Matzbachs Nabel
Matzbach exklusiv bei KBV:
Acht Neuauflagen und zwei Neuerscheinungen
Mord am Millionenhügel (Juni 2012)
Und oben sitzt ein Rabe (Juni 2012)
Das Doppelgrab in der Provence (Herbst 2012)
Mörder und Marder (Herbst 2012)
Matzbachs Nabel (Herbst 2012)
Kein Freibier für Matzbach (Frühjahr 2013)
Schmusemord (Frühjahr 2013)
Feuerwerk für Matzbach (Frühjahr 2013)
Finaler Rettungskuss (Juni 2012)
Zwischenfälle (Frühjahr 2013)
Gisbert Haefs, Jahrgang 1950, lebt und schreibt in Bonn; als Übersetzer/Herausgeber verantwortlich für Borges, Kipling, Brassens, Dylan u. a., als Autor haftbar für Erzählungen, historische Romane (Hannibal, Troja, Raja, Die Rache des Kaisers, Das Labyrinth von Ragusa u. a.) und Krimis (»Matzbach«).
Die Originalausgabe erschien
1993 als Goldmann-Krimi
© 2012 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlagillustration: Ralf Kramp
Print-ISBN 978-3-942446-52-5
E-Book-ISBN 978-3-95441-118-4
Alle Personen, Doubles, Wiedergänger, Charaktere und Charakterlose in diesem Roman sind frei erfunden, ebenso viele Örtlichkeiten, Weinqualitäten etc. Jegliche Ähnlichkeit zwischen Dichtung und Wahrheit würde den Autor verblüffen, der sich hiermit nachdrücklich von seinen Protagonisten, ihren Taten und Meinungen distanziert.
» … wurde Baltasar Matzbach als ›Universaldilettant‹ bezeichnet, der sich in die Gefilde der Kriminalistik verirrt habe. Das Etikett … beklebt einen, der von vielen Dingen zu viel weiß, um sie ernst zu nehmen, zu wenig, um von ihnen ernstgenommen zu werden, und genug, um Experten zu bluffen und Laien zu amüsieren. … Ein Bekannter mutmaßte auch, B. M. leide (?) an Elephantiasis der Seele. Interessanter sind jedoch andere Aspekte, so z. B. Matzbachs verwegene Verfressenheit; wie zu Zeus Sein Donner und zu Jehovah Sein Zorn gehört zu Baltasar Sein Wanst. Immerhin kann er es sich seit vielen Jahren leisten, Hecht zu essen und zum folgenden Fleischgang einen Grand Cru zu trinken. Er wuchs nach dem Verscheiden seiner Eltern bei Verwandten auf und studierte später Philosophie und Atomphysik. Dabei erfand er etwas für ein Betatron, so kompliziert, daß er es selbst schon längst nicht mehr erklären kann, aber das Patent wird international verwendet und wirft einiges ab; anschließend wandte Matzbach sich der Musik zu und komponierte ein bißchen, darunter einen vollendet schwachsinnigen Schlager, der noch immer läuft und zwei- bis dreimal pro Jahr neu aufgenommen wird, und so schickt die GEMA ihm bisweilen einen freundlichen Scheck. Ein Hauptgewinn im Lotto sorgte 1962 dafür, daß Baltasar aus dem Gröbsten heraus war. Er investierte klug und ergab sich der sinnlosen Bildung, wobei er von den exakten zu den diffusen Gebieten überging; so stammt aus seiner Feder ein in Fachkreisen geschätztes Werk über Monotheistische Strömungen des inselkeltischen Druidentums.* Einige Jahre hielt er sich an der bretonischen Nordküste auf, bevor die touristische Völkerwanderung sie verwüstete, und weilte dort als Mäzen und Manager junger Künstler, Veruntreuer von frühen Touristinnen und Privatdozent gegen Okkultismus. Dabei verfaßte er zwei weitere Standardwerke: Schamanistische Einflüsse in die Analekten des Konfuzius* und Sexualpathologische Aspekte der Psychokinese.* Und tat zahllose weitere unsinnige Dinge, die ausnahmslos zu Gold wurden (er habe, behauptet er, in dieser Beziehung etwas durchaus Eselhaftes an sich). Jahrelang verdiente er sich ein regelmäßiges Zubrot mit seinem Kummerkasten Fragen Sie Frau Griseldis; außerdem droht irgendwann die Veröffentlichung seines geheimen Hauptwerks Der Leichnam in der Weltliteratur. (Die Mutmaßung, seine detektivischen Aktivitäten seien nur ein Vorwand dafür oder umgekehrt, ist nicht von der Hand zu weisen.) …«
* Alle Titel erschienen im Verlag für Enzyklopädische Geisteswissenschaften (Edinburgh – Simla – Wachtendonk – Córdoba – Beaune).
Der Himmel öffnet gähnend blau den Rachen«, sagte Matzbach. Er plumpste aus dem breiten Bett, blinzelte und tastete mit den Zehen nach den sich auflösenden Hanflatschen. »Die Vögel hocken hustend im Geäst.« Er hustete und schlurfte über knarzende Bohlen zur Tür. »Wer möchte da nicht in die Socken machen, und würf ihn auch die Kebse aus dem Nest?«
»Wage es nicht.« Jorindes verschlafenes Gesicht erschien unter den verwickelten Wolldecken, dann auf dem Kissen. Sie richtete sich langsam auf, rutschte zurück, bis ihre bloßen Schulterblätter die Wand berührten, und blickte zum Wecker, der auf dem Rand der alten steinernen Pferdetränke stand. »Erst zehn. Was willst du denn schon draußen?«
Baltasar blieb unter dem Türsturz stehen, kratzte sich das Brusthaar und musterte die Hexe. Langsam breitete sich ein unrasiertes Lächeln über sein Antlitz.
Das Steingebäude war einmal Kapelle gewesen, später Stall, dann Unterkunft für Feldgendarmerie, Geräteschuppen und zuletzt – bis vor etwa drei Jahren – Alterssitz eines hessischen Staatssekretärs, der an die Nordgrenze des feindlichen Auslands Rheinland-Pfalz geflohen war. Aus dem bunten Bleifenster über Bett und Trog – es zeigte einen Seraph mit Flammenschwert, kokett abgespreizten Flügeln und grünstichigen Schwungfedern – rieselte Sommerlicht in mehreren Farbschichten.
