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Heinz Bude

Gesellschaft der Angst

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-624-8

Umschlagbild: ©schankz-Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus Stempel Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Vorbemerkung

Angst als Prinzip

Die Sehnsucht nach einer unkündbaren Beziehung

Das Unbehagen mit dem eigenen Typ

Wenn die Gewinner alles nehmen

Die Statuspanik in der gesellschaftlichen Mitte

Alltägliche Kämpfe auf der unteren Etage

Das brüchige Ich

Niemandsherrschaft

Emotionsmacht

Die Angst der Anderen

Die Verhaltenslehren der Generationen

Bibliografie

Danksagung

Zum Autor

I will show you fear in a handful of dust.

T. S. Eliot

Vorbemerkung

Wer eine gesellschaftliche Situation verstehen will, muss die Erfahrungen der Menschen zum Sprechen bringen. Die Öffentlichkeit wird heute mit vielfältigen Daten über Armutsrisikoquoten, über das Abschmelzen der gesellschaftlichen Mitte, über die Zunahme von depressiven Verstimmungen oder über den Rückgang der Wahlbeteiligung bei Erstwählern unterrichtet. Aber was diese Befunde bedeuten und womit sie zusammenhängen, bleibt im Unklaren.

Dass sich hier Veränderungen im Passungsverhältnis von sozialen Strukturen und individuellen Einstellungen ankündigen, steht außer Frage. Kognitionspsychologie, Verhaltensökonomie und Hirnphysiologie beschäftigen sich deshalb mit der Blackbox des Ichs, das Vermittlungsleistungen ohne traditionelle Vorbilder und konventionelle Modelle zu erbringen hat. Die sich auf entsprechende Forschungsergebnisse berufende Beratungsliteratur wirbt mit geistigen Aktivierungsprogrammen wie mit körperlichen Beruhigungsübungen.

Die Soziologie kann hier dann ihre Karte spielen, wenn sie sich als Erfahrungswissenschaft ernst nimmt. Erfahrung ist die Evidenzquelle der empirischen Wissenschaft wie der persönlichen Lebenspraxis. Sie äußert sich in Diskursen und beruht auf Konstruktionen. Aber der Bezugspunkt für die Analyse von Blogeinträgen, Zeitungsartikeln, medizinischen Verlautbarungen oder demoskopischen Berichterstattungen müssen die Erfahrungen sein, die darin zum Ausdruck kommen.

Ein wichtiger Erfahrungsbegriff der heutigen Gesellschaft ist der Begriff der Angst. Angst ist hier ein Begriff für das, was die Leute empfinden, was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie verzweifeln. In Begriffen der Angst wird deutlich, wohin die Gesellschaft sich entwickelt, woran Konflikte sich entzünden, wann sich bestimmte Gruppen innerlich verabschieden und wie sich mit einem Mal Endzeitstimmungen oder Verbitterungsgefühle ausbreiten. Angst zeigt uns, was mit uns los ist. Die Soziologie, die ihre Gesellschaft verstehen will, muss heute die Gesellschaft der Angst in den Blick nehmen.

Angst als Prinzip

In modernen Gesellschaften ist Angst ein Thema, das alle angeht. Angst kennt keine sozialen Grenzen: Der Hochfrequenzhändler vor dem Bildschirm gerät genauso in Angstzustände wie der Paketzusteller auf der Rücktour zur Sammelstelle; die Anästhesistin beim Abholen ihrer Kinder aus dem Kindergarten genauso wie das Model beim Blick in den Spiegel. Auch von der Sache her sind die Ängste zahllos: Schulängste, Höhenängste, Verarmungsängste, Herzängste, Terrorängste, Abstiegsängste, Bindungsängste, Inflationsängste. Schließlich kann man in jede Richtung der Zeit Ängste entwickeln: Man kann Ängste vor der Zukunft haben, weil bisher alles so gut geklappt hat; man kann jetzt im Moment Angst vor dem nächsten Schritt haben, weil die Entscheidung für die eine immer auch eine Entscheidung gegen eine andere Variante darstellt; man kann sogar Angst vor der Vergangenheit haben, weil etwas von einem herauskommen könnte, worüber längst Gras gewachsen ist.

Niklas Luhmann, der in seiner Systemtheorie der funktionalen Äquivalente eigentlich immer für alles noch einen Ausweg sieht, erkennt in der Angst das vielleicht einzige Apriori moderner Gesellschaften, auf das sich alle Gesellschaftsmitglieder einigen können. Sie ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind.1 Über Angst kann die Muslima mit der Säkularistin, der liberale Zyniker mit dem verzweifelten Menschenrechtler reden.

Man kann aber niemanden davon überzeugen, dass seine Ängste unbegründet sind. Ängste lassen sich in Unterhaltungen darüber höchstens binden und zerstreuen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass man die Ängste seines Gegenübers akzeptiert und nicht bestreitet. Man kennt das aus der therapeutischen Situation: Die Erkenntnis der eigenen Angstanteile kann einen offener und beweglicher machen, sodass man nicht gleich mit Abwehr und Zurückweisung reagieren muss, wenn irgendwo Angst im Spiel ist.

Trotz ihrer offensichtlichen Diffusität sagen die Ängste, die im Augenblick in der Öffentlichkeit Thema sind, etwas über eine bestimmte sozialhistorische Situation aus. Die Gesellschaftsmitglieder verständigen sich in Begriffen der Angst über den Zustand ihres Zusammenlebens: Wer weiterkommt und wer zurückbleibt; wo es bricht und wo sich schwarze Löcher auftun; was unweigerlich vergeht und was vielleicht doch noch bleibt. In Begriffen der Angst fühlt sich die Gesellschaft selbst den Puls.

So hat Theodor Geiger in seinem 1932, am Vorabend des Nationalsozialismus, erschienenen Klassiker der Sozialstrukturanalyse »Die soziale Schichtung der deutschen Volkes« eine von Verdrängungsängsten, Geltungsverlusten und Verteidigungszuständen beherrschte Gesellschaft beschrieben. Es kommen die Typen der Zeit vor: die kleinen Geschäftsleute mit ihrem brennenden Hass auf die sozialdemokratisch organisierten Konsumvereine, die durch kleinsten Bodenbesitz eigenbrötlerisch und infolge der häuslichen Vereinzelung sonderbar gewordenen Heimarbeiter mit ihrer Neigung zu rabiatem Rebellentum sowie die von Rationalisierung bedrohten und von feschen Männern träumenden jungen Büroangestellten mit Bubikopf; aber auch die Bergarbeiter, die ihre Selbstwertgefühle aus der Heroisierung der Berufsgefahr schöpfen und in ihrem gewerkschaftlichen Kollektivinteresse weniger großorganisatorisch-klassenbewusster als kameradschaftlich-zünftiger Art sind, oder die kleinen Beamten, die ihr bisschen Machtanteil umso eifersüchtiger hüten und umso eifriger zur Schau stellen, je gedrückter ihre Stellung nach Besoldungsrang und innerdienstlicher Funktion ist, sowie die Armee der jungen Akademiker, die den Kursverfall ihrer Bildung, die Auflösung ihres Standes und die Verschlossenheit der Berufswelt für sich erleben; und schließlich die verschiedenen Figuren aus der kapitalistischen Schicht, die sich wechselseitig nicht grün sind: die ostelbischen Großagrarier, denen der dem Kapitalismus innewohnende Gedanke der Weltwirtschaft gar nicht mundgerecht ist, die Kapitalrentner, die überall ihre Hände im Spiel haben und die keiner zurechenbaren sozialen Herkunft verpflichtet sind, die Industriekapitäne, die durch die relative Immobilität ihrer Anlage seit mehreren Generationen an einen bestimmten Industriestandort gebunden sind, sowie die findigen Großkaufleute, die in Kaufhausketten die städtische Bevölkerung modisch ausstaffieren und mit überseeischen Delikatessen versorgen; und nicht zu vergessen die von der Weltwirtschaftskrise verstörten, eine irreguläre Klasse bildenden Erwerbslosen, die nichts zu verlieren haben und denen darum nichts des Bestandes wert zu sein scheint.

Sie alle vereint im Gesellschaftsbild, das Geiger mit lockerer Hand, aber lebendiger Genauigkeit zeichnet, ein Gefühl der Überlebtheit der Ordnung, aus der sie stammen. Die aus vielfachen Umschichtungen von Arbeiterexistenzen oder, seinerzeit, aus dem Kreis der Gebildeten hervorgehende Welt der Angestellten, der ans Eigentumsdenken sich klammernde »alte Mittelstand« und die in die verschiedensten Interessentenhaufen zerfallende Bürgerlichkeit der Mitte – sie alle finden weder für sich noch fürs Ganze eine soziale und politische Ausdrucksgestalt, mit der sie sich identifizieren könnten. Die Sozialdemokratie wirkt in ihren Bärten erstarrt und in überholungsbedürftigem Gedankengut gefangen, das Zentrum erscheint zwar inklusiver und umfassender, muss dazu aber eine thomistisch-katholische Gesellschaftsphilosophie hochhalten, und die wirtschafts- oder nationalliberalen Parteien schwanken genauso wie die sozialen Schichten und Milieus, die nach Halt in der Verwirrung suchen. Wer in einer solchen Situation die Ängste, überrollt zu werden, das Nachsehen zu haben und sich am Rand wiederzufinden, aufzunehmen, zu bündeln und auf ein neues Objekt auszurichten vermag, der kann eine Mobilisierung der Gesellschaft insgesamt in Gang setzen. Theodor Geiger sieht ein Jahr vor dem Machtwechsel zu Hitler die avantgardistische Bedeutung einer jungen Generation, die aus der Geschichte aussteigt und sich als Trägerin eines nationalen Aktivismus inszeniert und so die rumorende Angst zum Motor einer neuen Zeit macht. Heute wissen wir, dass aus diesen Reihen die Weltanschauungsavantgardisten des totalitären Zeitalters stammten, die bis in die 1970er Jahre der Nachkriegszeit nicht nur in Deutschland als Steuerungselite der Industriegesellschaft tätig waren.2

Es war der bis heute als Staatsmann bewunderte Franklin D. Roosevelt, der das Thema der Angst und die Strategie der Angstabsorption auf die politische Agenda des zwanzigsten Jahrhunderts gesetzt hat. In seiner Antrittsrede als 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika fand er am 3. März 1933 nach den schrecklichen Jahren der »Großen Depression« die Worte, die eine neue Politik begründen sollten: »The only thing we have to fear is fear itself.«3

Freie Menschen sollen keine Angst vor der Angst haben, weil das ihre Selbstbestimmung kosten kann. Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche. Angst macht die Menschen abhängig von Verführern, Betreuern und Spielern. Angst führt zur Tyrannei der Mehrheit, weil alle mit den Wölfen heulen, sie ermöglicht das Spiel mit der schweigenden Masse, weil niemand seine Stimme erhebt, und sie kann panische Verwirrung der gesamten Gesellschaft mit sich bringen, wenn der Funke überspringt. Deshalb, so sollte man Roosevelt verstehen, ist es die erste und vornehmste Aufgabe staatlicher Politik, den Bürgern die Angst zu nehmen.

Man kann die gesamte Entwicklung des Wohlfahrtsstaats in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Antwort auf Roosevelts Aufforderung begreifen: Die Beseitigung der Angst vor Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut soll den Hintergrund für eine selbstbewusste Bürgerschaft auch und gerade der abhängig Beschäftigten bilden, damit sie sich in Freiheit selbst organisieren, um ihren Interessen Ausdruck zu verschaffen, damit sie sich die Freiheit nehmen, ihr Leben nach selbst gewählten Prinzipien und Präferenzen zu führen, und damit sie im Zweifelsfall im Bewusstsein ihrer Freiheit den Mächtigen die Stirn bieten. Mit Franz Xaver Kaufmann könnte man sagen: Mit der Politik der Angst entsteht »Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem«.4

Wer abstürzt, soll aufgefangen werden, wer nicht mehr weiterweiß, soll beraten und unterstützt werden, wer von Hause aus benachteiligt ist, soll einen Ausgleich erfahren. Deshalb schreibt sich der Wohlfahrtsstaat von heute die Qualifikation von Niedrigqualifizierten, die Beratung von überschuldeten Personen und Haushalten und die kompensatorische Erziehung von Kindern aus unterprivilegierten Familien auf die Fahnen. Es geht nämlich nicht allein um die Bekämpfung von Armut, sozialer Ausgrenzung und systematischer gesellschaftlicher Benachteiligung, sondern um die Bekämpfung der Angst davor, ausrangiert, entrechtet und diskriminiert zu werden.

Damit kommt ein bestimmter reflexiver Effekt ins Spiel. Durch die Bezugnahme auf Angst als Prinzip liefert sich der Wohlfahrtsstaat mit seinen Sicherungs-, Befähigungs- und Ausgleichsmaßnahmen der Welt der Affekte aus. Können die Sozialversicherung, die zu Jobcentern umgebauten Arbeitsämter und die Qualitätssicherungsagenturen für alles Mögliche die Angst vor der Angst bannen? Für Roosevelt war der Umgang mit der Angst der entscheidende Maßstab für das öffentliche Glück und den sozialen Zusammenhalt. Auf dem Wahlkampf, der ihn zu seinem ersten Sieg führte, hatte er kundgetan, dass er Tausenden von Amerikanern ins Gesicht geschaut und gesehen habe: »They have the frightened look of lost children.«5

Wie ist es mit der Angst in unserer heutigen Gesellschaft bestellt? Man lebt vergleichsweise gut in Deutschland. Aus der Weltwirtschaftskrise von 2008 ist das Land tatsächlich stärker herausgekommen, als es hineingeraten ist. Die Arbeitslosenzahlen sind, wie immer man diese Maßzahl beurteilt, zurückgegangen; die Wirtschaft wächst, wenngleich nicht in dem Umfang wie in den goldenen Nachkriegsjahren; der Sozialstaat funktioniert, obwohl viele Gruppen wie Familien mit vielen Kindern, alleinerziehende Frauen oder Personen mit atypischen Beschäftigungsverhältnissen nach wie vor schlecht wegkommen. Man könnte sagen, dass Angst im Unterschied zu den 1930er Jahren damit zu einer persönlichen und privaten Angelegenheit wird, die sich sozialer Beschreibung und somit öffentlicher Befassung entzieht.

Es sei jedoch daran erinnert, dass die Wohlfahrtstaatsentwicklung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eingefasst war in ein nie dagewesenes Integrationsversprechen moderner Gesellschaften: Jede Person, die sich anstrengt, in die eigene Bildung investiert und ein gewisses Leistungsvermögen an den Tag legt, kann einen ihr gemäßen Platz in der Gesellschaft finden. Die soziale Platzierung ist nicht länger durch Herkunft, Hautfarbe, Region oder Geschlecht vorherbestimmt, sondern kann durch Willen, Energie und Einsatz im Sinne der eigenen Wünsche und Vorstellungen beeinflusst werden. Der Umstand, dass bei den meisten der Zufall eine viel größere Rolle spielte als die Ziele und Absichten, war deshalb hinnehmbar, weil man trotz allem auf einer Position landete, die man im Nachhinein als erworben und verdient ansehen konnte.

Wer glaubt eigentlich heute noch daran? Natürlich leben wir in einer modernen Gesellschaft, in der nicht zugeschriebene, sondern erworbene Positionen zählen. Die Tatbestände der persistenten sozialen Ungleichheit, die von der Sozialstrukturanalyse ein ums andere Mal bekräftig werden, ändern nichts an diesem Prinzip. Die allermeisten jungen Leute, die sich davon überzeugt zeigen, dass wir uns in einer pyramidenförmigen Klassengesellschaft befinden, in der Übergänge von einer unteren in eine höhere soziale Lage unwahrscheinlich sind, gehen für sich selbst ganz sicher davon aus, dass sie ein Leben nach eigener Fasson führen können.6

Trotzdem halten sich die Vorstellungen einer »Generation Praktikum«, die sich trotz bester Zertifikate aller Art für kleines Geld verdingen muss, um dann irgendwann einmal ein interessantes Angebot zu erhalten. Danach ist es nicht so schwer, durchzukommen und sich in Position zu bringen, aber sehr viel schwieriger als für die um 1965 geborene Elterngeneration, eine von sukzessivem Statuserwerb gekennzeichnete Karriere zu machen. Denn man kann so viel falsch machen: Man kann die falsche Grundschule, die falsche weiterführende Schule, die falsche Universität, die falsche Fachrichtung, die falschen Auslandsaufenthalte, die falschen Netzwerke, den falschen Partner und den falschen Ort wählen. Das würde bedeuten, dass auf jedem dieser Durchgangspunkte ein Auslesewettbewerb stattfindet, bei dem manche weiterkommen und viele auf der Strecke bleiben. Das geht früh los und nimmt anscheinend kein Ende. Man braucht schon die richtige Nase, das nötige Kooperationsgeschick, den nüchternen Beziehungssinn und ein Gefühl fürs Timing. Weil die Korridore vorne immer breiter und hinten immer enger werden, weil das soziale Kapital von Beziehungen und Kontakten für die Mehrzahl immer billiger, für eine Minderheit aber immer teurer wird, weil die Beziehungsmärkte immer homogener und deshalb immer kompetitiver werden, ist das Einzelschicksal immer mehr Ausdruck seiner guten oder schlechten Wahlen im Lebenslauf.

Man kann die Veränderung so auf den Punkt bringen, dass wir heute einen Wechsel im gesellschaftlichen Integrationsmodus vom Aufstiegsversprechen zur Exklusionsdrohung erleben.7 Man wird nicht mehr durch eine positive, sondern nur noch durch eine negative Botschaft bei der Stange gehalten. Damit geht die Angst einher, ob der Wille reicht, die Geschicklichkeit passt und das Auftreten überzeugt. Mit den Preisen haben sich die Ängste verändert: Wenn es bei jeder Gabelung darauf ankommt, nicht bei denen zu landen, die übrig bleiben und auf eine »zweite Chance« warten, weil der Lebenslauf keine langen Linien, sondern nur noch kurze Stecken vorsieht, dann ist die Angst tatsächlich, wie es bei Kierkegaard heißt, »die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit«8 geworden.

Die Angst kommt daher, dass alles offen, aber nichts ohne Bedeutung ist. Man glaubt, in jedem Moment mit seinem ganzen Leben zur Disposition zu stehen. Man kann Umwege machen, Pausen einlegen und Schwerpunkte verschieben; aber das muss einen Sinn machen und zur Vervollkommnung des Lebenszwecks beitragen. Die Angst, einfach so dahinzuleben, ist schwer ertragbar. Angststress ist Sinnstress, von dem einen kein Staat und keine Gesellschaft erlösen kann.

Die auf Erkenntnisse der Kognitionspsychologie, der Evolutionstheorie und der Gehirnphysiologie sich stützenden Ratgeber über Verfügbarkeit, Emotion und Risiko finden erstaunlichen Absatz. Die Botschaft lautet jedes Mal: Man muss Optionen wahren, in Szenarien denken und »günstige Gelegenheiten« ergreifen. Man sollte sich vor Selbstüberschätzung hüten und zugleich Entscheidungsschwäche überwinden. Und insgesamt soll einem die Lehre von einer Zweiteilung des Geistes die Angst vor der Angst nehmen. Es gibt ein intuitives System, das für das schnelle Denken zuständig ist, und ein kontrollierendes, das langsam, sukzessive und hierarchisch arbeitet. Im organischen Wechsel zwischen beiden hält man sich in einem unübersichtlichen Leben mit ungewissen Ausgängen fit und flexibel.9

Denn wer stehen bleibt, sich nicht weiterbildet und sich keinen Ausgleich schafft, wird schnell zum Versorgungsfall. Wenn man am Ende sogar, wie die einschlägige thanatologische Literatur versichert, gut oder schlecht sterben kann,10 wird die Angst vor der Angst zum verborgenen Motiv der populären Lehren des »guten Lebens«. So hört die Exklusionsdrohung, so freundlich sie auch nahegebracht wird und so weise sie auch klingt, nie auf.

Das ist nicht die von Roosevelt in den 1930er Jahren geschaute Angst von »verlorenen Kindern«, die auf die Schutzmacht des Staates hoffen und sich einem »guten Hirten« anvertrauen, vielmehr diejenige gewiefter »Egotaktiker«11, die dem Staat misstrauen und sich übers politische Personal, das sich nicht anders als sie selbst verhält, mokieren. Es handelt sich eben nicht um die Angst, als Gruppe oder Kollektiv gedemütigt und vergessen zu werden, sondern als Einzelne auszurutschen, das Gleichgewicht zu verlieren und im freien Fall ohne den Schirm eines haltenden Milieus oder einer traditionellen »Verliererkultur«12 abzustürzen und im sozialen Nichts zu verschwinden.

Dazu passt die in den Nullerjahren unseres Jahrhunderts aufkommende Universalisierung des Attributs des Prekären.13 Prekär waren plötzlich nicht nur Beschäftigungsverhältnisse jenseits des »Normalarbeitsverhältnisses« lebenslanger, vollzeitiger und qualifikationsadäquater Anstellung, sondern Generationen mit unklaren Übergängen vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem, Partnerschaften mit romantischen Liebesidealen oder Lebensgemeinschaften mit alleinerziehenden Eltern, soziale Milieus der Deklassierten und Abgehängten und der Charakter von Vergesellschaftungsprozessen überhaupt. Prekär ist eine soziale Existenz, bei der standardisierte Erwartungen auf nichtstandardisierte Wirklichkeiten treffen. Das ist heute das Normale, weshalb die Anforderungen an Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz zunehmen. Man nimmt anscheinend viel mehr Abweichung hin als früher. Aber deshalb wird auch der Schnitt zwischen Einbeziehung und Ausschluss schärfer. Solange man seine gelebte Diversität in sexueller oder religiöser oder sittlicher Hinsicht verständlich machen kann, ist alles in Ordnung. Draußen ist man jedoch schnell, wenn der Unterschied für die Anderen keinen Unterschied an Freude, Buntheit und Kreativität macht. Die Angst vor der Angst meldet sich sofort, wenn man mit seiner wenig spektakulären Differenz ohne Resonanz und Anschluss bleibt.

Hier zeigt sich eine Wandlung im Angsterlebnis, die mit einem epochalen Wechsel in der Verhaltensprogrammierung zusammenhängt. In seiner bereits 1950 erschienenen soziologischen Physiognomie der Verhaltenswelt des zwanzigsten Jahrhunderts hat David Riesman zusammen mit Reuel Denney und Nathan Glazer14 die Wandlung des amerikanischen Charakters vom innengeleiteten Gewissens- zum außengeleiteten Kontaktmensch beschrieben. Wenn die Bevölkerung wächst, die Menschen von den ländlichen Gebieten in die städtischen Agglomerationen streben und Wissenschaft und Technik zu Produktivkräften eigener Art werden, dann braucht es ein in der einzelnen Person verankertes Programm der Verhaltenssteuerung, das sich an übergreifenden Prinzipien orientiert und dem Verhalten im Wechsel der Welten Stabilität verleiht. Riesman wählt dafür das Bild des inneren Kreiselkompasses, der die Ausrichtung in verschiedene Richtungen und zugleich die Zentrierung um ein inneres Gleichgewicht ermöglicht. Es macht naturgemäß Angst, wenn man als Auswanderer, sozialer Aufsteiger oder Raumpionier seine Verhaltensheimat verlässt, um in einer anderen und fremden Welt sein Glück zu machen; es ist Ausdruck von Mut, wenn man trotzdem an die Bereicherung seiner Anschauungen und die Festigkeit seiner Werte glaubt. In der Sprache der europäischen Tradition existieren dafür die Prunkbegriffe von Bildung und Gewissen. Der innengeleitete Charakter bemüht sich um eine Weiterung seiner Perspektiven und um die Prüfung seines Gewissens. So lässt sich die Angleichung ans Fremde mit der Vertiefung des Eigenen in Einklang bringen.

Die Angstbewältigung geschieht dann in einem gewissermaßen vertikalen Modus. Angstmachende Gefühle der Entfremdung, Enteignung und Entbettung macht der Einzelne mit sich und gegebenenfalls mit seinem Gott aus. Die bürgerliche Bekenntnisliteratur ist voll von Darstellungen verwirrender Bildungswege und quälender Gewissensprüfungen. Aber es winkt der Triumph der Ichwerdung, die das Individuum, das irgendwo herkommt und überall hinpasst, zu einer autonom handlungsfähigen, sozial zurechenbaren und mit sich selbst identischen Person macht.15

Aber wenn das Bevölkerungswachstum zurückgeht, das Land zur Vorstadt wird und die Eroberung der Welt auf Grenzen stößt, dann werden die zwischenmenschlichen Verflechtungen dichter und unausweichlicher, und das Ich muss in einer »zusammengeschrumpften und durcheinandergewirbelten Welt«16 versuchen, sich auf die Anderen einzustellen und sich mit ihnen zu arrangieren. Prämiert wird dann nicht mehr die Obsession, sich selbst zu beweisen, sondern die Kompetenz, die Perspektiven anderer zu übernehmen, sich elastisch und flexibel im Wechsel der Situationen zu zeigen und Kompromisse in der Teamarbeit zu finden. Der seelische Kreiselkompass innerer Gleichgewichtsbildung wird durchs soziale Radargerät der Registrierung der Signale anderer ersetzt. Das Ich wird zum Ich der Anderen und steht dann allerdings vor dem Problem, aus den Tausenden von Spiegelungen ein Bild für sich selbst zu gewinnen.

Es geht hier nicht um die Bedeutung von Anerkennung und Zuneigung durch den Mitmenschen, die zur sozialen Natur des Ichs gehört. Den außengeleiteten Charakter kennzeichnet vielmehr eine gesteigerte Kontaktsensibilität, die die Erwartungen und Wünsche der Anderen zur Steuerungsquelle des eigenen Verhaltens macht. Es sind nicht die durch äußere Autoritäten zur Geltung gebrachten Formen von Sitte und Anstand und nicht die auf dem Wege konflikthafter persönlicher Bildungsprozesse verinnerlichten Normen und Werte, die das Verhalten vor allem regulieren, sondern die buchstäblich im Sekundentakt ausgehandelten Erwartungen und Erwartungserwartungen zwischen den gerade an einer Situation Beteiligten. »Role-taking«, wird dann später in der Soziologie des Symbolischen Interaktionismus gesagt, ist »role-making«.17

Riesman wollte mit der Unterscheidung zwischen der Innen- und der Außengeleitetheit die »außergewöhnliche Empfangs- und Folgebereitschaft«18