Guido M. Breuer
Altes Eisen
Vom Autor bisher erschienene Bücher bei KBV:
»All die alten Kameraden«
»Altes Eisen«
Guido M. Breuer, wurde 1967 in Düren geboren. Er wuchs in Düren und in der Nordeifel auf. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann arbeitet er heute als selbstständiger Unternehmensberater und Autor und lebt mit seiner Familie in Kreuzau in der Eifel.
1. Auflage 2010
2. Auflage 2010
3. Auflage 2011
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Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-940077-79-0
E-Book-ISBN 978-3-95441-015-6
»Denn die Geschichte ist nicht vorhanden
um der Merkwürdigkeit willen,
sondern um die Vergangenheit
mit der Gegenwart zu vermitteln.«
Jacob Burckhardt,
Vorwort zu »Conrad von Hochstaden«, Bonn 1843
Der alte Erzbischof lag in würdevoller Haltung lang ausgestreckt auf dem Rücken. Seine erstarrten Züge muteten auf eine unwirkliche Art jugendlich an und fast so, als befinde er sich in seliger Entrückung.
Rita Bertold betrachtete das leblose Gesicht mit der Sorgfältigkeit der erfahrenen Ermittlerin. Die weit auseinanderstehenden Augen blickten kalt, der Mund mit den schmalen, geschlossenen Lippen drückte Entschlossenheit aus. Nase, Kinn und Wangenknochen waren markant, passend zu seinem Amt eines Kirchenfürsten.
Die Kommissarin wandte sich dem Priester zu, der mit bleichem Gesicht neben ihr stand. »Sagen Sie, wie lange ist dieser Konrad von Hochstaden schon tot?«
Der Geistliche überlegte kurz und antwortete dann: »Etwa siebenhundertfünzig Jahre, Frau Kommissarin. Er starb im Jahre zwölfhunderteinundsechzig.«
Rita nickte kurz und sagte dann zu einem ihrer Kollegen, der einige Meter entfernt von ihr dabei war, sein Arbeitsgerät einzupacken. »Und der da, Herr Doktor?«
»Etwa sechs bis acht Stunden, würde ich sagen.«
Rita trat von der Bronzeplastik des alten Erzbischofs hin zu dem metallenen, vielleicht drei Meter hohen Geländer, welches das Grabmal umgab. Mit derselben überlegten Genauigkeit betrachtete sie nun den Toten, der bäuchlings über dem Geländer hing, aufgespießt von einigen der vergoldeten, lilienförmigen Spitzen, mit denen die Umzäunung des Grabmals verziert war.
»Frau Kommissarin«, wandte sich der Priester an Rita. »Bitte, wie lange müssen wir den armen Bruder Dominik noch in dieser unwürdigen Haltung belassen? Das ist unerträglich.« Rita schaute den Mediziner an, der die Schultern zuckte und sagte: »Wenn die Spurensicherung ansonsten so weit ist, kann er runter.«
Rita trat noch näher an den Toten heran. Bei ihrer Körperlänge von einsfünfundachtzig brauchte sie sich nicht übermäßig zu strecken, um ihn aus der Nähe zu betrachten. »Er sieht nicht so aus, als ob er sich gewehrt hätte.«
Der Gerichtsmediziner trat zu ihr. »Ich bin mir noch nicht sicher, was hier geschehen ist. Wenn er aus größerer Höhe auf das Geländer gefallen wäre, würde ich mich nicht wundern. Das ist aber hier völlig ausgeschlossen. Er wurde auf das Geländer gehoben, vermutlich von mindestens zwei kräftigen Personen, und dann mit Gewalt auf die Metallspitzen gedrückt.«
Rita nickte nachdenklich. »Ich bin gespannt auf die Obduktion.«
Der Priester trat an sie heran und bat erneut: »Bitte, Frau Kommissarin.«
Rita sah auf und wies ihre Kollegen an: »Jaja, nehmt den armen Kerl herunter.«
Dann ließ sie ihren Blick nochmals durch die Johanneskapelle des Kölner Doms wandern. Das Metallgitter, an dem der Tote hing, trennte das Grabmal des mittelalterlichen Erzbischofs vom prachtvollen Chorgang ab. Die Tür, durch welche diese Umzäunung passiert werden konnte, war aufgebrochen worden. Rita trat wieder an das Hochgrab, welches von der lebensgroßen Bronzeplastik des liegenden Konrad von Hochstaden beherrscht wurde. Sie winkte den Geistlichen heran, der entsetzt verfolgte, wie die Polizisten den Toten vom Geländer abhoben. Er bekreuzigte sich und murmelte einige Worte im stillen Gebet, als er auf Rita Bertold zuging.