Als Jorinde Seyß an der Wand wieder ein wenig hinabrutschte, schob sich ihr langes Mahagonihaar als schimmernde Mütze über den Kopf. Sie hatte den linken Arm zum Trogrand erhoben und ergriff den Aschenbecher; die rechte Brust lugte über die Wolldecken, und auf dem sahnigen Fleisch knisterte ein von der Schwertspitze des Seraphs geseihtes Brandlicht.
»Mußt du so früh schon grinsen?«
Matzbach schnalzte. »Des Bildes Anmut«, sagte er heiser. »Apart und revolutionär, wiewohl seitenverkehrt. Dein Haar als phrygischer Kopfputz – es fehlt die Fahne.«
Jorinde schloß die Augen. »O Mann.«
»Zutreffend. Und bevor ob deiner Unruh mein Pendel ausschlägt, geh ich lieber ins Aushaus.« Er öffnete die Tür.
»Herzchen.« Jorinde blinzelte. »Aber doch nicht so.«
Matzbach blickte an sich hinunter. »Wie?«
»Nackt.«
»Nein?«
»Nein.«
»Doch.«
»Ja?«
»Ich betrachte es nicht als vordringliche Aufgabe, optische Gefährdungen von meinen Mitmenschen abzuwenden. Wer das Risiko eingeht, zu mir hinzusehen, der ist selber schuld.«
»O Mann.«
Matzbach nickte und trat in den Sonnenschein hinaus. Die mobile Bauarbeiter-Toilette – grünes Plastikzeug mit einem aufgemalten roten Herzchen, darüber Wellblech – stand einige Meter rechts der Tür, im Halbschatten des modernen Anbaus. Nach vollzogener Entwässerung watschelte Baltasar zur Viehtränke vor dem alten Hausteil, zog am kreischenden Schwengel der Pumpe, schnitt eine schmerzliche Grimasse und hielt den Kopf unter das kalte Wasser. In einem Anflug von Heroismus klomm er prustend und schnaubend in den Trog und ließ sich zur Gänze überspülen.
Als er den steinernen Behälter verließ und sich schüttelte, bemerkte er die Signalleine, die wahrzunehmen seine Augen vorher nicht imstande gewesen waren: Zwischen der Pumpe und der Antenne des zerbeulten grünen Volvo-Kombi spannten sich drei verknotete Nylonstrümpfe; in einem der Knoten steckte ein zusammengerolltes Stück Papier.
»Auch noch Inkas.« Mit nasser Pfote nestelte er an den Knoten.
»Was?« sagte Jorinde; die Tür war nur angelehnt.
»Post von Atahualpa. Ein Quipu.«
»O Mann.«
Matzbach schlang sich die Nylonstrümpfe um Hals und Schultern. Sonnenstrahlen leckten an den Tropfen auf seiner Haut und in seinem Haar. Er entrollte die Botschaft. WENN DU ZU ENDE GEPOFT HAST, KOMM ZUM GALGENBERG WG. INTERESSANTE LEICHEN – HEINRICH
Baltasar gluckste und ging zurück ins Haus. Jorinde saß noch immer malerisch zu Füßen des Seraph. Sie streckte die Hand aus, nahm den Zettel, las und rümpfte die Nase.
»Hat er wieder wen verbuddelt?«
Matzbach zuckte mit den Schultern. »Macht er doch häufiger; dafür ist er ja Privatbestatter, oder?«
Sie seufzte, legte den Zettel auf den Rand des Trogs, unter den Wecker, und rutschte tiefer zwischen Decken und Laken. »Machst du Kaffee, herrlicher Mann?«
Matzbach blickte abermals an sich hinunter. »Ja. Nun ja.« Jorinde verfolgte ihn mit ihrem schrägen Lächeln. Er ging zum riesigen Kamin an der rechten Kopfseite des Raums, nahm das Kistchen vom Bord darüber, holte eine Zigarre heraus, steckte sie hinter sein linkes Ohr, klemmte das Streichholzdöschen zwischen die Zähne, nahm den Korb mit Holzscheiten und Tannenzapfen in die linke Hand und wanderte zur anderen Kopfseite, hinter der der moderne Anbau begann. Dort stand ein alter Herd, von dem Röhren zu vier Heizgerippen an den beiden langen Wänden führten. Auf halbem Weg, als er das Fußende des Betts passierte, hielt Jorinde ihn auf.
»Moment, Herzchen«, sagte sie kopfschüttelnd. »So geht das aber nicht.«
Sie kniete, während er sich auf ihre Gesten hin vorbeugte.
Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Nase und band die drapierten Nylonstrümpfe zu einer Schleife. »Jetzt kannst du Kaffee kochen. Woher stammen übrigens die Strümpfe?«
Matzbach hob die Schultern und nuschelte etwas um die Streichholzdose herum. Er spuckte die Schachtel auf die Herdplatte. »Heinrich nimmt so was als Briefumschlag, offenbar.«
Die Hexe verdrehte die Augen und rollte sich wieder in die Decken.
Aus den Proviantkartons fischte Baltasar Knäuel aus Zeitungspapier, warf sie in den Herd, streute Tannenzapfen darüber, legte Holz darauf und riß ein Streichholz an. Immer noch unbekleidet ging er wieder zur Pumpe vor dem Haus, füllte die antike Blechkanne mit Wasser, brachte sie pfeifend zum Herd zurück, stellte sie auf die Platte und zündete sich die Zigarre an. Nach ein paar mächtigen Vorfrühstückszügen legte er sie in den mitgebrachten irdenen Aschenbecher zu Haupte der Hexe.
»Willst du dich nicht mal anziehen?« sagte Jorinde.
»Warum? Gefall ich dir nicht mehr?«
»Ein Jegliches hat seine Zeit, o Matzbach. Es ist nicht zu leugnen, daß der Anblick mich gelegentlich erschauern läßt, aber jetzt ist nur Schaudern angesagt.«
Er giggelte schrill und ging zum Kamin, wo auf der Pyramide dickerer Hölzer seine Gewänder ruhten. Nachdem er die helle Leinenhose, die die untere Hälfte seiner 120 Kilo faßte, mit dem Gürtel gesichert hatte, stülpte er ein blaues Frotteehemd über die obere Partie. Das Wasser in der Kanne begann mißtönend zu singen.
