Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-628-6
© 2014 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-281-3
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus Stempel Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde
Für Erna Staab
Für Ulli und Theo
Für Alma
IEinleitung
IIEinfache Dienstleistungsarbeit
Visionen und Konzepte
Einfache Dienstleistungsarbeit und Sozialstrukturanalyse
Institutionelle Arrangements
IIIArbeit! Macht! Herrschaft?
Wie hängen Macht und Herrschaft zusammen?
Arbeit als Ort der Verdichtung von Herrschaft?
Empirische Befunde arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung
IVLogiken der Unterwerfung
Soziale Sorge
Betreuter Konsum
Tertiäre »Männerarbeit«
Reine Gewährleistung
VDas Segment einfacher Dienstleistungsarbeit
Rationalisierung und die Vermachtung der Arbeitssituation
Unterschichtung
Lebensführung: Optionen und Sackgassen
Herrschaft und Proletarität in der Dienstleistungsgesellschaft
Danksagung
Literaturverzeichnis
Zum Autor
»Wer sich in seiner Lebensführung den Bedingungen kapitalistischen Erfolges nicht anpasst, geht unter oder kommt nicht hoch.«1
I |
Einleitung |
Die alte Bundesrepublik war lange Zeit eine Industriegesellschaft par excellence. Der soziale Kompromiss der Nachkriegszeit gewährleistete für »goldene dreißig Jahre« den Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten, der das institutionelle Rückgrat der Arbeitsgesellschaft bildete. Paradigmatisch lässt sich diese Erfolgsgeschichte an der Entwicklung der Industriearbeiterschaft ablesen. Die Arbeits- und Industriesoziologie stellt einen stetig fortschreitenden Prozess institutioneller und sozialer Integration der Industriearbeiter in der Nachkriegszeit fest: Korporatismus und Tarifautonomie gewährleisteten den materiellen Aufstieg, die Humanisierung des Arbeitsprozesses beseitigte die schwersten gesundheitlichen Belastungen, betriebsinterne Arbeitsmärkte boten Chancen sozialen Aufstiegs, die Anhebung des Lebensstandards gewährleistete immer größere Dispositionsspielräume in der Freizeit und entlastete das Leben vom Zwang »von der Hand in den Mund«2 leben zu müssen. Vom Schreckgespenst oder Hoffnungsfunken revolutionärer gesellschaftlicher Entwicklungen wurde die Industriearbeiterschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer tragenden Säule der bundesrepublikanischen Sozialordnung.
Viel ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten über den neoliberalen Angriff auf diese alte Ordnung geschrieben worden. Auch in den industriellen Kernsektoren der bundesrepublikanischen Arbeitswelt sind die Liberalisierungs- und Deregulierungspolitiken der vergangenen dreißig Jahre nicht folgenlos geblieben. Allerdings hat sich die institutionelle Ordnung des »Industrialismus«3 als erstaunlich anpassungsfähig und bemerkenswert stabil erwiesen.
Dennoch kann von einem fundamentalen Wandel moderner Arbeitsgesellschaften gesprochen werden, deren anderer Aspekt im Blick auf die Wirkmächtigkeit politisch-ökonomischer Ideologien allerdings allzu oft außen vor bleibt: Die Bundesrepublik ist nicht mehr ohne Weiteres als integrierte industrielle Sozialordnung beschreibbar. Das Kleinod, als das der altbundesrepublikanische soziale Kompromiss im Rückblick häufig dargestellt wird,4 zeigte spätestens in den 1980er Jahren deutliche Abnutzungserscheinungen und ist mittlerweile Geschichte geworden. Die Berliner Republik ist, trotz der im internationalen Vergleich noch immer beachtlichen Beständigkeit eines hoch produktiven industriellen Sektors, primär eine Dienstleistungsgesellschaft.5
Die wirtschaftliche Tertiarisierung bleibt nicht folgenlos für die institutionelle Ordnung des Arbeitsmarktes, sie verändert Tätigkeitsprofile und Organisationskontexte und beeinflusst Modelle der Lebensführung. Im Zuge dieses Wandels brechen neue Spaltungslinien in der bundesrepublikanischen Sozialstruktur auf, die das Thema der vorliegenden Studie sind. Es wird unter herrschaftstheoretischer Perspektive ein Segment der »Einfacharbeit« in den Blick genommen, das bisher beinahe unsichtbar im Schatten industrieller Tätigkeiten und hoch qualifizierter Dienstleistungsarbeit existierte: das Feld »einfacher« Dienstleistungsarbeit.
Die Invisibilität dieses Arbeitsmarktsegments spiegelt sich im alltäglichen Vollzug der betreffenden Tätigkeiten: Ob die Reinigung von Büroflächen, der Wachschutz für einen Industriekomplex, das Durch- und Einräumen in Supermärkten und Textilgeschäften oder der Transport unterschiedlichster Güter – immer handelt es sich um Repetitiv- und Normalisierungsarbeit, um Prozesse, die dann als erfolgreich gelten, wenn sie möglichst unbemerkt bleiben. Auch die wissenschaftlichen Prognosen zur Entwicklung von Dienstleistungsgesellschaften tragen dazu bei, dass die einfachen Dienste weitgehend im Dunkel öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit geblieben sind. Mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wurden vornehmlich positive Erwartungen verknüpft. Nicht umsonst trägt das wohl einflussreichste Buch zur erwarteten Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft den Titel »Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts«. Der Autor dieses Werks, Jean Fourastié, prognostizierte Ende der 1940er Jahre, die Expansion von Dienstleistungsarbeit würde vor allem saubere, gut bezahlte, wissensintensive, interaktive und von Autonomie geprägte Tätigkeiten entstehen lassen. Ein entscheidender Baustein in Fourastiés Theorie war seine Behauptung der Rationalisierungsresistenz von Dienstleistungen: Der Industriearbeiter6 war im Taylorismus zum Knecht der Technik geworden, leicht ersetzbar und von seiner Tätigkeit entfremdet, die in immer kleinere Einzelschritte zerlegt worden war. Technische Rationalisierung war die Grundlage des Arbeitsprozesses und drohte stets menschliche Arbeit zu entwerten und tendenziell überflüssig zu machen. Technik war Herrschaft. Dienstleistungen, so Fourastié, funktionierten dagegen im direkten Gegenüber von Kunden und Dienstleistern. Im Prozess der Leistungserbringung seien permanente Abstimmungen notwendig, der Arbeitsprozess könne technisch nicht entscheidend beschleunigt werden. Die Dienstleistungsgesellschaft projizierte eine Humanisierung der Arbeitswelt, die sich letztlich auch in einer Beruhigung sozialstruktureller Verwerfungen ausdrücken werde. Die zyklischen Krisen der Industriegesellschaft seien in einer »tertiären Zivilisation«7 nur noch dunkle Erinnerungen.