»Sagen Sie«, sagte Rita. »Bruder Dominik muss mitten in der Nacht ermordet worden sein. Was, glauben Sie, hat er um diese Zeit hier gemacht?«
»Wissen Sie«, antwortete der Geistliche, »der Dom öffnet um sechs Uhr in der Früh. Einige Bedienstete sind schon deutlich früher hier, aus ganz unterschiedlichen Gründen.«
»Was sind das beispielsweise für Gründe?«
»Es wird die Frühmesse vorbereitet, auch Kollegen von der Dombauverwaltung, Restauratoren, Steinmetze, Architekten und so weiter sind manchmal schon da, um sich in Ruhe ein paar Dinge anzusehen.«
»Und Bruder Dominik?«
»Bruder Dominik ist – war – Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Domschatzkammer.«
Rita hob die Augenbrauen. »Und da geht man mitten in der Nacht in den Dom? Gibt es dafür einen normalen, will sagen einen üblichen Grund?«
Der Geistliche zuckte die Achseln. »Nein, eigentlich nicht.« »Und Sie haben ihn gefunden?«
Ein Polizist aus Ritas Team schaltete sich in das Gespräch ein. »Eine Reinigungskraft hat ihn gefunden. Sie rannte davon und schlug Alarm. Im Moment wird sie psychologisch betreut und kann daher leider noch nicht befragt werden.«
Rita wandte sich wieder dem Priester zu. »Und Sie?«
»Ich wurde von Ihren Kollegen dazugerufen, als man alles abgesperrt hat.«
»Und dieses Grabmal hier? Was könnte der Bruder hier gewollt haben – oder sein Mörder?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Frau Kommissarin.«
»Kennen Sie diesen Teil des Doms genau?«
»Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren jeden Tag hier«, antwortete der Geistliche.
»Das ist gut! Dann sehen Sie sich bitte einmal alles hier genau an. Was fällt Ihnen auf? Ist irgendetwas verändert? Fehlt etwas?« Der Mann sah sich gründlich um. Dann schüttelte er stumm den Kopf.
Rita fragte weiter: »Was ist in diesem Raum so wertvoll, dass sich ein Diebstahl lohnen würde? Kann der Bruder vielleicht Kunstdiebe überrascht haben?«
Der Priester nickte. »Alles hier ist von unschätzbarem Wert. Vor allem die Bronzefigur des Erzbischofs Konrad von Hochstaden. Sie gilt als eine der bedeutendsten deutschgotischen Bronzeplastiken des dreizehnten Jahrhunderts. Aber sie zu stehlen würde einen beträchtlichen logistischen Aufwand erfordern.«
Rita wandte sich an ihre Kollegen, die mittlerweile die Leiche transportfertig gemacht hatten. »Schmitz, bitte setzt alles daran, dass der ganze Raum genauestens untersucht wird – und bitte in enger Zusammenarbeit mit Spezialisten von der Domverwaltung. Und sprecht, sobald sie vernehmungsfähig ist, mit der Frau, die den Toten gefunden hat.«
Zu dem Priester sagte sie: »Können Sie bitte veranlassen, dass meine Kollegen entsprechende Unterstützung erhalten? Hier müssen Kenner der Örtlichkeit und aller Kunstwerke mithelfen.«
Der Geistliche nickte zustimmend.
»Meister Schmitz, ich brauche bis morgen früh eine Liste mit allen Dingen, die hier fehlen, hinzugekommen sind oder irgendwie verändert scheinen. Der Herr Pfarrer hier besorgt euch die Spezialisten von der Domverwaltung.«
»Alles klar«, antwortete Schmitz. »Und was machen Sie jetzt, Chefin?«
Rita schaute auf ihre Armbanduhr. »Ich habe einen wichtigen Termin in Nideggen.«
»In Nideggen?«
»Ja«, sagte Rita und lächelte. »Opa Bertold wartet schon auf mich.«
Lorenz Bertold kraulte sich gelangweilt mit allen zehn Fingern den Bart. Dabei knurrte er vor sich hin: »Kommissar Wollbrand wusste nur zu gut, dass er immer länger würde warten müssen, je älter er wurde.«
Er stand von seinem Stuhl auf, ging um den Schreibtisch herum, setzte sich wieder hin und hämmerte eine Zeile in die Tastatur seines Computers. Dann schaute er misstrauisch auf den Bildschirm, so als müsste er die Existenz jedes einzelnen Buchstabens kontrollieren. Seine Enkeltochter Rita hatte ihm das Höllending aus dem ausgedienten Inventar der Kölner Kriminalpolizei besorgt, nachdem seine alte mechanische Schreibmaschine endgültig den Geist aufgegeben und alle Typen von sich gestreckt hatte.
»Wo bleibt denn das Mädchen?«, brummte Lorenz und tippte noch einen Satz. Dann griff er die Computermaus und klickte auf »Speichern«. Dies tat er nach fast jedem Satz. Der Computer übte durchaus einen gewissen Reiz auf Lorenz aus. Er dachte daran, wie viele Kommissare wohl ihre Berichte dort hineingetippt hatten und welche spannenden Fälle sich in die Speicherplatte gefressen hatten, bevor sie dann aus Datenschutzgründen leider wieder entfernt worden waren. Gelöscht und neu formatiert, hatte Rita das genannt.
»Kommissar Wollbrand hatte keine Ahnung, was dieses Ding in den unerfindlichen elektronischen Eingeweiden mit seinem Bericht anfing. Er wusste nur, er würde es sofort aus dem Fenster werfen, wenn es die Notizen jemals vergessen sollte.«
Lorenz stand wieder auf und ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Er dachte daran, dass seine Freunde Gustav und Bärbel gerade einen Ausflug machten, den er abgesagt hatte, weil Rita sich angekündigt hatte. Gelangweilt setzte er sich wieder an den Computer, tippte noch einige weitere Gedanken, die Kommissar Wollbrand gerade durch den Kopf schossen, und speicherte den Text erneut ab. Sein in Ehren ergrauter Ermittler arbeitete gerade an einem Fall, in dem es um einen alten Kriegsschatz ging, für den einige Leute offenbar zu töten bereit waren. Lorenz grinste. Die Geschichte gefiel ihm. Vielleicht würde er diesen Krimi ja einmal an einen Verlag senden, wenn er fertig war.
