

Susanne Seethaler
Von einer, die auszog, ein besserer Mensch zu werden
Ein Jahr Auszeit
auf der Alm, im Zen-Kloster,
beim Entrümpeln …

Für Fischerhude und für Gangaji
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© für die Originalausgabe und das eBook:
2012 nymphenburger in der
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlag und Motiv: www.atelier-sanna.com, München
Satz und eBook-Produktion: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
www.Buch-Werkstatt.de
ISBN 978-3-485-06042-4
Inhalt
Wie alles begann
Prolog
Susanne sucht die Einsamkeit
Ohne Strom und fließend Wasser in den bayerischen Bergen
Susanne rettet Gemüse
Einfache Kocherfahrungen mit einem Zenmeister
Susanne melkt und buttert
Ein Sommer mit Schwester, Kühen und Federvieh auf der Alm
Susanne zappt und entrümpelt
Ein mühsamer Fernsehentzug und Nippesalarm im Wohnzimmer
Susanne schuftet
Achtsame Arbeitsmeditation mit emotionalen Hindernissen
Susanne wird ökologisch
Mit Waschnüssen, Tofu und Co. wie ein besserer Mensch leben
Susanne geht baden
Kein Surfen mehr im Internet!
Susanne schweigt
Im kalifornischen Meditationszentrum ganz entspannt im Hier und Jetzt
Susanne lebt einfach
Ein Fazit
Danke
Literatur
»Schwing dich aus allem heraus,
was dich beengt.«
Bettina von Arnim

Seit vielen Jahren spüre ich eine Art innere Sehnsucht, eine Hoffnung, die immer wieder aufs Neue genährt wird, dass es im Leben doch mehr geben muss als all die Oberflächlichkeiten, mit denen nicht nur ich mich tagtäglich mehr oder weniger herumschlage. Die Frage, ob es Wege gibt, die mich innerlich zufriedener machen könnten und in der Folge vielleicht auch die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung ein bisschen glücklicher, beschäftigte mich schon als junge Frau. In den letzten Jahren verdichtete sich diese Suche nach dem »Sinn des Lebens«, um es mal salopp zu formulieren, und so wuchs in mir der Wunsch nach einem »besseren Leben«, das mich im besten Falle auch noch zu einem »besseren Menschen« im Umgang mit mir selbst und auch mit meiner Umwelt machen würde.
Um es gleich zu Beginn vorwegzunehmen, ich bin in der Tiefe meines Herzens kein schlechter Mensch, vermutlich genauso wenig wie Sie selbst! Wie die allermeisten versuche ich, jeden Tag mein Bestes zu geben, auch wenn der Schuss zuweilen nach hinten los geht, sich Gelassenheit so gar nicht einstellen will und ich mich und auch andere ungewollt verletze oder gar vor den Kopf stoße. Doch auch wenn ich eher zur unauffälligen Fraktion der Gattung Mensch gehöre und somit im Allgemeinen nicht mit rüpelhaftem Verhalten in der Öffentlichkeit auffalle, mich also zu benehmen weiß und eine überwiegend freundliche Zeitgenossin bin, existieren in mir, wie in jedem anderen Menschen vermutlich auch, Untiefen und dunkle Stellen, denen ein bisschen Licht nicht schaden könnten.
Auch meine äußere Lebensform böte durchaus genügend Potenzial, sich zu entwickeln, zu verbessern und zu verändern, um mir selbst und mit Sicherheit auch meiner Umwelt gutzutun. Es gibt in jeder Lebenslage die Möglichkeit, ein besserer Mensch zu werden, sei es nun durch einen umsichtigen Wasserverbrauch in den häuslichen vier Wänden, beim Einkaufen im Supermarkt oder durch einen liebevolleren Umgang mit sich selbst.
Parallel zu meiner eigenen Suche begannen mich andere Lebensentwürfe jenseits des gängigen Mainstreams und vor allem auch außergewöhnliche Menschen, denen ich nun vermehrt begegnete und die sich ein bewussteres Leben auf ihre Fahnen geschrieben hatten, zu faszinieren. Im Laufe der vergangenen Jahre und im Rahmen meiner Recherchen für das eine oder andere Buch hatte ich bereits immer wieder Menschen kennengelernt, die sich bewusst für ein einfaches und in ihren Augen auch »besseres« Leben entschieden hatten und deren Ausrichtung nicht bestimmt war von immer größer werdendem Druck, tagtäglicher Hektik und dem Anhäufen von mehr und mehr Besitztümern. Diese Menschen übten eine immer stärkere Anziehungskraft auf mich aus.