Heute wissen wir, dass diese Erwartungen zumindest teilweise enttäuscht wurden. Spätestens seit den 1990er Jahren erhielt das Bild einer allgemeinen Meliorisierung durch die Transformation der Arbeitswelt Risse. Mit der Realisierung dessen, was in den 1950er Jahren noch als optimistische Vision einer postindustriellen Gesellschaft verkündet worden war, traten auch deren Schattenseiten ans Licht: Tertiarisierung erzeugte keine allgemeine Humanisierung und Aufwertung der Arbeit. Sie führte auch zur Expansion atypischer Beschäftigung und zur Etablierung von Niedriglohnsegmenten, die der korporatistischen Regulierung noch heute schwer zugänglich sind. Die soziologische Sozialstrukturanalyse hat diese Entwicklung früh registriert und darauf schon Anfang der 1990er Jahre mit der Frage nach der Entstehung eines postindustriellen Proletariats8 reagiert. War ein solches Dienstleistungsproletariat9 zu dieser Zeit noch schwer nachzuweisen, so operieren jüngere Arbeiten erfolgreich mit dem Konzept und liefern detaillierte statistische Erkenntnisse zu dieser Gruppe.10
Die Sozialstrukturanalyse scheint hiermit allerdings eine Frage aufzuwerfen, die sie alleine nur begrenzt beantworten kann. Die Konstatierung statistischer Aggregate im Rahmen der Sozialstruktur liefert erste Hinweise auf den spezifischen institutionellen Rahmen der einfachen Dienste und deren quantitative Bedeutung in der Arbeitsgesellschaft der Gegenwart. Betriebliche Bedingungskontexte der möglichen Proletarisierung von Dienstleistungsarbeit und die Folgen für Subjektkonstitutionen streift sie nur am Rande. Diese beiden Fragen jedoch gehören zum Kerngeschäft der Arbeits- und Industriesoziologie. Betriebliche Entstehungskontexte sozialstruktureller Entwicklungen thematisiert sie klassisch über die Frage der Rationalisierung des Arbeitsprozesses. Subjektivierungsdynamiken spielen von jeher eine Rolle im Rahmen der Arbeiterbewusstseinsforschung. Die Arbeits- und Industriesoziologie hat es in der alten Bundesrepublik verstanden, diese Teilaspekte sozialen Wandels auf die Erkenntnisse der Sozialstrukturanalyse zu beziehen. Hiervon zeugt die bereits angesprochene Debatte um die Entwicklung der Industriearbeit. Sie stand gesellschaftsdiagnostisch unter dem Stern des Marx’schen Proletarisierungstheorems. Die Kernfrage lautete, ob sich im Arbeitsprozess Dynamiken ausmachen ließen, die auf eine Abwertung »lebendiger« Arbeit und damit in Richtung einer Proletarisierung der Industriearbeiter deuteten. Es ging um die empirische Kontextualisierung optimistischerer Befunde zur Entwicklung der Sozialstruktur wie Helmut Schelskys Nivellierungsthese11 und Theodor Geigers Analyse einer Pluralität der Schichtungen.12 In diesem Spannungsfeld entwickelte die Arbeits- und Industriesoziologie ihr empirisches und theoretisches Programm. Ihre Diagnosen bündelten sich im Kern in der Analyse der Aufwertung der Industriearbeit. Diese fand ihren Spiegel in einer »mentalen Entproletarisierung«. Dichotomistische Deutungen, die noch den ersterbenden Funken eines klassenkämpferischen Weltbildes enthielten, wichen einer stärker instrumentellen Bezugnahme auf die eigene Arbeit. Ein gestiegener materieller Dispositionsspielraum ermöglichte eine Differenzierung von Modellen privater Lebensführung.
Die vorliegende Studie orientiert sich explizit an klassischen Arbeiten der Arbeits- und Industriesoziologie. Dies gilt vor allem für die thematische Ausrichtung: Es wird die Frage nach einem möglichen Proletarisierungsprozess gestellt, der nicht die Industriearbeit, sondern die einfachen Dienste betrifft. Ganz im Sinne klassischer Arbeiten wird dabei die Verbindung von Sozialstruktur, Arbeitssituation und Lebensführung gesucht.
Die Datenerhebung zur vorliegenden Studie fand zwischen Sommer 2010 und Frühjahr 2012 statt. Zunächst wurden einige Experteninterviews geführt, die helfen sollten, das empirische Feld für die Datenerhebung zu strukturieren und Ratschläge für den Feldzugang einzuholen. Anschließend wurden über drei methodische Instrumente Daten für die Arbeitssituationsanalysen13 und die Frage nach Lebensführungsmodellen14 gesammelt. Untersucht wurden Arbeitssituationen in der Pflegearbeit, im Einzelhandel, in Zustellunternehmen und in Reinigungs- beziehungsweise anderen rein gewährleistenden Tätigkeiten.15 Beobachtungsdaten, erhoben einerseits im Bereich der konkreten Ausführung der Arbeit, andererseits im Bereich von Freizeit und Familienleben, bilden die erste Säule der Untersuchung.16 Die vorliegende Studie verfolgt einen praxistheoretischen Ansatz.17 Beobachtungsdaten ermöglichen einerseits, die Materialität von Praxis in den Arbeitssituationen zu erfassen. Andererseits bieten sie einen Zugang zu Praktiken alltäglicher Lebensführung. Ergänzt wurden die Beobachtungsdaten durch 18 Experteninterviews18 und 50 halbstrukturierte Interviews mit Arbeitnehmern. Ziel der Interviews war einerseits die Erhebung von Kontextwissen sowie andererseits der Zugang zu »subjektiven Erfahrungen«19 und arbeitsbezogenen Deutungsmustern. Gerade kollektive Deutungsmuster wurden auch über den dritten methodischen Baustein der vorliegenden Studie, über Gruppendiskussionen20 mit Arbeitnehmern, erhoben. Diese dienten auch der »Simulation« und Thematisierung von Konflikten, die die Arbeitssituationen, aber auch die allgemeine soziale Situation, in der sich die Arbeitnehmer befinden, prägen. Die Stellungnahmen der Beschäftigten zu solchen Problemkontexten haben daher Eingang in die Arbeitssituationsanalysen gefunden. Obwohl die einzelnen Unternehmen nicht zeitgleich untersucht wurden, kehrte ich doch immer wieder zu einzelnen Schlüsselpersonen vorangegangener Betriebsfallstudien zurück, um mich über den weiteren Verlauf der Verhältnisse in den Unternehmen zu erkundigen. So konnten in vielen Fällen, jenseits zeitlich beschränkter Beobachtungen und der Rekonstruktion der Vergangenheit aus den Interviews, Daten zur Entwicklung spezifischer Dynamiken im Zeitverlauf gesammelt werden. Der Feldzugang erwies sich in den repressiven Arbeitsumwelten der einfachen Dienste als äußerst schwierig.