Er sah auf die Uhr. Rita hatte sich für den Vormittag angemeldet, und nun war es bereits kurz vor zwölf. Eigentlich Zeit, das Mittagessen einzunehmen. Doch Lorenz hatte keinen Hunger. Er schimpfte in seinen Bart hinein: »Die Hälfte seines Lebens wartet der Landser vergebens.«
Wieder stand er auf und ging unruhig umher. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Das grüne Tal mit seinen Sandsteinfelsen und dem dichten Wald lag in hellgrauem Herbstschleier. Lorenz’ Blick fiel auf die Ablage am Fenster, wo ein kleines silbernes Gerät herumlag. Noch so ein neumodisches technisches Ding, das Rita ihm geschenkt hatte. Handy nannte man das. Lorenz kannte diese Dinger schon lange, hatte aber selbst noch nie eines besessen. Benny, sein Pfleger, Rita und die anderen jungen Leute kamen gar nicht mehr ohne aus. Gut, auch Bärbel und Gustav besaßen eines. Nun er also auch. Lorenz betrachtete das Handy. Ein Knopf leuchtete dort in hektischem, auf- und abschwellendem Blaulicht. Bestimmt einer von Ritas Witzen. Lorenz griff sich das Telefon und sah das Display genauer an. Das blaue Leuchten ging von einem Symbol aus, das wie ein Brief aussah.
Lorenz grummelte vor sich hin: »Der alte Kommissar hatte sich noch nie von technischen Tricks beeindrucken lassen.«
Dann drückte er entschlossen auf den leuchtenden Knopf und las erstaunt, dass er eine Textnachricht erhalten habe. Einen Moment lang dachte Lorenz nach, was nun zu tun sei. Dann fiel ihm ein, was Rita ihm erklärt hatte. Wenn man dem Gerät »Ja« oder »Tu es« sagen will, immer den großen Knopf in der Mitte drücken. Seniorentauglich – Produktlinie Sechzig Plus. Der Alte schnaubte verächtlich. Tatsächlich erschien jedoch ohne weitere technische Tücken ein Text auf dem winzigen Bildschirm. Bin noch an einem Tatort, komme leider später, Rita.
Lorenz schimpfte: »Konntest du mir das nicht etwas früher sagen, du – du Ding du!«
Er sah auf die Uhrzeit, zu der Rita die Nachricht abgesendet hatte – halb acht. Das bedeutete, dass er eigentlich nun doch erst einmal den Speisesaal aufsuchen und etwas essen konnte. Er wusste, dass man sich als Leiter einer Mordkommission immer viel länger an einem Tatort aufhielt, als es in den Fernsehkrimis gezeigt wurde. Lorenz legte das Telefon beiseite und begann seine Schuhe zu suchen. Da klopfte es an der Tür. Lorenz tappte auf Socken zum Eingang. Während er durch das Zimmer schlurfte, rief er: »Wehe, du klopfst noch einmal. Ich bin nicht taub!«
Er drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür einen Spalt. »Der späte Wurm findet den alten Vogel, könnte man sagen«, begrüßte Lorenz seine Enkeltochter.
»Tut mir leid, Opa«, sagte Rita und küsste ihn auf die Stirn, noch bevor der Alte die Tür ganz geöffnet hatte.
»Ach was«, antwortete Lorenz. »Kein Problem, ich hab' doch deine SMS bekommen.«
»Na, das ist doch was«, lächelte Rita.
»Wo ist übrigens der riesige Kerl, den du mitbringen wolltest?«
»Paul hat sich spontan entschieden, doch ins Büro zu fahren, als ich zu einem Fall gerufen wurde. Eigentlich wollten wir einen gemeinsamen freien Montag machen, nachdem wir mehrere Wochenenden gearbeitet haben, aber so ist es eben, wenn man Bulle ist.«
»Schnickschnack«, winkte Lorenz ab. »Ich wünschte, ich hätte eure Probleme. Das ist doch wunderbar; du willst hier etwas tun, doch dann braucht man dich dort – für mich ist das längst vorbei. Genieße diese Zeit des Arbeitens, solange sie währt, das ist Leben!«
»Ich weiß nicht, Opa«, antwortete Rita. »Meine Arbeit ist nicht das Leben – sie ist vielmehr der Tod.«
Lorenz brummte etwas in seinen Bart, was sich für Rita verdächtig nach einer Bemerkung von Kommissar Wollbrand anhörte. Dann meinte sie: »Opa, du brauchst wirklich nicht neidisch auf meine Arbeit zu sein. Du hast dein Arbeitsleben gehabt, und du kannst jetzt immer noch viele tolle Dinge tun.« Und dann setzte sie lächelnd hinzu: »Wenn es nicht gerade die Verbrecherjagd ist!«
Lorenz' Augen begannen zu funkeln. Dann fragte er: »Was hast du heute Morgen erlebt? Wenn du deinen Opa Bertold schon so lange warten lässt, musst du wenigstens etwas erzählen.«
»Ach Opa.« Rita verdrehte die Augen. »Du bist unverbesserlich!«
Lorenz grinste verschlagen. »Mag sein, dass ich das bin. Aber ich weiß auch, wie nervig alte Leute werden können, wenn sie etwas haben wollen.«
Rita lachte. »Schon gut, ich erzähle dir von dem Fall. Gott sei Dank ist das eine Kölner Angelegenheit, weit weg von deiner schönen Eifel.«
»Na, dann riskierst du ja nichts – lass mal hören.«
Rita wollte sich setzen, doch Lorenz meinte: »Was hältst du davon, wenn du mir beim Essen berichtest? Einen Steinwurf von hier gibt’s einen Inder, der macht auch hervorragende Steaks, und sogar ein paar leckere indische Gerichte.«
»Hört sich gut an«, stimmte Rita zu. »Ich habe noch nicht einmal gefrühstückt. Lass uns gehen.«
Lorenz setzte die unterbrochene Suche nach seinen Schuhen fort und hatte die passenden bald gefunden. Das war nicht schwer, denn er besaß nur zwei Paar. Er warf noch eine dicke Jacke über, denn es schien nicht wärmer werden zu wollen. Wenig später spazierten sie vom Waldrand, an dem die Seniorenresidenz Burgblick lag, das kleine Sträßchen zur Ortsmitte Nideggens hinauf zum Marktplatz. Dort befanden sich einige Restaurants und Cafés. Lorenz steuerte auf ein Haus zu, an dem ein schwarz-rotes Schild mit einem Stier darauf zum Essen einlud. Sie traten ein und nahmen an einem kleinen Tisch Platz. Eine sehr aparte Frau, offensichtlich Inderin, trat lächelnd zu ihnen und nahm ihre Bestellung auf, denn die beiden waren hungrig. Lorenz entschied sich für ein Hüftsteak vom Angus-Rind, während Rita Lust auf ein Tandoori-Huhn mit Naan verspürte.
