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Hagen Siemers

Das hätten wir
uns sparen können

Hagen Siemers

Das hätten wir uns sparen können

Ein Schwarzbuch missglückter Reformen
von Hartz IV zum Ausverkauf des Staates

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Hagen Siemers

Das hätten wir uns sparen können
Ein Schwarzbuch missglückter Reformen
von Hartz IV zum Ausverkauf des Staates.

© Tectum Verlag Marburg, 2014

ISBN 978-3-8288-6104-6

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3361-6 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlaggestaltung: Ina Beneke
Layout/Satz: Felix Hieronimi
Lektorat: Swen Wagner

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

TEIL I
ARBEIT – ALS MARKT UND
MYTHOS DER DEUTSCHEN

1.Der Arbeitsmarkt hat seine eigenen Gesetze

2.Marktmechanismen zum Zweiten

3.River Of No Return?

4.Aber bitte nicht so viel meckern!

5.Wir benötigen Wirtschaftswachstum …

6.… und flexible Arbeitnehmer!

7.Was macht eigentlich … Peter Hartz?

8.Gleich oder weniger!

9.Oder mehr?

10.Und worum handelt es sich bei der Lohnquote?

11.Die ewigen Sozialkosten

12.Die horrende Steuerlast

13.Globalisierung …

14.… und Wettbewerbsfähigkeit

15.Internationale Marken

16.Und zur Abwechslung ein echter Fachbegriff
aus der Volkswirtschaftslehre: Der Produktionsfaktor

17.Neue Partner

18.Arbeit: Was bleibt?

Fazit Teil I: Arbeit in Deutschland – Grundüberzeugungen auf dem Prüfstand

TEIL II
POLITIK – SCHWINDELERREGENDE ERKLÄRUNGEN

19.Der allgemeine Aufgalopp

20.Der »dritte Weg«

21.Weiter voran!

22.Die »neue Mitte«

23.Ein »Glücksfall« oder: Der Ursprung des Gangnam-Styles liegt am Rhein

24.Offenbach macht Schule

25.Die Gebührensammler

26.PPP (Public Private Partnership) – in Theorie und Praxis

27.Wasser, marsch!

28.Lassen sich Schulden bremsen?

29.Steuern senken, Ausgaben kürzen?

30.Es ist alles eine Frage des Vertrauens …

31.… auch bei Grippe!

32.Alles wird gut, mindestens!

33.Die alte Mitte

34.Hallo, Herr Riester!

35.Mehr Erklärungen oder nur mehr Erklärer?

Fazit Teil II: Politik in Deutschland – Erklärungen auf dem Prüfstand

Ausblick

Dank

Über den Autor

Anmerkungen

Einleitung

»Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert.« Henry David Thoreau (US-amerikanischer Schriftsteller, 1817–1862)

Die Zeiten, in denen die Politik mit ihren großen Ideen die Menschen noch begeistern konnte, liegen auch in Deutschland schon seit längerem hinter uns. Seit der Jahrtausendwende haben wir Bürger zu viele Veränderungen miterlebt, die uns heute zu Recht besorgt machen. Mit dem Hinweis auf die Globalisierung und unsere eigene Zukunft wurde eine Agenda geschmiedet, die den Arbeitsmarkt grundlegend verändert hat. Arbeitskosten wurden gesenkt, Unternehmenssteuern ebenso. Parallel dazu wurden Verbrauchssteuern und Abgaben für die Bürger von Jahr zu Jahr erhöht. Im Hintergrund läuft die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Aufgaben ungebremst weiter, ein Politikmodell, das auch auf der europäischen Ebene favorisiert wird. Der Euro wird ab 2015 bereits im 19. Land eingeführt – Litauen erfüllt die Kriterien –, aber das haben auch andere getan!

Uns wird seitens der politisch Verantwortlichen immer wieder erklärt, die eingeschlagene Richtung sei alternativlos, denn wir benötigten mehr Wachstum und mehr Wohlstand durch mehr Wettbewerb. Die internationale Konkurrenz zwinge uns die Maßnahmen praktisch auf. Sind wir wirklich so ohnmächtig oder befinden wir uns nicht selbst an der Spitze dieser »Konkurrenz«?

Verschwiegene Fakten

Ich möchte in diesem Buch einmal anders ansetzen – bei den Menschen vor Ort – und von dort aus eine kleine Reise durch den Reformdschungel der letzten Jahre unternehmen. Vor allem möchte ich der Frage nachgehen, ob die Ziele überhaupt mit den beschriebenen Reformen erreicht werden können.