Schon in den klassischen Studien der Arbeits- und Industriesoziologie bildete der Begriff der Herrschaft den Anker für die Fragen nach den betrieblichen Entstehungs- und Reproduktionskontexten von Proletarität sowie deren Auswirkungen auf die mentale Struktur und das Handeln der Subjekte. Auch in der vorliegenden Studie wird der Blick in diesem Sinne auf die systematische Produktion und Verstetigung sozialer Asymmetrien gerichtet.
Der Herrschaftsbegriff impliziert Aussagen über Gesellschaft in der Form eines generellen Zusammenhangs. Am prominentesten stehen für diesen Anspruch die beiden Väter der Herrschaftssoziologie, Karl Marx und Max Weber. Sosehr sich Webers Analysen gesellschaftlicher Rationalisierung21 von Marx’ Beschreibungen des strukturellen Herrschaftsverhältnisses auf Basis des Gegensatzes von Kapital und Arbeit auch unterscheiden mögen, im Anspruch der Generalität, für den der Herrschaftsbegriff in Anschlag gebracht wird, sind sich die beiden Klassiker einig.
Die Arbeits- und Industriesoziologie thematisierte Herrschaft klassisch unter Marx’scher Perspektive.22 Ihm folgend war unstrittig, dass die Disziplin den Finger am Puls der gesellschaftlichen Verhältnisse hatte, konnte der Industriebetrieb doch als der privilegierte Ort gesellschaftlicher Herrschaft und sozialen Wandels verstanden werden. Herrschaft im Bereich der Arbeit wurde vornehmlich über das Paradigma technischer Rationalisierung thematisiert. Sie wurde, mit anderen Worten, als Grundlage des Arbeitsprozesses betrachtet.
Die zeitweilige Dominanz dieser theoretischen Ausrichtung der Arbeits- und Industriesoziologie hatte unter anderem zur Folge, dass der Industriebetrieb lange der entscheidende Bezugspunkt der empirischen Forschung war.23 Veränderungen der Arbeitswelt im Zuge der Tertiarisierung der Tätigkeitsstrukturen wurden nicht systematisch erfasst.24 Doch erklärt die empirische Fixierung auf Industriearbeit alleine nicht, warum die Arbeitssoziologie bezüglich der einfachen Dienste bisher weitgehend stumm geblieben ist. Zwei Probleme können diesen Sachverhalt erhellen: Zum einen ist der Generalitätsanspruch des Herrschaftsbegriffs der Industriesoziologie in eine grundsätzliche Krise geraten. Mit welchem Recht soll im Zuge fortschreitender sozialer Differenzierung eine »herrschaftstheoretische Privilegierung« der Arbeitsforschung behauptet werden? Nicht nur hat sich die Arbeitswelt differenziert, weswegen von einer grundsätzlichen diagnostischen Vorherrschaft der Industriearbeit nicht mehr ausgegangen werden kann. Auch ob das Feld der Arbeit an sich als dominanter Ort für gesellschaftliche Herrschaft verstanden werden kann, darf beispielsweise im Zuge der politischen Determinierung der Arbeitswelt durch den Wohlfahrtsstaat und milieuspezifischer Differenzierungsprozesse in der Sozialstruktur bezweifelt werden. Zum anderen ist unklar, wo arbeitssoziologische Herrschaftsforschung anzusetzen hat, wenn von einer klaren technischen Determinierung des Arbeitsprozesses nicht mehr ohne Weiteres ausgegangen werden kann. Technik duldete keine Widerrede, das Fließband war auf Zustimmung und aktive Beförderung durch die Arbeiter nicht angewiesen. In der Dienstleistungsarbeit verhält es sich anders: Ohne Technik muss Disziplin durch »soziale Rationalisierungsstrategien«25 gesichert werden. Aushandlungsprozesse, die den Charakter von Herrschaft verändern, sind die notwendige Folge. Herrschaft im Bereich der Arbeit kann, anders gesagt, nicht mehr als Grundlage des Arbeitsprozesses verstanden werden. Sie ist sein Effekt.
Aus beiden Problemen, der »Generalitätskrise« und der »Grundlagenkrise«, sind spezifische Konsequenzen zu ziehen. Erstens muss der Stellenwert, den eine Analyse betrieblicher Rationalisierungs- und Ordnungsprozesse im Rahmen der Frage nach genereller Herrschaft beanspruchen kann, empirisch ausgewiesen werden. Der Blick auf das Feld der Arbeit alleine genügt hierfür nicht. Arbeitsforschung, Sozialstrukturanalyse und Lebensführungsmodelle müssen in eine systematische Beziehung zueinander gesetzt werden. Herrschaft bezeichnet dann eine allgemeine Zusammenhangshypothese, die nicht notwendig auf einen Substanzbegriff26 angewiesen ist, sondern die Verbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Arenen bei der Reproduktion systematischer Asymmetrien in den Blick nimmt. Reproduktionslogiken sozialer Ordnungszusammenhänge sind dabei von entscheidender Bedeutung, weil Herrschaft auf stabile Asymmetrien verweist. Zweitens muss ein analytisches Programm entwickelt werden, das es ermöglicht, Herrschaft als Effekt von Interaktionen zu erfassen. Es muss eine empirische Perspektive ausgewiesen werden, die die strukturellen Resultate der Interaktionen der entscheidenden Akteure des Feldes in den Blick nimmt.
Thema der vorliegenden Studie ist Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit. Der Herrschaftsbegriff verspricht einerseits die Integration unterschiedlicher Teilaspekte des untersuchten Phänomens unter gesellschaftstheoretischer Perspektive. Andererseits ermöglicht er die Thematisierung systematischer Asymmetrien in der Arbeitsgesellschaft der Bundesrepublik, die bisher ein Schattendasein führten. Hierfür muss zunächst der Gegenstandsbereich der Forschung veranschaulicht werden. In Kapitel II der vorliegenden Arbeit wird daher das Segment einfacher Dienstleistungsarbeit umrissen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der institutionellen Eingebundenheit der einfachen Dienste.