Als die Kellnerin wenig später die Getränke serviert hatte, meinte Rita: »Nun, Opa, ich denke, ich weiß, warum du gerne hierherkommst.«
Lorenz schaute der Inderin nach und antwortete: »Ich weiß nicht, was du meinst. Das Essen ist doch noch gar nicht da.«
Er schüttelte den Kopf, sah Rita über den Brillenrand hinweg scheinbar missbilligend an und sagte dann: »Und jetzt erzähle mir von deinem neuen Fall.«
Rita nippte an ihrem Mineralwasser. »Ich wurde heute Morgen in den Kölner Dom gerufen. Dort hat man in der Nacht einen Mönch, der dort arbeitete, ermordet.«
Lorenz beugte sich gespannt über den Tisch. »Ein Mord im Dom? Gibt es schon eine heiße Spur?«
Rita schüttelte den Kopf. »Dafür ist es noch zu früh. Der Tatort muss noch ausgewertet werden, außerdem steht die Obduktion noch aus.«
Lorenz grinste. »Vielleicht Protestanten?«
»Ach Opa«, meinte Rita. »Du hast doch immer einen Blödsinn im Kopf!« Dann wurde sie wieder ernst. »Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe der Mann vielleicht Einbrecher überrascht, die etwas stehlen wollten.«
»Das klingt plausibel. Der Dom ist vollgestopft mit wertvollen Kunstgegenständen«, grübelte Lorenz.
»Stimmt. Sagte ich schon, dass der Mönch auf einem Metallgeländer aufgespießt war?«
»Aua. Das hört sich nach Bauernaufstand an. Diese Zeiten sind aber vorbei. Heute spießen die Bauern keine Pfaffen mehr auf, sondern fordern mehr Geld von der EU.«
»Ich denke, der arme Kerl hat den oder die Täter einfach nur gestört«, meinte Rita.
»Nachts?«, fragte Lorenz neugierig weiter. »Ich käme nicht darauf, nachts in einer Kirche irgendwen zu stören.«
»Du bist ja auch kein Geistlicher, der für die Domverwaltung arbeitet«, lächelte Rita. »Aber – du hast natürlich recht, diese Frage zu stellen. Das tat ich auch schon.«
»Und – hast du eine Antwort bekommen?«
»Nein, bislang noch nicht. Aber wir arbeiten dran.«
Lorenz fasste nach der Hand seiner Enkelin. »Aber ich erfahre es doch, wenn du mehr herausbekommst, oder?«
Rita streichelte den runzeligen, behaarten Handrücken. »Du bist schrecklich, Opa. Ich weiß genau, was passiert, wenn ich dir mehr erzähle. Es dauert nicht lange, dann machst du mit deinen Freunden einen Ausflug nach Köln und stellst im Dom einen Haufen Fragen. Das werde ich zu verhindern wissen.«
»Und ich weiß, dass du weißt, was passiert, wenn du mir nichts erzählst. Dann platze ich nämlich vor Neugier und versuche herauszubekommen, was du mir nicht sagen willst.«
Beide lachten. Rita hoffte, ihr Opa würde das Gesagte nicht so ernst meinen. Außerdem konnte sie davon ausgehen, dass er sich zwar in seiner Eifel, die er gut kannte, recht umtriebig zeigte, aber in die laute Großstadt würde er sich vermutlich nicht wagen.
Als die Kellnerin mit Steak und Hühnchen an ihren Tisch trat, wischte Rita den Gedanken beiseite und gab sich ganz ihrem Appetit hin, den der tote Mönch ihr nicht hatte verderben können.