Nach Heinrich Genengers Auskünften war auch der Speicher über dem einen großen Raum der ollen Kapolle leer. Herd, Kamin, bunte Fenster, die Heizkörper und die Tröge an der Wand gegenüber der Tür hatten seit Jahren den Raum mit Mäusen und anderen Geschöpfen des Feldes sowie Unrat geteilt. Jorinde Seyß und Baltasar Matzbach, am späten Nachmittag des Vortags zur Erholung angereist, waren vor der Tür mit dem demontierten Bettgestell, Matratzen, Decken, Brennholz, Tannenzapfen, einem Eimer, mehreren Besen und einem Zettel von Genenger kollidiert – er habe dringend fortgemußt, werde morgens jemanden bestatten und stehe alsdann zur Verfügung; bis dahin wünsche er feines Räumen und seliges Beilager. Dank längerer Telefonate in den letzten Wochen wußten sie, daß der moderne Anbau seit dem Tod des weiland Staatssekretärs versperrt war. Die Unschlüssigkeit der kleinen Landgemeinde hinsichtlich der Gebäude dauerte pietätvoll an.
Das Dorf lag an der Mündung des Adelbachs in die Ahr. Im Zuge der Gebietsreformen war es annektiert worden; es gab jedoch neben Bauern, Winzern, Handwerkern, Krämern und dem Pfarrer immer noch einen Dorfbürgermeister und offenbar auch Zuständigkeit für verwahrloste Gebäude. An der Mündung war das Tal breit genug für Felder und Weiden; die talauf schnell zusammenrückenden Hänge, nach alter Art terrassiert, produzierten mit Hilfe von Sonne, Regen, Wind und Winzern mehrere Weinsorten, über deren Trinkbarkeit Matzbach sich näher informieren wollte.
Auf dem linken Ufer des unbegradigten Bachs schlängelte sich eine vor vielleicht zwanzig Jahren zuletzt nachgebesserte Asphaltstraße talauf. Etwa dreieinhalb Kilometer vom Ortskern, mehr als zwei Kilometer vom letzten Haus entfernt, lag des verstorbenen Staatssekretärs Eremitage auf einer kleinen Kuppe, hundert Meter von der Straße und zweihundert Meter vor dem Beginn des Weinhangs. Der Feldweg – ringsum lag etwas, was Sauerwiese oder verwilderte Weide sein mochte – bestand aus Lehm, Schotter und Löchern.
Einen weiteren Kilometer talauf mündete ein namenloser Minilauf in den Adelbach. Immerhin hatte das Wässerlein in Jahrzehntausenden einen V-Ausschnitt in die Berge gefräst; dort endete der Weinbau, und dort begann das Reich von Heinrich Genenger. Von der verwilderten städtischen Nachkommenschaft eines alten Adelsgeschlechts – man hielt sich nur noch zu bestimmten Gelegenheiten in den Hallen der Vorväter oberhalb des Tales auf und ließ die Gebäude gezielt verfallen – hatte Genenger vor Jahren ein Areal namens Galgenberg »zu Lehen genommen«. Nach alter Überlieferung sollten dort nur Schufte und anderes Kroppzeug verscharrt werden. Genenger, Absolvent mehrerer Universitäten, Dr. phil. (mit Dissertation über Spinoza), hatte seine nutzlosen Philosophiekenntnisse, die ihn im Leben nicht weiterbringen konnten, sinnvoll aufgegeben und sich dem Geschäft des Todes gewidmet, von dem er prächtig lebte, indem er auf seinem Privatfriedhof um teures Geld Snobs bestattete, die nach ausgefallenen, okkulten, finsteren oder obszönen Riten beigesetzt werden wollten und bei bundesdeutschen Friedhofsämtern nicht landen konnten. Matzbach hatte Heinrich Genenger und die ehemalige Studentin der Philosophie, nunmehr Hexe Jorinde Seyß, vor zehn Jahren bei einem Treffen kreativer Ex-Philosophen kennengelernt, die sich als Tierverleiher, Auftragsdichter, Heraldikmodistin, Portraitrice, Computerkomponistin, Beratender Philosoph (mit Praxis in Bonn) sowie eben Privatbestatter und Hexe selbständig gemacht hatten, statt Matzbach in seiner Eigenschaft als Steuerzahler auf der Tasche zu liegen. Es war ein wildes Wochenende in einem verschneiten Haus im Westerwald gewesen, mit Marder und allerlei erotischen Leibesübungen und einem Mord, den Matzbach hatte aufklären können, ehe der Schnee wieder schmolz.*
Als das Wasser kochte, schüttete Matzbach vierzehn Löffel Kaffee in die Kanne, die neun Tassen faßte, ließ sie einen Moment auf der Platte stehen, streute eine Prise Salz in das Gesprudel, schlug an der Pfanne, in der zerlassene Margarine zischte, ein Ei auf, warf die Schale ebenfalls in den Kaffee und schob das Blechgefäß dann an den etwas kühleren Herdrand. Aus dem mitgebrachten Proviant folgten fünf weitere Eier, ein paar Scheiben bacon, Salz und Pfeffer; dann säbelte er von dem dicken Laib Graubrot, den Genenger als Willkommen auf der Schwelle hinterlassen hatte, vier fingerdicke Scheiben ab, wühlte nach Tellern, Blechbechern und Besteck, lief zu seinem Wagen hinaus, kehrte mit zwei Picknickstühlchen und einem Klapptisch zurück und arrangierte am Fußende des Betts alles für ein Schlemmerfrühstück. Den Slivovitz lehnte Jorinde dankend ab; mit großen Augen sah sie zu, wie Baltasar die Nylonstrümpfe beschnupperte.
»Was wird das?«
Er hob das Gebinde hoch. »Ich hoffe, die sind unbenutzt, oder jedenfalls nicht allzu oft getragen seit der letzten Wäsche. Wäscht man so was?«
»Man tut das, ja. Wieso?«
Matzbach spitzte konzentriert den Mund, breitete ein Oberschenkelstück Nylon über seinen Blechbecher und siebte den Kaffee. »Darum, Gespielin des Nachtwinds. Du auch?«
Sie zuckte mit den Schultern, wickelte sich in die Decke, nahm Platz und aß zwei Spiegeleier zu einer Scheibe Brot; der Rest verschwand in Matzbach.