Wussten Sie z. B., dass die Zahl der Personen, die im erwerbsfähigen Alter tatsächlich berufstätig sind in den USA deutlich geringer ist, als in Deutschland? Zusätzlich erhalten dort Millionen Menschen Lebensmittelmarken. Dabei haben die USA doch seit langem eine gemeinsame Währung für mehr als 300 Millionen Einwohner, die in 50 Bundesstaaten gilt und gleichzeitig eine riesige Freihandelszone mit Mexiko und Kanada. Warum soll in einer europäischen Union, die sich auf einen ähnlichen Weg begibt, eigentlich mehr Arbeit und mehr Wohlstand entstehen?

Finden wir uns nicht schon viel zu lange damit ab, dass der Begriff »Reform« in sein Gegenteil verkehrt wurde? Im Fremdwörterbuch wird dieser ursprünglich aus dem Lateinischen stammende Begriff mit den Worten: »Verbesserung des Bestehenden«1 in das Deutsche übersetzt. Kommt in diesem Sinne von den großen Reformen wirklich noch etwas anderes als Verunsicherung bei den Bürgern an?

Die Erklärungsmuster der Politik müssen dringend hinterfragt werden – und vor allem müssen die Auswirkungen auf die Bürger endlich näher beleuchtet werden. Denn die Reformen wurden und werden weiterhin in einem marktwirtschaftlich organisierten System durchgeführt – und das hat eigene Gesetze. Ich werde in meinem Buch untersuchen, wie sich Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Menschen im Zeitalter der ewigen Reform wirklich verändert haben. Vielleicht haben Sie selbst gerade ihren Arbeitsplatz gewechselt, haben nach einer Ausbildung oder einem Studium erste Berufserfahrungen gesammelt, sind zurzeit auf dem Wohnungsmarkt einer deutschen Großstadt unterwegs oder denken über die Riester-Rente nach, weil Sie befürchten, dass im Alter kaum etwas bleibt?

Offene Fragen

Können verschiedene Länder in Europa, wie es z. B. auch von der Bundeskanzlerin empfohlen wird, gleichzeitig wettbewerbsfähiger werden?

Was versteckt sich hinter dem Begriff der »Globalisierung«?

Schaffen Arbeitsmarktreformen (Hartz I bis IV) neue Arbeit oder ändern sie nur die Bedingungen für vorhandene Arbeit?

Bedeuten Rekordgewinne bei den Unternehmen nicht zugleich Lohnverzicht bei den Arbeitnehmern?

Warum merken wir nichts davon, dass sich die Geldmenge seit der Euro-Einführung verdoppelt hat?

Gibt es die Möglichkeit, Schulden per Gesetz zu bremsen, wenn gleichzeitig die Vermögen rasant wachsen?

Und: Was machen eigentlich Peter Hartz und Walter Riester?

Dürftige Ergebnisse

Das Wirtschaftswachstum in der Euro-Zone betrug von 2003 bis 2013 im Durchschnitt 0,72 %, Tendenz fallend.2 Enorme finanzielle Anstrengungen in Form von Rettungspaketen gingen diesem Ergebnis voraus. Die Arbeitslosigkeit in der Euro-Zone bleibt auf hohem Niveau. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse in Deutschland ist heute ähnlich, wie im Jahre 2001 – deutlich gestiegen ist die Zahl der Zweitjobs. Die Staatsschulden wachsen besonders auf der kommunalen Ebene munter weiter. Der Bund haftet als Anteilseigner der Europäischen Zentralbank für 27 % aller angekauften Staatsanleihen, d. h. Staatsschulden der Krisenstaaten Europas. Gleichzeitig werden uns ausgeglichene Haushalte versprochen.

Die gesellschaftliche Mitte wird von Abstiegsängsten geplagt. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Anforderungen der Arbeitswelt ständig steigen, während der Wert des Einkommens sinkt. Reformen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme waren kontraproduktiv. Die Einführung des Mindestlohns und einer Grundsicherung im Alter führen uns vor Augen, dass immer mehr Menschen am Existenzminimum angekommen sein müssen, denn sonst gäbe es für den Gesetzgeber keine Notwendigkeit, hier tätig zu werden. Die Ergebnisse der Reformen werden mit dem Satz: „Außer Spesen nichts gewesen!“ daher nur allzu zutreffend beschrieben. Aber auch dann ist noch der Frage nachzugehen, wer die vielen Spesen verbraucht hat.

Die Reise durch den Reformdschungel beginnt im ersten Teil meines Buches an einem Arbeitsplatz, für den sich die Bewerberin durch Ausbildung und Universitätsstudium eigentlich optimal qualifiziert hatte. Aber das haben in der jüngeren Generation viele …

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TEIL I

ARBEIT
ALS MARKT UND MYTHOS DER
DEUTSCHEN

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1.

Der Arbeitsmarkt hat
seine eigenen Gesetze

»Ich habe erst einmal nur eine E9-Stelle bekommen, für zwei Jahre«, so beschreibt mir eine junge Frau ihre berufliche Situation nach Ausbildung und Universitätsstudium. Von der Tankstelle weiß ich, dass E10 in Deutschland gemieden wird, aber E9?

Meine Recherchen haben ergeben: Es handelt sich um eine sogenannte Bachelor-Stelle, d. h. diese Stelle ist für jemanden vorgesehen, der einen Bachelor-Abschluss erworben hat, früher auch Fachhochschulabschluss genannt bzw. Grundstudium an der Universität. Für Hochschulabsolventen ist eigentlich die Entgeltgruppe 13 vorgesehen. Die junge Frau ist also vier Stufen zu niedrig eingestuft worden – vermutlich, weil es an Fachkräften so stark mangelt! Aber nicht nur das: Sie ist zusätzlich befristet eingestellt worden, ohne dass es bei dem entsprechenden Arbeitgeber dafür eine plausible Erklärung gab, denn es handelt sich um eine volle Stelle in einem Unternehmen in Süddeutschland.

Die junge Frau bekommt aufgrund der falschen Eingruppierung ca. 26 % weniger Bruttogehalt (2.413,38 statt 3271,06 Euro)3 und durch den für Deutschland zu gering bewerteten Euro noch einmal ca. 20 % weniger Kaufkraft. Das macht zusammen schon fast 50 % weniger Kaufkraft im Vergleich zu einer Hochschulabsolventin vor 25 Jahren. Von dem Geld kann sie als Einzelperson in einer Großstadt gerade so leben, sich eine Mietwohnung und einen Kleinwagen leisten, als Finanzkauf mit der bekannten Monatsrate von 99,00 Euro. Eine normale Laufbahn vorausgesetzt, wird sie in ihrem ganzen Leben und bei noch so vielen Beförderungen die Kaufkraft der Vorgängergeneration nicht mehr erreichen. Wenn also immer mehr Menschen über höhere Abschlüsse verfügen, so sind diese am Ende auch nicht mehr wert als ein normaler Ausbildungsabschluss, die sogenannte Lehre, in der Generation davor.

Die Mechanismen des Marktes setzen sich auch in Deutschland weitaus mehr durch als viele, die noch von der Sozialen Marktwirtschaft der 70er und 80er Jahre träumen, wahrhaben wollen. Angebot und Nachfrage regeln den Preis, hier: den Lohn. Da es in der Wirtschaft auch keine besseren Angebote gibt, kann der Staat mit der Aussicht auf eine zukünftige Verbesserung Befristungen und Herabstufungen bei der Eingruppierung durchsetzen. Begründungen, warum die Verbesserungen nicht vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag kommen werden, liegen bereits heute vor: Schuldenbremsen, Personallasten, Pensionslasten, zu hohe Sachkosten durch falsch kalkulierte Bauprojekte etc. Für die Neuen auf dem Markt der abhängigen Beschäftigung bedeutet dies: Die Krise ist da – und bleibt!

