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Gert Heidenreich

Mein ist der Tod

Kriminalroman

LangenMüller

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© für die Originalausgabe und das eBook: 2012 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Herstellung und Satz: Ina Hesse
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8089-3

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Betretet nun die Stadt, in deren Mauern

das Leiden wohnt und endlos Klagen hallen.

Doch wird um diese Seelen keiner trauern.

Dante, Commedia, Hölle, III. Gesang

I

Das Marienherz

Ein Wunder!

Der Schrei der Frau hallte über den Platz vor der Aegidiuskirche und flog über die Dächer der kleinen Stadt. Die Bewohner von Zungen an der Nelda waren an diesem Freitag auf ein Wunder so wenig vorbereitet wie auf ein Erdbeben. An der Barockfassade der Kirche hielten sich noch die Lichtfarben des Sonnenaufgangs, die im Himmel schon vergangen waren.

Die Frau in einem dünnen, grauen Kleid hatte sich ihre rote Strickjacke um den Kopf geschlungen, die Ärmel schwangen vor ihrem Gesicht hin und her, während sie mit geschlossenen Augen am Fuß ihres langen Schattens über die Platten aus Sandstein tanzte, als hielte es sie nicht mehr am Boden.

Sie hatte das Herz der Schmerzensmutter in der Kirche bluten sehen.

Ein paar Halbwüchsige auf ihrem Weg zum Eichendorff-Gymnasium am Ludwigsbühel lachten über die Tänzerin, die Arme und Gesicht zum Himmel hob und unablässig mit schriller Stimme verkündete:

Ein Wunder! Oh, die Güte des Herrn! Ein Wunder!

Die Schüler liefen schneller am Kirchenportal vorüber, als sei ihnen die hysterische Tänzerin unheimlich, und verließen den Platz, der aus längst vergessenen Gründen Kranzplatz genannt wurde.

An diesem Aprilmorgen, der als Beginn eines Albtraums in die Geschichte des Ortes eingehen sollte, wies der Himmel blaue Löcher im Wolkengrau auf, während über dem Horizont ein unerklärlicher Streifen von Dunkelheit stand, so, als hielte sich dort ein Rest der Nacht.

Die von Gottes Güte Beglückte schrie weiter, sah hinter ihren geschlossenen Lidern das Licht himmlischer Freude, hob die Hände zur Anbetung, drehte sich schneller, verfing sich plötzlich in den Schlingen ihrer Schritte, stolperte, die rote Strickjacke flog vom Kopf und fiel zu Boden. Die Frau taumelte, stand einen Augenblick still, sank auf ihre nackten Knie, legte die Hände zum Gebet aneinander und verharrte in ihrer Andacht.

Ein Jogger, an der Westseite der Kirche von der Prannburg herunterkommend, erreichte den Platz und lief auf die Kniende zu. Er streifte seine Kapuze zurück, legte seine Hände an die Schultern der Frau und hob sie langsam auf, umarmte sie und hielt sie fest. Auffällig an dem jungen Mann in der üblichen schwarzen Joggerkleidung war seine Frisur: Schläfen und Nacken waren hoch geschoren, das schwarze Haar darüber nur als gelockter Ring erhalten, in dessen Mitte der Kopf kahl rasiert war. Diese römische Tonsur gab seinem hageren Gesicht das Aussehen eines mittelalterlichen Mönchs. Wer sich in der Kirchengeschichte auskannte, wusste, dass die auffällige Haartracht seit dem siebten Jahrhundert allen Geistlichen vorgeschrieben war. Rund tausendvierhundert Jahre später wirkte sie bei dem jungen Mann befremdlich, und hätte er die Frau, die kurz zuvor in Ekstase auf dem Kranzplatz getanzt hatte, nicht so behutsam in den Armen gehalten, wären Passanten, die jetzt über den Platz liefen, misstrauisch geworden und stehen geblieben. Sie schienen aber nicht beunruhigt zu sein oder wussten vielleicht, dass es sich bei dem Paar um Mutter und Sohn handelte:

Frank Züllich hielt seine Mutter Verena fest und sprach beruhigend auf sie ein.

Sie hatte sich das Wunder in der Kirche nicht eingebildet. In der ersten Apsis links vom Altarraum zog sich über den himmelblauen Mantel der fast menschengroßen Marienfigur aus dem siebzehnten Jahrhundert ein Blutfaden und speiste eine kleine Pfütze zwischen den rosa lackierten nackten Füßchen. Seit jeher hatte die Maria vom Brennenden Herzen an einer silbernen Halskette ihr Glasherz getragen. Jährlich am Karfreitag wurde das Licht darin entzündet und nach Christi Himmelfahrt wieder gelöscht. Doch nun hatte sich die rubinfarbene Öllampe vor der Brust der Gottesmutter in einen dunkel glänzenden Muskel verwandelt, der zu trocknen begann.

Und Verena Züllich, gerade neunundvierzig geworden, verwitwet und mit ihrem Sohn Frank in einem kleinen Haus am Höllacker gegenüber der Brauerei Sinzinger lebend, täglich von Schnäpsen, nächtlich von einer, oft zwei Flaschen Wein getröstet, fühlte sich gebenedeit unter den Weibern.

Maria war Fleisch geworden und hatte sie auserwählt, den Menschen das Zeichen zu verkündigen.

Dieser Frühling trug kein neues Leben, sondern neuen Tod in die Stadt, die seit fast einem Jahrtausend für ihre Insellage zwischen den Flüssen bekannt war: Zungen an der Nelda – so auf den Karten verzeichnet, obwohl der Fluss, der den Stadtnamen schmückte, erst am spitzen Ende ihrer Halbinsel beginnt.

Dort vereinigen sich zwei Flüsse, die Mahr und die Mühr, zur rascher strömenden Nelda. Man hat es in Zungen seit jeher für ein gutes Zeichen gehalten, dass die beiden Flüsse die Stadt in den Winkel ihres Zusammentreffens aufgenommen haben, als trügen sie ihre langsam treibende Vergangenheit hierher, um sich vor der Nordspitze der Altstadt zu einem Fluss der Zukunft, eben jener schiffbaren Nelda, zu vermengen.

Auf der Halbinsel hielten Gasthäuser sich leidlich am Leben, die Menschen in den kleinteiligen Bürgerwohnungen schienen langsamer zu leben als anderswo, und obwohl die Stadt mit ihren fünfzigtausend Einwohnern einige Anstrengungen unternommen hatte, Touristen anzulocken, machte Zungen den Eindruck, als webe hier eine geschlossene Gemeinschaft ihre Tage abseits der Welt und sei mehr von der Geschichte der Steine bestimmt als von dem Wunsch, an der Gegenwart teilzuhaben.