Das dritte Kapitel behandelt den Herrschaftsbegriff. Der erste Teil des Kapitels wird sich der Frage widmen, warum der Blick auf Herrschaft als generelle Kategorie unerlässlich und wie eine solche Perspektivierung konzeptionell möglich ist. Im zweiten Teil des Kapitels wird der Blick auf die empirischen und gesellschaftsdiagnostischen Ergebnisse arbeitssoziologischer Herrschaftsforschung gerichtet. Die Literatur zu diesem Thema füllt Regale. Ungeachtet möglicher theoretischer Kritik an vielen herrschaftssoziologischen Studien sind ihre Ergebnisse doch wichtig für ein gesellschaftsdiagnostisch tragfähiges Verständnis der Konzeption und des Stellenwerts der Erforschung einfacher Dienstleistungsarbeit. Das vierte Kapitel bildet den Kern der Untersuchung: Es werden insgesamt neun Betriebsfallstudien aus vier verschiedenen Bereichen einfacher Dienstleistungsarbeit präsentiert und verglichen. Die Fälle sind so arrangiert, dass einerseits die Reihenfolge der Branchen auch die Stärke der Betroffenheit von betrieblichen Rationalisierungsstrategien beschreibt. Andererseits sind die Fallstudien in den einzelnen Branchen so arrangiert, dass sie jeweils zwei äußere Pole bezüglich der Form und teilweise der Radikalität von Herrschaftsmechanismen bestimmen.27 Über die Darstellung von Aspekten der Lebensführung wird zudem verdeutlicht, in welcher Form Arbeit weitere Lebenszusammenhänge prägt. Im fünften Kapitel werden die Fallstudien verdichtet und allgemeine Aussagen über die Mechanismen der Durchsetzung von Rationalisierungsstrategien und deren Effekte formuliert. Die theoretische Bündelung dieser Ausführungen bildet die Diagnose unterschiedlicher Variationen einer spezifischen Herrschaftslogik im Bereich der einfachen Dienste, die zu Logiken der Lebensführung von Beschäftigten in Beziehung gesetzt wird. Diese Herrschaftslogik fasst Prozesse der Etablierung und Stabilisierung sozialer Ordnungen und verweist zugleich auf die Frage der Proletarisierung. In einem abschließenden Punkt wird daher Bilanz gezogen und ein Vorschlag zur gesellschaftsdiagnostischen Interpretation der Ergebnisse unterbreitet. Insbesondere wird die Frage beantwortet, welche Stellungnahmen zum Thema der Proletarität in der Dienstleistungsgesellschaft die erfolgten Analysen nahelegen. Die vorliegende Arbeit will und kann natürlich nicht abschließend bilanzieren: Ihr Anliegen ist, ein Segment zu erschließen, das noch immer im Schatten der Arbeitsgesellschaft steht.
1Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 92.
2Bahrdt, »Die Angestellten«, S. 16.
3Baethge, »Der unendlich lange Abschied vom Industrialismus«; ders., »Abschied vom Industrialismus«.
4Es handelt sich hierbei freilich um eine normative Rekonstruktion, die mit der Realität der Industriegesellschaft nur teilweise korrespondiert.
5Rainer Geißler versucht, dieses scheinbar paradoxe Phänomen mit dem Hybridbegriff »industrielle Dienstleistungsgesellschaft« zu benennen. Die unterschiedlichen Aspekte der Dominanz von Dienstleistungen in der bundesrepublikanischen Arbeitsgesellschaft werden in Kapitel II ausführlich dargestellt.
6Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird zum Zwecke besserer Lesbarkeit in der Regel die männliche Form verwendet. Die Aussagen beziehen sich selbstverständlich auf beide Geschlechter, sofern der Text eine anderweitige Aussage nicht explizit nahelegt. In einigen Ausnahmefällen wird, wiederum im Dienste des bestmöglichen Textflusses, von dieser Faustregel abgewichen.
7Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts.
8Vgl. Esping-Andersen, »Post-industrial Class Structures«.
9Vgl. Bahl/Staab, »Das Dienstleistungsproletariat«.
10Oesch, Redrawing the Class Map; die Ergebnisse der Sozialstrukturanalyse werden im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausführlich besprochen.
11Schelsky, »Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs«.
12Geiger, Klassengesellschaft im Schmelztiegel; Vester, »Was wurde aus dem Proletariat?«.
13Vgl. Thomas, Analyse der Arbeit; Georg/Meyn/Peter, Arbeitssituationsanalyse; den Überlegungen Konrad Thomas’ folgend wird die Arbeitssituation als kleinste Beobachtungseinheit, als »Zelle des Arbeitslebens« verstanden. Die Situation bildet den Rahmen des konkreten Arbeitsprozesses, in dem alltägliche Praxis und herrschaftsrelevante Konflikte in einem gemeinsamen Kontext analysiert werden können. Deutungsmusteranalysen (vgl. Oevermann, »Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern«; Matthiesen, »›BOURDIEU‹ und ›KONOPKA‹«; Neuendorff/Sabel, »Zur relativen Autonomie der Deutungsmuster«; Lüders, »Deutungsmusteranalyse«) ergänzen die handlungstheoretische Analyse der Situation, indem sie die Übersetzung der konkreten Erfahrung der Arbeitenden in deren spezifische Deutung leisten, die in der Folge wiederum handlungsleitend wirken kann. Im Blickfeld des Forschungsvorhabens stand in erster Linie die Kategorie der typischen Arbeitssituation, das heißt die Elemente der Alltagssituation unter Einbeziehung des alltäglichen Erlebens der Beschäftigten. Fragen der Antizipation und Austragung sozialer Konflikte, spezifische Problemlagen des alltäglichen Arbeitsvollzugs und der rahmengebenden Rolle von Kontrollstrategien rückten daher in den Blick.
14Ausgerichtet war die Analyse dabei am Konzept alltäglicher Lebensführung, wie es seit den 1980er Jahren im Rahmen des Münchner Ansatzes subjektorientierter Soziologie verwendet wird (vgl. Voß, Lebensführung als Arbeit; Jurczyk/Rerrich, Die Arbeit des Alltags; Projektgruppe »Alltägliche Lebensführung«; Weihrich/Voß, »Tag für Tag«).