»Hm«, seufzte Lorenz genüsslich, als er den ersten Bissen gekostet hatte. »Die junge Frau weiß genau, wie ich das Fleisch mag. Je blutiger, desto interessanter ist es, nicht wahr Rita?«
Rita rollte verzweifelt die Augen und antwortete nicht. Lorenz grinste und schob sich ein Stück Steak zwischen die Zähne. Während des Kauens sagte er: »War nur Spaß, mein Täubchen. Du weißt doch, ich bin viel braver, als ich so daherrede.«
Rita lächelte. Sie wusste genau, dass ihr Opa in diesem Punkt log.
Als Paul Gedeck an diesem Montag in das Büro seiner Chefin Klara Bullinger gerufen wurde, hielt er dies für den routinemäßigen Antrittsbesuch zum Wochenbeginn. Als er eintrat, war ihm jedoch sofort klar, dass diese Besprechung ganz anders verlaufen würde.
Dort warteten bereits zwei Besucher. Die beiden Männer waren deutlich besser gekleidet, als es bei der Aachener Kriminalpolizei allgemein üblich war. Ihr Auftreten verriet jedoch, dass der Besuch nicht, wie es manchmal vorkam, politischer Natur war. Beide Männer saßen vor Klara Bullingers Schreibtisch und hatten ihre Stühle halb umgedreht, sodass sie Paul beobachten konnten.
Die Bullinger ließ Paul nicht lange im Unklaren. »Guten Morgen, mein lieber Paul. Die beiden Herren hier sind Kollegen vom LKA in Düsseldorf, Koordinierungsstelle für Spezialeinheiten.«
»Genauer gesagt, wir arbeiten im Beraterteam für Fälle schwerster Gewaltkriminalität«, ergänzte einer der beiden Männer.
»Ach du scheiße«, antwortete Paul.
»Nicht doch, mein Lieber«, beeilte sich Klara Bullinger zu sagen, die die eigenwillige Art des Zwei-Meter-Mannes kannte und gelegentlich auch fürchtete.
»Lassen Sie nur, Frau Bullinger«, schaltete sich der zweite, etwas ältere Beamte ein. »Herr Gedecks Ausdrucksweise ist uns wohlbekannt und Teil seines Persönlichkeitsprofils, das ihn für die Abteilung so interessant macht.«
»Ich gehe davon aus, dass es euch nicht im Mindesten interessiert, dass ich für euch nicht interessant sein möchte«, versetzte Paul.
Der jüngere Mann wollte auffahren, wurde jedoch von seinem Kollegen mit einer kurzen Handbewegung daran gehindert. »Lassen wir die Spielchen, Herr Gedeck«, sagte er. »Uns ist Ihr mangelnder Teamgeist bekannt. Sie sind Einzelkämpfer, kein Partner hält es lange mit Ihnen aus. Sie haben Erfahrung im Personenschutz und eine ausgezeichnete Aufklärungsquote. Sie sind ein exzellenter Sportler, verfügen über eine nicht zu übersehende körperliche Präsenz, die sich manchmal auch in handfesten Übergriffen manifestiert. Man könnte also sagen, Sie sind ein Kriminalbeamter ohne Karrierechancen, aber ein guter Bulle.«
»Ich hatte gehofft, damit für das LKA völlig uninteressant zu sein«, antwortete Paul.
»Weit gefehlt, mein lieber Paul«, schaltete sich die Bullinger wieder ein. »Ihr Typ ist sogar sehr begehrt in einer aktuellen Ermittlung.«
»Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Herr Gedeck«, übernahm der Ältere das Wort und wies auf den letzten freien Stuhl. Paul entschied sich, die Konfrontation nicht zu übertreiben, und setzte sich. »Gut, ich höre Ihnen zu.«
»Ausgezeichnet. Herr Gedeck, ist Ihnen das Lagebild OK ein Begriff?«
»Organisierte Kriminalität, nicht mein Spezialgebiet.«
»Nun, aus den Lagebildern OK der letzten Jahre können Sie entnehmen, dass entgegen der landläufigen Meinung der Anteil ausländischer Straftäter bei der organisierten Kriminalität weit hinter dem der Deutschen zurückbleibt. Korruption, Einflussnahme, Schutzgelderpressung, Sie wissen schon.«
»Und?«
»Mit einer Ausnahme: Gewalttaten in der OK werden laut aktuellem Stand unserer Ermittlungen mehr und mehr zu einer Domäne ausländischer Krimineller. Und das beunruhigt uns.«
»Warum?«, fragte Paul. »Lassen sich unsere Geschäftsleute lieber von Deutschen ins Knie schießen?«
Der LKA-Beamte grinste freudlos. »Beinahe getroffen. Der Punkt ist allerdings, dass unsere osteuropäischen und orientalischen Freunde immer mehr dazu übergehen, in ihrem Geschäftsgebaren etwas – sagen wir – überzureagieren.«
Der jüngere Beamte ergänzte: »Der Kollege meint, die Ausländer neigen neuerdings dazu, die Leute zu töten, die ihnen im Weg sind.«
Der Ältere fuhr fort: »Wir glauben, dass ganz bestimmte Leute gezielt Gewalt einsetzen, um ihre Marktanteile zu erhöhen.«
Klara Bullinger stand auf, ging um den Schreibtisch herum zu Paul und legte eine Hand auf seine Schulter. »Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse, Paul.«
Der LKA-Mann ergänzte: »Oder konkreter gesagt, keine russischen.«
»Okay«, sagte Paul. »Warum erzählen Sie mir diesen Scheiß?«
»Weil wir ein Problem haben, Herr Kollege. Und das Problem hat einen Namen: Wladimir Slotin.«
Der Jüngere stand auf und aktivierte einen Beamer, der nun ein Bild auf die weiße Wand des Büros projizierte. Mit einem Laserpointer ließ der LKA-Beamte rote Punkte auf dem fleischigen, breiten Gesicht eines Mannes nervös umherflitzen. »Wladimir Slotin, genannt der Pate vom Rursee. Fünfzig Jahre alt, gebürtiger Russe, hat angefangen als Zuhälter, macht heute in Prostitution, Drogenhandel, Menschenhandel, Schmuggel aller Art, Schutzgelderpressungen, private Kredite, Immobilien. Er betreibt mit einem Bestattungsinstitut eine geradezu lächerlich durchsichtige Scheinfirma in Düren. Meist hält er sich jedoch in seinem Haus am Rursee in der Eifel auf. Oder auf seinem Boot.«
»Aha, daher der Spitzname«, meinte Paul.