Man konnte auch sagen: Zungen an der Nelda war eine nette, selbstgerechte und unumkehrbar überalterte Stadt, deren Bürger mehrheitlich an Phantasiearmut litten. Sie hatten geschlummert, als jenes Blutwunder in der Aegidiuskirche geschah, das dann am Morgen die unglückliche Verena Züllich zu ihrem Tanz auf dem Kranzplatz veranlasste.

Bald nach der Verkündung des Herzblutens hatten sich vor dem Nebenaltar Schaulustige eingefunden, zwei Frauen knieten vor der Madonna, ein kleiner Junge legte, von der Mutter beauftragt, blühende Himmelsschlüssel an der heiligen Blutpfütze zwischen Marias Füßchen ab. Hinter dem Kind drängten sich mehr und mehr Neugierige und Gnadenbedürftige, streckten die Hälse, gierten nach einem Blick auf das Mysterium und fotografierten es mit ihren Mobiltelefonen. Einige machten auch Bilder von der fast zwei Meter langen Arche Noah, die von Kindern zum Weltnaturschutztag gebastelt und seitlich vom Altar vorerst stehen geblieben war, weil keiner wusste, wohin mit ihr und den darin versammelten Teddybären, Plüschhasen und anderen Kuscheltieren.

Erst eine Stunde später kam ein Streifenpolizist vorbei und sah in der Kirche nach. Man war sich nicht sicher gewesen, wo die Grenze zwischen Stadtgrund und Kirchenbesitz verlief und ob die Ansammlung von Gläubigen nicht vielleicht doch eine unangemeldete Demonstration war.

Jeder vernünftige Mensch hätte das Ereignis für einen ebenso widerwärtigen wie dummen Scherz angesehen und vielleicht angenommen, dass ihn sich die Studenten der Zungener Bildhauerakademie mit einem Schweineherz erlaubt hätten. Doch an jenem Morgen – mögen Frühlingsgefühle oder die Krisenstimmung des Jahres ursächlich gewesen sein – stillten hier zahlreiche Menschen ihr Bedürfnis nach einem Wunder. Dank der sozialen Dienste im Internet hatte sich die Aegidiuskirche rasch mit Anbetungswilligen gefüllt, bald sammelte sich auch auf dem Kranzplatz eine Menge an, in der man sich Fotos und Videoclips des blutigen Herzens – von den inneren Anbetern zu denen vor dem Gotteshaus gesandt – wechselseitig als Beweise vorwies.

Die Bilder multiplizierten sich so lange, bis für jeden Betrachter die Wahrheit des göttlichen Phänomens feststand.

Eine halbe Stunde nach Auftauchen des Polizisten wurden die bis in die hintersten Reihen gefüllte Kirche und der Kranzplatz gegen den heftigen Protest der Anbetenden geräumt und abgesperrt.

Plötzlich war von Mord die Rede. Das Gerücht, in Zungen an der Nelda gebe es eine Maria vom Blutenden Herzen, war da aber schon unwiderruflich in alle Himmelsrichtungen getwittert worden und nahm seine globale Verbreitung auf. Man munkelte etwas von einer bevorstehenden Papstwallfahrt.

Frank Züllich hatte seine Mutter nach Hause gebracht, ihr einen Beruhigungstee zubereitet und sie, als sie erschöpft auf der alten Couch in der Wohnküche eingeschlafen war, zugedeckt. Er hatte die Schränke nach Flaschen durchsucht, einen halben Liter Korn und vier kleine Kümmelschnäpse gefunden und ins Spülbecken geleert, das Haus durch den Hintereingang verlassen, den kleinen Hof überquert, der eine Gerümpelkammer unter freiem Himmel war, und den Schuppen betreten, den er sich in den vergangenen Jahren eingerichtet hatte: Sein eigenes Reich, das seine Mutter nicht betrat. Er ließ sie im Glauben, dass er dort an der Anlage einer elektrischen Eisenbahn weiterbaute, die sein Vater hinterlassen hatte.

Hier verbrachte er seine Zeit mit Videogames, rauchte ab und an einen Joint und träumte seiner kurzen Vergangenheit nach, seinen abgebrochenen Studien in Betriebswirtschaft und Sportmanagement und seinen Hoffnungen auf einen Job als Model, um den er sich aber nie bemüht hatte. Du, mein Junge, du bist ein ganz Besonderer, hatte sein Vater ihm immer wieder gesagt, du wirst mindestens mal Professor, und dann freu ich mich noch im Grab. Frank Züllich war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, ohne akademischen Grad, halbqualifiziert, arbeitslos, nicht vermittelbar. Vor vier Jahren war sein Vater mit einer Geliebten, von der die Familie nichts wusste, auf einer Bergwanderung tödlich verunglückt, und Frank war ins Elternhaus zur Mutter zurückgekehrt, lebte von ihrer Witwenpension und seiner Geschicklichkeit in Tauschbörsen für Computerteile. Vorwiegend aber wurden er und seine Mutter von der umfänglichen Lebensversicherung des Vaters durch die Tage getragen, was es seiner Witwe leichter machte, ihrem Mann nach einer Zeit zielloser Wut posthum seine Untreue zu vergeben.

Über den Fenstern, mit denen Frank einen Teil des Daches selbst verglast hatte, sah er den Frühlingshimmel leuchten und darin wie eine rosige Wolke das lächelnde Gesicht seines Vaters, der ihm zurief:

Hast du dein Glück gemacht, mein Junge?

Frank hob die Hände, winkte ihm zu und rief hinauf:

Bald! Bald!

Der Maler Alexander Swoboda erfuhr von dem Wunder des blutenden Herzens in seinem Atelier in der Prannburg. Die Nachricht erreichte ihn mitten in einem Traum:

Er versuchte, die Farbe der Auferstehung zu finden.

Vor zwei Jahren hatte er sein Arbeitsleben als Kriminalhauptkommissar vorzeitig beendet und den jahrzehntelang ausgeübten Brotberuf als Aufklärer von Kapitalverbrechen abgelegt. Seither genoss er die Freiheit des Pensionärs und konnte seiner wahren und wirklichen Neigung, der Malerei, nachgehen.

Während seiner Zeit als Kriminaler hatte er Kollegen, die seine Kunst Hobby nannten, so lange durch Gesprächsverweigerung gestraft, bis sie begriffen, dass er ein Künstler war, den ein Missgriff des Schicksals in den Polizeidienst versetzt hatte.