15Die Fallauswahl orientierte sich an der Definition des Dienstleistungssektors gemäß der europäischen Arbeitskräftestichprobe. Hier werden produktionsbezogene, konsumorientierte, soziale und distributive Dienstleistungen unterschieden. In der vorliegenden Studie wird ein praxistheoretischer Ansatz verfolgt, weswegen besonderes Augenmerk auf die Materialität spezifischer Tätigkeiten gelegt wird. Produktionsnahe Dienstleistungen wurden daher nur am Rande (beispielsweise Beobachtungen externer Reinigungsdienste in einem Industriebetrieb) in den Blick genommen, weil davon auszugehen ist, dass es sich dabei entweder um Tätigkeiten handelt, die, ihrem materialen Profil gemäß, eigentlich industrielle Arbeit sind (bestimmte Formen der Leiharbeit beispielsweise), oder um solche, die prinzipiell produktionsnah und produktionsfern erfolgen können (wie Reinigungstätigkeiten).
16Die Anzahl der Beobachtungen zu benennen fällt nicht ganz leicht. Protokolliert wurden 24 Beobachtungen in Arbeitssituationen und 28 Beobachtungen in privaten Zusammenhängen. Faktisch sind Informationen aus vielen weiteren Feldterminen in die Analyse mit eingeflossen: zahlreiche Gespräche auf Betriebsversammlungen, an Stammtischen oder in privaten Wohnzimmern beispielsweise, die nicht separat protokolliert wurden.
17Vgl. Reckwitz, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«; ders., »Praktiken und Diskurse«.
18Vornehmlich mit Funktionären, Gewerkschaftern, Betriebsräten und Wissenschaftlern.
19Merton/Kendall, »Das fokussierte Interview«, S. 171.
20Vgl. Mangold, Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens; es wurden insgesamt drei homogene Gruppendiskussionen mit zwischen vier und acht Teilnehmern durchgeführt.
21In Webers Fall ist dieser Begriff selbstverständlich nicht auf den betrieblichen Kontext reduziert.
22Sei es nun in inhaltlich-konzeptioneller oder lediglich in thematischer Hinsicht (Brandt, »Marx und die neuere deutsche Industriesoziologie«).
23Freilich trat mit der Angestelltenforschung schon sehr früh ein weiteres Forschungsfeld in den Blick der Analyse. Auch hier dominierten allerdings, wie später gezeigt werden wird, die konzeptionellen Paradigmen der Industrieforschung.
24Brose, »Proletarisierung, Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit«, S. 133.
25Auf diesen Begriff wird im Laufe des dritten Kapitels der vorliegenden Studie ausführlich eingegangen.
26Beispielsweise »Kapital« oder »Rationalisierung«.
27Die drei Fallstudien zum Einzelhandel bilden hier eine Ausnahme: Sie können gewissermaßen »hierarchisch« gelesen werden. Von der ersten bis zur dritten Fallstudie im Einzelhandel nimmt der Durchsetzungsgrad betrieblicher Rationalisierungsstrategien zu.
»Man muss der Versuchung widerstehen, die Erfolgsgeschichte der Lohnarbeit als Kontinuität zu lesen.«1
II |
Einfache Dienstleistungsarbeit |
Im folgenden Kapitel steht die Frage im Vordergrund, welche Erkenntnisse über das Segment einfacher Dienstleistungsarbeit die Soziologie in der Bundesrepublik bisher zusammengetragen hat. Dazu muss zuallererst verdeutlicht werden, was mit dem Begriff der Dienstleistung innerhalb der soziologischen Debattenlandschaft eigentlich benannt wird. Im Zeichen einer veränderten Arbeitswelt wird der Begriff unterschiedlich gedeutet. Die inhaltliche Markierung des Dienstleistungsbegriffs ist daher ein notwendiges Element der Sachklärung.
Spätestens Mitte der 1970er Jahre zeigt sich ein steigendes wissenschaftliches und öffentliches Interesse für die Frage nach der Rolle von Dienstleistungsarbeit in modernen Arbeitsgesellschaften2. Zu dieser Zeit beginnt sich ein Wandel abzuzeichnen, weg von einer Strukturdominanz industrieller Produktion, hin zu maßgeblich durch Dienstleistungstätigkeiten bestimmten Arbeitswelten. Heute arbeiten fast drei Viertel, nämlich 73,5 Prozent, der Erwerbstätigen im tertiären Sektor.3
Schon weit früher, nämlich 1949, hatte der französische Ökonom Jean Fourastié diese Strukturveränderungen in modernen Gesellschaften vorausgesagt.4 Fourastié prognostiziert in Anschluss an die Drei-Sektoren-Theorie Colin Clarks’5 den Aufstieg des Dienstleistungssektors zum dominierenden Arbeitsmarktsegment moderner Gesellschaften. Eine durch technischen Fortschritt immer stärker rationalisierte Produktion setze demnach zunehmend Arbeitskräfte frei. Gleichzeitig erwartet Fourastié eine quantitative Expansion von Dienstleistungsarbeit, die mit deren materialem Charakter zusammenhängt. Den Kerngedanken bildet dabei das Uno-Actu-Prinzip, also die Definition des Dienstleistungsprozesses als Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumtion. Ein häufig bemühtes Beispiel hierfür betrifft etwa den Friseurbesuch, bei dem die Konsumtion der Leistung (des Haarschnitts) zeitgleich mit dessen Produktion durch den oder die Dienstleistende (das Schneiden der Haare) stattfindet. Die Dienstleistungsbeziehung stellt damit besondere Forderungen an die Beteiligten des Handlungszusammenhangs, verlangt sie doch eine gewisse Kooperation und Koproduktivität zwischen Leistungserbringer und Konsumenten. Aus diesem Umstand ergibt sich eine geringe Chance zur Produktivitätssteigerung6 in Dienstleistungsarbeit, weil eben der Arbeitsprozess weder in größeren Maße arbeitsteilig zerlegt noch maschinisiert werden kann. Zusätzlich zu diesem interaktiven Aspekt ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumtion außerdem, dass eine Dienstleistung weder gelagert noch transportiert werden kann. Sie muss vor Ort erbracht werden, was Rationalisierungschancen durch Zergliederung der Produktion nochmals einschränkt. So kann Dienstleistungsarbeit als rationalisierungsresistent7 gekennzeichnet werden.
