den Ansichten und Vorurteilen der Menschen immer wieder entzogen hat. Es erwies sich, dass er immer anders, tiefer und größer war als die Bilder, mit denen ihn die Menschen festlegen wollten. Das »Heil«, das er versprach, überstieg die herkömmlichen, oft allzu menschlichen Anschauungen über ihn und seine Sendung. Insofern ist Jesus eine stete Herausforderung – und damit auch eine Aufforderung an uns, auch von uns selbst größer, »göttlicher« zu denken.

1.

KAISER, KÖNIGE UND DIE LIEBE DES VOLKES

Sein Geburtstag wurde als die Geburtsstunde eines göttlichen Kindes und als »Evangelium« (griech.: gute Nachricht) gefeiert, er wurde als »Sohn Gottes« verehrt, als »Retter« und als Bringer einer »Goldenen Weltzeit«. »Er macht ein Ende der eisernen Zeit; eine goldene Menschheit wird die Erde erfüllen«, so pries der römische Dichter Vergil diesen Friedensstifter.5

Die Rede ist hier nicht von Jesus von Nazaret, sondern von Kaiser Caesar Octavius Augustus in Rom. Und für die religiöse Verehrung, die ihm zuteilwurde, schien es allen Grund zu geben. Dieser Kaiser Octavian, der sich den Namen »Augustus«, der Erhabene, zulegte, hatte den römischen Bürgerkrieg beendet und seinen Rivalen Antonius ausgeschaltet. Mit seiner Alleinherrschaft begann 27 v. Chr. eine lange Friedenszeit, die »Pax Romana«. Straßen wurden gebaut zu den entlegensten Städten und Provinzen, die Meere wurden von Piraten befreit. Jeder konnte nun ungehindert und relativ sicher reisen. Die Verwaltung der eroberten Gebiete wurde verbessert, der Handel wurde angeregt und die Wirtschaft blühte auf. Unter der Herrschaft des göttlichen Kaisers wurden so viele neue Gebiete erobert wie nie zuvor. Praktisch die ganze damals bekannte Welt gehörte zum römischen Imperium. Die römischen Legionäre waren im Norden bis Britannien, im Süden bis Äthiopien, im Westen bis Spanien und im Osten bis Mesopotamien vorgedrungen.

Dabei erwies sich Augustus als ein »Meister der moralischen Eroberung«. Der Philosoph Nikolaos von Damaskus beschrieb Augustus als einen Mann, der den Gipfel von Macht und Weisheit erlangt und sogar die »Herzen der Menschen« gewonnen habe, zunächst mit und dann ohne Waffen.6

Wie aber sahen diese »moralischen Eroberungen« aus? Augustus war so klug, die unterworfenen Völker nicht mit brutaler Härte und der Überheblichkeit des Siegers zu regieren. Natürlich wurden die eroberten Gebiete ausgebeutet und die Bevölkerung musste Steuern nach Rom zahlen. Andererseits wurde den unterworfenen Völkern eine gewisse Selbstständigkeit zugestanden und man nahm Rücksicht auf ihre Sitten und Gebräuche. Darüber hinaus schenkte Augustus ihnen die Segnungen der römischen Kultur: Straßen, Aquädukte, Theater und Thermen. Auch die Verehrung des göttlichen Kaisers wurde in die unterworfenen Gebiete exportiert und dort auch meist angenommen. Ein Gott, der nicht nur aus Stein oder Holz war oder irgendwo weit weg im Himmel thronte, sondern der auf der Erde lebte und sichtbar war, kam den Bedürfnissen der Menschen entgegen. Abgesehen davon hatte der Kaiserkult auch eine politische Bedeutung. Wer den Kaiser verehrte und ihm opferte, der bewies seine Loyalität gegenüber Rom. Und genau das wollte Augustus erreichen. Was er erwartete, war die Dankbarkeit der eroberten Völker. Sie sollten sich freiwillig dem Imperium unterwerfen und die Überlegenheit der militärischen Macht und römischen Kultur anerkennen.

Wie alle totalitären Machthaber wollte Augustus auch die Herzen seiner Untertanen gewinnen. Das geschah allerdings auf der Grundlage eines hoch entwickelten Militärapparates. Wenn die Toleranz des Kaisers nicht die erwünschte Ergebenheit bewirkte, dann war es mit der Geduld schnell zu Ende und die Gewalt kam zum Einsatz. Pax Romana war ein Gewaltfrieden. Der Gottmensch Augustus konnte sich seine tolerante Haltung nur leisten, weil er jederzeit seine Legionäre losschicken und für klare Verhältnisse sorgen konnte. Und klare Verhältnisse, das hieß: Rom gab den Ton an und die anderen hatten zu gehorchen.

Am östlichen Rand des römischen Weltreichs lag ein kleines, unbedeutendes Land, Palästina, das den Römern mehr Schwierigkeiten machte, als ihnen lieb war. Die Strategie der Pax Romana ging hier nicht auf, und schon gar nicht konnte der göttliche Augustus die Herzen der Bewohner erobern, obwohl er sie mit Wohlwollen behandelte. Das lag in erster Linie an der besonderen, einzigartigen Religion dieses Volkes. Es betrachtete sich als ein auserwähltes Volk, auserwählt von einem Gott namens Jahwe, der so heilig war, dass man seinen Namen nicht nennen und auch nicht schreiben durfte. Dieser Gott hatte die Juden, so ihr Glaube, erwählt aus allen Völkern. Er hatte mit ihnen einen Bund geschlossen und sie aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit. Dieses Bewusstsein, ein auserwähltes Volk zu sein, machte die Juden zu einem Außenseiter unter den Völkern, verschaffte ihnen aber gleichzeitig einen besonderen Zusammenhalt und ein einzigartiges Selbstbewusstsein. Daran änderte sich auch nichts, als das Land Palästina immer wieder unter fremder Herrschaft stand.

Im Jahre 63 v. Chr. hatte der römische Feldherr Pompeius Jerusalem belagert und nach dem Fall der Stadt ein furchtbares Blutbad angerichtet. Noch schlimmer als die Grausamkeit der Römer war es für die gesetzestreuen Juden gewesen, dass Pompeius das Allerheiligste des Tempels betreten hatte, was allein dem Hohepriester vorbehalten war. Palästina wurde ein Teil der römischen Provinz Syrien. Die Römer waren für die Juden nicht nur ungeliebte Besatzer, sondern verachtete Heiden. Einen Menschen als Gott anzubeten, war für sie undenkbar. Und dass die Römer neben ihrem Kaiser noch andere Götter verehrten, machte sie in ihren Augen zu gottlosen Götzendienern.

Den Römern wurde schnell bewusst, dass sie es mit einem sehr aufsässigen Volk zu tun hatten und es nur Probleme geben würde, wenn sie es zu stark unterdrückten. Also gewährten sie den Juden gewisse Freiheiten, und sie besetzten wichtige Ämter nicht mit eigenen Leuten, sondern suchten nach einheimischen Handlangern, die die Interessen Roms vertraten. Ihre Wahl fiel auf einen gewissen Antipater aus Idumäa, einer Landschaft zwischen Palästina und Ägypten, den sie zum Prokurator ernannten. Seine romfreundliche Haltung wurde ihm aber zum Verhängnis. Bei einem Festessen wurde er 43 v. Chr. von den Anhängern einer romfeindlichen jüdischen Familie vergiftet.