»Irgendwie«, sagte er mit vollem Mund, »find ich das hier ganz nett. Vor allem dieses mobile Aushaus drauß und den Badetrog vor der Tür. Ob in dem Anbau Dinge sind, die man als sanitäre Einrichtungen umschriebe, wenn man es wüßte?«
»Selbst wenn – wie soll man reinkommen?« Jorinde blickte hin und her im Raum, der in allen Farben des Regenbogens schillerte. Auf Matzbachs Stirn waberte ein roter Klecks: Sonnenlicht und ein Scheiterhaufen im Fenster mit einem zappelnden Märtyrer. Sie streifte die Proviantkartons, verstreuten Koffer, Matzbachs Seesack, die Bücherkiste mit wehmütigem Blick, seufzte und schloß die Augen, als Baltasar den leeren Teller von sich schob, rülpste, Kaffee per Nylon nachgoß, mit Slivovitz versetzte und die erloschene Frühzigarre wieder ankokelte.
»Und jetzt?« sagte sie schwach.
»Ah, na was? Genenger auf seiner Leichenhalde aufsuchen. Wenn’s da interessante Leichen gibt … Wann hatte ich die letzte interessante Leiche? Elend lange her.«
»Ich denke, wir wollen uns erholen.«
»Deine Anwesenheit entschädigt mich in einer Minute für einen Monat des Darbens, Madame. Gewissermaßen bin ich bereits erholt.«
»Irgendwie ist mir nicht nach Leichen zumute.« Sie öffnete die Augen und lächelte. »Selten. Außer wenn ich Tischrücken spiele oder professionell mit dem Jenseits telefoniere.«
»Sehr wohl, Frau Hexe. Muß aber heut früh nicht sein, oder?«
»Muß nicht, nein. Ich glaub, ich räum ein bißchen auf.«
Baltasar ging um das Bett herum und klaubte ein Buch vom Boden. »Hier. Wenn du dich zwischendurch amüsieren willst.«
Sie nahm den Band in die Hand, drehte ihn hin und her. »Morganatische Gesänge«, sagte sie halblaut; sie runzelte die Stirn. »Von Osiris K. Was ist das denn?«
»So was wie ein subversiver Heimatdichter. Hockt hier irgendwo in der Nähe. Hat mir Genenger mal geschickt, aber bisher war ich nicht dazu gekommen.«
Jorinde blätterte. »Sieht wie richtiges Bütten aus. Jesses.«
»Macht der wohl alles selber. Schöpft Papier, vergnügt sich mit Handsatz, bindet und marmoriert. Und dichtet. Mon dieu, und wie der dichtet!«
»Und was, bitte sehr, sind morganatische Gesänge?«
Matzbach grunzte. »Das war früher mal, wenn ein Fürz oder King oder Prinz ein Mädel nahm, und die Dame war nicht standesgemäß, so daß sie zwar in sein Bett durfte, aber nicht an seinen Privilegien teilhaben oder Thronrechte genießen, dann war das eine morganatische Ehe. Auch Ehe zur linken Hand oder linker Hand oder so. Lyrik linker Hand ist das wahrscheinlich. Aber verglichen mit dem, was sonst so an Gedichten gedrechselt wird, ist es nicht schlecht. Allein für die Zeile ›die Vögel hocken hustend im Geäst‹ hat er nen Preis verdient.«
»Ach, deine üblen Aufstehverse vorhin sind von dem?«
»Just so.« Er kratzte sich den Kopf. »Ich glaube, ich überlasse dich deiner Ordnungsliebe und geh Leichen kucken. Bis nachher, Fürstin des Morgendämmers.« Er schleuderte eine Kußhand nach ihr; Jorinde duckte sich.
*Vgl. Mörder & Marder
Auf leisen Sohlen, die Socken in der Tasche, die Schuhe in der Hand, drückte Matzbach sich durch das Tor der von Genenger als Sichtschutz angelegten Friedhofsmauer, mied den Kies und schlich Taxushecken entlang über den Grasrand. Der Drachenkopf der purpurnen Gondel, die Genengers Särge auf den Friedhof verschiffte, ragte über die schartige Zwischenmauer, weiter vorn. Matzbach pirschte näher.
Heinrich Genenger saß am Kopf des offenen Grabes und aß. Die Beine baumelten über dem Sarg. Es war ein schöner Behälter, liebevoll gefertigt aus schimmerndem Kirschbaum. Wider alle Wechselfälle hatte man ihn verriegelt und mit vergoldeten Beschlägen gesichert; ob er einen doppelten Boden und Netz hatte, konnte Matzbach von seiner Lauerposition aus nicht sehen. Die Oberfläche, einen halben Meter unter Genengers Halbstiefeln, war von kundiger Hand ausgeschnitzt worden; hierbei hatte der Künstler die Maserungen des Holzes als Anregung für verschlungene Ornamente genommen. Ein lädierter Regenwurm hangelte sich die Steilwand der Aushebung entlang. Genenger kaute auf einem Hühnerknochen und folgte dem Wurm mit den Augen, bis dieser Rand und Rettung erreichte. Er verschwand unter den Blumenbergen und Kranzstapeln.
Der Bestatter ließ den abgenagten Knochen auf den Sargdeckel fallen, gluckste und wischte sich die Finger. Das T-Shirt sah aus, als sei dies nicht der erste Wischer gewesen. Jemand hatte in die helle Baumwolle ein zusätzliches G gebatikt; die Aufschrift lautete nun, etwas weniger einfältig, Fruit of the Gloom.
Aus der rechten Tasche seiner blauen Leinenhose zog Genenger ein Tuch von unentschiedener Farbe und tupfte sich Fett aus den Mundwinkeln. Dann seufzte er und langte hinter sich. Am Fuß der efeubewachsenen Bruchsteinmauer stand die Korbflasche mit Rotwein. Die Rollen der Taue, mit denen der Sarg abgelassen worden war, umgaben sie wie einen Poller. Auf dem Weg am Fußende des Grabs stand der vierrädrige Gondelkarren. Mit Goldlettern auf schwarzem Feld im allgemeinen Purpur stand CHARONS GO-CART zu lesen.
Julisonne stichelte durch die Zweige der trauernden Weiden. Genenger blinzelte, setzte die Flasche ab, stellte sie wieder zwischen die Taue und entriß dem toten Vogel das zweite Bein.
Mittagsglast lag auf allem. Seit dem Verschwinden des Regenwurms bewegten sich in weitem Umkreis nur noch Genengers Kinn und Kaumuskeln. Der Himmel war blau und gnadenlos. Unter einem Dornbusch weiter weg am Fuß der Mauer hockte eine eingestaubte Krähe. Sie hielt den Kopf schief und starrte auf die Kränze, reglos und gleichmütig. Auf einem vorspringenden Mauerstein döste eine Eidechse. Die Luft schien geschichtet oder gestapelt, wie die Kränze; eine Gruppe von Espen am Nordende des Friedhofs stand gefroren. Unbeschattete Randsteine von Gräbern gaben die gespeicherte Hitze wabernd ab. Zehn Meter von Genenger entfernt schlummerte, auf einer grauen Platte, eine Kreuzotter.
Genenger ächzte abermals. Schweiß troff ihm von der kahlen Stirn in die Augen. Er legte den Rumpf des Huhns zurück ins Weidenkörbchen, aus dem Weintrauben und das Ende einer Baguette lugten.
Matzbach räusperte sich, warf die Schuhe über Mauer und Grab gegen die Gondel und stemmte sich auf die Steine. Die Kreuzotter bewegte sich unruhig, zögerte und glitt von ihrem warmen Stein. Sie verschwand unter dem Stechginster zwischen zwei Gräberreihen. Die Eidechse huschte unter Efeu, und die Krähe zog sich langsam auf die andere Seite des Dornbuschs zurück, seitwärts trippelnd. Genenger wandte den wuchtigen Schädel.
Baltasar balancierte barfuß das Grab entlang zu Charons Gondel und zog die Socken aus der Tasche. »Na, du Mastbaum der Pietät. Schmeckt’s wenigstens?« Er säuberte die Füße, zog die Socken an und stieg in die Schuhe.
»Mhmhmhm.«
Matzbach wippte auf den Zehenspitzen. Unter dem Druck seiner wuchernden Pfunde sanken die weichen braunen Lederslipper in die weiche braune Erde. »Nett hast du’s hier.« Er überflog das Arrangement von Grube, Bestatter und Zubehör und nickte. »Doch ja, fürwahr.«
Genenger schlug die Zähne ins Hühnerbein, kaute und wedelte mit der freien Hand. »Setz dich wenigstens. Du stehst mir in der Sonne.«
»Pah. Du bist farbenblind, die Sonne steht senkrecht, und das hier ist keine Tonne. Außerdem – wer war denn Alexander? Aber bitte.« Er ließ sich auf dem Verschalungsbrett am Fußende der Grube nieder und deutete mit dem Schuh auf den Sarg. »Da hat wohl eine Einwanderung stattgefunden, wodurch sich die Entvölkerung ausgezeichnet vermehrte, wie?«
Genenger nickte stumm und kaute.
Matzbach studierte die Kränze zu seiner Rechten, zupfte an den bunten Schriftschleifen, rupfte eine Rose aus einem Gebinde und steckte sie sich hinters Ohr. Dabei kicherte er. »Tolle Weiheschriften. MÖGE NIE EIN HAHN NACH DIR KRÄHEN, DENN DEINER WAR NIE DER ERSTE. Ziemlich gut. Und die hier – ENDLICH IN HEITERER VERLASSENHEIT – DEINE LUSTIGE WITWE. Wunderschön. BESSER EIN ALLEINER ALS GAR KEINER. Hat wohl einer seinen dadaistischen Tag gehabt, was? Oh, und dieses auserlesene Juwel: UNSEREM LIEBEN WIPPSTERZ ALS LETZTEN GRUSS – MAMA LAURA UND DIE GIRLS VOM CHEZ NOUS. Hah. Populärer Typ?«
»Riesig.«
»Wann trug sich dieses zu?«
»Heut früh. Verbuddelt zu Champagner, Fanfaren und Schmähreden.«
»Und? Hat sich gelohnt?«
»So-so. Zwanzig Riesen.«
Matzbach pfiff leise. »Woher?«
»Düsseldorfer Hautevolaute.«
»Was bleibt für dich, wenn dein Sargtischler und der Schriftschleifenartist et cetera besoldet sind?«
»Die zwanzig sind für mich. Der Rest ist extra.«
Matzbach schob die Unterlippe vor und nickte langsam. Das Dorf war weit genug entfernt, um an ausgefallenen Zeremonien hinter der gemauerten Sichtblende nicht glaubhaft Anstoß nehmen zu können. Ohnehin bestand die Pietät der Dorfbewohner, wie Genenger immer wieder berichtet hatte, in erster Linie aus den Erwägungen des zuständigen Magistrats, der noch weiter weg war; Tischler, Souvenirverkäufer, Krämer, Metzger, Bäcker und Kneipiers begrüßten die häufigen Feste durchaus. Der alte Pfarrer – eine Art Refrain in Genengers Erzählungen – zog es vor, nur dann etwas zu sehen, wenn man ihn dazu zwang; außerdem hatte er schon in der Messe seine Pfeife geraucht – genauer: beim Pfeiferauchen die Messe zelebriert – und hielt das Himmelsdach für ausreichend weit, um fast alles darunter geschehen zu lassen, selbst die Rückwärts-Salti eines polnischen Pontifex.
Matzbach wandte seine Aufmerksamkeit der Korbflasche zu, die an Genengers Lippen hing. Dann warf er einen Blick auf den Freßkorb und rieb sich die Magengegend. »Ich falle vom Fleische.«
Genenger hob die Brauen. »Herbe Sache, aber zweifelhaft.«
»Doch, doch. Ich magere ab. Seit gestern kein Mittagessen, und morgen ist schon der dritte Tag.«
»Du hast dich doch bloß angepirscht, damit ich nicht alles verstecke, wenn ich dich kommen höre.«
»Bin ich in meinen Motiven derart durchsichtig?«
»Aber auch nur da.« Heinrich riß dem Huhn einen Flügel ab und warf ihn Baltasar zu.
»Fast«, sagte Matzbach, als er das Nahrungsmittel beim zweiten Zupacken vor dem Sturz ins Grab bewahrte, »wäre es ein Grufthuhn geworden. Ahhh.« Sehnend streckte er die Hand aus; Genenger reichte ihm auch die Flasche.
Sie aßen einige Zeit schweigend. Die Eidechse traute sich wieder hervor. Plötzlich schmatzte Matzbach; es klang wie ein Kanonenschuß in der Stille des Mittags. »Du hast mich aber nicht herbestellt, um mich zu mästen, wie? Wobei mir das Gegenteil einfällt – vielen Dank für das feine grüne Kackomobil.«
Genenger kratzte letzte weiße Fasern vom Flugbein. »O bitte sehr, war mir ein Vergnügen. – Es geht um Leichen.«
Baltasar machte runde erstaunte Kinderaugen und blickte von Grab zu Grab. »Leichen? Was ist das?«
»Eine tiefe Frage, Herr. Das Endprodukt aller Erkenntnis? Dein wünschbarer Zustand? Ach, man weiß so vieles nicht.«
»Wohl wahr; ja.«
Genenger wischte sich endgültig die Hände an seinem T-Shirt ab. »Ah. So. Wieviel Zeit hast du mitgebracht?«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Vieles, vieles. Die Frage, wie lange ich das Haus ertrage; wann es wieder regnet, weil dann der Weg zu Wasser und Klosett beschwerlich wird; wie lange man braucht, um die Weine der Gegend zu testen; und was der Probleme mehr sein mögen. Jorinde nicht zu vergessen. Du weißt ja, Frauen sind in ihren Ansprüchen manchmal penibel, klomäßig und so weiter.«
Genenger hakte einen langen oberen Eckzahn in die Unterlippe. »Soll sie sich doch was hexen, sanitär.«
»Ich geb das weiter.«
»Interessieren dich meine Leichen nun, ja oder nein?«
Matzbach ließ den abgenagten Knochen auf den Sarg fallen. »O bitte gern, ja doch. Was für Leichen?«
Genenger deutete allgemein talaufwärts, Richtung Nordwesten. »Irgendwelche paar Kilometer Vogelflug …«
»Geierflug.« Matzbach grinste.
» … entfernt steht da ein seltsames Ding rum. Nennt sich Klinik – normal, psycho und Schönheit.«
»Alle drei Aspekte? Wei geschrien.«
»Ruhe. Die behandeln … ah, anders rum: Die sind spezialisiert auf Krankheiten der Reichen.«
»Interessantes medizinisches Gebiet.«
»Ja, wie? Bloß komisch, daß bei denen derart viele Leichen anfallen, alles Leute in den Vierzigern mit Herzstillstand oder so. Und daß die, wie soll ich sagen, auf die umliegenden Friedhöfe strategisch verteilt werden.«
Matzbach rümpfte die Nase. »Momentchen, Momentchen. Das wüßt ich gern genauer.«
Genenger nickte. »Dacht ich’s mir doch. Paß auf. Irgend wie komisch ist mir das schon lange vorgekommen. Jetzt war zufällig gestern abend Kollegentreff – alle Bestatter der unteren, mittleren und oberen Ahr zunebst Umgebung, und da hab ich mich unauffällig umgehört.«
Matzbach strahlte. »Alles für mich?«
»Klar, alles für dich.« Genenger zuckte mit den Schultern. »Mir ist das doch im Prinzip schnurz, aber du jammerst ja immer über Mangel an interessanten Leichen, du Superdetektiv. Deshalb.«
Baltasar verneigte sich im Sitzen. »Bei Gelegenheit und nach ausgiebiger Vor- sowie Hauptwäsche werd ich dir die Füße küssen.«
Genenger schüttelte sich. »Iiii.«
»Zurück zu den werten Verstorbenen. Also wie war das?«
Der Privatbestatter schloß die Augen, reckte den linken Arm vor und zählte mit kräftigen stumpfen Fingern auf. »Erstens: Privatklinik mit massenweise Ärzten. Zweitens: produziert massenweise Leichen. Drittens: Alle, soweit ich das übersehe, waren in deinem Alter …«
»Danke.«
» … und hatten nichts Ernstes. Viertens: Herz, diese Pumpe, ist ein ziemlich diffuser Befund, was Todesursachen angeht. Fünftens: Die letzten acht Kadaver wurden in der näheren Umgebung verteilt – drei zu mir, die anderen liegen auf fünf verschiedenen Friedhöfen.« Er öffnete die Augen, betrachtete die abgespreizten Finger der Linken, schloß die Hand zur Faust, ließ sie sinken und musterte Matzbach.
»Drei bei dir, die andern einzelweise verteilt?«
»Just.«
»Kamen die denn aus der Gegend, in der sie verbuddelt worden sind?«
Genenger beugte sich vor. »Du porkelst den Kern aus dem toten Pudel, Junge. Nein. Alle von ganz woanders – Bonn, zum Bleistift. Düsseldorf. Wiesbaden. So was.«
»Normalerweise wird man doch nicht da vergraben, wo einen der Blitzstrahl der Götter trifft, sondern da, wo man wohnt, oder?«
»Normalerweise schon.«
»Hatten die denn alle keine Familien?«
Genenger bleckte die Zähne. »Teils teils. Die bei mir Deponierten waren Solisten; die anderen fünf haben trauernde Witwen und Kindlein hintergelassen.«
Matzbach zupfte an seinem rechten Ohrläppchen. »Inserent. Sehr inserent. Also Leichen ohne Anhang zu dir, die anderen auf normale Friedhöfe?«
»Just.«
»Und die Knete?«
»Reichlich – ohne Gegenfrage und …« Genenger wackelte mit dem Kopf. »Vielleicht ist das eine Überinterpretation, aber irgendwie war das schon so, als ob man mir signalisiert: ›Du kriegst mehr Geld, als die Sache wert ist, also stell weniger Fragen, als dir in den Sinn kommen.‹ So etwa.«
»Was heißt: Mehr als die Sache wert ist?«
»Zwanzig Kilo nehm ich für was normal Ausgefallenes. Wenn’s ausgefallen Ausgefallenes sein soll, nehm ich mehr, je nach Ansprüchen. Aber diese drei …« Er hob die Hände. »Nix Besonderes. Einsargen und verbuddeln, ohne Pope und Publikum. War jedesmal nur ein Typ von der Klinik dabei; ich weiß nicht, ob Arzt oder Verwaltung oder Gärtner oder was.«
»Und was nimmst du für derlei schlichte Kisten?«
»Hatte ich noch nie.« Genenger fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich weiß, was das bei den Kollegen kostet – normal und schlicht. Schlimmstenfalls fünf Kilo. Das ist dann aber schon ein guter Sarg. Und Trinkgeld für die Totengräber. Aber so was Normales hab ich noch nie gehabt. Die Leute aus dem Dorf da unten legen sich auf ihren Dorffriedhof.«
»Was hast du denn genommen?«
Genenger kniff ein Auge zu. »Zwanzig Kilo. Ich hab denen gesagt, das wäre mein Normaltarif – stimmt ja auch fast. Die haben ohne mit irgendwas zu zucken bezahlt. Jedesmal.«
Matzbach steckte die Hand unter sein Frotteehemd und kratzte sich lautstark den Bauch. »Sollte man sich mal drum kümmern. Ja. Aber dazu müßtest du mir noch ein bißchen mehr über diese Klinik erzählen. Und ich brauchte die Namen und letzten Adressen der werten Damen und Herren Leichen.«
Heinrich Genenger zog die Beine aus der Grube und stand auf. »Sollst du alles kriegen«, sagte er mit einem schiefen Lächeln.
»Aber?« Matzbach erhob sich ebenfalls.
Genenger deutete auf die Charonsgondel. »Da drin ist noch eine Schaufel.«
Matzbach verzog das Gesicht und ächzte.
Oberhalb des Friedhofs (»das Wasser ist hier, eh, schmackhafter als am Fuß der Gräber«) hatte Genenger sich nach und nach ein Holzhaus auf Steinfundament in den Hang gebaut. Matzbach inspizierte die Einrichtung – hauptsächlich Eichenmöbel und überflüssige Literatur – und starrte dann aus dem Fenster, während Genenger Tee kochte. Das Dach der Garage, vor der ein ausladender Leichenwagen mit geknicktem Stern stand, konnte auch als Terrasse oder Balkon dienen, lag aber in der prallen Sonne. Der Feldweg führte von der Garage zur Friedhofsmauer und weiter zur Straße am Bach, der hier unmittelbar am Fuß des jenseitigen Hangs verlief. Rechts neben der Garage stiegen süßliche Dünste aus einem Haufen von Gartenabfällen, Unkraut, alten Kränzen und sonstigem Duftmaterial. Die Tür des Werkzeugschuppens stand offen.
Sie setzten sich auf Eichenstühle an den alten Eichentisch und tranken zunächst schweigsam einen Schluck. Matzbach befand, der Assam sei wuchtig, und zündete sich eine seiner schwarzen Zigarren an.
»Ah. Pfft. So. Also, was war jetzt mit deinen Leichen?«
Genenger verschränkte die Arme und grinste. »Nur halb so viel.«
»Bitte?«
»War vor allem ein guter Köder, um dich zum Schaufeln zu kriegen.«
»Schwarzes Schwein. Rattenarsch.«
»O danke. Aber ich wollte dich doch einmal, eh ich den Löffel abgebe, körperlich arbeiten sehen.«
Matzbach zog die Mundwinkel nach unten. »Ist dir gelungen. Machst du sonst alles allein? Keine Sklaven? Nubier, Asylanten, Ossis, irgendwas?«
»Nubier sind hier selten. Nee, manchmal, wenn’s wirklich hektisch wird, hol ich mir n paar Jungs aus dem Dorf, oder jedenfalls aus der Gegend.«
»Verführung Minderjähriger zu Schwarzarbeit?«
Genenger lachte. »So ungefähr.«
»Also, nix is mit Leichen?«
Genenger zögerte, entschränkte die Arme und fuhr sich mit der Handfläche über den kahlen Schädel. »Na ja … Ich weiß nicht so genau. Was ich dir vorhin erzählt hab, mit der Klinik, das stimmt schon. Irgendwas ist da komisch. Soll ich mich wirklich mal drum kümmern?«
Matzbach winkte ab. »Laß es sein. Du weißt, ich langweile mich manchmal, dann freu ich mich darüber, Detektiv spielen zu können. Im Moment langweil ich mich aber nicht.«
»Ein Jammer.«
»Wieso?«
»Ich hätt was anderes für dich – wenn die Langeweile schlimm genug wär, um dich zu action zu bewegen.«
»Noch mehr Gräber buddeln? Leichenwürmer dressieren?«
»Dichter analysieren.«
Matzbach spreizte die Finger der erhobenen Hände. »Da seien die Götter des Olymp vor! Widerlich.«
»Willst du’s dir nicht wenigstens mal anhören?«
»Ich hör doch schon.«
»Osiris K.«
Matzbach schnaufte Wolken ätzenden Qualms aus. »Der Ahrtal-Poet? Wei geschrien. Was gibt’s bei dem zu analysieren?«
»Tja, das ist alles sehr nebulös.«
»Ich liebe Nebel.«
»Häh?«
Matzbach faltete die Hände und blickte einen Moment betrüblich fromm drein. »Nebel, Henri, ist eine Übergangsform zwischen Wolke und Regen, und wie du weißt, sind mir perverse Mischungen lieber als die Extreme, aus denen sie bestehen. Wenn er richtig dicht ist, bewahrt einen der Nebel davor, sinnlos in die Ferne zu schweifen, und öffnet einem statt dessen die Augen für das Unmittelbare, das uns alleweil bedroht: die nächsten zwei Schritte und die Tücken der Heimat.«
Genenger schüttelte langsam den Kopf. »Und Jorinde hält das wirklich mit dir aus?«
»Eine gute Frage. Wir werden das herausfinden.«
»Ihr seid doch jetzt schon fast, wie lange? Zehn Jahre verbündelt. Was heißt da, wir werden das herausfinden?«
»Wochenenden, theurer Pfreund, mal hier, mal da, mal dort; diverse Mésalliancen beiderseits zwischendurch, und alles, was dazu gehört. Das hier ist das erste Mal, daß wir so eine furchterregend lange Zeit miteinander verbringen, am Stück. Mal sehen, was dabei herauskommt.«
Genenger runzelte die Stirn, dann nickte er. »Richtig, stimmt ja. Ihr wart beide oft genug hier, aber nie zusammen.«
»Wir fahren zusammen, wenn wir einander sehen; wozu sollten wir dann noch zusammen woanders hinfahren?«
»Au. Wie alt bist du jetzt, ehrwürdiger Greis?«
»Demnächst dreiundfünfzig, Jüngelchen. Ich halte mich nicht mehr unbegrenzt, und Jorinde ist auch schon zweiundvierzig. Da kommt man so ins Grübeln.«
»Habt ihr irgendwas vor?«
Matzbach wischte über den Tisch. »Reden wir nicht von Dingen, die dich nichts angehen und mich sowieso nicht. Was ist mit deinem Poeten?«
Genenger rümpfte die Nase. »Na schön. Also, Osiris … Er behauptet, er wär auf der Spur von irgendwas. Schlägt sich auch schon in seinen Versen nieder. Irgendwas wie eine große Verschwörung toter Hunde gegen den Staat. Oder eine Verschwörung des Staats gegen die Bürger. Oder so ähnlich.«
»Klassischer Fall von Paranoia. Wie sehen die einzelnen Symptome aus?«
»Das ist es ja gerade. Es hat auch was mit der einen oder anderen hier anfallenden Leiche zu tun, mit der Klinik, mit mysteriösen Röhren …«
»Röhren? Ach du grüne Grütze. Ich gedeihe lieber freudlos als mit Nietzsche.«
»Jedenfalls hab ich gedacht, du könntest dich mal mit ihm zusammensetzen. Entweder ihm den Scheiß ausreden, oder rauskriegen, ob vielleicht doch was dran ist.«
»Trinkt er?«
»Hm, nja, kräftig. Wein, vor allem; hat nen guten Keller. Und Whisky. Am liebsten alten Malt. Warum?«
Matzbach lächelte sanft. »Ach, das macht die Sache schon interessanter.«
»Wieso? Was hat …«
»Wenn Nüchterne anfangen zu delirieren, kommt dabei meistens eine Religion oder etwas ähnlich Ekelhaftes raus – Inquisitionen, Hinrichtungen, Gehirnwäsche, so was. Wenn Osiris trinkt, besteht die Chance, daß er tatsächlich was gefunden hat, oder daß seine Zwangsvorstellungen zumindest amüsant sind. Egal ob Hunde oder weiße Mäuse.«
Genenger schüttelte den Kopf, grinste und schwieg.
»Bevor du in wildes Verstummen ausbrichst«, sagte Matzbach, »erzähl mir doch noch was über dieses Haus, in dem du uns so liebreich untergebrungen hast.«
»Ja. Und?«
»Also ehemalige Kapelle und Stall und was weiß ich und zuletzt Krippe für einen antiken Staatssekretär. Von wann beziehungsweise wem ist der Anbau, und was ist da drin?«
»Kann ich nur zum Teil beantworten.« Genenger legte die schweren Hände um den schweren Teebecher. »Also, der Staatsdings hat die olle Kapolle lebenslänglich gepachtet, für nen Appel und n halbes Ei. Unter der Bedingung, daß er was anbauen darf. Der Landeskonservenvater hatte offenbar nix dagegen oder hat nix davon erfahren oder war damals noch nicht so scharf. Dann haben Seine Exzellenz im Neubau gewohnt und im alten Teil gedacht und so. Übrigens hat er das Ding gleich nach Wiederbeginn der Staatlichkeit gepachtet, als er noch in Wiesbaden saß.«
Matzbach kaute auf der Zigarre. »Weiß man was über den Typ? Leichen im Keller? Oder längliche Akteneinträge aus brauner Vorzeit?«
»Null. Soweit ich weiß. Er kommt auch nicht hier aus der Ecke. Ich weiß nicht, ob jemand weiß, warum er damals unbedingt hierher wollte.«
»Na schön. Was ist in dem Neubau, und warum kann man nicht rein?«
Genenger seufzte. »Hab ich dir doch alles schon gesagt. Der alte Knabe hatte keinerlei Anhang, kein Testament, nix. Nach seinem Tod hat man alles, was ihm gehörte, weggeschmissen und den Neubau abgeschlossen. Der Rest gehört der Gemeinde, mangels Erben. Stand aber wohl alles im Pachtvertrag.«
»Was? Keine Erben – Verzicht auf Erbenzeugung oder was?«
»Nee. Daß alle immobilen Errichtungen nach dem Tode des Herrn Sekretärs an die Gemeinde zurückfallen, unbeschadet etwelcher sonstigen Erbgänge.«
»Etwelcher. Na bestens. Und – was ist drin?«
»Nix, soweit ich weiß. Warum?«
Matzbach sog Luft durch die Zähne. »Ich überleg bloß. Von wegen Aufenthalt hier und so. Klo und fließend Wasser aus der Wand wär schon nicht schlecht. Oder ne Steckdose.«
Genenger grinste. »Apropos – ah, lassen wir das. Nee, aber da wird nix draus, fürchte ich. Ich nehm an, wenn du das olle und das neue Haus kaufst, von der Gemeinde, dann kriegst du nen Schlüssel.«
»Blöder Vorschlag.« Matzbach goß sich Tee nach; als er die silbrige Thermoskanne wieder verschloß, zischte sie leise. »Erinnert mich an Kästner, weißt du – Gustav mit der Hupe.«
»Kenn ich nich.«
»Gustav hat mal ne Hupe gefunden, und jetzt baut er sich ein Motorrad drum rum, oder spart auf eins, oder so. Und ich soll anderthalb Häuser kaufen, bloß um mal seßhaft aufs Klo gehen zu können?«
Genenger kicherte. »Ich weiß nicht mal, ob im Neubau eins drin ist.«
Nachmittags gondelten Matzbach und Jorinde ein wenig durchs Ahrtal. Es war nicht ganz einfach, für den Volvo einen Parkplatz in Ahrweiler zu finden, weil sich dort neben motorisierten Touristen auch ein paar dreiste Einwohner aufhielten. An einem Kiosk erstanden sie vielerlei Lektüre; dann nahmen sie an einem Tisch vor einem Fachwerkrestaurant etwas zu sich, das Jorinde als spätes Mittagessen, Matzbach als verzögertes Zweitfrühstück bezeichnete. Jorinde blätterte in einer Computerzeitschrift.
»Ersetzt das jetzt bei Hexen den Besen?« sagte Matzbach.
»Ach, halt dich doch mal zurück.«
»Die reine Neugier, pur und lauter, edle Kebse.«
Sie ließ das Magazin sinken. »Du bist unmöglich. Und schmatz nicht so.«
»Das bin ich nicht, das ist der Fisch.« Matzbach deutete mit der Gabel auf den toten Zander.
»Gute Ausrede. – Ich hab neulich einen alten Bekannten besucht, der computergesteuerte Sicherheit verkauft. Rundum-Überwachung mit Kameras und Sirenen und Drohgebärden ferngelenkter Wachhundattrappen und derlei …«
»Bellen die auch?«
»Die machen alles, bloß pinkeln können sie noch nicht. Jedenfalls hab ich stundenlang damit gespielt. Schon toll, was man damit alles machen kann.«
»Alter Bekannter läßt dich stundenlang mit seinen Geräten spielen … so so.«
»Eben. Inzwischen hab ich rausgekriegt, daß ein paar Hersteller den Esoterik-Markt entdeckt haben.«
»Oho. Aber liegt eigentlich nahe.«
»Wieso?«
Matzbach kaute, schluckte und grinste schäbig. »Da bis heute keiner weiß, wie Elektrizität eigentlich funktioniert, geschweige denn, warum ein Elektron sich so verhält, wie es sich verhält, ist es doch naheliegend, eine Sorte Okkultismus auf die andere anzuwenden.«
»Wie halt ich das bloß aus mit dir?«