Fourastié stellt seiner Beschreibung dieser Rationalisierungsresistenz außerdem eine kulturelle Dimension zur Seite, indem er nach der Rolle des Konsumenten fragt. Denn aus der in weiten Bereichen komplexen, geistigen Arbeit der Dienstleistungsgesellschaft ergibt sich nach Fourastié ein unstillbarer »Hunger nach Tertiärem«8 aufseiten der Konsumenten, der das Wachstum des Dienstleitungssektors trägt. Die Gesellschaft entwickelt sich sukzessive auf eine Dominanz des tertiären Sektors zu, die von veränderten Konsummustern getragen ist. Schon der Titel von Fourastiés Buch verdeutlicht dabei, dass der Autor diese Entwicklung für durchaus begrüßenswert hielt. Gerade der nicht-progressive Charakter von Dienstleistungsarbeit, also deren Rationalisierungsresistenz, verbürgt für Fourastié die Hoffnung auf eine heilsame wirtschaftliche Stagnation, die den nervösen Wachstums- und Überproduktionskrisen des Kapitalismus ein Ende macht. Andere Prognostiker haben sich der Emphase dieser Vision angeschlossen. Daniel Bell etwa sah in der Vergeistigung dienstleistender Tätigkeiten bereits das Ende einer klassenförmigen Gesellschaftsformation heraufziehen, da Wissen als strukturierendes Prinzip an die Stelle von Eigentum trete.9 Gartner/Riessman dagegen schlossen an die aufgewertete Rolle des Kunden in der Dienstleistungsbeziehung an und sahen eine Art Konsumentendemokratie am Horizont der gesellschaftlichen Entwicklung aufblitzen.10
Gemeinsam ist all diesen Arbeiten eine grundsätzlich positive Vision der sozialen Potenziale der Tertiarisierung, die sich nicht zuletzt aus der kategorialen Gegenüberstellung von Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ergibt. Abstumpfung und Entfremdung werden auf der Seite der Arbeitenden von Vergeistigung und interaktiver Kooperation abgelöst. Betriebliche Rationalisierung und die systemischen Krisen des Kapitalismus verschwinden zugunsten von interaktiver Zusammenarbeit und langfristiger Stabilität. Die positive Konnotation dieser Entwicklung wird zu einem großen Teil aus der Bestimmung des materialen Charakters von Dienstleistungsarbeit gewonnen, die sich, mit Daniel Bell gesprochen, im Kern als »Spiel zwischen Personen«11 zeigt. Im seinerzeit prognostizierten Wandel der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft wurde der rein in der Interaktion ausgeführten Dienstleistungsarbeit ein utopisches Potenzial zugewiesen, das die Befreiung von ökonomischen Krisen und herrschaftsförmiger Abhängigkeit von den Produktionsmittelbesitzern versprach.
In der alten Bundesrepublik haben Anfang der 1980er Jahre unter anderem Johannes Berger und Claus Offe die Debatte um das Entstehen der Dienstleistungsgesellschaft aufgenommen.12 Sie unterscheiden zwei Ansätze der Herangehensweise an eine Definition von Dienstleistungsarbeit. Zum einen fungiere diese im Kern als eine »Residualkategorie«13 für all jene Tätigkeiten, die im primären (Landwirtschaft) und sekundären (Industrie) Sektor nicht unterzubringen seien. Dienstleistungsarbeit werde als eine lediglich negativ definierte Restkategorie verstanden. Dagegen setze der zweite Strang am »technisch-stofflichen Charakter«14 von Dienstleistungen an, versuche diese also aus ihrer abstrakten Gemeinsamkeit, etwa der Unmöglichkeit der Übertragung von Leistungen in Raum und Zeit, oder ihrer geringen Potenziale für Produktivitätssteigerungen15 zu erklären.16
Dagegen wollen Berger/Offe den Dienstleistungssektor weder als reine Residualkategorie noch weitgehend eigenständig, sondern in seiner relationalen Beziehung zu Fragen gesellschaftlicher Reproduktion bestimmen. Ihnen folgend dient die kategoriale Unterscheidung zwischen Produktions- und Dienstleistungsarbeit dann vor allem einem Verständnis von letzterer als Phänomen der Optimierung gesellschaftlicher Reproduktion. Dienstleistungstätigkeiten haben unter dieser Perspektive vor allem die Funktion, in vielerlei Hinsicht zur Verbesserung der Produktivität innerhalb eines wirtschaftlichen Zusammenhangs beizutragen. Der Dienstleistungssektor bezeichnet dann »die Gesamtheit jener Funktionen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess […], die auf die Reproduktion der Formalstrukturen, Verkehrsformen und kulturellen Rahmenbedingungen gerichtet sind, unter denen die materielle Reproduktion der Gesellschaft stattfindet.«17 In anderen Worten: Kinder müssen betreut, Menschen transportiert und Haare akkurat geschnitten werden, damit der gesellschaftliche Reproduktionsprozess gewährleistet bleibt. Dienstleistungen mögen selbst wenig progressiv sein, doch werden sie unter dieser Perspektive zum Rationalisierungsinstrument für progressive Bereiche gesellschaftlicher Produktion. Planende, prozessstrukturierende Dienstleistungen, etwa von Ingenieuren, dienen der Rationalisierung industrieller Tätigkeiten. Außerfamiliale Kinderbetreuung ermöglicht die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen und Männern, die sonst von familiären Pflichten absorbiert wären. Kurz gesagt: Dienstleistungsarbeit ist Gewährleistungsarbeit, insofern sie den reibungslosen Ablauf gesellschaftlicher Reproduktion garantiert und optimiert. Diese Globaldefinition hat einiges für sich, lässt sich doch unter dem Paradigma der Gewährleistung auch der konkrete Arbeitsprozess denken. Eine Pflegekraft etwa gewährleistet den reibungslosen Ablauf des Alltags des Patienten. Ebenso gewährleistet die Arbeit einer Reinigungskraft den reibungslosen Ablauf von Büroarbeit, die ihrerseits möglicherweise Arbeiten im Produktionsbereich koordiniert.
Dennoch ist die Definition von Dienstleistungen als Gewährleistungsarbeit weniger präzise bezüglich ihres materialen Profils als ihrer Bestimmungen in den Arbeiten von Fourastié und dessen Epigonen. Daher hat die Arbeits- und Industriesoziologie unter dem Schlüsselbegriff »interaktive Arbeit«18 wieder an diese Konzepte angeschlossen. Die Debatte hat sich dabei des »geschichtsphilosophischen Ballastes« der Klassiker entledigt und nimmt Interaktivität zum Ausgangspunkt für eine empirische Erforschung des Arbeitsprozesses.