Wenige wussten, wie es wirklich gewesen war. 1969 hatte die Münchener Kunstakademie ihn und seine Bilder gerade abgelehnt, und mehr aus Wut als aus politischen Gründen hatte er während einer Studentendemonstration einen Stein in die Hand genommen und wollte ihn am Odeonsplatz in das Schaufenster der amerikanischen Chase Manhattan Bank schleudern. Eine junge Beamtin in der Polizeikette ihm gegenüber ließ den schon gezückten Gummiknüppel sinken, legte den Kopf schief und sah ihn an. Er ließ den Stein fallen.

Später hatten sie sich unterhalten. Er sprach über seine Bilder, seine Enttäuschung über die Akademie, und sie wollte sehen, was er malte. Bald darauf war sie in seinem Bett. Sie überredete ihn, zur Polizei zu gehen; als Brotberuf war das, wie er meinte, so gut oder so schlecht wie alles andere. Ein halbes Jahr später hatten sie geheiratet. Eine Tochter bekommen. Lena. Nach zwölf Jahren Ehe sich scheiden lassen. Ihm wurde die Schuld zugesprochen: Sein Verhältnis mit einer Polizeischülerin hatte darüber hinaus zur Strafversetzung geführt. Die Kunst hatte er nie aufgegeben, aber sein Leben änderte sich radikal.

Seine Versetzung brachte ihn ausgerechnet nach Zungen an der Nelda zurück, wo er aufgewachsen war und das er einen Tag nach dem Abitur am altsprachlichen Eichendorff-Gymnasium auf dem Ludwigsbühel fluchtartig verlassen hatte. Irgendein Zyniker in der Verwaltung hatte sich diese Strafe einfallen lassen.

Inzwischen herrschten in Zungen andere Verhältnisse, nur sein Widerwille gegen die Stadt war derselbe geblieben. Er arbeitete um so mehr, löste einige komplizierte Fälle in verblüffender Schnelligkeit und erwarb sich den Ruf des Kriminalers mit der guten Nase, der ihn seither begleitete.

Nach seinem ersten Hörsturz musste er sich eingestehen, dass er lebte wie eine Kerze, die an zwei Enden brannte. Tags arbeitete er als Hauptkommissar, nachts war er Maler. Er rauchte, trank zu viel Wein und schüttelte verständnislos den Kopf, wenn Kollegen von Freizeit sprachen.

Damals hatte sein zwei Jahre jüngerer Vorgesetzter, Kriminalrat Jürgen Klantzammer, eingesehen, dass die Kunst der Hauptberuf seines besten Mannes war, und durch seine Verbindungen in den Stadtrat dem malenden Kriminaler für eine erträgliche Miete das weitläufige Atelier im ersten Stock der Prannburg verschafft. Swoboda hatte die saalartigen Räume, die einst Stadtarchiv waren, umgebaut und renoviert, als die Zungener Verwaltung ins neue Rathaus am Schillerplatz umgezogen war. Kurz darauf hatte sich seine berufliche Beziehung zu der Galeristin Martina Matt zu einer privaten vertieft.

Die Mitarbeiter des einsneunundachtzig großen, breitschultrigen, schon seit seinem vierzigsten Lebensjahr grauhaarigen Kriminalhauptkommissars hatten ihn schließlich als das akzeptiert, was er war: Ein Mann, dem die Überführung eines Täters weniger galt als ein vollendetes Bild, und der dennoch oder deswegen den besten Riecher hatte, wenn es um die Verfolgung einer Spur ging. Manchmal schien er sich den Mörder bereits genau vorstellen zu können, auch wenn es noch kaum konkrete Anhaltspunkte gab – weshalb ein Satz seines Kollegen Rüdiger Törring über ihn zum geflügelten Wort wurde:

Der Swoboda malt sich seine Täter.

Bis spät in die Nacht hatte er im Altarraum der Aegidiuskirche an den Entwürfen für das Ostfenster gearbeitet, war gegen drei Uhr in sein Atelier gekommen und im Dunst von Ölfarben und Terpentin auf seinem Sofa eingeschlafen.

Als sein ehemaliger Assistent Törring, zwanzig Jahre jünger als er, überzeugter Junggeselle und seit einem Jahr selbst Hauptkommissar, ihn mit einem Anruf weckte, reagierte er unwirsch, und Törring verwandte etliche beschwichtigende Sätze darauf, seinen einstigen Chef zugleich wach zu reden und milde zu stimmen.

Schließlich raunzte Swoboda: Also, was ist, Turbo?

Dass der Maler ihn bei seinem Spitznamen im Kommissariat nannte, ermutigte Törring. Er berichtete von dem blutigen Herzen in der Aegidiuskirche.

Alles spricht dafür, dass es das Herz der Paintnertochter ist. Sie wird jetzt schon fünf Tage vermisst. Iris Paintner ist vierundzwanzig. Wir haben noch keine DNA. Und keiner traut sich, von der Familie irgendwas von ihr zu erbitten. Wenn wir nach ihrer Zahnbürste fragen, wissen die Paintners doch sofort Bescheid. Das Herz würde zu einer jungen Frau passen. Es ist irgendwie frisch gehalten worden, die Bestie hat sich Zeit gelassen.

Die Bestie?

Was soll ich sonst sagen?

Swoboda kannte die Tochter von Martin Paintner vom Sehen: groß, schlank, kurz gelockte blonde Haare. Er wusste, dass sie die Firma übernehmen sollte. Zu keiner der reichen Familien in Zungen hatte er freundschaftliche Beziehungen, aber er konnte nicht verhindern, dass in ihm das Bild der Leiche mit geöffnetem Brustkorb entstand. Er versuchte, Törring und sich selbst abzulenken.

Sicher kein Schweineherz?

Hältst du uns für Idioten?

Entschuldige. Deine Bestie wird ein durchgeknallter Typ sein, den euch am Ende die Psychogutachter aus den Fängen reißen.

Törring schwieg. Er hoffte, dass Swobodas Polizistengehirn zu arbeiten begonnen hatte. Er täuschte sich nicht, doch sein einstiger Chef gab es nicht zu.

Ihr macht das schon. Ich habe nichts mehr damit zu tun.

Törring entschloss sich zu härterer Gangart: Du hast einen Schlüssel zur Sakristei, du arbeitest an dem einen Fenster neben dem Altar.

Ja. – Und?

Man hat nachts noch Licht gesehen.

Wann ich arbeite, geht niemanden was an.

Das Herz muss irgendwann zwischen zwei und sechs Uhr an die Maria gehängt worden sein. Ein Fleischerhaken.