»Genau. Wir haben Grund zu der Annahme, dass er zurzeit versucht, ein Syndikat im Rheinland aufzubauen, indem er die Russen, Polen, Ukrainer, Albaner und die ganze Balkan-Connection unter einer Fahne vereint.«
»Das geht nicht«, meinte Paul. »Die haben nicht viel gemeinsam.«
Der ältere Beamte räusperte sich. »Das dachten wir auch. Aber etwas haben sie vielleicht doch gemeinsam. Erstens: Mit der von Köln aus agierenden sehr mächtigen türkischen Mafia hat man einen gemeinsamen Feind. Zweitens: Die maßgeblichen Leute dieser unterschiedlichen Gruppierungen haben einen gewissen Hang zur Gewalt, und Slotin versucht durch eine betont harte Gangart, diese Leute zu beeindrucken und für sich einzunehmen.«
»Und das stört uns gewaltig«, ergänzte der jüngere Beamte.
»Und was uns am meisten stört, Herr Gedeck«, fuhr der ältere fort, »ist, dass wir bis dato keinen verdeckten Ermittler im Dunstkreis des Paten vom Rursee haben platzieren können. Und wie Sie vielleicht wissen, sind verdeckte Ermittler äußerst wichtig im Kampf gegen die organisierte Kriminalität.«
Paul stand auf. »Und ich habe jetzt genug gehört.«
Klara Bullinger sagte rasch: »Nicht doch, Paul. Bleiben Sie doch sitzen.«
Der ältere LKA-Beamte lächelte. »Lassen Sie nur, Frau Bullinger. Die Katze ist aus dem Sack, und Herr Gedeck ist schlau genug zu wissen, dass er den Sack nur auf eine Weise zumachen kann.«
»Warum ich?«, fragte Paul.
»Ihr Profil ist ideal«, antwortete der Jüngere. »Wir wissen aus sicherer Quelle, dass Slotin einen Sicherheitsexperten sucht. Sein Leibwächter und Sicherheitschef ist jüngst ebenfalls Opfer des Bandenkrieges geworden – Dürener Türken vermutlich. Wir können Sie mit einer authentischen Legende ausstatten, die jeder Überprüfung standhält, weil Ihre bisherige Akte eine wunderbare Startplattform darstellt. Sie haben Erfahrungen im Personenschutz. Man kennt Sie als harten Ermittler, der mit seiner Behörde und seinen Vorgesetzten nicht immer auf einer Linie ist. Wir können Sie dort besser einschleusen als jeden anderen, und Ihre Art passt zu Slotin.«
»Aber die Sache passt mir nicht«, antwortete Paul. »Verdeckte Ermittlungen sind ein Scheißjob. Keine Chance.« Er wandte sich zur Tür.
Der ältere Beamte stellte sich ihm in den Weg. Sehr ruhig sagte er: »Sie haben ganz sicher recht, Herr Gedeck. Das wird eine Menge Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Aber glauben Sie mir: Den Job nicht zu machen, könnte für Sie bedeuten, wesentlich schwerwiegendere Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.«
Paul trat einen Schritt näher an den Mann heran. Er schaute auf ihn herab und sagte bewusst leise: »Ich muss wohl nicht fragen, ob das eine Drohung war?«
»Aber bitte, meine Herren«, schaltete sich Klara Bullinger ein. »So muss das doch unter Kollegen nicht laufen.«
»Unter Kollegen nicht, nein«, sagte Paul.
Der Jüngere schob sich neben Paul und sagte: »Glauben Sie mir, Herr Gedeck, wir haben mit einem solchen Gesprächsverlauf gerechnet. Denken Sie darüber nach. Ich bin sicher, am Ende werden wir zusammenarbeiten.«
Paul wandte sich zu Klara Bullinger. »Sonst noch was für heute?«
»Nein, Paul. Aber bitte, sprich mit niemandem darüber.«
»Keine Sorge. Dazu verspüre ich nun wirklich nicht die geringste Lust«, antwortete Paul und verließ den Raum, ohne die beiden LKA-Beamten noch eines Blickes zu würdigen.
Und wer trägt mich da jetzt rauf?«
Gustav Brenner betrachtete skeptisch die steile Steintreppe, auf deren erste Stufe er einen Fuß gesetzt hatte.
»Ach komm, Gustav!« Bärbel Müllenmeister ließ ihr helles Lachen über den Hof der Nideggener Burg schallen. »So klapprig, wie du jetzt schon wieder tust, bist du doch gar nicht.«
Lorenz grinste schräg und bemerkte: »Ist er doch, nur schafft der alte Charmeur es immer wieder, dass du das Gegenteil glaubst.«
»Eifersüchtig, Opa Bertold?«, lachte Gustav und begann, die Treppe aus altem Sandstein, aus dem die ganze Burg gefertigt war, emporzusteigen.
»Was, auf dich alten Klepper?« Lorenz stieg Gustav betont sportlich nach, wobei er seinen Gehstock in der Luft herumwirbelte. Dabei brummte er leise: »Kommissar Wollbrand war sicherlich nicht mehr der Jüngste, aber er nahm es mit diesem Aufschneider jederzeit auf.«
Bärbel folgte den beiden Männern leichtfüßig wie immer und musste auf halber Strecke warten, da Gustav und Lorenz doch nicht so flott waren, wie sie vorgaben. Oben angekommen, öffneten sie die knarrende Holztür, die den Eingang zum Burgmuseum bildete. Lorenz ging voran. Bärbel fragte ihn: »Du warst doch bestimmt schon häufiger hier, oder nicht?«
Lorenz antwortete: »Früher schon, aber seit ich hier wohne, nicht mehr. Habe bestimmt einiges vergessen.«
»Und manches ist dazugekommen«, wurde er freundlich am Tresen, wo er den Eintritt zahlen wollte, begrüßt.
»Na, da bin ich aber gespannt! Vor allem der Eintrittspreis, nehme ich an.«
»Ach Lorenz!« Bärbel schüttelte lächelnd den Kopf. »Bitte nehmen Sie es ihm nicht übel, er ist ein alter Grantler.«
»Soll uns aber nicht stören, weil sowieso ich bezahle«, fügte Gustav hinzu und legte einen Zehner auf den Tresen. »Der Rest ist eine Spende fürs Museum«, fügte er hinzu.
»Vielen Dank«, erwiderte die Dame an der Kasse. »Ich wünsche Ihnen einen interessanten Aufenthalt.«
»Danke schön«, antwortete Bärbel stellvertretend für die drei.
Sie sahen sich um. Gustav fragte: »Und, was schauen wir uns zuerst an?«
»Das Burgverlies natürlich!«, rief Bärbel.
Lorenz ging kopfschüttelnd voraus. »Wie ein kleines Mädchen«, lachte er. Dann blieb er im ersten Raum stehen und sagte: »So, liebe Kinder, hier sind wir im alten Gerichtssaal. Dort ist das sogenannte Angstloch. Hier könntest du, liebe Bärbel, gleich hinunter in das Verlies geworfen werden, wenn man nicht mittlerweile eine Glasscheibe eingelassen hätte. Früher war das ganz einfach: Gleich nach dem Urteil in den Kerker.«
»Oder am besten noch vor dem Urteil«, bemerkte Gustav.
»Genau«, bestätigte Lorenz. »Die bedeutendsten Häftlinge waren ohne Urteil dort, das werdet ihr gleich unten im Verlies sehen.« Gustav grinste und wies auf einen metallenen Käfig. »Und vorher stecken wir dich in diesen Schandkorb hier.«
Bärbel fragte: »Ist das der Korb, in dem der alte Wilhelm seine Frau Alveradis nackt an die Burgwand gehängt hat?«
»Eine Nachbildung, aber im Grunde war das so ein Korb«, bestätigte Lorenz.
»Nur dass du da niemals reinpassen würdest, Dickerchen«, lästerte Gustav.
»Pah, früher waren die Leute eben kleiner und nicht so gut genährt«, erwiderte Lorenz. »Setz du dich mal lieber hin.«
Er wies auf einen Stuhl, der vollständig mit Nägeln besetzt war. »Damit du da unten noch mal etwas spürst!«
Bärbel lachte. »Ihr alten Esel! Gehen wir jetzt in das Verlies? Alles andere kann warten, aber in einer alten Burg muss man doch zuerst in das Verlies!«
»Na gut, gehen wir hinunter«, meinte Lorenz und ging voran. Sie schoben sich eine sehr enge, steile Treppe hinunter bis in den alten Kerker. Dort stellten sich in Form von lebensgroßen Bildern zwei Erzbischöfe des dreizehnten Jahrhunderts als prominenteste Insassen vor. Bärbel und Gustav lasen die Informationstafeln, sodass Lorenz nicht viel zu erklären brauchte.