Konzeptionell befreit das Interaktivitätskonzept Dienstleistungen aus ihrer negativen Abgrenzung im Sinne des »Nicht-Sachgutes«19 und liefert hilfreiche Anregungen für die Frage nach Macht und Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit. Immaterialität und in der Folge Invisibilität und Vergänglichkeit als zentrale Bestimmungskriterien von Dienstleistungen gelten nicht als defizitär. Nicht mehr allein stehen das materielle Produkt am Ende sowie technischer Wandel und Rationalisierung als klassische industriesoziologische Kategorien der Analyse von Herrschaft im Fokus, innerhalb derer Gebiete von Dienstleistung eben lediglich als rationalisierungsresistent zurückbleiben. Vielmehr geraten die vielfältigen Kontrolldilemmata in den Blick, die sich zwischen Organisation, Kunde und Dienstleister ergeben können.20
Dies hat auch Folgen für die Frage nach Macht und Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit. Diese muss jetzt neben der klassischen Frage technischer oder bürokratischer Rationalisierung auch Fragen nach Kontrolle im Gefolge expansiver Interaktivität auf der Agenda haben. In der Debatte um interaktive Arbeit wird vornehmlich die Interaktion zwischen Kunde und Dienstleister im Sinne des Uno-actu-Prinzips als herrschaftsrelevanter Faktor betont21 beziehungsweise auf die triadische Struktur der Kontrollbeziehung zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Kunden abgestellt22. In Bezug auf einfache Dienstleistungsarbeit liegt hier eine unnötige Beschränkung der Interaktivitätsforschung. Macht- und herrschaftsrelevant sind nicht nur Interaktionen zwischen Kunde und Dienstleistern, sondern vor allem zwischen einzelnen Dienstleistern,23 wie in Kapitel IV gezeigt wird.
Dennoch: Auch der Fokus auf die Interaktion zwischen Dienstleistern und Kunden eröffnet bereits ein breites Feld empirischer Forschung, das interessante Befunde für die Frage nach Macht und Herrschaft bereithält. Denn der Konsument ist ja nicht Dienstleistungsnehmer allein, sondern wird zum »Mitproduzenten«24. Dabei fällt mit der Betonung von Interaktivität und der damit einhergehenden Re-Personalisierung25 zudem der Blick auf eine mit Dienstleistungen unweigerlich verbundene Durchmischung von Rolle und Person. Die Dienstleister sollen sich als ganze Personen in Beratung, Pflege oder Betreuung einbringen und machen sich dadurch auch persönlich verletzlich, da sie direkt dem Kunden gegenübertreten. Welchen Einfluss diese interaktive Produktionsform auf Herrschaftsstrukturen und Konfliktfelder in der Arbeitswelt hat, ist also eine Frage, die im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit gestellt werden muss.
Die veränderte Rolle des Kunden als zentraler Autorität26 des Dienstleistungsgeschehens verlangt darüber hinaus einen neuen Blick auf die klassische Akteurskonstellation Arbeitgeber-Arbeitnehmer. Denn diese, so kann man zumindest vermuten, verschiebt sich perspektivisch in Richtung einer Triade der Macht, bestehend aus Organisation, Kunde und Beschäftigtem.27 Der oder die Dienstleistungsbeschäftigte wird zur vermittelnden Instanz zwischen Produkt und Kunde, Dienstleistungsarbeit folglich zur »Grenzstellenarbeit«28. Der Dienstleister sitzt systematisch »zwischen den Stühlen«, weil er einerseits die Organisation nach den Wünschen des Kunden repräsentieren muss, andererseits aber den Kunden entlang der Ziele der Organisation »erziehen« soll.29
Dies gilt selbstverständlich nicht nur für »echte« Interaktionen, also den persönlichen Austausch eines Dienstleisters und eines Kunden. Die Arbeit ist auch dann »unmittelbar bedürfnisbezogen auf ein konkretes Gegenüber gerichtet […], dessen Wille die Richtschnur für das Arbeitshandeln abgibt«30, wenn dieses Gegenüber nicht als konkrete Person anwesend ist. Konnte sich ein prototypischer Industriearbeiter praktisch vollkommen frei von Hypothesen über die Bedürfnisse des Käufers der von ihm hergestellten Waren seiner Tätigkeit widmen, so muss der Dienstleister Kundenwünsche auch dann antizipieren, wenn es, wie im Falle einer Reinigungskraft, möglicherweise nie zu einer persönlichen Begegnung mit Kunden kommt.
Die Erweiterung der Akteursallianzen im Bereich von Macht und Herrschaft wirft dabei unweigerlich auch die Frage nach neuen Konfliktfeldern auf. Mit der Triade der Macht entsteht eine Vervielfachung der Erwartungen und Anspruchshaltungen an der Grenzstelle31, die die Wahrscheinlichkeit von Widersprüchen und Vermittlungsbedarf zwischen Betrieb und Kunde erhöht. Diese Spannung ist von den Dienstleistern zu bearbeiten, etwaige Konflikte haben sie zu absorbieren. Denn die mit der interaktiven Logik von Dienstleistungsarbeit aufgeworfene Koproduktivitätsanforderung32 zwischen Beschäftigtem und Kunden lässt gesonderte Problemkonstellationen der Koordination, Zielvereinbarung und Kooperation vermuten33. Darüber hinaus sind etwa sorgende Tätigkeiten häufig von einer Personalisierung34 der Austauschbeziehungen geprägt. Solche Emotionsarbeit35 birgt weiteres Konfliktpotenzial: angefangen von der Schwierigkeit »emotionaler Dissonanz«36 über Konflikte, die zu »Charakterwettkämpfen«37 um Identität und Ehre reifen, bis hin zu Fragen emotionaler Erschöpftheit38.
Die einfachen Dienste versprechen also ein neues Panorama betrieblicher Konflikte. Auch sozialstrukturelle Daten legen diese Vermutung nahe.39 Denn es lassen sich hier besondere Spaltungslinien innerhalb der Belegschaften vermuten, die mit deren strukturellen Bedingungen zusammenhängen. In den einfachen Diensten zeichnen sich drei klare Entwicklungstendenzen ab, die von besonderer Relevanz für die Analyse von Konflikt, Macht und Herrschaft sein können.