Alexander Swoboda wusste, dass die darin verborgene Frage nach seinem Alibi lächerlich war. Er hatte den Auftrag des Bischofs zur Neugestaltung des Kirchenfensters nach langem Zögern vor einem halben Jahr angenommen, arbeitete am Tag mit Farbmustern und hatte in der letzten Nacht seine Papierentwürfe mit den Fenstermaßen abgeglichen.

Hör zu, Turbo. Ich arbeite am östlichen Altarfenster mit dem Thema Auferstehung. Nicht Hinrichtung. Nicht Leichenzerstückelung. Ich brauche Tageslicht für die Farbbestimmung und Innenlicht für die Vermessung. Kapiert? Und jetzt mach deinen Job und lass mich in Ruhe. Ich hab dich lang genug ausgebildet.

Er legte auf. Aber im Kopf verlosch das Bild der jungen Toten nicht, der ihr Mörder das Herz aus der Brusthöhle geschnitten hatte. Wie fast bei jedem Fall in den zurückliegenden Jahren war es Mitleid, das andere unprofessionell genannt hätten, ihn aber antrieb, den Täter zu ermitteln. Manchmal war er aus Wut zum manischen Verfolger geworden. Er hatte sich angewöhnt, konzentrische Kreise um das Opfer zu legen, und immer war er auf einer dieser Bahnen dem Täter begegnet. Einige Male lange vor der Aufklärung, ohne den Zusammenhang schon zu erkennen.

Der Maler Swoboda versuchte, die Erinnerung an seine fünfunddreißig Berufsjahre als Kommissar wegzuwischen. Es gelang ihm nicht. Mit jedem Abwehrreflex geriet er tiefer in seine Gedanken. Törring wusste das. Swoboda wusste es. Hatte man ihm einen rätselhaften Mordfall unterbreitet, arbeitete sein Gehirn unabhängig von seinem Willen weiter. Wie ein französischer Kollege, ein Commissaire Lecouteux, mit dem er einmal auf einen Fall in der Normandie angesetzt war, in seinem elsässischen Deutsch gesagt hatte: Wir bleiben immer Bullen, Swoboda, egal, wo wir sind, egal, was wir tun, egal, wie alt wir sind.

Als Swoboda gegen das Wort Bulle protestierte, hatte der Kollege entgegnet: Aber das sind wir doch! Meine Frau nennt mich auch Bulle, ich mag das. Schließlich sind wir keine Schafe.

Und Swoboda hatte geantwortet: Hoffentlich.

Jetzt verwünschte er den Commissaire, er verwünschte Törring und sich selbst, ging zum Sofa, legte sich hin und zog sich die Decke über den Kopf. Er spürte ein leises Schwanken unter sich, als läge er in einem Boot. Gleichzeitig begann das Pfeifen in seinem rechten Ohr, das er kannte. Es würde sich bis zum Hörsturz steigern.

Der Anfall war leicht. Nach einer Viertelstunde legten sich Schwindelgefühl und Übelkeit, er stand auf, duschte, zog sich an, aß einen Joghurt, trank einen Espresso, nahm ein 500er-Aspirin und machte sich auf den Weg zur Aegidiuskirche.

Tagebuch

Ich lebe seit 12743 Tagen. Wer immer einst meine Aufzeichnungen lesen wird: Er soll wissen, dass ich mich bemüht habe, uns alle vor ihr zu retten.

Darum habe ich die Bestie zwei Mal umgebracht.

Nach ihrem ersten Tod ist sie auferstanden, obwohl ich ihren Kopf in ein Grab neben die Gebeine eines armen Teufels gelegt hatte, der ihr den Weg nach unten zeigen konnte! Ich hatte dem Kopf dieser Schlange sogar ein Schiffchen mitgegeben, das ihn über den Totenfluss bringen sollte. Dennoch kam sie zurück. Ihren amüsierten Blick, als ich mein Schwert hob, fand ich empörend. Ihr Kopf lag schon vor ihren Füßen und verstand immer noch nicht, was geschehen war. Hatte er aus dem ersten Mal nichts gelernt?

Ist sie ohne Erinnerung wiedergeboren worden? Hat sie mich deshalb nicht erkannt, als ich die Kapuze zurückstreifte und ihr als Letztes in ihrem Leben mein Gesicht zeigte?

Nach ihrem zweiten Tod am Ufer der Nelda habe ich ihr Herz von ihrem Körper entfernt. Damit er es sich nicht wieder einverleiben kann, habe ich es der Muttergottes zur Aufbewahrung übergeben.

Als ich sah, wie sich die Anbeter in der Kirche zu dem toten Muskel drängten, als wäre das Schlangenherz das der gnadenreichen Maria, da spürte ich wieder meinen ungeheuren Ekel vor den Menschen.

II

Der zweite Schrei

Von den acht Fischerhäusern am linken Ufer der Mühr waren zwei noch bewohnt, und auch sie schienen von den fast zwei Jahrhunderten, die sie am Rand des Flusses gestanden hatten, erschöpft zu sein.

Schon lange hatte sich niemand mehr aufgerafft, die Balkone, Läden und Fensterrahmen mit einem neuen Anstrich zu versehen oder schadhaftes Gebälk auszutauschen. Die Holzhäuser gehörten der Stadt, und die ließ sie verfallen. Die Bootsstege waren bis auf einen ins Wasser gesunken, in den grauen Fassaden gab es keinen rechten Winkel mehr. Die Neigung der Giebel zum Fluss, ihre unübersehbare Ermüdung forderten den Abriss geradezu heraus.

Seit Jahren bestand der Plan, an dieser Stelle ein Freizeitgelände zu errichten, das Tagestouristen und Camper anlocken, der Zungener Jugend als Spielgelände dienen und nicht zuletzt der städtischen Verwaltung Pachteinnahmen in die Kasse tragen sollte. Unter den drei Geldmächtigen der Stadt, der Brauerei Sinzinger (Zickerpils, Zickerdunkel, Zickerbock, Zickerweisse), dem Fleischgroßbetrieb und Konservenhersteller Ungureith (Fleisch und Wild von Ungureith: Hochgenuss und Haltbarkeit) und dem Holzhandel Paintner (Holz ist unser Stolz) hatte Letzterer das höchste Gebot für den Uferstreifen und sein Hinterland abgegeben.

An der Floßlände lautete die Adresse seit der ersten urkundlichen Eintragung der Fischerhäuser 1818, als die napoleonische Besetzung gerade zwei Jahre vorüber war.

Fast eineinhalb Jahrhunderte, und noch am Anfang der Dunklen Zeit, wie man in Zungen die Herrschaft der Verbrecher in den zehn Jahren nach 1935 zu nennen pflegte, waren die Häuser bewohnt gewesen. Doch als die Fischer im Krieg waren, wollten ihre Frauen mit den Kindern lieber in der Stadt leben.

In den Fünfzigerjahren hatten wieder Fischerfamilien in den Häusern 2 und 3 gewohnt und mit Barben, Bachforellen und Barschen ihr Auskommen gehabt, gelegentlich auch Aale und Hechte, selten Welse gefangen. Dann waren die Bestände zurückgegangen, die Fänge lohnten kaum noch, auch weil in den Neldaauen mehr und mehr Rotmilane nisteten und sich ihre Beute im Flug von der Wasseroberfläche griffen. Das Fischergewerbe in Zungen ging in die Hände von Angelsportlern über. Sie schossen heimlich mit Luftgewehren auf die geschützten Milane und versprachen sich von der städtischen Planung einen neuen Steg.

Bisher war davon nichts verwirklicht. Die leeren, windschiefen und zugigen Hütten hatten ab und an Landstreicher zu Gast, auf ihren Bänken vor der Flussseite ruhte sich manchmal ein Jogger aus, und sehr alte Leute in Zungen deuteten an, schreckliche Dinge hätten sich dort abgespielt, wollten aber nicht sagen, was sie meinten.

Zwei Tage nach dem blutigen Herzfund in der St. Aegidiuskirche – die Stadt hatte sich von dem Entsetzen noch nicht erholt – wurde unter dem Bretterfußboden des leer stehenden Fischerhauses An der Floßlände 5 zufällig das Skelett eines Mordopfers entdeckt, das offenbar schon Jahrzehnte dort gelegen hatte.

Ohne den politischen Protest gegen die Schleifung der Fischerhäuser wären die Gebeine wahrscheinlich später im Abraum untergegangen, und der Stadt wäre die Geschichte dieses Toten erspart geblieben. Es war auch die Geschichte ehrenwerter Bürger, deren Namen in Zungen an der Nelda guten Klang hatten. Und es war die Liebesgeschichte einer Frau, die der Skelettfund von ihren lebenslangen Zweifeln erlöste.

Vermutlich hatte, wer immer für den Mord verantwortlich war, darauf gehofft, dass die Knochen des Toten sich eines Tages in einer Baggerschaufel mit dem Häuserschutt mischen und später in irgendeiner Grube verschwinden würden.

Doch die Bewohner der Nummern 4 und 7 verteidigten, seit die Firma Paintner Anspruch auf das Gelände erhob, ihre Häuser mit passivem Widerstand: Aus Nummer 4 zogen drei Studenten der Zungener Bildhauerschule trotz Räumungsklage und Erzwingungsankündigung nicht aus, und in Nummer 7 widersetzte sich der zweiundachtzigjährige Sepp Straubert, der nicht mehr zum Fischen ausfuhr, nur sonntags noch an der Nelda seine Angel auswarf, hartnäckig der Kündigung. Von seiner Rente überwies er der Stadt die symbolische Miete, die Anfang der Fünfzigerjahre der damalige Bürgermeister mit ihm vertraglich vereinbart hatte. Mündlich war ihm lebenslanges Wohnrecht zugesichert worden. Wer konnte auch seinerzeit ahnen, dass der feuchte Streifen Uferland einmal lukrativ werden würde.

Die Öffentlichkeit nahm an dem schwelenden Konflikt kaum Anteil, bis an jenem Freitag, an dem Verena Züllich auf dem Kranzplatz das Wunder der blutenden Maria verkündete, vor der unteren Floßlände zwei Schaufelbagger von Tiefladern abgelassen wurden. In einer halben Stunde rissen sie das Fischerhaus Nummer 8 nieder und schoben es zu einem Haufen Schutt, Bretter und Ziegel zusam- men.

Straubert stand vor dem Nachbarhaus und brüllte auf die Maschinen ein. Seine Beschimpfungen waren sämtlich justiziabel, im Lärm jedoch kaum vernehmbar. Er weinte vor Wut, auf seinem hochroten Gesicht glänzten Tränen. Plötzlich schwankte er, reckte die Arme nach oben und griff ins Leere.

Zwei der Studenten aus Nummer 4 kamen gerade rechtzeitig hinzu, um den schweren Mann aufzufangen. Sie legten ihn vor die Holzstufen zu seinem Fischerhaus, einer rief mit seinem Mobiltelefon den Notarzt, der andere fotografierte die Baggerfahrer. Die sahen wenig später auf Facebook in ihrer Berufskleidung – Helm, Schutzbrille, Ohrenschützer und weiße Staubmaske – wie außerirdische Monster aus.

Die Studenten twitterten an Freunde und Freundesfreunde die Nachricht: Der Rentner Sepp Straubert, den sie liebenswerter schilderten, als er gewesen war, sei an der Zungener Floßlände von skrupellosen Spekulanten so bedroht worden, dass er einen Herzinfarkt erlitten habe.

Eindringlich forderten sie zur Verteidigung der Häuser auf. Protestbereite Menschen reisten innerhalb weniger Stunden an und besetzten, von wütendem Pazifismus beseelt, zahlreich die Floßlände. Die Baggerfahrer parkten ihre Geräte einige Hundert Meter seitab und suchten das Weite.

Aus Erfahrung auf einen längeren Kampf eingestellt, hatten die meisten Demonstranten ihre Zeltausrüstung mitgebracht. Wohnmobile bildeten hinter den Fischerhäusern einen Wagenwall gegen die Zufahrtstraße.

Am Sonntag war die Menge so angewachsen, dass es Probleme mit den Latrinen im Hof der besetzten Häuser gab. Fotografen, Reporter, ein Fernsehteam und eine Rundfunkjournalistin mit Übertragungswagen trafen ein.

Der Pächter des Geländes, Martin Paintner, ließ der Polizei durch seinen Prokuristen Oliver Hart mitteilen, dass man kein Eingreifen wünsche. Paintner und seine Frau hatten sich, seit ihre Tochter Iris verschwunden war, in ihr Haus zurückgezogen und warteten auf eine Lösegeldforderung. Noch immer wollten sie an eine Entführung glauben und hielten an ihrer aussichtslosen Hoffnung fest. Einen Tag zuvor erst waren sie von der Polizei für eventuelle Bestimmungen um eine Haarbürste der Entführten gebeten worden, und noch hatte die DNA-Analyse keine Gewissheit über das Herz in der Aegidiuskirche ergeben.

Gegen Mittag stieg hinter den Fischerhäusern von zahlreichen Campinggrills der Duft von Würsten und Schweinesteaks auf, Bierkästen mit Zickerpils standen zur Kühlung im Uferwasser der Nelda, und kein modernes Freizeitgelände hätte Vergnügen und Gerechtigkeitsempfinden auf so zwanglose Weise vereinen können, wie es die Rettungsaktion für die modrigen, wurmstichigen und verschimmelten Fischerhäuser vermochte.

Wildfremde Menschen tauschten ihre Gründe für den Schutz der Tradition aus, in der Feststimmung entwickelten sich tiefer reichende Zuneigungen, die Kinder genossen die Aktion als Abenteuer, während ihre Eltern die Spekulanten verfluchten, die, wie man weiß und hier erneut gesehen hatte, über Leichen gingen.

Unter dem frühlingshellen Licht dieses Apriltages entstand an der Nelda eine heitere Gegenwelt zur Profitgier der Investoren. Einer der Besetzer in schwarzer Joggerkleidung, der durch einen schmalen, dunklen Haarkranz und eine Tonsur auffiel, rief, später vielfach zitiert, in eine Kamera:

Alles lassen wir uns nicht bieten, alles nicht!

Plötzlich schrie ein Kind.

Nach Verena Züllichs lautem Entzücken über das blutende Herz der Maria war dies der zweite Aufschrei, der Zungen noch lange beunruhigen sollte, wenn auch noch niemand ahnte, wie die beiden Schreie untereinander und mit einem dritten zusammenhingen, der noch bevorstand.

Es war der gellende Schrei eines Jungen, er kam aus einem der Fischerhäuser.

Mehrere Mütter und Väter stürmten zur Quelle des kindlichen Alarms und drängten sich durch die Tür von Nummer 5 neben dem Haus der Studenten, sahen im Halbdunkel, dass die Kinder, die hier gerade so wie durch die anderen Häuser getobt waren, unverletzt lebten. Sie hatten sich, stumm und blass, nebeneinander an der Wand aufgestellt.

Der Junge, der geschrien hatte, er war höchstens sechs Jahre alt, hielt sich die Hände vor die Augen, japste nach Luft und schrie weiter. Er war in den Fußboden eingebrochen, stand noch immer bis zu den Knien in dem Hohlraum, vor dem er zwei der lockeren Bohlen hochgerissen hatte, um sich zu befreien.

Seine Füße steckten fest. Als die Erwachsenen sich an die Dämmerung im Raum gewöhnt hatten, erkannten sie, dass das Kind bis zu den Knien im Brustkorb eines menschlichen Skeletts stand wie in einem Wolfseisen und beim Blick nach unten den Schädel vor sich gesehen haben musste.

Eine Frau packte den Knaben und riss ihn hoch, brach dabei dem Toten zwei staubende Rippen, konnte das Kind aber in ihren Armen beruhigen, bis die leibliche Mutter in das Fischerhaus kam und der Trösterin den Jungen entriss, der nun wieder schrie.

Die Presse vor Ort, die vom mittlerweile üblichen Kampf der Bürger gegen den Fortschritt berichten wollte, hatte unversehens eine veritable Sensation. Sollten sich noch irgendwelche verwertbaren Spuren im Haus 5 befunden haben, waren sie durch Eltern, Kinder und Reporter unlesbar geworden.

Die Demonstranten folgten ihrer Abneigung gegen die Staatsmacht und unterließen es, die Polizei zu informieren. Die Journalisten dokumentierten gründlich und in aller Ruhe den Schauplatz. Vor allem der Totenkopf hatte es ihnen angetan. Offensichtlich war die Stirn eingeschlagen worden. Die Kameras konnten sich daran nicht sattsehen. Dann rief ein Reporter der Zungerer Nachrichten Kommissar Viereck im Präsidium am Burgweg an und berichtete von dem Fund.

Als Rüdiger Törring mit der Kriminalhauptmeisterin Sibylle Lingenfels und dem Tatortteam eintraf, war fast eine Stunde seit der Entdeckung des Toten vergangen, und die Eltern des kleinen Finders hatten gelernt, dass man in solcher Lage nur das erste Interview honorarfrei gibt.

Für die polizeiliche Räumung des Geländes waren die Gründe nun hinreichend und politisch unverdächtig: einmal die Gefährdung der Kinder, zum anderen die großräumige Sicherung eines Tatortes. Den Protestierenden war die Kriminalpolizei weniger unsympathisch, als es Bereitschaftspolizei gewesen wäre, was vielleicht daran lag, dass die Kriminaler keine Uniform trugen.

So beendete ein unbekannter Toter die politische Aktion zur Rettung der Zungener Fischerhäuser noch am Sonntagabend. An den Fahrzeugen der Besetzer klemmten unter den Scheibenwischern Werbezettel, die auf besonders günstiges Vollholzparkett der Firma Paintner hinwiesen: Holz ist unser Stolz.

Es war Sibylle Lingenfels, die darauf bestand, den ganzen Boden des Hauses aufzubrechen. Das gelang erstaunlich leicht, die Bretter waren sämtlich locker, die Nägel durchgerostet.

Dabei wurde unter einer dritten Bohle neben dem Skelett ein menschlicher Kopf gefunden, den jemand zu den Handknochen gelegt hatte. Nach erster forensischer Einschätzung handelte es sich um eine große, blondgelockte Frau zwischen dreißig und vierzig, deren Tod maximal fünf Wochen zurücklag. Wegen der kühlen Feuchtigkeit am Flussufer war das Haupt gut erhalten. Wer immer es vom Rumpf getrennt hatte: Der Glätte der Trennung nach zu urteilen, musste er im Besitz einer äußerst scharfen Klinge sein und blitzartig zugeschlagen haben. So weit noch erkennbar, war der Ausdruck ihres Gesichts blankes Erstaunen.

Rätselhaft für die Spezialisten des Tatortteams war, dass der Kopf in einer länglichen, aus hellem Holz und in einem Stück geschnitzten Schale in der Form eines kleinen Bootes lag, ein offenbar mit großem handwerklichen Geschick verfertigtes Modell.

Rüdiger Törring erinnerte sich undeutlich daran, in Fernsehdokumentationen von Mythen gehört zu haben, aus Ägypten oder dem alten Griechenland, in denen von einem Nachen erzählt wurde, der die Toten über einen Fluss ins Jenseits brachte. Er nahm sich vor, Swoboda zu fragen, der sich in solchen Dingen auskannte.

Lasst den Kopf drin liegen und nehmt das Ganze in die KTU, sagte er. Da will uns einer ein Zeichen geben, und wenn ich es richtig sehe, ist das die beste Spur, die wir bis jetzt haben.

Noch beschäftigte ihn nicht das Problem, wie, warum und von wem der Kopf in dem kleinen hölzernen Kahn zu dem Skelett gelegt worden war, sondern die Tatsache, dass der Fund nicht zu seiner Vermutung über das Menschenherz in der Aegidiuskirche passte: Das Gesicht der Toten war zweifelsfrei nicht das von Iris Paintner.

Jetzt hatte er neben der Frage, wessen Knochen hier lagen, zwei Morde an Frauen aufzuklären, von denen er nicht einmal wusste, ob sie vom selben Täter begangen worden waren.

Während Sibylle Lingenfels die Studenten im Fischerhaus Nummer 4 befragte, stand Törring am Ufer der Nelda, blickte auf die Strömung und erinnerte sich daran, was Alexander Swoboda ihm vor Jahren geraten hatte: Spuren und Ermittlungsergebnisse, die nicht offensichtlich zusammengehörten, so lange einzeln zu verfolgen, bis ihre Gemeinsamkeit sich von selbst ergab. Zu früh hergestellte Verbindungen konnten blind machen für die Wahrheit.

Er sah vom Fluss auf und genoss den leichten Schwindel beim Blick auf das Ufer und die Hügel mit ihrem ersten grünen Schimmer in den Wäldern, die jetzt unter dem Himmel flussaufwärts zu gleiten schienen, als sei das Land in Bewegung geraten.

Tagebuch

Die Presse ist voll von dem Knochenmann. Wozu die Aufregung? Der Globus besteht aus Knochen. Von ihrem blonden Kopf war keine Rede. Vielleicht haben die Toten ihn doch in dem kleinen Nachen zu sich herübergeholt.

Aber wie konnte sie der Hölle entkommen und wiederkehren? Hat ihr Wächter versagt?

Dabei war er es, der mich gerufen hat!

Nach dem, was man über die Vergangenheit der Holzhändler munkelt, war es nicht schwer, ihn zu finden. Man musste nur eins und eins zusammenzählen und konnte sich ausmalen, was geschehen war. Trotzdem wäre ich nicht auf ihn gestoßen, wenn er sich mir nicht gezeigt hätte.

Ich war schon drauf und dran, umzukehren und meinen Lauf am Ufer fortzusetzen. Er hat die Bodenbretter unter meinen Füßen wackeln lassen, er hat von unten dran gerüttelt. Bin fast in ihn reingetreten.

Er wollte ihren Kopf neben sich liegen haben!

Vielleicht hat er sie unten abgeliefert, und die haben in der Hölle nicht auf sie aufgepasst.

Um so wachsamer muss ich sein.

Ich bin der letzte Kämpfer. Nach mir ist Chaos.

III

Die Hölle

Hast du einen Augenblick Zeit für mich?

Die Frage hallte im Kirchenraum. Alexander Swoboda, der im Reitsitz viereinhalb Meter hoch auf den obersten Sprossen einer hölzernen Stehleiter hockte, erkannte in der dünnen schwarzen Gestalt mit leuchtender Glatze den Redakteur Wilfried Herking vom Kulturteil der Zungerer Nachrichten, der im Gang zwischen den Bänken stand und zu ihm heraufsah.

Swoboda ließ die in unterschiedlichen Gelbtönen bemalte Papierbahn, die er vor den Rundgiebel des Ostfensters gehalten hatte, nach unten gleiten. Sie rauschte zu Boden und legte sich am Fuß der Leiter in Wellen.

Zeit?, rief er hinab. Seit ich pensioniert bin, habe ich überhaupt keine Zeit mehr.

Er stieg langsam abwärts. Die Leiter schwankte, die Sicherungskette klirrte. Herking griff nach den Holmen und hielt sie fest.

Ich würde dich nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre.

Denke ich mir. Ich hoffe, es hat mit der Auferstehung zu tun oder wenigstens mit dem Glasfenster, das vor dem Krieg hier drin war? Du hast versprochen, mir Farbbilder zu besorgen.

Herking schüttelte den Kopf. Wenn er wollte, konnte er blicken wie ein Hund und dabei die Stirn bis zur Mitte seines nackten Schädeldachs in Falten legen.

Also geht es nicht um Kunst?

Nein.

Und nicht um einen Augenblick Zeit, sondern um mindestens eine Stunde?

Ja.

Das trifft sich, sagte Swoboda. Ich merke grade, dass ich seit heute früh nichts gegessen habe. Das Licht ist auch nicht mehr gut. Hilf mir, der Entwurf muss eingerollt werden, wir gehen zu Da Ponte.

Die beiden Männer liefen schweigend auf der Hauptstraße in Richtung Schillerplatz, bogen kurz davor links in die Tuchwebergasse ein, die seit dem achtzehnten Jahrhundert nahezu unverändert erhalten geblieben war, trafen an ihrem Ende auf den Hohenzollerndamm am rechten Mührufer, dem sie folgten. Ein Jogger in schwarzer Hose und Kapuzenanorak überholte sie. Auf seinem Rücken war ein auffälliger Köcher festgeschnallt. Sie liefen am Zungener Krankenhaus vorbei und gelangten kurz darauf zum Restaurant Da Ponte, dessen korpulenter Wirt Swoboda mit einer Umarmung begrüßte und an seinen Tisch führte.

Oder wollt ihr draußen?

Die für den April ungewöhnliche Wärme hatte noch nicht nachgelassen. Sie nahmen Platz an der Balustrade der Veranda, die freitragend über das Ufer hinausragte. Durch die Ritzen zwischen ihren Holzbohlen konnte man das Wasser der Mühr fließen sehen.

Swoboda legte seinen Arm aufs Geländer und blickte über den Fluss. Er hatte dieses späte Licht gern, wenn das Wasser russischgrün eindunkelte und die Luft darüber ihren rötlichen Abendglanz bekam, der bald in leuchtendes Karmesin mit Gluträndern an den Wolken übergehen würde. Seit seinem Abschied vom Polizeidienst erlebte er die Tageszeiten nicht mehr als Ablauf der Termine, sondern als Wechsel der Lichtfarben, und stellte sich jeweils die Mischung vor, die er dafür auf seiner Palette ansetzen würde.

Herking bestellte Schwertfischcarpaccio mit Rucola und Ossobuco mit Polenta, Swoboda, wie üblich, eine halbe Portion Linguini mit Flusskrebsen, danach Kalbsleber in Salbeibutter mit Rotweinrisotto. Sie einigten sich auf einen 2007er Montevetrano Colli di Salerno aus Kampanien, bei dessen Preis sie sicher sein konnten, nur eine Flasche zu trinken.

Swoboda aß schweigend seine Pasta und wartete, dass der hagere Mann mit dem rasierten Schädel ihm gegenüber, der sein Sohn hätte sein können, ihn etwas fragen würde. Der zupfte die hauchdünnen, mit geschrotetem Pfeffer bestreuten Schwertfischscheiben auseinander, träufelte Zitrone darauf und schien, während er kaute, nachzudenken, weshalb er mit Swoboda hierhergekommen war.

Wilfried Herking war ein vorsichtiger Mensch. Schon als Kind hatte er, von der Mutter dazu angehalten, beim Klettern, Rennen, Balancieren mehr an die möglichen Gefahren als ans Vergnügen gedacht. Jetzt quälte ihn der Gedanke, dass ein falscher erster Satz Swobodas Widerwillen gegen jede kriminalistische Überlegung verstärken könnte. Außerdem fühlte er sich als Leiter des Feuilletons zu guten Formulierungen verpflichtet.

Viel zu schreiben hatte er nicht, die ZN waren ein Kopfblatt, dem der Nachrichtenmantel, die Wirtschaft und der internationale Sport von einer überregionalen Zeitung zugeliefert wurden. Wenigstens überließ man ihm das Gebiet, auf dem er Experte war: die Oper. Gelegentlich durfte er zu Premieren reisen und Kritiken für die Zentralredaktion schreiben. Er bewunderte Swoboda, der noch vor Erreichen der Altersgrenze aus dem sicheren Berufsleben auf das schwankende Schiff der Kunst gewechselt war. Diesen Mut hätte er gerne gehabt. Herking lebte allein und trug mit seinen knapp vierzig Jahren für niemanden Verantwortung als für sich selbst. Dennoch war er das Wagnis, als freier Autor zu arbeiten, nie eingegangen. Er warf sich das, wenn er getrunken hatte, als Feigheit vor und schätzte, wieder nüchtern, das Risiko erneut als zu hoch ein.

In diesem Augenblick bewegte ihn nicht die Frage nach der Bedeutung der Kunst in seinem Leben. Er war ungewollt Mitwisser eines Verbrechens geworden und brauchte Swobodas kriminalistischen Rat.

Erstaunlich schnell beendete er seine Vorspeise, schob den Teller von sich weg, atmete tief ein und sagte:

Es geht um die Paintnertochter. Wir haben gerade die Meldung bekommen, dass das Herz in der Aegidiuskirche zweifellos das von Iris Paintner ist. Sie ist – sie war vierundzwanzig.

Swoboda blickte nicht auf und aß weiter.

Vide cor tuum. Sagt dir das was?

Noch immer ließ sich Swoboda nicht aus seinem Schweigen locken. Nach der letzten Gabel Linguini mit dem letzten Krebsschwanz schmatzte er und sagte:

Siehe, dein Herz.

So weit bin ich auch gekommen, der Typ, der uns die Botschaft geschickt hat, wollte auf das Herz an der Marienstatue aufmerksam machen. Ein Video, deshalb ist es wahrscheinlich auf meinem Schreibtisch gelandet, die DVD ist am vergangenen Mittwoch bei uns eingegangen. Du verstehst?

Nein. Wie war dein Schwertfisch? Meine Linguini waren wie immer perfekt. Kannst du nicht dafür sorgen, dass hier mal einer vom Michelin speist und anschließend wenigstens ein Sternchen vergibt?

Der Wirt Emmanuele Luccio brachte die Karaffe mit dem dekantierten Montevetrano, den er, wie stets bei Weinen dieser Preisklasse, selbst verkostet hatte. Er war stolz darauf, den Vornamen des Mozart-Librettisten Da Ponte – auch in dessen unüblicher Schreibweise mit doppeltem M – zu tragen, nach dem er sein Restaurant benannt und mit dessen Porträts und faksimilierten Textauszügen er die Wände geschmückt hatte.

In der Speisekarte wurde der Gast aufgefordert, sich vor der Auswahl der Gerichte eine Seite Lebensgeschichte Da Pontes von dessen jüdischer Geburt als Emmanuele Conegliano über die Konversion zum Christen und Wechsel seines Namens 1763 bis zum Tod im hohen Alter von fast neunzig Jahren 1838 in New York durchzulesen. Emmanuele behauptete, dass die Lektüre unabdingbar zum Essen gehöre.

Wie eine Monstranz trug er den Wein an den Tisch, füllte die Glaskelche zu einem Drittel, stellte die Karaffe ab, wollte etwas sagen, spürte die Anspannung zwischen den Männern, nahm wortlos die Vorspeisenteller auf und entfernte sich. Der Montevetrano änderte Swobodas Stimmung schlagartig. Nach dem ersten Schluck entspannte sich sein Gesicht, er lächelte, und Herking hoffte, er werde nun seine Sturheit aufgeben.

Ich bitte dich, dir das Video einmal anzusehen, ich vermute, da stecken noch mehr Hinweise drin. Es ist eine Art Computerspiel.

Swoboda hob abwehrend die Hände.

Ich habe so was noch nie gespielt und werde das auch nicht tun. Du solltest damit zur Polizei gehen.

Deshalb frage ich dich ja.

Ich bin aber nicht die Polizei.

Der Wirt brachte den Hauptgang, Ossobuco für Herking, Kalbsleber für Swoboda, der sich den Salbeiduft über dem Teller zufächelte. Sie begannen zu essen und schwiegen wieder.

Dann machte der Journalist einen neuen Versuch.

Schade eigentlich.

Was?

Dass du nicht mehr die Polizei bist, du warst ein ungewöhnlich angenehmer Bulle, außerdem sehr erfolgreich.

Und jetzt bin ich ein erfolgloser Maler.

Das habe ich nicht gesagt, protestierte Herking.

Wolltest du aber.

Dass sein Gegenüber nicht widersprach und sich auf seine geschmorte Kalbshaxenscheibe konzentrierte, gefiel Swoboda nicht. Er hob sein Glas.

Trinken wir auf die große Kunst, die sich uns entzieht, die Schlange!

Herking blickte auf, musste grinsen und prostete Swoboda zu.

Dass sie sich beide vom Kulturbetrieb übergangen fühlten, hatten sie bald nach ihrer ersten Begegnung während einer Vernissage in der Galerie Matt begriffen, und ihre ähnliche Veranlagung zur Melancholie trug dazu bei, dass sich zwischen ihnen zwar keine Freundschaft, doch eine gewisse Nähe eingestellt hatte – vielleicht auch nur die Solidarität zweier Verlierer.