Angefangen bei meiner Schwester, die eines Tages uns, nämlich die gesamte Familie und ihren Freundeskreis, vor vollendete Tatsachen stellte, um allen mitzuteilen, dass sie fortan jeden Sommer auf einer Alm in den Bergen leben würde, um dort Kühe, Hühner und Schweine zu versorgen. Da unsere Eltern keinen Bauernhof und auch sonst mit Landwirtschaft nichts am Hut hatten, besuchte meine Schwester dazu extra – und ausgesprochen mutig, wie ich finde – einen Almlehrgang in der nächstgelegenen Stadt, um sich dann mit ihrem neu erworbenen Wissen bei einem jungen Bauern im Ort zu bewerben, von dem sie wusste, dass er auf der Suche nach einer Sennerin war. Und schon ging es mitsamt Wiederkäuern, der kleinen Sau Emma, die im Laufe der Sommermonate richtig dick werden würde, und einer Handvoll Federvieh erstmals hinauf in die Berge. Dass solch ein Leben auf der Alm nicht einfach, sehr anstrengend und im wahrsten Sinne des Wortes karg ist und dass dabei von romantischer Idylle oft weit und breit nichts zu spüren ist, das wurde meiner Schwester dann allerdings relativ schnell klar – und mir auch, als ich sie im letzten Jahr für mein Vorhaben, nämlich herauszufinden, ob ein einfaches Leben auch tatsächlich auch ein »besseres« Leben ist, ein paar Wochen lang dort oben begleiten durfte.
Trotz aller Widrigkeiten bleibt sie nach wie vor am Ball und behauptet sich mit jedem Almsommer neu, um sich den äußeren Herausforderungen und den oft sehr harten Bedingungen zu stellen. Parallel dazu entwickelte sie über die vielen Jahre hinweg, die sie nun schon als Sennerin ihre Frau steht, eine stille Zufriedenheit durch den täglichen Umgang mit ihren Tieren, die ihr Gesicht tief von innen heraus erstrahlen lässt. Ihr Mut, sich neu auszuprobieren, sich nicht mit den gegebenen Umständen zufriedenzugeben und aus der »normalen« Arbeitswelt auszusteigen, um – wenigstens auf Zeit – ein Leben in schlichter Einfachheit zu leben, imponieren mir nach wie vor sehr.
Inspiriert durch ihr Vorbild, reifte immer mehr der Entschluss in mir, mich eine Zeit lang auf die Suche nach der Einfachheit zu begeben, worunter ich mir zu Beginn des Experiments in der Tiefe recht wenig vorstellen konnte. In einem Zeitraum von ca. einem Jahr, das Ganze sollte doch in einem überschaubaren Rahmen bleiben, wollte ich das einfache Dasein und ein damit vielleicht einhergehendes besseres Leben, das bestimmt sein sollte von Liebe, Schlichtheit und Freundlichkeit – so oder so ähnlich stellte ich es mir jedenfalls vor –, sowohl im Innen wie im Äußeren ausprobieren und am eigenen Leib erfahren.
Ich wollte herausfinden, ob ich unter einfachsten Bedingungen leben konnte und wie es sich anfühlt, auf vieles, was für einen modernen Menschen zum Alltagsleben dazugehört und als zwingend notwendig erachtet wird, zu verzichten. Ich suchte zunächst die Einsamkeit ganz allein oben in den Bergen, um vollkommen auf mich gestellt in einer Hütte zu leben. Dann ging ich einem kalifornischen Zenmeister beim Kochen zur Hand. Ich brannte darauf, auf der Alm mit meiner Schwester die Butter fürs Brot selbst herzustellen und im Tal drunten den Versuch zu starten, meine eigenen vier Wände zu entrümpeln. Außerdem schrubbte ich achtsam Klos in einem Zenkloster in Frankreich. Ich begann, meine Wäsche mit indischen Waschnüssen zu waschen, und startete den zuweilen recht kläglichen, manchmal jedoch auch von Erfolg gekrönten Versuch, auf Auto, Fernseher, Handy und andere Annehmlichkeiten der Neuzeit zu verzichten. Dabei übte ich mich – zugegebenermaßen anfangs noch recht holprig – in Nächstenliebe, indem ich z. B. Dinge, an denen mein Herz sehr hing und die schon lange in meinem Besitz waren, an Freunde verschenkte. Außerdem meditierte ich vier Wochen lang ununterbrochen schweigend, also ohne auch nur ein einziges Wort von mir zu geben, in einem amerikanischen Meditationszentrum.
Über all dem schwebte stets die Frage: Ist dies für mich eine Möglichkeit, mich innerlich und auch in Bezug auf die äußeren Umstände meines Lebens freier und im Großen und Ganzen liebevoller zu fühlen?
Um es nun schon einmal kurz vorwegzunehmen: Allzu oft hat mir im Rahmen dieses zwölfmonatigen Selbstversuches mein innerer Schweinehund in Sachen Einfachheit und innerer Herzensöffnung leider ein Schnippchen geschlagen und ich bin wahrlich nicht selten gescheitert. Dennoch entdeckte ich auch ungeahnte Freiheiten, die bewusster Verzicht hier und da und ein einfacheres und natürlicheres Leben im Allgemeinen mit sich bringen können. Der Versuch, mein Leben schlichter und in Folge dessen gesünder, besser und in gewisser Weise sogar reicher und erfüllter zu gestalten, hat sich in jedem Fall gelohnt!
Ob ich nun aber wirklich ein besserer Mensch geworden bin, das mögen andere beurteilen. Es wäre schön, wenn ich bei meinen Mitmenschen zumindest manchmal diesen Eindruck hervorrufen könnte. Ein erster Schritt in diese Richtung ist durch dieses Experiment jedenfalls für mich getan. Es braucht zuweilen eine gehörige Portion Mut, um sich selbst und das Leben, das man gerade führt, in Frage zu stellen. Neugierde und Kampfgeist sind gefragt, um die eigenen Lebensgewohnheiten auf ihre Authentizität und Wahrheit hin zu überprüfen und den eingefahrenen, vielleicht sogar recht ungesunden Trott zu durchbrechen.
Mein persönlicher Tipp ist: Bewahren Sie sich auf alle Fälle Ihren Humor, falls Sie sich demnächst auch aufmachen wollen, ein besserer Mensch zu werden. Mit einem Lächeln auf den Lippen lebt sich’s in vielerlei Hinsicht einfach leichter und im wahrsten Sinne des Wortes auch besser.

Um mir den Einstieg in die Einfachheit etwas leichter zu gestalten, beschloss ich, zunächst einen Ort aufzusuchen, der mir von Kindheit an vertraut ist. Schon als kleines Mädchen stieg ich mit meinen Eltern und meiner Schwester regelmäßig hinauf in die Berge, um in einer kleinen Hütte die Ferien oder auch nur das Wochenende zu verbringen. In der Regel begleiteten uns Freunde und Spielkameraden mit hinauf und so war die Hütte immer bis unters Dach voll mit Menschen. Meine glücklichsten Kindheitserinnerungen sind mit diesen Sommern und Wintern in den Bergen verbunden. So lag es nahe, meinen Selbstversuch auch dort oben in vertrauter Umgebung zu starten.
Der Weg zur Hütte hinauf ist streckenweise recht steil und für Ungeübte zuweilen beschwerlich. Die kommenden zehn Tage allein auf mich gestellt und in Einfachheit zu verbringen, bedeutet also in erster Linie erst einmal eine riesige Schlepperei. Mit einem Rucksack auf den Schultern, der zweiundvierzig Liter fasst und der bis oben hin vollgestopft ist, quäle ich mich in die Höhe. Für mein Experiment habe ich mir vorgenommen, nur das Nötigste für die Zeit hier oben einzupacken. Aber was ist das Nötigste? Ist das nicht individuell sehr verschieden? Klar, Kleidung zum Wechseln und genügend Lebensmittel, damit ich nicht Hunger leide, das muss alles mit und gehört einfach zum Standard! Aber dann wird es schon schwieriger: Klopapier fürs Plumpsklo steckt ganz unten im Rucksack, denn obwohl ich schon zigmal in Indien gewesen bin und mit den Toilettengewohnheiten dort vertraut bin, habe ich immer noch Schwierigkeiten damit, lediglich die linke Hand und ein bisschen Wasser nach dem großen Geschäft zu benutzen. Andererseits nehmen die blöden Rollen auch ganz schön viel Platz weg.
Da bleibt umso weniger Raum für meine Bücher! Ich bin nämlich einer jener schrulligen Zeitgenossen, die überallhin Bücher oder anderes Gedrucktes mit sich schleppen. Für mich sind Bücher Freunde, die mich auf meinen Wegen und Reisen schon von Kindheit an begleiten, vielleicht auch deswegen, weil ich als Kind eine klassische kleine Leseratte gewesen bin, die selten ihre Nase vor die Tür gesteckt hat. Tja, und jetzt habe ich den Salat, denn ich brauche schließlich eine Auswahl an Büchern, da ich ja nicht wissen kann, nach welchem Autor mir in der Einsamkeit gelüsten wird.
Nach langem Hin und Her habe ich mich für drei Bücher entschieden, die nun den beiden Klopapierrollen in den Tiefen des Rucksacks Gesellschaft leisten. Dafür habe ich auf die exzellente Flasche Rotwein verzichtet. Ich packe also die Gelegenheit beim Schopfe, um mich gleich auch noch ein bisschen im Verzicht auf Alkohol zu üben. Dazu sei gesagt, dass ich wirklich sehr gerne mal ein gutes Glas Wein genieße und ich mir die herrliche Gebirgskette im Abendlicht, mit mir als Rotwein schlürfende Protagonistin auf der kleinen Terrasse vor der Hütte – eingemummelt in kuschelige Wolldecken –, schon lebhaft vorstellen konnte.
Aber sei’s drum. Außerdem ist es mir wichtiger, dass mir dort oben der Kaffee nicht ausgeht, und deshalb habe ich auch reichlich davon eingesteckt. Zudem gluckern mehrere Liter Milch im Tetrapak in meinem Rucksack lustig vor sich hin, als ich gerade das zweite Drittel des Berges in Angriff nehme und über eine Baumwurzel stolpere – Kaffee ohne Milch, das geht für mich gar nicht!
Der Rest des Inhalts meines Rucksacks, der nun zunehmend auf meine armen geplagten Schultern drückt, ist schnell aufgezählt: Unterwäsche zum Wechseln, warme Kleidung und Socken, Hausschuhe, Schlafsack und Waschzeug, Brot für mehrere Tage, Käse, Salami, Suppennudeln und gekörnte Brühe, Obst und Gemüse, Reis und etwas Hirse. Salz, Zucker, Olivenöl und ein paar Gewürze sind meist in einem kleinen Vorratsschrank in der Küche vorrätig, dafür sorgt liebenswürdigerweise der Hüttenwart. Und sollte mich wider Erwarten der Einsamkeitsblues überkommen, habe ich mir zudem noch etwas Nervennahrung in Form von Schokolade mitgenommen.
Das einfache Gartentor aus grob zusammengehämmerten Holzlatten quietscht leise in seinen Angeln, als ich endlich mein Ziel erreicht habe. Aus der dichten Tannenhecke, die die Hütte zum Wanderweg hin schützend abschirmt, fliegt eine putzig winzige Haubenmeise auf. Ich lasse meinen schweren Rucksack vom Rücken gleiten und atme erst einmal kräftig und erleichtert durch – puh, das wäre geschafft! Drinnen empfängt mich ungewohnte, dunkle und kühle Stille, die sich sanft auf meine Ohren legt, als hätte ich meine Gehörgänge mit Watte ausgestopft. Ich öffne alle hölzernen Fensterläden, um Licht und Wärme einzulassen, und schon fluten die Geräusche der Natur von draußen herein und füllen die beiden schlichten Räume des Erdgeschosses – Küche und Stube – mit Leben.
Ich mache mich ans Auspacken meiner Habseligkeiten. Dabei verfalle ich komischerweise augenblicklich in eine Art übertriebenen Aktionismus, als hätte ich es plötzlich wahnsinnig wichtig. Ich sortiere emsig meine mitgebrachten Lebensmittel mal hierhin und mal dorthin. Ich beziehe eines der Betten oben im Schlafraum und inspiziere den Vorratsschrank. Ich hacke Holz und rege mich über meine Vorgänger auf, die doch tatsächlich ein Stück Camembert in der Küchenanrichte zurückgelassen haben, was zur Folge hat, dass ich mich blitzartig nach Indien zurückversetzt fühle. Genauer gesagt flammt in meiner Erinnerung, und zwar eindrucksvoller als mir lieb ist, die dortige Begegnung mit einer halb verwesten Kuh auf, deren grauenhafter Gestank stark an den Inhalt des bereits erwähnten Küchenschrankes erinnert.
Der Camembert wird mit spitzen Fingern und zugehaltener Nase entsorgt. Ich werfe ihn einfach in den angrenzenden Wald hinter der Hütte. Sollen sich doch die Füchse und Dachse damit vergnügen! Schon kurze Zeit später schäme ich mich dafür, den Abfall, wenn auch im Affekt, einfach in der Natur entsorgt zu haben – hoffentlich ist es ein biologisch abbaubarer Camembert gewesen! Die armen kleinen Waldtiere, deren Mägen von dem stinkenden Zeug sicher verklebt wurden, von den Koliken will ich gar nicht reden – Asche auf mein Haupt. Ich rate also auf keinen Fall zur Nachahmung!
Als ich in meinem Aktionismuswahn schließlich auch noch damit beginne, die Suppenteller durchzuzählen – nur zur Erinnerung: Ich befinde mich allein auf weiter Flur, ein einziger Teller ist für mich in den kommenden Tagen also vollkommen ausreichend! –, beschleicht mich langsam der Verdacht, dass es mir anscheinend doch nicht so ganz geheuer ist, hier oben gänzlich ohne menschliche Gesellschaft zu sein. Und so arbeite ich wohl gerade mein Unbehagen durch hektische Betriebsamkeit einfach weg, sehr interessant!
Ich halte spontan inne und setze mich auf die windgeschützte Bank vor dem Haus. Direkt vor mir, als könnte ich ihn mit der Hand greifen, streckt sich ein imposant gezackter Gipfel in den wolkenlosen, spätnachmittäglichen Himmel. Ruhig und solide steht der Berg da und scheint mich auf seine wortlose Art willkommen zu heißen; schließlich kennt er mich ja auch schon seit Kindertagen. Ich grüße still zurück und merke, wie sich mein flatterndes Herz langsam beruhigt. Ich erinnere mich plötzlich an die kluge Frage einer Benediktinernonne, die ich irgendwann und irgendwo mal gelesen habe und die mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist: »Kann es sein, dass wir das Ankommen und auch das Bleiben verlernt haben?« Ja, mein hektischer Aktionismus eben hat mit Sicherheit verhindert, dass ich hier in der Einsamkeit wirklich ankomme; und um bleiben zu können, ist es sicherlich ratsam, mir innerlich erst einmal zu gestatten, langsam anzukommen.
Der anfänglichen Angespanntheit weicht nun Vorfreude und kindliche Neugier. Ich werde hier oben ganz allein auf mich gestellt für ein paar Tage das Bleiben üben und schauen, was das mit mir im Innersten macht. Vielleicht finde ich ja sogar eine tiefere Antwort auf die Frage der Nonne. Allerdings geht es anscheinend nicht ganz ohne Machen und Tun und ich werde meine Zeit bestimmt nicht nur in stiller Kontemplation verbringen können, denn ein einfaches Leben ohne fließend Wasser und Strom verlangt nach ehrlicher Hände Arbeit. Ungewohnte Tätigkeiten, wie Wasserschöpfen und Holzhacken, die ich in meinem normalen Leben, inmitten einer Welt voller bequemer Lichtschalter, »Power«-Knöpfe und Wasserhähne, in der Regel nicht verrichten muss. Und just in diesem Moment macht sich mein leerer Magen bemerkbar, der nach dem langen, anstrengenden Aufstieg dringend was Anständiges und vor allem was Warmes braucht. Also geht es jetzt gleich ans Feuer machen, Holz gehackt habe ich ja Gott bzw. meinem Aktionismus sei Dank, vorher schon ein bisschen.
Als später am Abend, nach einigen Fehlzündungen, mein Topf mit Suppe langsam zu Kochen beginnt und sich draußen längst die Sonne anmutig hinter die Berggipfel verabschiedet hat, steigt in mir ein nie dagewesenes Gefühl der Weite auf. Meine Hände schmerzen zwar vom ungewohnten Halten der schweren Axt beim Spalten der Holzscheite und meine verspannten Schultern haben mir anscheinend den schweren Rucksack noch nicht ganz verziehen, aber ich spüre, welch tiefe Freude und welchen Spaß es machen kann, sich vollständig selbst zu versorgen und um wie viel freier ich mich dadurch fühle. Schon jetzt, an diesem allerersten Tag, bemerke ich, wie wenig es im Grunde braucht, um glücklich zu sein, und welch kostbaren Stellenwert beispielsweise mit einem Mal die wenigen mitgebrachten Lebensmittel bekommen, weil ich eben nicht schnell mal im Supermarkt Nachschub holen kann. Wärme, Licht, Wasser, all diese Dinge, die sonst so selbstverständlich sind und oft unbeachtet und nebenher von mir konsumiert oder benutzt werden, sind hier, zuweilen unter Aufwendung all meiner körperlichen Kräfte, Bestandteil des kleinen Glücks.
Später in der Nacht weicht dann dem schwärmerischen Feeling nacktes Entsetzen, denn als ich mich zur vorgerückten Stunde aufs Klo taste, das zugig kalt in einem kleinen Verschlag im Vorraum angesiedelt ist, erschrecke ich eine kleine Maus, die sich gerade über meinen nicht weggeräumten Brotvorrat und die Kartonverpackung der Milch hermacht. Ich weiß nicht, wem das Herz mehr in die Hose rutscht, dem kleinen Nager oder mir. Da Mäuse aber gemeinhin keine Hosen tragen, muss wohl dann doch meine Schlafanzughose herhalten. Ich kann nämlich danach gefühlte drei Stunden lang nicht wieder einschlafen, weil meine Ohren ständig gespitzt in die pechschwarze Stille hineinlauschen; wer weiß, ob sich nächtens nicht auch noch Ratten in der Küche tummeln! Als ich mir gerade fest vornehme, beim nächsten Mal auf alle Fälle Ohrstöpsel mit einzupacken, damit ich nicht bei jedem Geräusch hochschrecke, muss ich wohl wieder eingeschlafen sein, denn das nächste, was ich verzückt wahrnehme, ist ein kleiner, vorwitziger Sonnenstrahl, der sich in aller Herrgottsfrühe durch das offene Fenster hereingeschlichen hat, um mich nun frech mitten im Gesicht wachzukitzeln.
Danach versuche ich, den Küchenherd in Gang zu bringen, um mich an meiner ersten Tasse Kaffee des Tages zu laben. Gestern Abend, als ich mir nach meinem Aufstieg noch etwas Suppe warm gemacht hatte, klappte das Feuermachen eigentlich gar nicht so schlecht, von einigen Anfangsschwierigkeiten einmal abgesehen, doch heute Morgen bekomme ich vor der Einschürklappe doch glatt eine mittelschwere Krise. Hier oben muss ich jetzt allerdings ganz allein durch meine Unleidlichkeiten und meine Ungeduld gehen. Es ist niemand da, an dem ich sie abreagieren kann, und ich kann auch keine Freundin anrufen, um ihr mein Leid zu klagen, was das ganze Vorhaben gerade echt erheblich erschwert. Ich fluche zwar laut vor mich hin, aber das juckt hier, in der über Nacht ausgekühlten Küche, niemanden. Und auch das kleine Mäuschen hat sich wohlweislich verzogen.
Als ich letztendlich meine dampfende Tasse wärmend in Händen halte und damit vor die Hüttentür trete, steigt in mir echte Dankbarkeit auf. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt etwas scheinbar so Banales wie eine schlichte Tasse Kaffee so wertgeschätzt habe. All meine Mühen, die ich aufbringen musste, um das heiße Getränk jetzt in Ruhe genießen zu können, verleihen meinem Kaffee nun zusätzlichen Genuss und Geschmack: das Schleppen des Kaffeepulvers im Rucksack den weiten Weg hier herauf, das Wasserholen aus der Quelle, das Holzhacken und Einschüren und das nächtliche Verteidigen der Milch gegen nachtaktive Nager. Zudem zeigt sich die morgendliche Landschaft in atemberaubender Schönheit und schier unberührter Pracht. Die Luft ist noch kalt und gesättigt von Schnee, der auf dieser Höhe zwar auch schon längst weggetaut ist, dessen letzte Reste aber noch glitzernd und weiß von den höheren Gipfeln herübergrüßen. Die ersten Sonnenstrahlen lecken tapfer an den Wipfeln der großen, mächtigen Tannen und versprechen einen herrlichen Frühlingstag.
Am Nachmittag sitze ich dann mit einem meiner Bücher und einem Stückchen von der mitgebrachten Schokolade erneut vor der Hütte und rekle mich in der warmen Maisonne. Mittlerweile bin ich bereits zweimal unten im Wald an der Quelle gewesen, um Nachschub fürs Kochwasser zu holen. Und ich bin mit zwei alten Plastikeimern zu einer nahegelegenen, im Sommer stark frequentierten Viehtränke gewandert, die immer randvoll mit altem Regenwasser ist, um mir dort das Wasser für die Klospülung zu organisieren. Schließlich muss ich nicht das kostbare Quellwasser für meine großen und kleinen Geschäfte verwenden, oder? Übrigens, ganz schön mühsam diese Schlepperei, denn normalerweise betätige ich, wie wir alle, nehme ich an, zu Hause einfach nur einen Knopf des Spülkastens oberhalb der Toilette und schon sind alle Anrüchigkeiten samt Klopapier auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen der Kanalisation verschwunden. Hier oben deponiere ich schon am frühen Morgen für alle Fälle den ersten Eimer mit abgestandenem Regenwasser neben der Klotür, denn man weiß ja nie, wann die Natur ruft!
Fünf Liter brauche ich dann später mindestens, um alles runterzuspülen. Ziemlich viel, das ist mir beim Betätigen der Klospülung zu Hause nie wirklich bewusst geworden.
Und so finde ich relativ schnell heraus, dass Wassersparen nicht nur den Rücken schont, sondern auch meinen Regenwasservorrat. Ist mein Verbrauch am ersten Tag noch ganz schön hoch, beginne ich schon am zweiten Tag, sorgsamer mit den Ressourcen umzugehen, indem ich z. B. mein »kleines Geschäft« nicht gleich jedes Mal in die Tiefen der Versitzgrube – so heißt das hier benutzte Kanalisationssystem – versenke; ich sammle quasi den Tag über ein bisschen von … na, da muss ich wohl nicht näher darauf eingehen, bevor ich dann erst mit Schwung einen Eimer Regenwasser in die Schüssel kippe. Ich weiß schließlich nicht, wann sich der Himmel anschickt, meine alte Viehtränke, die übrigens aus einer verrosteten Badewanne besteht, wieder aufzufüllen. Im Moment sieht es nämlich nicht danach aus, ein fast schon unverschämt strahlendes Blau versüßt mir weiterhin meinen Aufenthalt hier oben in den Bergen.
Mittlerweile hat sich Tag drei mit erneutem Sonnenschein und fröhlichem Vogelgezwitscher eingeläutet und ich bin fast durchwegs guten Mutes. O.k., ein leichter Muskelkater vom vielen Holzhacken macht mir etwas zu schaffen und die unruhigen Nächte hinterlassen auch ihre Spuren in meinem Körper. Ich habe mich nämlich immer noch nicht an die Geräusche hier oben gewöhnt und schrecke deswegen nachts regelmäßig hoch. Nicht nur, dass meine Freundin, die kleine Maus, weiterhin in der Dunkelheit auf Nahrungssuche geht, auch andere »Gespenster« halten mich zur eigentlichen Schlafenszeit wach. So zieht sich beispielsweise das Holz, aus dem die Wände der alten Hütte gebaut sind, in den kühleren Nachtstunden stöhnend und ächzend zusammen und die mächtige Tanne, die direkt hinter dem Haus steht, wirft nachts, wenn der Wind durch die Nadeln braust, gerne mal zum Spaß mit kleinen Zweigen oder Zapfen. Die landen dann mit einem lauten Krachen auf dem Blechdach der Hütte, das sich direkt über meinem Kopf befindet. Zudem tapsen draußen zuweilen mehr oder weniger sanfte Tierpfoten hektisch durch die Finsternis und schnuppernde Nasen, immer auf der Suche nach Fressbarem, wühlen sich eifrig durch das umliegende Gehölz.
Am frühen Morgen, noch bevor die Dämmerung anbricht, werden die mitternächtlichen Geräusche dann vom fröhlichen Tirilieren unendlich vieler Vögel abgelöst, denen vor Freude über den schier explodierenden Frühling hier oben fast die kleinen Kehlen zu platzen drohen. Bereits gegen vier Uhr morgens starten die putzigen Bewohner der Lüfte ihr facettenreiches Konzert und schmeißen mich damit recht früh, aber durchaus charmant aus meinen eigenen Federn.
Und so beginne ich mich bereits nach einigen wenigen Tagen Hüttenleben kaum merklich dem Rhythmus der Natur anzupassen. Ja, ich werde hier oben doch tatsächlich zur Frühaufsteherin! Gerade die Morgendämmerung birgt für mich einen besonderen Zauber in sich, wie ich staunend feststelle. Zu Hause beginnt der Tag draußen meist ohne mich; hier oben ist nach dem Kaffeekochen erst mal nicht viel zu tun und so sitze ich bei klarem Wetter bereits um sechs Uhr warm eingepackt draußen, um der orangefarbenen Sonne beim eleganten Erklimmen der ersten, steinernen Bergflanke zuzusehen.
Vielleicht hat dieses frühe Aufstehen aber auch damit zu tun, dass ich hier in den Bergen ohne Strom lebe. Somit fallen schon mal die gängigen Reizüberfluter wie Fernseher und Computer weg und ich gehe viel früher ins Bett. Zwar schmücken kleine Solarmodule das Dach der Hütte, sodass ich abends mithilfe zweier schwacher Energiesparlampen in der Stube lesen kann, aber nach ein, zwei Stunden schmerzen mir dann so sehr die Augen, dass ich entnervt aufgebe.
Belustigt stelle ich auch fest, dass mir das Zeitgefühl hier oben etwas abhandenkommt – ein Tag reiht sich gleichförmig an den anderen –, und ich bin immer noch ganz allein. Kein Besuch versüßt mir die Einsamkeit, nur ab und zu kommt ein Wanderer des Weges und grüßt, freundlich Hut oder Kappe lüpfend, im Vorübergehen.
Nach fünf oder sechs Tagen, so genau kann ich das im Nachhinein gar nicht mehr sagen, mache ich bei einem meiner Spaziergänge rund ums Haus eine erstaunliche Erfahrung. Das Wetter hat umgeschlagen, dicke Wolken hängen in den umliegenden Bergen und verkünden Regen. Ein steter Wind rauscht durch die Bäume und lässt das Gras auf den Wiesen wogen wie ein grünes Meer. Noch fällt kein Tropfen vom Himmel und so mache ich mich auf, um vor dem ersten Schauer noch ein kurzes Stück jenen Weges zu gehen, der an meiner Hütte vorbei zum nächstgelegenen Gipfel führt. Seit Tagen habe ich kein Wort mehr mit einer Menschenseele gesprochen und irgendwie scheint es, als hätte sich auch mein ständiger innerer Dialog etwas beruhigt. Es ist schon erstaunlich, wie viel man den ganzen Tag über im Inneren mit sich selbst spricht.
Ja, ich bin im Ganzen stiller geworden und das fühlt sich sehr gesund und entspannt an. Und so gehe ich nun langsam ein paar Schritte, das Gesicht offen in den Wind gestreckt, der sich frisch und prickelnd auf meiner Haut anfühlt. Nur ein paar Meter vom Haus entfernt, das von einer hohen Fichtenhecke umzäunt ist, hat man einen wunderbaren, unverstellten Blick auf ein prächtiges Bergpanorama, das sich von hier aus weit nach Österreich hinein streckt. Ein paar dicke Regentropfen beginnen mich zu streifen und so stelle ich mich unter einen nahen Jägerstand, der sich wackelig an eine alte, ehrwürdige Tanne lehnt.
Ich stehe einfach nur da, den Rücken an die raue Haut des Baumes geschmiegt, und genieße die Natur um mich herum – und mit einem Mal höre ich das Rauschen des Windes in den Blättern und Nadeln um mich herum hundertmal lauter als sonst. Es ist, als hätte jemand den Regler eines Lautsprechers höher gedreht. Auch meine Augen scheinen plötzlich wie blank gewischt; ich sehe alles gestochen scharf und nehme Details an den gegenüberliegenden Berghängen wahr, die sonst mit bloßem Auge für mich nicht erkennbar sind. Fast bekomme ich ein bisschen Angst, denn so viele verschiedene Tonlagen und Farben habe ich in meinem Leben bisher noch nicht gehört oder gesehen. Doch so schnell wie diese glasklaren Wahrnehmungen aufgetaucht sind, so schnell verschwinden sie auch schon wieder und ich fühle mich, als hätte sich für wenige Augenblicke ein »Grauschleier« von meinen Ohren und Augen gehoben und ich hätte diese wunderbare Welt in ihrer ganzen Pracht so wahrgenommen, wie sie wirklich ist.
Ich weiß nicht, wie lange ich danach am Stamm der alten Tanne lehne, immer noch staunend und berührt von dem, was ich gerade erleben durfte. Irgendwann beginnt es heftiger zu regnen und so gehe ich zurück in den Schutz meiner Hütte.
Von da an beginne ich, stundenlang in der Küche am Fenster zu sitzen und hinauszuschauen. Das Wetter hat sich mittlerweile bei Regen und Wind eingependelt, unterbrochen von kurzen sonnigen Momenten, in denen der Himmel aufreißt und ich mich für einen kurzen Spaziergang oder zum Wasserholen nach draußen wage. Ich kann mich mit einem Mal nicht mehr sattsehen an dem großen Berg vis-à-vis, der mit seinem zackigen Grat die Luft durchschneidet und der nur durch ein Tal von dem Ort, an dem meine Hütte steht, getrennt ist. Ich beobachte den ständigen Wechsel von Schatten und Licht, von Wolken und Nebel, der manchmal feengleich aus seinen schroffen Vertiefungen steigt und sich in den Weiten des Himmels verflüchtigt wie weißer Rauch. Ständig tut sich dort drüben etwas, mal kann ich den Gipfel unter seiner Wolkenmütze kaum erkennen, dann wieder tauchen ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen die steinigen Flanken in weiches Licht. Und der Berg, er bleibt immer der Gleiche, scheinbar nichts und niemand kann ihm etwas anhaben. Er steht einfach nur da.
Ich selbst muss es wohl irgendwann im Laufe meines Lebens verlernt haben, einfach nur dazusitzen und zu schauen. Nichts zu tun, wie dieser Berg – und trotzdem da zu sein. Dabei besaß ich schon als kleines Mädchen im Kindergarten die Gabe des stillen Beobachtens, nur dass dies damals nicht als erstrebenswerte Eigenschaft galt, sondern meine Eltern und Erzieherinnen eher verunsicherte und zuweilen zur Weißglut brachte. »Träumerle« wurde ich genannt; ich saß am liebsten in der Puppenecke, meine Lieblingspuppe namens Monika auf dem Schoß balancierend, und dabei hatte ich immer ein neugieriges und waches Auge auf alles, was sich um mich herum so tat und bewegte. Mitspielen und toben wollte ich selten, das machte mir eher Angst. Ich malte lieber und brachte so das Gesehene zu Papier.
Daran erinnere ich mich nun wieder, während sich mein Freund, der Berg, gerade anschickt, sich vollständig in feines, graues Wolkentuch zu hüllen. Wie wohltuend es sich anfühlt, nur zu schauen, die Füße dabei auf die warme, eiserne Umrandung des Küchenofens zu legen und ab und zu ein Holzscheit nachzulegen, damit das Feuer nicht ausgeht. Immer wieder forsche ich dabei in meinem Inneren nach der großen, ungefilterten Weite, die ich für einen kurzen Moment erleben durfte, aber sie stellt sich nicht mehr ein. Und trotzdem genieße ich seitdem eine innere Ruhe und Gelassenheit, den Blick stets auf meinen Berg gerichtet, den ich so vorher noch nicht kannte.
Meinen ersten Hüttenaufenthalt im Mai beende ich nach zehn Tagen – beseelt von einem Gefühl der Zufriedenheit. Zwar schrammte ich während dieser Zeit auch immer wieder am Rande der Verzweiflung entlang – was meist etwas mit dem Kaffeekochen am Morgen zu tun hatte –, doch alles in allem bin ich auch stolz auf mich. Für den Beginn meines Experiments habe ich mich doch recht wacker geschlagen. Mein Lebensmittelvorrat war gut berechnet, auch wenn mir blöderweise die Schokolade vorzeitig ausging. Sogar die kleine Maus, samt Sippschaft, ist anscheinend nicht vom Fleisch gefallen. Ich habe es allerdings nicht übers Herz gebracht, die fiese Falle, eine Eigenkreation des Hüttenwarts – ich erspare allen Leserinnen und Lesern wohlweislich die Bauanleitung –, an die Maus zu bringen. Da teile ich dann doch lieber großherzig mit den possierlichen Nagern meine mitgebrachten Leckereien.
In Sachen Holzhacken habe ich es in den wenigen Tagen übrigens fast zu einer kleinen Meisterschaft gebracht. Vielleicht bin ich ja ein Naturtalent, denn meine Holzscheite sahen immer recht ordentlich aus, und überhaupt brachte ich auch den härtesten Klotz mit meiner scharfen Axt zum Spalten. Das Schönste am Holzhacken war für mich das Spüren meiner eigenen Kraft und Lebendigkeit. Der weite Schwung der Axt über meine Schulter hinweg und die Freude, die sich in einem herrlich lauten Schrei zum Ausdruck brachte, wenn sich das Holz anschickte, in einzelne Scheite auseinanderzubrechen. Der würzige Geruch von Wald und Baumharz, der den ganzen Vorraum, wo der Hackklotz steht, einhüllte, und später dann das wunderbar befriedigende Gefühl, mit den eigenen, hart erarbeiteten Holzscheiten das Feuer anzuschüren. Das alles hat mich zutiefst beglückt und erfüllt mich auch heute noch mit Stolz.
Dem umsichtigen Wassersparen sei Dank, musste ich übrigens nicht allzu oft den Abhang zur Quelle hinunterkraxeln. Und ich hatte auch wider Erwarten kein Heimweh. Im Gegenteil, im Laufe der Zeit begann ich, mein selbst erwähltes Alleinsein sehr zu genießen. Ich wurde zwar nicht eins mit der Natur, dazu bin ich anscheinend noch viel zu sehr mit meinen menschlichen Bequemlichkeiten verbunden und mit meinen Unzulänglichkeiten verstrickt, aber ich habe unter dem Jägerstand an der Tanne einen eindrucksvollen Geschmack davon bekommen, wie es sich anfühlt, sich für einen kurzen Moment der Einsamkeit und Stille, umgeben von Flora und Fauna, vollkommen hinzugeben. In den letzten Tagen, beim Beobachten meines Berges, erfuhr ich eine nie geahnte Stille in mir, die erahnen lässt, wie sich Einfachheit gepaart mit Ruhe in mir selbst anfühlen könnte. Eine Erfahrung, die ich auf alle Fälle noch vertiefen möchte … Vielleicht bietet sich im Rahmen der kommenden »Selbstversuche« noch die eine oder andere Gelegenheit dazu!
Beschwingt drehe ich nun den Schlüssel im Schloss der Hüttentür zweimal herum und schultere dann meinen wunderbar leicht gewordenen Rucksack. Spontan drehe ich mich nochmal am Gartentor um und verbeuge mich in Dankbarkeit vor dem alten Holzhaus, das mich unbeeindruckt von meinen seelischen Hochs und Tiefs ausgehalten und mich beschützt und beherbergt hat. Mir ist natürlich bewusst, dass dies erst der Anfang war, denn noch kann ich die Qualität der Einfachheit mit all ihren Facetten nur erahnen. Vor mir liegen spannende Monate, das ist sicher.