Erstens verrät ein Blick in die Literatur zu unterschiedlichen Bereichen von Dienstleistungsarbeit: Tertiarisierung wird häufig gewissermaßen synonym mit dem Begriff der Feminisierung verwandt. Denn mit der Expansion des Dienstleistungssektors geht parallel die Expansion weiblicher Erwerbsbeteiligung einher.40 Gerade für die personenbezogenen Dienstleistungen sind klassisch als feminin erachtete Tätigkeiten prägend.41 Zudem gibt es Hinweise darauf, dass auch neue Tätigkeitsfelder zunehmend »gegendert« werden,42 etwa wenn die weitgehend kommunikative Arbeit in Callcentern vornehmlich mit Frauen besetzt wird, weil diesen ein »natürliches« Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse etwaiger Gesprächspartner unterstellt wird. Die Anforderungen an die Arbeitnehmer sind dabei durchaus ambivalent: Einerseits fordert Dienstleistungsarbeit als Emotionsarbeit43 und Gefühlsarbeit44 ein spezifisch »weibliches Arbeitsvermögen«45. Andererseits disqualifizieren vorherrschende Gender-Stereotype unter dem ökonomischen Paradigma der Flexibilisierung46 Frauen für diese Tätigkeiten47, weil im Rahmen einer naturalisierten Sichtweise auf »weibliche« Arbeit eben auch die spezifischen »Defizite« weiblicher Lebensführung in den Blick geraten, beispielsweise in Form der Absorbierung der Arbeitskraft durch Kinderbetreuung, Haushaltsführung oder die Pflege bedürftiger Angehöriger. Zusätzlich führen Analogsetzungen spezifischer Tätigkeiten mit dem Geschlecht der Ausführenden48 zu weiteren spezifischen Benachteiligungslagen49, etwa wenn eine intrinsische Motivation zur Selbstaufopferung in einer Pflegebeziehung auch bei mäßiger Bezahlung vorausgesetzt wird. Zu erwarten stehen im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit also möglicherweise Konfliktlogiken, die mit einer solchen ambivalenten Anforderungsstruktur verbunden sind und damit ganz neue Belastungen in der Arbeit, aber auch für die private Lebensführung bedeuten können.
Eine zweite Entwicklungsdynamik betrifft die Ethnisierung der Arbeitsmärkte am unteren Rand der Dienstleistungsgesellschaft.50 Für die urbane Ökonomie werden eine strukturelle Kopplung der Nachfrage nach Niedriglohndienstleistern an die Expansion qualifizierter Dienstleistungen sowie Eigendynamiken migrantischer Netzwerke konstatiert.51 Der gut erforschte Bereich haushaltsbezogener Dienstleistungen gilt als exemplarisches Terrain mobiler Arbeitskräfte mit häufig begrenztem oder irregulärem Aufenthaltsstatus.52
In der Gruppe derjenigen Bürger mit Migrationshintergrund, die als weniger mobil gelten, wird dagegen von weniger irregulären Organisationsformen der Arbeit ausgegangen, die dennoch wegen starker ökonomischer Prekarisierungsdynamiken unter Deregulierungs- und Informalisierungsdruck geraten sind.53 Es zeigen sich auch funktionale Kopplungen spezifischer Aufenthaltsstatus mit kleingewerblicher ethnisierter Tertiarisierung, etwa wenn eine als Familienökonomie funktionierende Kleingewerblichkeit die realistisch einzig mögliche Voraussetzung bietet, finanziell selbsttragend operieren zu können und so der Ausweisung zu entgehen.54 Auch ethnisierte Rekrutierungsprozesse, sei es in Form ethnischer Seilschaften, sei es als bewusste unternehmerische Strategie, werden konstatiert.55 Das vierte Kapitel wird zudem zeigen, dass Ethnizität ein mögliches Vehikel sozialer Spaltung in den einfachen Diensten ist und als Instrument betrieblicher Kontrolle genutzt werden kann.
Ein dritter struktureller Aspekt, der mit der Feminisierung und Ethnisierung im Segment einfacher Dienstleistungsarbeit korrespondiert, soll hier noch Erwähnung finden: Es zeigt sich dort eine spezifische Diffusion von Zertifikationsanforderungen und qualifikatorischen Durchmischungen.56 Der Grund hierfür ist in unterschiedlichen Faktoren zu suchen: So sammeln sich im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit sicherlich Zertifikationsverlierer, deren formale Qualifikationen aufgrund ihrer inflationären Präsenz57 eine Abwertung erfahren haben. Hinzu kommt häufig die Verweigerung der Anerkennung beziehungsweise die mangelnde Verwertbarkeit etwaiger Zertifikate wegen Migration58 sowie die oft recht unklaren Tätigkeitsprofile innerhalb des Dienstleistungssektors59, bei denen häufig nicht klar ist, welches Zertifikat die Arbeitnehmer eigentlich für eine solche Tätigkeit qualifizieren sollte. Der Nebenerwerbscharakter vieler Arbeitsverhältnisse sowie die systematische Unterschreitung formaler Qualifikationsanforderungen, wie man sie beispielsweise im Bereich der Gebäudereinigung beobachten kann, trägt zudem zu einer zertifikatorischen Durchmischung bei, denn: Wer für sein Können keinen Schein vorweisen kann, landet eben dort, wo ein solcher nicht gefragt ist. Doch auch jene Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung scheinen vor den Armuts- und Unsicherheitsrisiken, die sich in den einfachen Diensten bündeln, nicht mehr gefeit zu sein. So verweisen etwa Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf darauf, dass zum einen das Niedriglohnrisiko auf dem bundesrepublikanischen Arbeitsmarkt im Bereich einfacher Dienste, wie etwa dem Gastgewerbe oder den personenbezogenen Diensten, besonders hoch ist. Zugleich merken beide an, dass »80 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen akademischen Abschluss haben«60.
Auch die Expansion weiblicher Erwerbsarbeit selbst kann im Zusammenhang mit einem wohlfahrtsstaatlichen »service gap«61 sowie Divergenzen zwischen nationalen Arbeitsmärkten ursächlich am Zuwachs dequalifizierter, migrantischer Dienstleister beteiligt sein62, beispielsweise wenn die Betreuung des Nachwuchses nur unter Zuhilfenahme von Haushaltsdienstleistern möglich bleibt. So sind Feminisierungs-, Ethnisierungs- und Zertifikationsfragen keinesfalls so klar geschieden, wie es die konzeptionelle Differenzierung suggeriert. Nicht nur ist der Dienstleistungssektor selbst durch Migration geprägt, sondern das zunehmend dominante Gesicht der Migration ist weiblich,63 und (feminisierte) Migration geht teilweise systematisch mit Dequalifizierung einher.64 Damit bündeln sich alle drei Tendenzen häufig nicht nur in einer betrieblichen Einheit, sondern in einer einzelnen Arbeitnehmerin65 und verstärken sich als Dynamiken gegenseitig66. Fragen nach der Rolle von Feminisierungs- Ethnisierungs- und Zertifizierungsdynamiken für die Ordnungsmechanismen von Arbeitssituationen werden folglich zu virulenten Themen für die Analyse von Konflikt, Macht und Herrschaft im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit.