Hanser E-Book
Bildungspanik
Was unsere Gesellschaft
spaltet
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25035-2
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1. Die verfahrene Lage
2. Überall dasselbe
3. Worum es wirklich geht
4. Die deutsche Tradition
5. Der bildungsindustrielle Komplex
6. Löwen und Füchse
7. Das teuflische Gut
8. Die derangierte Institution
9. Der politische Fehlschluss
10. Gute Nachrichten
Anmerkungen
Wer sich in Deutschland heute öffentlich über Bildung äußert, findet sich schnell in einer Falle wieder. Von der einen Seite warten die Leute nur darauf, dass man sich als hartherziger Verteidiger klassenmäßiger Privilegien entpuppt, und von der anderen sind alle Antennen darauf gerichtet, ob man als Feind oder als Freund für das Wohl der eigenen Kinder spricht. Beide Seiten sehen sich im Recht und sprechen der anderen das Rederecht ab. Eine dritte Position wird nicht geduldet.
Die einen, die im »aufgeklärten Milieu« die herrschende Meinung darzustellen meinen, empören sich über die ungeheure soziale Selektivität des Bildungs- und in Folge davon des Lebenserfolges in Deutschland. Die dazu erhobenen Daten vermitteln ein ums andere Mal dasselbe deprimierende Bild einer geschlossenen Gesellschaft, in der die soziale Herkunft wie nirgends sonst in Europa über den erreichten Bildungsabschluss und den erklommenen sozialen Status im Leben entscheidet. Weniger als 1 Prozent der Bevölkerung aus einem Elternhaus, in dem der Vater ungelernter Arbeiter ist, schafft es, in eine leitende Angestelltenposition zu gelangen. Dagegen werden etwa zwei Drittel der Kinder aus Familien leitender Angestellter selbst wieder leitende oder hochqualifizierte Angestellte.1 Das passiert in einem Land, das sich über eine lange Nachkriegszeit als Aufstiegsgesellschaft begriffen hat, in der die Tochter eines katholischen Landarbeiters Scheidungsanwältin und der Sohn eines Bergmanns Ingenieur im Flugzeugbau werden konnte.
Der zentrale Grund dafür scheint klar zu sein: Es ist das dreigliedrige Schulsystem von Hauptschule, Realschule und Gymnasium, das viel zu früh sortiert und viel zu wenig kompensiert. In Deutschland glaubt man immer noch, dass beim Übergang zur fünften Klasse festgestellt werden kann, welches Kind auf die Universität gehört, welches sich auf eine Facharbeiterexistenz vorbereiten soll und welches sich bestenfalls für die »Jedermanns«- oder besser: »Jederfrausarbeitsmärkte« der Randbelegschaften und der Selbstbeschäftigten rüsten kann. Und danach soll sich eigentlich nichts mehr bewegen: Die Gymnasiasten bleiben unter sich, lernen Gedichte von Hölderlin kennen, dürfen sich Gedanken über das Unentscheidbarkeitstheorem von Gödel machen und sollen selbständig ein Referat über das Schicksal chinesischer Wanderarbeiter erarbeiten; bei den Realschülern steht der Unterricht für die Arbeitswelt mit dem Ideal des Lernens am Material im Vordergrund, womit sie vielleicht noch eine fachgebundene Hochschulreife erreichen können; und die Hauptschüler sollen sich schon mal damit anfreunden, dass sie sich als Frisörin oder als Koch in Mindestlohnbereichen durchschlagen müssen.
Das Ergebnis dieses brutalen selektiven Mechanismus steht der Gesellschaft heute vor Augen: Das Entstehen eines institutionellen Ghettos im Bildungssystem, wohin kein Lehrer will und schon gar keine Lehrerin, wo auf dem Schulhof der Ethnorassismus von Palästinensern gegen Russen, von Albanern gegen Ghanesen und von Türken gegen Deutsche regiert und wo den Schülern und Schülerinnen beschieden wird, dass sie nicht nur arm an Zertifikaten, sondern auch an Kompetenzen sind. So ist die Hauptschule zur Restschule geworden, wo die von der Wirtschaft dringend benötigten Talente verplempert werden.