Antipater hatte einen Sohn namens Herodes, der seinen ermordeten Vater rächen wollte. Dieser Herodes bewunderte die Römer, und wie entschlossen und skrupellos er sein konnte, davon hatten die Juden bereits einen Eindruck erhalten. Ohne sich um bestehende Gesetze zu kümmern, hatte er im Alter von sechsundzwanzig Jahren eine Gruppe von Rebellen bekämpft und den Anführer mitsamt seinen Mitstreitern hinrichten lassen.7 Diese Entschlossenheit und Romtreue gefiel den Römern und sie ernannten Herodes im Jahre 40 v. Chr. zum König von Judäa. Er war allerdings ein König ohne Land, denn aus seiner Heimat hatte er nach dem Tode seines Vaters fliehen müssen und Jerusalem war zu dieser Zeit in der Hand seiner Feinde. Mit seinen eigenen Anhängern und einem mächtigen römischen Heer kehrte Herodes in seine Heimat zurück und zog eine Blutspur durch Palästina. Fünf Monate lang belagerte er Jerusalem, ehe die Stadt fiel und er die große Abrechnung durchführen konnte. Seine Freunde belohnte er, seine Feinde, darunter auch die Mörder seines Vaters, ließ er töten.

Mit sechsunddreißig Jahren war Herodes nun König von Judäa und zugleich der verlängerte Arm Roms. Beides wollte er miteinander vereinen, aber das gelang ihm nicht. Er sicherte sich das Wohlwollen jener Männer, die in Rom an der Macht waren. Augustus nannte er seinen Freund und gab einer neu errichteten Stadt den Namen des göttlichen Kaisers. Seine eigenwilligen Untertanen regierte er mit eiserner Faust und duldete keinen jüdischen Patriotismus und keine Unabhängigkeitsbestrebungen.

Andererseits wollte er der geliebte König seines Volkes sein. Er ließ gewaltige Bauwerke errichten, darunter die Stadt Cäsarea mit einem künstlichen Hafen, die Felsenfestung Masada, einen märchenhaften Palast nahe Jericho und vor allem den gewaltigen Tempel von Jerusalem. Tausende von Juden fanden so Arbeit und konnten ihre Familien ernähren. Herodes, den der Geschichtsschreiber Flavius Josephus »Herodes der Große« nennt, senkte sogar die Steuern und half in Zeiten von Missernten. Indes – alle diese Wohltaten nutzten ihm nichts. Er blieb ein ungeliebter, von vielen gehasster König.

Das machte ihn mit den Jahren zu einem verbitterten, misstrauischen und hemmungslosen Tyrannen. Überallhin sandte er seine Spitzel aus, um zu erfahren, was über ihn geredet wurde oder ob gegen ihn eine Verschwörung im Gange war. Der geringste Verdacht genügte, um jemand foltern oder hinrichten zu lassen. Keiner war sicher davor, verleumdet zu werden. Und wer bei Herodes in der Gunst stand, konnte im nächsten Moment zum Verräter erklärt werden. Für jede üble Nachrede, für jedes Gerücht hatte er ein offenes Ohr. Und bald wurde er schier verrückt vor lauter Verdacht und Argwohn.

Vor allem das Königshaus selber glich einem Tollhaus. Zehn Mal hatte Herodes geheiratet und seine Frauen und seine zahlreichen Kinder heckten dauernd Intrigen aus, um sich gegenseitig auszustechen. Schließlich kam es so weit, dass Herodes seine Ex-Frau Mariamne, an der er besonders hing, und zwei seiner Söhne umbringen ließ. Doch auch diese Morde konnten sein krankhaftes Misstrauen nicht beruhigen. »Von jetzt an«, so heißt es bei Flavius Josephus, »war er vor Angst wie außer sich. Der leiseste Verdacht regte ihn auf; er ließ viele Unschuldige zur Folter schleppen, um nur ja keinen Schuldigen zu übergehen.«8

Als junger Mann war Herodes ein bewunderter Reiter, ein unbesiegbarer Ringkämpfer und ein meisterhafter Bogenschütze gewesen. Als alter, fast siebzigjähriger Mann war er ein körperliches und seelisches Wrack, überall witterte er Feinde und seine Willkür und Grausamkeit kannten keine Grenzen. Er ließ dreihundert Soldaten hinrichten, die Sympathie mit seinen getöteten Söhnen zeigten. Sechstausend Schriftgelehrte, Angehörige der Schule der Pharisäer, bezahlten es mit ihrem Leben, dass sie sich weigerten, einen Treueeid gegenüber dem König abzulegen, den Herodes von seinem ganzen Volk verlangte.

Diese Pharisäer hatten behauptet, die Zukunft voraussehen zu können, und hatten geweissagt, Herodes werde nach göttlichem Ratschluss seine Herrschaft verlieren und ein anderer König werde an seine Stelle treten. Solche Prophezeiungen machten Herodes rasend, und er drohte jedem mit dem Tode, der den Reden der Pharisäer Glauben schenken sollte.9 Der Wunsch nach einem neuen König, einem Messias, der das Land von den gottlosen Besatzern befreiten würde, war im ganzen Volk verbreitet und wurde nur noch stärker, je brutaler Herodes ihn auslöschen wollte.

Herodes war ein schwer kranker Mann. Sein Körper war mit Geschwüren bedeckt, ein unerträglicher Juckreiz quälte ihn, er hatte andauerndes Fieber und Atembeschwerden machten ihm das Liegen unmöglich. Er hatte Angst vor dem Tod, aber noch mehr ängstigte ihn der Gedanke, dass sein Volk sich über seinen Tod freuen würde. Er befahl daher, Tausende der vornehmsten Juden im Stadion von Jericho einzuschließen und von Bogenschützen bewachen zu lassen. Wenn dann sein eigenes Ende komme, sollten alle Eingeschlossenen mit Pfeilen getötet werden, damit bei seinem Tod im ganzen Land Trauerstimmung herrsche.10

Dieser Befehl wurde nicht ausgeführt. Als Herodes im Jahre 4 v. Chr. starb, wurden die gefangen gehaltenen Juden freigelassen. Nun brachen überall im Land Unruhen aus, die getragen waren von der lange unterdrückten Sehnsucht nach einem einheimischen Befreier.

Ein ehemaliger Sklave des Herodes namens Simon scharte einen Haufen verwegener Gestalten um sich, die ihn als König verehrten und plündernd von Ort zu Ort zogen. Noch schlimmer trieb es der Schafhirte Athronges, der sich ebenfalls als neuer König feiern ließ und mit seiner Meute römische Soldaten angriff. Ein gewisser Judas ging sogar so weit, dass er mit Waffen gegen alle kämpfte, die eine weltliche Herrschaft anstrebten, wobei er selber vermutlich nur eine Herrschaft Gottes hinnehmen wollte. Alle diese Abenteurer wurden schließlich von den Römern gefasst und hingerichtet.11 Und die Herrschaft über Palästina wurde unter den Söhnen des Herodes aufgeteilt. Rom hatte wieder die Oberhand gewonnen, was aber blieb, war der Hass der Juden gegen ihre Besatzer und die Sehnsucht nach einem Messias, nach einem Befreier.

Noch zu Lebzeiten Herodes’ des Großen, um das Jahr 7 v. Chr., sollen Astrologen aus dem Orient nach Jerusalem gekommen sein. Sie waren einem Stern gefolgt, den sie noch nie am Himmel gesehen hatten und den sie als Zeichen für die Geburt eines Königs deuteten. Ahnungslos fragten sie in Jerusalem, wo denn der neugeborene König zu finden sei. Als Herodes davon hörte, erschrak er gewaltig. Ein König, der ihm seine Herrschaft streitig machte, das war der Albtraum seines Lebens. Erst vor Kurzem hatte er alle Schriftgelehrten umbringen lassen, die die Ankunft eines Messias geweissagt hatten. Er fragte nun die Priester, ob denn in den heiligen Schriften ein Hinweis darauf zu finden sei, wo ein Messias geboren werde, und man wies ihn auf eine Stelle hin, wo es heißt:

Du, Betlehem im Gebiet von Juda,
bist keineswegs die unbedeutendste
unter den führenden Städten von Juda;
denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen,
der Hirt meines Volkes Israel.12

Herodes ließ die Sterndeuter zu sich kommen und erzählte ihnen von der Prophezeiung. Er bat die weisen Männer, nach Betlehem zu gehen und nach dem Kind zu suchen. Wenn sie es gefunden hätten, sollten sie zu ihm zurückkehren und ihm davon berichten. Denn auch er wolle zu dem Kind gehen und ihm huldigen.