»Und hier direkt neben dem Kerker ist die Kapelle. Hier kann man sogar heiraten. Bärbel, wenn du noch ein fünftes Mal in den Ring steigen willst, hier wäre eine schöne Örtlichkeit dafür.«
»Das schauen wir uns sofort an – komm Gustav!«
Gustav, der ein wenig zurückgeblieben war, winkte ab. »Lasst mal, ihr Lieben. Ich muss ein wenig verschnaufen. Geht mal ohne mich weiter.«
»Unsinn, Gustav«, brummte Lorenz. »Was ist denn los? Geht es dir nicht gut?«
Gustav schüttelte den Kopf. »Irgendwie ist mir ein bisschen schwach zumute. Wird schon wieder werden.«
Bärbel nahm Gustav beim Arm. »Komm, wir gehen an die frische Luft. Hier unten kann einem ja auch schummrig werden.«
Sie gingen hinaus. Der Burghof lag menschenleer in einem tristen, grauen Licht. Lorenz sah in den düsteren Himmel und fröstelte. Er schlug vor: »Ich denke, wir sollten langsam Richtung Heimat gehen. Und bei der nächsten Gelegenheit setzen wir uns etwas hin.«
Gustav stimmte zu, und so gingen sie langsam die schmale Gasse hinunter, die von der Burg zur alten Pfarrkirche führte. Als sie die Mauer, die das Burggelände umrahmte, passiert hatten und die Kirche vor sich sahen, meinte Gustav: »Danke, es geht schon besser. Tut mir leid, wenn ich euch den Museumsbesuch verdorben habe.«
»Ach was«, meinte Lorenz. »Du hast doch bezahlt.«
Gustav grinste müde. »Vielleicht setzen wir uns in der Kirche etwas hin, wenn sie auf ist.«
»Ja, das wäre schön«, antwortete Bärbel. »Und liegt da nicht einer der Grafen mit seiner Frau beerdigt?«
»Genau«, bestätigte Lorenz. »Die Kirche ist die Ruhestätte von Wilhelm dem Vierten und seiner Gattin Ricarda von Geldern. Dieser Wilhelm ist derjenige, der die beiden Erzbischöfe in das Verlies gesteckt hat.«
Lorenz öffnete das patinagrüne, mit biblischen Motiven verzierte Portal der Kirche. Die massive Kupfertür ließ sich nur schwer bewegen. Dann trat Gustav, gestützt durch Bärbel, ein. Lorenz folgte ihnen in das dunkle Innere des romanischen Bauwerks. Gleich im Eingangsbereich stießen sie auf das verwitterte Hochgrab des einstigen Fürstenpaares. Gustav setzte sich auf einen einfachen Holzstuhl, der dort wie zufällig vergessen stand. Bärbel bewunderte die beiden lebensgroßen Liegestatuen, die allerdings kaum noch Details erkennen ließen. Sieben Jahrhunderte hatten ihre Spuren im Stein hinterlassen. Mit Mühe konnte Bärbel erkennen, dass die vordere Figur die Gräfin Ricarda darstellte und die hintere ihren Mann Wilhelm.
Lorenz ging einige Schritte in das Hauptschiff der Kirche hinein und setzte sich in die hinterste Bank. Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er, dass sie nicht die einzigen Besucher waren. In einer der mittleren Reihen, links vor dem Beichtstuhl, wo kaum Licht hinfiel, saßen zwei Männer. Sie flüsterten leise miteinander. Einer der Männer kam Lorenz wie ein Priester vor. Er schien beruhigend auf den anderen Mann einzureden.
Lorenz schloss die Augen und ließ die Atmosphäre der alten Kirche auf sich wirken. Der Geruch von altem Stein, vielleicht auch Staub, lag in der Luft. Lorenz atmete tief ein. Die Luft stand scheinbar völlig bewegungslos in der geweihten Halle. Auf der Haut spürte er eine gewisse Kühle. Die Kirche schien alles, was der Herbst bereits an Winterahnungen in sich barg, zu vereinen. Dazu kam die Akustik, die jedes noch so kleine Geräusch zu etwas Bedeutsamem erhob. Das leise Tuscheln der beiden Männer, das Murmeln von Bärbel, die versuchte, die lateinische Inschrift des Fürstengrabes zu entziffern, ja, sogar das etwas gepresste Atmen von Gustav, der hinter ihm auf dem einsamen Stuhl saß und sich ausruhte.
Lorenz war schon lange nicht mehr in einer Kirche gewesen, seit der Beerdigung seiner Frau Maria nicht mehr. Jene Kirche hatte sich an jenem Tage ganz anders gegeben. Voller Menschen, laut, irgendwo inmitten der Masse er selbst, wie betäubt. Eine einfache Frau war sie gewesen, keine Berühmtheit. Doch die Messe war gut besucht. Den Pfarrer schien es zu freuen, offenbar einer seiner besseren Arbeitstage. In all den Jahren ihrer Ehe – Lorenz rechnete kurz nach, es waren zweiundfünfzig gewesen – war er nur sehr selten in die Kirche gegangen. Und immer war es Maria, die ihn dazu überredet hatte. Dann war er zum ersten Mal allein dort, und doch war sie es schon wieder, die ihn in das Gotteshaus geführt hatte. Damals war er froh gewesen, als die Messe aus war und man endlich zum Friedhof zog, um das unvermeidliche Ritual hinter sich zu bringen. Dabei hatte er gedacht, er würde niemals wieder eine Kirche betreten.
»Lorenz, wie hältst du's mit der Religion?« Bärbel setzte sich neben ihn.
»Weiß nicht. Ich frage sie nicht nach unserer Beziehung, und sie spricht mich auch nicht ungefragt an.«
»Entschuldigung, ich lass dich allein«, sagte Bärbel und wollte wieder aufstehen.
»Nein, so war das nicht gemeint«, sagte Lorenz schnell und legte seine Hand auf ihre. »Bleib sitzen, du dummes Mädchen.« Und nach einer Pause, in der Lorenz nichts hörte außer seinem eigenen Atem, fragte er: »Wie geht’s Gustav?«
»Nicht so schlecht, dass du ihn nicht selber fragen könntest«, antwortete Gustav und setzte sich neben die beiden.
»So so, anschleichen kann er sich also auch schon wieder«, grummelte Lorenz. »Dann können wir ja wohl weitergehen, oder?«
»Meinetwegen schon«, sagte Gustav und stand wieder auf, kaum dass er sich gesetzt hatte.
»Gut«, meinte Bärbel und stand auch auf. »Gehen wir. Es ist auch ein bisschen kühl hier zum Nur-da-Sitzen.«