Nüchternen ausländischen Beobachtern erscheint Deutschland als Land hoher ökonomischer und geringer sozialer Produktivität. Man investiert vorrangig in Maschinen und Management und nachrangig in Menschen und Mentalitäten. Bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte sich die Politik der Bundesrepublik daran gewöhnt, dass genug fachgeschultes Personal für die exportorientierte Hochproduktivitätsökonomie zur Verfügung stand. In der frühen Bundesrepublik der fünfziger Jahre waren das die gut ausgebildeten und hochmotivierten Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten sowie die hungrigen und geschickten Bewohner der ländlichen Gebiete Oberbayerns, Ostfrieslands oder des Schwarzwaldes, die in der Autoindustrie, im Maschinenbau oder in der chemischen Industrie unterkamen; und in den neunziger Jahren hat die nach dem Mauerfall ins Land strömende polytechnische Intelligenz aus Mitteleuropa und Russland als Manpowerreserve gedient. Für Bürgerkriegsflüchtlinge wie für die »Russlanddeutschen« war das vereinte Deutschland noch einmal das Gelobte Land. Und dazwischen haben in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die geduldigen »Gastarbeiter« aus Südeuropa und vor allem aus der Türkei die Anlernpositionen am Band oder im Lager besetzt. Wenn die Bänder liefen und die Schornsteine rauchten, kamen die Leute wie von selbst.
Das Reservoir für diese »innere Landnahme«2 hat sich heute erschöpft. Die Türkei stellt sich zu Beginn unseres Jahrhunderts als aufstrebende Volkswirtschaft dar, die ihren Einwohnern erweiterte Chancen für ein gutes Leben bietet; und Polen zum Beispiel ist längst ist mehr nur die »verlängerte Werkbank« westlicher Unternehmen. Man sieht sich angesichts eines durchschlagenden Fachkräftemangels jetzt genötigt, in die Populationsreserven zu investieren, die im Lande selbst noch vorhanden sind. Man kann in einer solchen Situation 8 oder 10 Prozent eines Jahrgangs nicht einfach als Restgröße abschreiben. Die Hauptschule kann nicht länger als Parkbank für die Unterklasse hingenommen werden, das gesamte Bildungssystem muss vielmehr so renoviert werden, dass dieses brachliegende Arbeitskraftpotential wirtschaftlich genutzt und gesellschaftlich anerkannt werden kann.
Die Lösung dieses Problems, das man ernsthaft nicht bestreiten kann, scheint auf der Hand zu liegen: Es ist die Ganztagsschule als Vorstufe einer Einheitsschule mit differenzierten, aber gleichrangigen Abschlüssen. Der Königsweg einer investiven Bildungspolitik besteht in der Verlängerung der gemeinsamen Beschulung aller Kinder. Denn je länger die Kinder gemeinsam lernen, umso größer ist die Chance, dass sie voneinander lernen. Die von Hause aus Privilegierten lernen dadurch, dass sie anderen zeigen, welche Informationen relevant für die Lösung eines Problems und welche dafür irrelevant sind, selber besser zu lernen; und die von Hause nicht so Privilegierten lernen in dem Maße, wie sie kürzere Wege erkennen und direktere Verbindungen erschließen, dass es beim Lernen etwas zu lernen gibt. Insgesamt lernen alle voneinander, dass man auf unterschiedlichen Wegen zum gleichen Ziel kommen kann.
Vor allem aber entlastet diese Art des gemeinsamen Lernens das Lehrpersonal vom Zwang zum schnellen Urteil über ein Kind. Es wird Zeit für Lernprozesse gewonnen, die Nachteile ausgleichen und unvermutete Talente an den Tag bringen. Die Lehrperson wandelt sich von der Vorführerin und Instrukteurin im Frontalunterricht zur Anregerin und Begleiterin von Lernprozessen im Gruppengeschehen. In dem Maße, wie die Lehrerin und der Lehrer dabei das einzelne Kind vor Augen haben, dient die individuelle Förderung dem Fortschritt aller.
Es geht offenbar nicht anders: Man muss die Spitze entprivilegieren, um die Basis zu reaktivieren. Am Ende muss das Gymnasium dran glauben, weil nur so die produktive Mischung herzustellen ist, die das ganze System in Bewegung hält. Die Herausforderung besteht darin, den Teufelskreis zu durchbrechen, der die einen in der Schule erfahren lässt, dass sie wie von selbst immer besser und die anderen, dass sie, was auch immer sie unternehmen, immer schlechter werden. In der Schule sollen doch alle ihre Chance haben: Die aus den bildungsnahen genauso wie die aus den bildungsfernen Elternhäusern. Mit der institutionell arrangierten Verlängerung des gemeinsamen Lernens könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Man könnte die soziale Selektivität bekämpfen und die gesellschaftliche Produktivität erhöhen.
Warum aber, wenn das alles so glasklar dargelegt werden kann, passiert nichts? Auch darauf hat die eine Seite eine schlagende Antwort. Es stehen die massiven sozialen Interessen der Mittelklassen dagegen, die von sozialmoralischer Ansteckungsangst getrieben werden und sich mit verstärktem Bildungsprotektionismus gegen jene anderen abschotten wollen, die keinen Sinn für die Bedeutung von Bildung haben und die Schule als billigen Aufenthaltsort für ihre Kinder betrachten. Man will seine Kinder aufs Gymnasium retten, weil es dort nur mit Kindern von Eltern in Berührung kommt, die wissen, was die Stunde geschlagen hat, die leistungsbereit, sozial engagiert und zivilgesellschaftlich eingebunden sind, bei denen also im sozialen Sinne kein Unterschied zu einem selbst besteht. Die defensiv eingestellten Mittelklassen verteidigen das Gymnasium als Refugium der Selbstähnlichkeit in einer Welt heilloser Differenzen. Wenn man unter sich bleibt, braucht man keine Angst davor zu haben, dass die Kinder falschen Kontakt pflegen und in der Phase des pubertären »Jugendirreseins«, wie das Eduard Spranger in der Psychologie des Jugendalters von 1924 genannt hat, auf die falsche Bahn geraten. Auf einem Gymnasium mit Erziehungsanspruch und Leistungsbetonung können die Eltern sich darauf verlassen, dass es für ihre Kinder so eingerichtet ist, dass die soziale Endogamie gewahrt bleibt.
Man weiß also von dieser Seite, worin die Probleme bestehen und was zu tun ist, und kennt sogar den Schuldigen, der alles verhindert. Dagegen kann nur eine vernünftige Mehrheit aus der Mitte unserer Gesellschaft etwas ausrichten, die Bildung als Bürgerrecht versteht. Entgegen einem ständischen Begriff von Bildung, der allein die Interessen einer bürgerlichen Klasse im Blick hat, zielt der Bürgerrechtsbegriff von Bildung auf das gesellschaftliche Fundament für die Freiheit des einzelnen. Es geht nicht um staatlich organisierte Nachhilfe für Spätentwickler und Zukurzgekommene, sondern um die Vermittlung der notwendigen Grundqualifikation des Staatsbürgers, der sich aus ungefragten Bindungen herausgelöst und zur Möglichkeit der Verwirklichung seiner Rechte befreit sieht.
Eine eingreifende Bildungspolitik wird dann zur Aufgabe eines Staates, der in der Bürgergesellschaft seinen Grund erkennt. So hatte es Ralf Dahrendorf schon 1965 in seiner bahnbrechenden Schrift Bildung ist Bürgerecht zum Ausdruck gebracht3: Um eine freie Gesellschaft zu errichten und zu erhalten, sei es unumgänglich, dass jeder Mensch Bürger sein kann nicht nur im Sinne seiner rechtlichen Chancen, sondern mehr noch im Sinne seiner sozialen Realitäten.4 Daher dürfe das Bürgerrecht auf Bildung nicht zur formalen Chancengleichheit verkürzt werden. Es gehe in der offenen Gesellschaft, die der Initiative und dem Individualismus Raum gibt, darum, jeden einzelnen über gute Bildung dazu in die Lage zu versetzen, von seiner Freiheit tatsächlich Gebrauch machen zu können. Dafür ist nur eine einzige institutionelle Form denkbar: Die Schule für alle.
So versorgt sich die eine Seite mit Argumenten aus der Bildungsdebatte der sechziger Jahre, die die vergessene Bildungsgesamtplanung, die überaus erfolgreichen Fachhochschulen und die weithin umstrittenen Gesamtschulen erbracht hat. Nicht wenige der Bildungsexperten, die sich heute zu Wort melden, haben ihre Wurzeln in diesem frühen Aufbruch zu einer »aktiven Bildungspolitik«.
Es gibt aber immer auch die anderen, die das alles hören, aber sich nicht länger als die Engherzigen und Arroganten beschimpfen lassen wollen, sondern Front machen gegen die außer Rand und Band geratenen Bildungsreformer, die sich in einer Haltung des »angemaßten Wissens«, wie ein Liberaler wie Friedrich August von Hayek sagen würde, über die Sorgen und Ängste der Eltern hinwegsetzen, die doch nur das Beste für ihre Kinder wollen.
Diese Mehrheit der bildungsbestrebten Eltern konstatiert eine beängstigende Steigerung von Leistungsanforderungen und von Zertifizierungsdruck im Bildungssystem und fühlt sich mit diesem zusätzlichen Erziehungsstress völlig allein gelassen. Die im Handstreich von der Bildungsverwaltung unter dem schnittigen Titel »G 8« durchgesetzte Reduzierung der Lernzeiten bis zum Abitur und zugleich die Nachrichten über unglaubliche Zulassungshürden für begehrte Universitäten versetzen einen in Unruhe. Besonders den erwerbstätigen Eltern, die beide einen guten Beruf haben, die Wert auf gute Manieren, gutes Essen und gute Bücher legen, nimmt das heutige Bildungssystem nichts ab. Im Gegenteil: Wenn es um den Kindergarten, wenn es um die Grundschule oder wenn es dann um das Gymnasium und wenn es schließlich um die Universität geht, versteht sich nichts mehr von selbst. Man kann doch sein Kind nicht einfach in den staatlichen Kindergarten in der Nähe oder auf die Grundschule im Quartier schicken, ohne vorher genaue Erkundigungen über entwicklungsanregende Vorschulerziehung und kompetenzfördernde Unterrichtsprogramme einzuziehen. Man wird geradezu dazu getrieben, wie aus dem Helikopter den Bildungsweg der eigenen Kinder zu manövrieren, zu unterstützen und zu überwachen.
Die gesamte Performanz des Bildungssystems hat sich in den letzten zehn Jahren gewandelt. Überall ist von »Exzellenz« die Rede, die man braucht, um sich auf der Welt gegen neue Konkurrenten durchsetzen zu können. Die Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit ist das unausgesprochene Erziehungsziel aller zur Förderung der Exzellenz ergriffenen Maßnahmen im Bildungssystem. Die internationalen Leistungsvergleiche der Bildungssysteme, von denen sich die Bildungspolitik offenbar antreiben lässt, unterstützen diesen Eindruck nur. Das beginnt bei exzellenten Kindergärten, die die Eigenkreativität fördern, exzellenten Grundschulen, die eine hohe mathematische mit einer breiten musischen Förderung verbinden, und führt weiter auf exzellente Gymnasien, die den Bildungshorizont erweitern und trotzdem die einschlägigen Fähigkeiten trainieren. Und natürlich muss es am Ende eine Exzellenzuniversität für das eigene Kind sein, die man immer noch in Großbritannien oder in den USA sucht, die aber dank der Exzellenzinitiative auch bald in Deutschland existieren soll.
Man sieht sich genötigt, den optimalen Weg durch die Systeme der primären, sekundären und tertiären Bildung zu finden, um seinem Kind die angemessenen Startchancen bieten zu können, die es in einer Welt gesteigerter Konkurrenzfähigkeit zum Überleben benötigen wird. Das bedarf unzähliger Gespräche mit Freunden und Bekannten und gezielter Recherchen im Internet und kostet nervige Abendunterhaltungen mit dem Partner und schlaflose Nächte.
Diese Eltern verstehen die Welt nicht mehr. Bei ihnen selbst haben sich die Eltern herzlich wenig darum gekümmert, auf welche Grundschule sie gehen, welches Gymnasium sie besuchen oder gar auf welche Universität sie wechseln sollten. Das wurde nach Erreichbarkeit und Günstigkeit entschieden. Man ging auf die katholische Grundschule fünf Straßen weiter, wählte das neusprachliche Gymnasium im Viertel und nahm die Universität, die man sich selbst ausgesucht hatte, weil dort auch der Freund hinging oder weil man von der ZVS dort hingeschickt wurde. Überlegungen, wie gut die Schule oder wie renommiert die Universität war, spielten ihrer Erinnerung nach keine Rolle. Dafür hätten ihren Eltern auch der Sinn und die Informationen gefehlt.
Was tun diese heute unter Stress gesetzten Eltern, wenn sie von der anderen Seite hören, dass unser Bildungssystem im Dienste der Bildungsverlierer grundsätzlich umgemodelt werden muss? Sie wählen nach und nach die stille Migration aus dem öffentlichen Bildungssystem, das sich in ihren Augen durch soziale Zwangsmischung selbst destruiert, weil es sich nur noch auf die potentiellen Bildungsverlierer ausrichtet und die faktischen Verhältnisse eines kulturellen Klassenkampfes zwischen den Kindern aus Familien, die aufs Kind zentriert sind, und solchen, die anscheinend auf nichts zentriert sind, ignoriert. Die vielen neu gegründeten Privatschulen, die es nicht nur in bestimmten Großstadtbezirken gibt, antworten auf diese Nachfrage. Das zum Teil beträchtliche Schulgeld kann man als Preis für die Segregationsprämie verstehen. Diese Schulen vermitteln mit Englisch als Unterrichtssprache, Biokost als Schulspeisung und Hockeyteams als Aushängeschild den Eltern den Eindruck, dass ihr Kind hier sicher nicht mit Kindern aus »gefährlichen Klassen« in Kontakt kommt.
Die verfahrene Lage besteht darin, dass es keine glaubhafte Metaposition zu geben scheint, die das Recht beider Seiten anerkennt und ein Gespräch über eine gemeinsame Perspektive ermöglichen würde. Die offenbaren Schwierigkeiten des Bildungssystems mit wachsenden Heterogenisierungen von Eingangsvoraussetzungen bei den Kindern sind nicht zu übersehen. Schon in fünf Jahren wird in den Großstädten die Hälfte der Schulanfänger einen Migrationshintergrund haben, was sich durch die einfache Frage operationalisieren lässt, ob ein Elternteil nicht in Deutschland geboren ist. Davor kann man sich selbst in besseren Bezirken nicht schützen. Man wird keinen sozialen Zaun um seinen Lebensort ziehen können, um neureichen Emporkömmlingen oder andersgläubigen Ausländern den Zugang zu verwehren.
Aber genauso offensichtlich sind die Statuserhaltungsinteressen der Mittelklassen. Es käme ebenfalls einer Realitätsverweigerung gleich, wollte man nicht konstatieren, dass sich durch die Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahre die Bildungsbasis in unserer Gesellschaft enorm erweitert hat und deshalb gerade die Bildungsaufsteiger ein verschärftes Interesse daran haben, dass ihre Kinder zumindest den Bildungsstatus der Eltern wieder erreichen. Diesen Schichten zuzumuten, sie sollten sich zu sozialem Märtyrertum bekennen und ihre Kinder als Einsätze für die Aushandlung eines neuen gesellschaftlichen Kompromisses zu sehen, ist wirklichkeitsfremd. Man kann in Deutschland gegen diese »Mehrheitsklasse« im Bildungssystem nichts auf den Weg bringen. Es hilft nichts, man wird eine dritte Position finden müssen.
Vor diesem Hintergrund bedeutete die Hamburger Entscheidung vom Sommer 2010, als durch einen Volksentscheid das Projekt der Einführung eines zweigliedrigen Schulsystems aus integrativen Stadtteilschulen mit darauf gesetzten exklusiven Gymnasien gekippt wurde, das Ende einer schönen Hoffnung. Der Schiffbruch dieses Projekts einer Koalition der Vernunft im Dienste bildungspolitischer Reformen hat nicht nur den Traum einer neuen Mitte aus sozialmoralisch konservativen und ökologisch reformerischen Kräften gründlich entzaubert, sondern die Fronten auf Dauer verhärtet. Was soll man machen, wenn die Vernünftigen, denen das Ganze am Herzen liegt, sich nicht durchsetzen können? Wenn eine breite parlamentarische Mehrheit von Rot, Grün und Schwarz nichts nützt? Wenn sogar das eigene Milieu nicht mitzieht?
Dann scheint es nur noch einen Ausweg gegen die Koalitionen des Privilegs und des Protektionismus zu geben: Die Verstärkung des staatlichen Zwangs gegen die verwilderten Eigeninteressen. Man muss die Gesellschaft zu ihrem Glück zwingen, sonst verwandelt sie sich nicht nur weiter in ein soziales Gefängnis, sondern sie verliert auch noch die innere Kraft zur Lösung der durch die vernachlässigte Pflege der Bildungsreserven entstandenen Probleme. Die Bildung ist ein öffentliches Gut, das man nicht dem Spiel der Partikularinteressen überlassen darf. Deshalb muss man umso hartnäckiger und nachdrücklicher eine aktive Bildungspolitik betreiben, die sich von jenen nicht schrecken lässt, die alles beim Alten lassen wollen.