Die Astrologen machten sich auf den Weg und fanden tatsächlich in Betlehem das neugeborene Kind. Im Traum wurde ihnen befohlen, nicht nach Jerusalem zurückzukehren, und so reisten sie auf einem anderen Weg in ihr Land zurück. Als Herodes merkte, dass die Sterndeuter ihr Versprechen nicht hielten und ihm entwischt waren, wurde er furchtbar wütend. Und er befahl, in Betlehem und Umgebung alle männlichen Kinder bis zu zwei Jahren zu töten. Und so geschah es.

Das Kind aber, nach dem er suchte, entkam. Seinen Eltern war im Traum ein Engel erschienen, der ihnen auftrug, nach Ägypten zu fliehen. Dort blieben sie so lange, bis die Nachricht von Herodes’ Tod sie erreichte. Daraufhin kehrten sie nach Israel zurück. In Judäa regierte inzwischen ein Sohn des Herodes namens Archelaus, der nicht minder machtversessen und grausam war als sein Vater. Die Eltern des Kindes wollten sich dieser Gefahr nicht aussetzen und zogen nach Galiläa, in den Ort Nazaret, wo sie ein neues Leben anfingen.

So erzählt es ein gewisser Matthäus in seinem Evangelium (Mt 2,1-23). Die meisten Theologen halten diese Geschichte für eine Legende, also für mehr oder weniger erfunden. Es werden darin jedoch Personen und Orte genannt, die es wirklich gab. Und wenn man den Charakter des Herodes und seine Taten bedenkt, dann passen dazu seine Angst vor einem Messias und der Kindermord von Betlehem.

Was hatte es aber mit diesem geheimnisvollen Kind auf sich? Verbanden die Menschen damit die Hoffnung auf einen neuen Propheten? Oder auf einen charismatischen Führer, der das jüdische Volk von den gottlosen Besatzern befreit? Oder erwarteten sie einen von diesen selbst ernannten Königen wie den Sklaven Simon oder den Schafhirten Athronges? Oder sehnte man sich nach einem mächtigen Herrscher vom Schlage eines Augustus, nach einem göttlichen Menschen, der mit starker Hand Frieden schafft, das Leben erleichtert und so die Herzen der Menschen gewinnt?

In der Vorstellung von einem Kind als Retter bündelten sich die Hoffnungen der Menschen. Irgendwo in Palästina wurde eines Tages tatsächlich ein Kind geboren, das einmal als Messias verehrt werden würde. Aber sah man diesem Kind schon seine einstige Berufung an? Zeigte sich schon früh seine Besonderheit?

2.

DER GOLDENE SARG
UND DIE HÖLZERNE
KRIPPE

Der Wiener Philosoph Gerhard Schwarz berichtet über einen nicht ganz ernst gemeinten Leserbrief an die Redaktion einer Zeitschrift. »Ihr Blatt berichtet sehr einseitig«, beschwert sich da ein Leser, »Sie schreiben immer nur, wenn ein berühmter Mann gestorben ist. Ich möchte auch darüber informiert werden, wenn ein berühmter Mann geboren wird.«13

Vor einer ähnlichen Forderung standen auch die Evangelisten, als sie die Geschichte des Jesus von Nazaret aufschrieben. Sie sollten auch über seine Geburt berichten. Aber als Jesus zur Welt kam, konnte niemand wissen, dass dieses Kind armer Eltern einmal die Weltgeschichte verändern würde. Andererseits konnte und durfte die Geburt eines Gottessohnes doch kein normales Ereignis sein. Es muss sich schon am Anfang seine Einmaligkeit zeigen. Aber wie zeigt sich diese Besonderheit und wie kann man sie beschreiben?

Christen und auch Nichtchristen feiern jedes Jahr am 25. Dezember das Fest der Geburt Christi: Weihnachten. Schon am Tag zuvor, an Heiligabend, und am folgenden Feiertag wird in den Kirchen die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorgelesen. Lukas war ein gebildeter Mann, vermutlich ein Arzt aus der syrischen Stadt Antiochia. Er lebte eine Generation nach Jesus von Nazaret. Zu dessen Jüngern hat er nicht gehört und er hat Jesus auch nicht persönlich kennengelernt. Als er sich dazu entschloss, die Geschichte des Mannes aus Nazaret zu erzählen, musste er sich also auf die Berichte anderer stützen. Im Vorwort betont er ausdrücklich, dass er alles »sorgfältig« und »von Grund auf« geprüft habe. (Lk 1,1-4) Lukas will von vorneherein deutlich machen, dass er nicht irgendwelche erfundenen Geschichten erzählt. Er will wie ein seriöser Historiker ernst genommen werden.

Auch die Geburt Jesu verbindet er mit weltgeschichtlichen Ereignissen, um sie glaubhaft zu machen. Kaiser in Rom ist Augustus. Statthalter in Syrien ist ein gewisser Quirinius. Zum ersten Mal findet im ganzen Reich eine Steuererhebung statt, ein sogenannter Zensus. Um sich in die Steuerlisten eintragen zu lassen, müssen sich alle Bewohner zu dem Ort begeben, aus dem sie stammen. Das gilt auch für den Zimmermann Josef aus dem kleinen Dorf Nazaret in Galiläa. Er stammt aus Betlehem. Das ist ein Ort nahe Jerusalem, in dem auch der einstige König David geboren wurde. Josef, so wird behauptet, ist auch ein weitläufiger Nachkomme des Königs David. Für Josef kommt der Befehl des römischen Kaisers denkbar ungünstig. Seine Frau Maria ist hochschwanger. Aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit Maria die beschwerliche, viertägige Reise nach Betlehem anzutreten.

In seiner Heimatstadt herrscht ein hektisches Durcheinander. Betlehem ist zu normalen Zeiten ein verschlafenes Nest mit höchstens tausend Einwohnern. Jetzt platzt es aus allen Nähten. Von überall her strömen Leute in den Ort, um sich registrieren zu lassen. Als Josef und Maria ankommen, sind in den Herbergen schon alle Plätze belegt. Sie müssen mit einer Notunterkunft vorliebnehmen. Wie diese ausgesehen hat, erfahren wir nicht von Lukas. Nur dass eine Krippe darin stand, erwähnt er. Es kann eine Grotte gewesen sein, ein Stall oder ein einfaches Bauernhaus. Betlehem lag an einem Abhang, wo viele Menschen in Wohnhöhlen lebten und sich den Platz mit Tieren teilten. Gut vorstellbar, dass Maria und Josef in einer solchen Höhle Aufnahme fanden. Von Tieren ist bei Lukas freilich nicht die Rede, auch nicht von Ochs und Esel, die heute in keiner weihnachtlichen Krippe fehlen dürfen.

Schon im frühen Christentum wurde in Betlehem eine Höhle als der Ort verehrt, wo Maria ihr Kind zur Welt gebracht haben soll. Anfang des vierten Jahrhunderts ließ Kaiser Konstantin hier eine Kirche erbauen. Heute windet sich in der sogenannten Geburtskirche eine schmale Treppe hinab in eine Grotte. An einer mit reich bestickten Stoffen und kostbaren Lampen behängten Stelle ist ein silberner Stern mit vierzehn Zacken in den Boden eingelassen. Darauf steht in lateinischer Sprache, dass hier Jesus von der Jungfrau Maria geboren wurde.

In Lukas’ Bericht bleibt die junge Familie nicht lange allein. Es kommen Hirten, die ganz unglaubliche Dinge erzählen. Dass ihnen auf dem Feld ein Engel erschienen sei und ihnen gesagt habe, dass sie sich nicht fürchten sollten und dass heute in Betlehem, der Stadt Davids, der »Retter«, der »Messias« geboren worden sei. Sie hatten sich dann gleich auf den Weg gemacht, um das Kind zu sehen. Aufgeregt erzählen sie nun Josef und Maria, was passiert war und was der Engel gesagt hat. Die jungen Eltern kommen aus dem Staunen nicht heraus. Ihr Sohn ein »Messias«, ein »Retter«?

Über fünfhundert Jahre nach diesem Ereignis saß der Mönch Dionysius Exiguus an seinem Schreibtisch und sollte im Auftrag des Papstes die Listen für das alljährlich wechselnde Osterfest neu ordnen. Dionysius ärgerte sich darüber, dass zu seiner Zeit die Jahre immer noch nach dem Regierungsantritt des Kaisers Diokletian gezählt wurden, den er für einen Tyrannen und brutalen Christenverfolger hielt. Dionysius hatte nun eine umwerfende Idee. Er wollte eine neue Zeitrechnung einführen, die mit der Geburt Christi begann. Diese Idee setzte sich tatsächlich durch, und seither sind wir gewohnt, die Zeit in die Jahre vor und nach Christi Geburt einzuteilen.

Allerdings hat sich Dionysius um ein paar Jahre verrechnet. Jesus wurde ziemlich sicher – und der Evangelist Matthäus bestätigt das – noch zu Lebzeiten Herodes des Großen geboren, und der starb im Frühjahr des Jahres 4 v. Chr. Also muss Jesus etwa um das Jahr 6 v. Chr. geboren worden sein.

Und wie steht es mit seinem Geburtsort? War es Betlehem oder vielleicht doch Nazaret?

Dass Jesus in Betlehem geboren wurde, begründet Lukas mit der Volkszählung unter dem syrischen Statthalter Quirinius. Diesen Publius Sulpicius Quirinius hat es wirklich gegeben, aber er war erst ab 6 n. Chr. syrischer Statthalter, und aus anderen Quellen weiß man auch, dass er zu dieser Zeit in Judäa eine Steuererhebung durchführte. Es gibt allerdings auch Hinweise darauf, dass es in Palästina schon früher solche Erhebungen gab und Quirinius daran beteiligt war. Es ist also zwar unwahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen, dass die Angaben des Lukas auch historisch zutreffen.14

Viele Fachleute glauben jedoch, dass Lukas aus theologischen Gründen den Geburtsort Jesu sozusagen nach Betlehem verlegt hat. Lukas sieht Jesus in der Rückschau. Für ihn steht fest, dass er der Messias war. Und der Messias kann nach seiner Vorstellung nicht in einem x-beliebigen Bauerndorf in Galiläa geboren werden. Mit Betlehem ist es dagegen etwas anderes. Hat doch der Prophet Micha geweissagt, dass aus diesem Ort ein König hervorgehen wird. (Mi 5,1) Außerdem kam auch der König David aus Betlehem. Lukas wollte also Jesus in Betlehem zur Welt kommen lassen, um ihn als erwarteten Retter auszuweisen und um ihn mit David in Verbindung zu bringen. Jesus sozusagen als »Sohn Davids«.

Das Bemühen des Lukas, Jesus gleich bei seiner Geburt eine herausragende Bedeutung zu geben, widerspricht eigentlich dem Bild, das die Evangelien insgesamt von Jesus zeichnen. Denn darin tritt er immer als jemand auf, der gerade nicht bedeutend und großartig sein will. Nie nennt er sich Messias. Nie beansprucht er irgendeinen Titel außer »Menschensohn«. Selbst wenn er ein Nachkomme von König David gewesen sein sollte, so hat er sich nichts daraus gemacht. Solche Auszeichnungen waren ihm einfach nicht wichtig.

Wie steht es aber nun mit der Weihnachtsgeschichte? Mit dem Stall, der Krippe, den Hirten und dem Engel? Ist das alles »realistisch«? Lukas würde diese Frage wahrscheinlich nicht verstehen. Für ihn ist es »realistisch«, wenn er Tatsachen und Ereignisse der damaligen Zeit nennt. »Realistisch« ist es für ihn aber auch, wenn er poetische Bilder findet, um das Besondere zu verdeutlichen, das mit Jesus in die Welt kam. Und dieses Besondere tritt bei Lukas und bei Matthäus gerade im Kontrast zu dessen Gegenteil deutlich hervor.

Auf der einen Seite sind der Kaiser und der König, Augustus und Herodes der Große. Auf der anderen Seite ein Kind, das abseits der Weltgeschichte in einer schmutzigen Höhle geboren wird. Hier der als Gott verehrte Kaiser, der mit einer gewaltigen Militärmaschinerie der Welt den Frieden bringen will, der Barbaren zu Kulturvölkern erziehen und die Herzen der Menschen gewinnen will. Dort ein Kind, das völlig schutzlos und auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Hier der große König Herodes, der in Pomp und Luxus lebt, aber innerlich vor Angst um seine Macht schier zerfressen wird, der die Liebe seiner Landsleute mit Prachtbauten und Gewalt erzwingen will und vor keiner Grausamkeit zurückschreckt. Dort das Kind, das notdürftig in eine Krippe gelegt wird, das machtlos ist und niemand unterwerfen und erziehen will. Bei dessen Geburt nicht hohe Würdenträger und Staatsmänner anwesend sind, sondern einfache Hirten.

Es ist, als ob Matthäus und Lukas dem Leser eine Frage vorlegen wollen und der sich entscheiden soll: Wer ist nun der wahre Gottessohn? Der göttliche Kaiser in Rom oder das Kind in der Krippe? Wer bringt den wahren Frieden? Der Mann der Macht oder das Kind der Ohnmacht? Wer kann die Herzen der Menschen gewinnen? Der König, der mit der einen Hand Wohltaten verteilt und mit der anderen unterdrückt und tötet? Oder das göttliche Kind, das für eine Liebe steht, die, so wird es der Apostel Paulus einmal sagen, langmütig und gütig ist, die sich nicht ereifert, sich nicht aufbläht, nicht ihren Vorteil sucht, die sich nicht über das Unrecht freut, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft und allem standhält? (1 Kor, 13)

Noch ein weiterer Kontrast wird in den Geburtsgeschichten der Bibel nahegelegt, ein Kontrast, der eine historische Grundlage hat. Die Geburt des Jesuskindes fällt zusammen mit dem Ende des Herodes des Großen. Mit dem Kind in der Krippe kommt etwas Neues in die Welt. Dieses Neue stellt die alten Mächte und Maßstäbe infrage. Der alte König will den neuen König beseitigen, wie er alle Rivalen beseitigt hat. Aber es gelingt ihm nicht. Das Kind lebt weiter. Mit dem alten König geht es zu Ende.

Herodes war neunundsechzig Jahre alt und ein todkranker Mann. Doch er klammerte sich an die Macht und an das Leben. Er färbte sich die Haare und unterzog sich Kuren. Alles half nichts. Manchmal spürte er seine früheren Kräfte wieder und schlug dann wie ein sterbendes Tier um sich. Er änderte sein Testament und ließ seinen ältesten Sohn Antipater, den er als Verräter ins Gefängnis hatte werfen lassen, hinrichten. Weiterhin duldete er nicht den geringsten Widerstand gegen seine romfreundliche Politik, obwohl er damit seine Landsleute bis aufs Blut provozierte.

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