Aber der Gesetzgeber ist nicht so machtlos wie er es häufig darstellt. Er arbeitet fleißig mit an der Beschleunigung der Abwärtsspirale für die abhängig Beschäftigten. Die Gesetze mit dem schönen Namen Hartz (I bis IV) haben dafür gesorgt, dass in Deutschland einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa entstanden ist.4 Also funktioniert Politik doch, nur eben sehr einseitig. Wenn mehr Menschen bereit sind oder jetzt bereit sein müssen, für geringe Löhne zu arbeiten, dann gewöhnt sich die andere Seite (die Volkswirte sprechen hier vom Produktionsfaktor Kapital) an diese Zustände. Bestimmte Arbeiten sind auf Dauer weniger wert und am vorläufigen Ende der Entwicklung stehen 6,12 Millionen Leistungsempfänger des Arbeitslosengeldes II, wie es korrekt bezeichnet wird, von denen 2,4 Millionen erwerbstätig sind und trotzdem die Hilfe des Staates benötigen.5 Die 1,13 Millionen Empfänger des Arbeitslosengeldes I kommen noch hinzu.6 Zusätzlich gibt es in den Betrieben hunderttausende Menschen, die sich Sorgen um ihre Existenz machen müssen. Dies ist dann der Zustand des Produktionsfaktors Arbeit, der gleichzeitig die Nachfrage darstellt und bestimmt. Der Produktionsfaktor Arbeit, also die Arbeitnehmer, sollen – dies nur nebenbei – den Konsum ankurbeln, Familien gründen, die eigenen Kinder fördern und natürlich vorsorgen, vorsorgen, vorsorgen.

Die Reformen greifen also, und sie greifen weiter um sich, verändern die Lebensweise und vor allem das Verhalten von Menschen. Sie fördern Egozentrik und Vereinzelung, weil Sicherheit geopfert wurde und stattdessen – häufig völlig sinnlos – Konkurrenzdenken um sich greift. Sinnlos deshalb, weil die Zahl der gut bezahlten Arbeitsplätze sogar abnimmt. Hierarchien in Unternehmen werden abgeflacht, die Stichworte dafür sind »lean management« und »lean production«. Banken und Versicherungen bauen auch höher bezahlte Arbeitsplätze ab. Die Allianz-Versicherung will z. B. 400 Stabsstellen, überwiegend in München, streichen und die einfachen Tätigkeiten im Konzern zügig ausgliedern.7 Die ausgegliederten Bereiche unterliegen regelmäßig geringer dotierten Tarifverträgen, denn sonst würde die Maßnahme das Ziel der Kosteneinsparung nicht erreichen.

Wer neu auf den Arbeitsmarkt kommt, muss sich den Bedingungen stellen. Warum soll z. B. ein großer Verlag sofort einen Hochschulabsolventen der Geisteswissenschaften einstellen, wenn er zunächst ein Praktikum anbieten kann und dann einen befristeten Arbeitsvertrag? Es ist auch denkbar, dass ein Praktikum bei einem kleineren Unternehmen überhaupt erst die Eintrittskarte für ein Praktikum bei einem größeren Unternehmen darstellt. Es geschieht immer das, was erlaubt ist. Leistungen im viel gepriesenen Bildungssystem werden in Wahrheit doch auf dem Arbeitsmarkt gar nicht mehr anerkannt. Die Akademiker werden zum Proletariat des 21. Jahrhunderts, aber sie haben keine Vorstellung davon, wie sie sich organisieren könnten, um auf die Missstände aufmerksam zu machen oder sie werden nicht gehört in einer Republik der Alten. Aber auch die waren einmal jung, wie das folgende Kapitel noch zeigen wird.

Mein Professor (Jahrgang 1945) hatte mir nach einem Treffen mit seiner alten Abiturklasse einmal erzählt, dass zu seiner Zeit nur 16 % eines Jahrgangs das Abitur erworben haben. Viele von ihnen waren später im mittleren Management tätig, waren Geschäftsführer oder sind Professoren geworden. Ich habe festgestellt, dass es in meinem Jahrgang (1970) bereits 33 % Abiturienten gab. Nach den Reformen der letzten Jahre werden – je nach Bundesland – bis zu 60 % des Jahrgangs 1995 eine Hochschulzugangsberechtigung erhalten!

Fazit

Wenn auf einem Markt – hier: dem Arbeitsmarkt – die Nachfrage nach gut bezahlter Arbeit steigt, weil die jüngere Generation insgesamt über mehr und vor allem höhere formale Qualifikationen verfügt, so steigt damit noch lange nicht das Angebot an gut bezahlten Arbeitsplätzen. Im Gegenteil: Die Konkurrenz um qualifizierte, überdurchschnittlich bezahlte Arbeit steigt, die Löhne sinken, die Bedingungen werden insgesamt verschlechtert. Dies betrifft mittlerweile auch Ingenieure, denn die Unternehmen schreiben häufig EU-weit aus. Es droht ein Zeitalter der enttäuschten Erwartungen. Die ständigen Reformen des Bildungssystems und die Reformen des Arbeitsmarktes inklusive der laufend durchgeführten Rationalisierungsmaßnahmen der freien Wirtschaft greifen bestens ineinander.

2.

Marktmechanismen zum Zweiten

Es gilt, »die Probleme an der Wurzel zu packen […] und sich nicht mit der Behandlung der gesellschaftlichen Oberfläche zufriedenzugeben.«8

Norbert Blüm

Bestimmte Marktmechanismen sind zur Zeit nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch auf dem Wohnungsmarkt zu beobachten. Wer gerade als Wohnungssuchender in einer deutschen Großstadt unterwegs ist, hat gelernt, wie sich die Verknappung des Angebots auswirkt. Der o. g. Vorgabe folgend, die in Blüms zu Unrecht nur noch selten beachteten Werk: »Reaktion oder Reform. Wohin geht die CDU?« von 1973 nachzulesen ist, soll hier einmal der Wohnungsmarkt betrachtet werden. Beim studierten Theologen Blüm durfte der Hinweis auf die christliche Soziallehre und Thomas von Aquin (1225–1274) nicht fehlen.9 Aber wir müssen in der Argumentation nicht unbedingt, bis in das 13. Jahrhundert zurückgehen oder das mit Thomas von Aquin besonders verbundene Zitat: »Die Güter dieser Erde sind für alle da« bemühen.10 Es reicht, die Zeit nach der deutschen Einheit zu betrachten. Fast 90 % der Einwohner Berlins sind Mieter. Unter vergleichbaren Ländern der EU hat Deutschland insgesamt mit 46 % die geringste Wohneigentumsquote.11 Warum wird, wenn es über staatliche Investitionen geht, immer nur über Bildung, Verkehrsinfrastruktur, Kinderbetreuung etc. gesprochen?

Zaghafte Versuche der Eigenheim-Förderung, das sogenannte Bausparen, wurde vom SPD-Finanzminister Eichel wieder kassiert, einschließlich der Steuervorteile für Familien, die ein Haus bauen wollten. Alles zu teuer, alles nach dem Motto, das können wir uns nicht mehr leisten, im Zeitalter der Globalisierung. Später wurde nur noch das Thema Arbeitslosigkeit bearbeitet, in etwa seit der Mitte der 90er Jahre. Bei genauerer Betrachtung wurden nur die Arbeitslosen bearbeitet. Kurz zuvor hatte die deutsche Einheit Millionen von Menschen enteignet. Die DDR-Bürger hatten ihren Wohnraum selbst geschaffen, jahrzehntelang Miete gezahlt, doch danach wurden ihnen die Wohnungen nicht als Eigentum angeboten, sondern an international operierende Investoren verkauft. Hier hatte sogar Margret Thatcher in England einen anderen Ansatz gewählt, weil sie erkannt hatte, dass Wohneigentum auch für die kleinen Leute sinnvoll sein kann. Dort konnten die Mieter staatlicher Wohnungsbauunternehmen ihre Wohnungen günstig erwerben.12 Wer hätte das gedacht: So haben nicht nur die Südeuropäer, sondern auch die Briten heute zu 70 % Wohneigentum. Allein die Stadt Dresden hatte schon 2006 ca. 35.000 Wohnungen an einen Investor verkauft, im Jahre 2013 trennte sich auch der Bund von seinen restlichen 12.000 Wohnungen in Ostdeutschland für ca. 560 Millionen Euro.13 Die 35.000 Wohnungen von 2006 sind im Übrigen zurzeit wieder zu haben, der Investor möchte nun gern wieder verkaufen.14 Und so wurde im Tagesspiegel (Berlin) bereits im April 2012 festgestellt: »In Deutschland wechseln Wohnungen den Besitzer in einem Umfang und einem Tempo wie seit Jahren nicht mehr.«15

Wenn also nun immer mehr Wohnungen gehandelt werden, so sollten doch auch die Grunderwerbsteuereinnahmen der Länder automatisch ansteigen. Wer nicht zum Eigenbedarf kauft, sondern als Investor Immobilien im großen Stil erwirbt, der wählte bis zum 6.6.2013 eine Konstruktion, bei der die Grunderwerbsteuer gar nicht anfiel: den »Real Estate Transfer Tax Blocker« (RETT-Blocker).16 Dabei wurde eine Gesellschaft, die die Grundstücke hielt, nur zum Teil selbst gekauft, zum Teil durch eine weitere, dazwischengeschaltete Gesellschaft, den »Tax-Blocker«.17 So entstand eine Grunderwerbsteuerlast für Großanleger von 0,0 %. Der Gesetzgeber hat zwar versucht, die Möglichkeiten der Steuerersparnis einzuschränken, aber gleichzeitig werden von den Immobilieninvestoren und ihren Beratern natürlich neue Konstruktionen erdacht, um die Grunderwerbsteuer weiterhin zu sparen. Erste Modelle dazu gibt es bereits.18

Die Einnahmen aus der Grunderwerbsteuer sinken demnach, je mehr Wohnungen nicht mehr für den Eigenbedarf gekauft werden, und die Länder erhöhen fleißig den Steuersatz, fast überall auf 6 bis 6,5 %, allerdings nur für die Menschen, die eine Wohnung oder ein Haus selbst bewohnen möchten. So können die Verantwortlichen in den Bundesländern behaupten, dass die Steuereinnahmen aus der Grunderwerbsteuer steigen. Der Eigentumserwerb für Privatpersonen wird weiter erschwert und gleichzeitig öffnet sich Deutschland immer weiter für internationale Investoren. Der Verkauf auf der Bundesebene wird beispielsweise von der Bank Barclays Capital in Frankfurt und der Anwaltskanzlei White&Case durchgeführt.19

Die Bürger der DDR sind um die Früchte ihrer Arbeit betrogen worden und der Staat muss heute, wenn die Betroffenen arbeitslos sind, noch die Miete übernehmen. Dafür sind die Wohnungen international handelbar. Ludwig Erhard hatte dies übrigens auch ganz anders empfohlen.20 Während also in England den Mietern einfacher Wohnungen beim Kauf hohe Rabatte gewährt wurden, wird den Deutschen die Grunderwerbsteuer erhöht, damit alles schön in der Hand weniger Großinvestoren bleibt.

Wohnen ist schließlich ein wichtiges Recht, über das demnächst auch in Deutschland wieder mehr gesprochen werden wird. Schon gibt es Bürgerinitiativen gegen die enormen Steigerungen der Mietpreise in den Großstädten. Sogar zaghafte Demonstrationen flackern auf. In dieser Frage hätte sich der Staat anlässlich der Einheit einiges an Kosten ersparen können, indem er die ehemaligen Mieter der DDR zu Miteigentümern gemacht hätte. Eine soziale Gestaltung der Einheit kam in der Hektik der Nachwendejahre nicht zu Stande.

Wenn im Jahre 1990 im emotionalen Überschwang der Gefühle anlässlich der wiedergewonnenen Einheit keine vernünftigen Lösungen möglich waren, so kommt die Eigentumsfrage doch immer wieder auf die Tagesordnung zurück. Warum wird nicht wenigstens mehr genossenschaftliches Eigentum gefördert? Ohnehin ist doch die Rechtsform der Genossenschaft immer die bessere Lösung im Vergleich zur Aktiengesellschaft: Der genossenschaftliche Bankensektor hatte schließlich keine Krise und auch keine staatlichen Hilfen nötig. Er hatte seinen Genossen auch keine Renditen von 25 % versprochen. Durch die massiven Umverteilungen, die von den Rettungsschirmen und Finanzmarktstabilisierungen ausgehen, beschleunigt sich die Vermögenskonzentration in Deutschland und Europa ohnehin im Sekundentakt.

Schon im Jahre 1966 wurde durch den zu Beginn des Kapitels bereits erwähnten Herrn Blüm festgestellt, dass nur 1,7 % der Bevölkerung 74 % des Produktivkapitals besaßen, der Trend zur Vermögenskonzentration war bereits deutlich sichtbar und bestimmte die politische Diskussion.21 Knapp 50 Jahre später hat sich die Lage sogar verschärft.

Fazit

Während den Bürgern vor Ort die Steuern und Gebühren erhöht werden, um irgendwie gegen dieses System anzusparen, entzieht sich immer mehr Eigentum, das verbrieft und in großem Stil international gehandelt wird, der Besteuerung vollständig. Hessen erhöht die Grunderwerbssteuer auf 6 %. Die Stadt Gießen (76.000 Einwohner) hat zusätzlich gerade die Grundsteuer um 58 % erhöht. Andere Gemeinden werden nachziehen. Die Mehrwertsteuer bei Neubauten wird im Übrigen auch nur fällig, wenn der Bauherr das Haus selbst bewohnen möchte. Für Wohnraum, der gewerblich weiterverwendet wird (Vermietung, Verpachtung), gibt’s natürlich die Mehrwertsteuerrückerstattung. Aber auf so einem irrationalen Weg, im Kleinen ein wenig zu sparen und die wenigen Schrauben vor Ort zu drehen, während international operierende Akteure sich von allen Belastungen befreien können, wird es nicht gehen.

3.

River of no Return?

Anhäufung (von Kapital) und Beschleunigung, so wie wir es jeden Tag in den Nachrichten präsentiert bekommen, wenn wieder das große Eigentum, Banken und Versicherungen, »gerettet« werden, bilden die beiden grundlegenden Parameter der Marktwirtschaft. Die Volkswirte benutzen dafür die Fremdwörter Akkumulation und Akzeleration (Kapitalanhäufung und Beschleunigung). Mir fällt dazu eine vor langer Zeit erlernte Beweisführung aus dem Mathematikunterricht ein. Gleichungen, in der die Zeit als Variable vorkommt, wurden der Frage zugeführt:

»Was passiert mit einer Gleichung bzw. einem System, wenn die Zeit gegen unendlich gesetzt wird?«

Das mathematische Zeichen für unendlich erinnert an eine umgefallene 8 und sieht so aus: ∞. Ich übertrage diese Fragetechnik auf die Wirkungsweise unseres aktuellen Wirtschaftssystems, wobei allen spätestens seit der Finanzkrise von 2009 klar sein dürfte, dass es sich nicht mehr um die Soziale Marktwirtschaft, sondern um einen internationalen Finanzkapitalismus handelt. In einem solchen sind eben die beiden Parameter Kapitalakkumulation und Akzeleration die bestimmenden Größen. Es ergibt sich, wenn die Politik diesen gewaltigen Kräften allein die Regie überlässt, folgende Antwort:

»Setzt man in dieser Versuchsanordnung die Zeit gegen unendlich, so gehört alles einem!«

Noch bewegt sich die Politik vollständig im Sog dieser Beschleunigung, wie in einem reißenden Fluss – es scheint kein rettendes Ufer zu geben. Nur nicht an irgendwelchen Klippen zerschellen.

Das alles erinnert an den Film mit Marylin Monroe und Robert Mitchum: »River of no Return« mit der gleichnamigen und sehr eingängigen Titelmelodie. Ich habe diese Melodie einige Zeit lang nicht mehr aus dem Kopf bekommen, besonders, wenn ich mir die Durchhalteparolen zu den Themen rund um die »Euro-Rettung« immer wieder im Fernsehen ansehen musste. Der Film ging noch halbwegs gut aus, er stammt aus dem Jahre 1954, als die Regisseure noch auf einfach gestrickte Charaktere und die ewig gleichen Happy Ends setzten. Aber wer führt heute die Regie und wer wird den reißenden Strom, also den finanzmarktgesteuerten Kapitalismus, irgendwie beruhigen können?

Noch führen allein die Mechanismen des Marktes die Regie: Es gibt dank der Rente mit 67 nach und nach immer mehr Menschen, die vorzeitig, d. h. mit Abschlägen, in Rente gehen müssen. Für Versicherte, die nach dem 1.1.1953 geboren sind, steigt die Altersgrenze bei der aktuell diskutierten abschlagsfreien Rente mit 63 mit jedem Jahrgang um zwei Monate an. Von Jahrgang 1964 an ist aus der Rente mit 63 dann schrittweise eine Rente mit 65 geworden – nach 45 Beitragsjahren. An der ursprünglichen Reform und am Rentenniveau wurde also wenig geändert. Weiterhin werden ältere Menschen versuchen, ihre Arbeitskraft in Nebenjobs anzubieten, um das Einkommen zu erhöhen, nur wo? Wieder bietet eine Personengruppe Arbeit zu geringen Stundenlöhnen an: Opa konkurriert dann wohl mit seinem Enkel darum, wer nachmittags noch die Anzeigenzeitung austrägt. McDonald’s nimmt das Phänomen bereits in der Werbung auf: Oma und Enkelin braten zusammen Pommes und machen glückliche Gesichter. Endlich können die Großeltern wieder mehr Zeit mit ihren Enkeln verbringen. Diese gewöhnen sich gleich daran, dass in nicht allzu ferner Zukunft sowieso jeder zweite Arbeitsplatz darin besteht, Fast-Food oder Kleidung aus China zu verkaufen. Einige Bundesstaaten der USA sollen diese Quote schon erreicht haben. Sie sind uns dort, wie immer, nur ein kleines Stück voraus. Die zwangsläufig hohe Nachfrage nach einfacher Arbeit führt dazu, dass in diesem Bereich die Löhne weiter sinken. Am Ende arbeitet die ganze Familie für das Geld, was früher ein Einzelner erarbeitet hat.

Die Einführung von Mindestlöhnen ist keine Lösung. Wenn es sie erst einmal gibt, werden zügig immer mehr Menschen auch nur diesen Mindestlohn bekommen. Das Gleiche gilt im Übrigen für die Mindestrente. Schließlich sind die gesetzlichen Vorgaben damit erfüllt, warum also mehr tun? Die alte Lohnfindung über Tarifparteien und Tarifverträge können die Mindestlöhne nicht ersetzen. Sie werden auch nicht den Verfall gewerkschaftlichen Einflusses stoppen oder die Zerstückelung von Vollzeitarbeitsplätzen in 450-Euro-Jobs. Aber auch das reicht manchen Supermarktketten und Logistikunternehmen noch nicht. Es werden Subunternehmen eingeschaltet und Werkverträge abgeschlossen. In Hotels werden Zimmermädchen gar nicht mehr pro Stunde, sondern nach der Zahl der Zimmer bezahlt, die sie gereinigt haben. Leerlauf geht dann eben auf eigene Kosten.

Der Markt reagiert auf die neuen Möglichkeiten, und er reagiert immer massiver. Früher war es die Aufgabe der Staatssekretäre, eine Folgeabschätzung über geplante Gesetze zu erstellen, aber anscheinend ist diese Aufgabe in der Hektik des 21. Jahrhunderts verloren gegangen oder es gibt in Berlin niemanden mehr, der sich noch erinnert. Regierungen versuchen verzweifelt, bessere Standortbedingungen zu schaffen. Dadurch werden aber Einkommensunterschiede immer weiter vertieft. Eine immer größere Zahl von Menschen bleibt in den westlichen Industrieländern zurück, denn wenn alle das Gleiche versuchen, beginnt die Abwärtsspirale. An der Arbeitslosigkeit in Europa wird sich insgesamt nichts ändern, dies ist mittlerweile überdeutlich und die deutschen Reformen haben dazu beigetragen.

4.

Aber bitte nicht so viel meckern!

Uns Deutschen wird eingeredet, wir meckerten zu viel. »Die sollen nicht so viel meckern, sondern arbeiten!« Mit diesem Satz forderten die jungen Liberalen im Sommerloch 2011 in NRW die wie immer »faulen Lehrer« zur Mehrarbeit auf. Schließlich müssen alle mehr arbeiten, wegen der Wettbewerbsfähigkeit. Das ist dann auch schon das zweite wichtige Wort neben dem Begriff der Globalisierung im 21. Jahrhundert, Erklärung folgt! Aber woher kommen diese merkwürdigen Kommunikationsstrukturen? Steckt nicht hinter solchen Sätzen die Idee, dass jetzt alle zusammenhalten müssen, in der Krise? Und dass nichts mehr hinterfragt werden darf? Wird uns eine Art Vogel-Strauß-Technik empfohlen, bei der zwar die Ärmel aufgekrempelt werden sollen, aber gleichzeitig der Kopf in den Sand gesteckt wird? Der Überblick geht so zumindest verloren. Bereits auf dem Reichsparteitag der Arbeit 1937 hielt der Führer seine Rede unter dem Banner Nicht meckern, sondern arbeiten!

Kaum ein Bereich der Gesellschaft wird in Deutschland also immer wieder mit dieser Art der volkstümlichen Folklore beschrieben wie anständige und fleißige Arbeit. Ähnlich wie die jungen Liberalen hatte schon Gerhard Schröder in seinen Wahlkämpfen geklungen. Er stellte sich gern als Anführer der hart arbeitenden, fleißigen und anständigen Deutschen dar – auf der anderen Seite standen die, die sich einen lauen Lenz machen, alles besser wissen, diese Professoren halt und die Arbeitslosen, denn wie er erst kürzlich wieder festgestellt hat: »Es gibt kein Recht auf Faulheit!«22 Vorurteile, Unkenntnis über die Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft, gezielte Fehlinformation und die »Neuausrichtung« von Statistiken begleiten uns in diesem Feld seit Jahrzehnten.

Die Arbeitslosenstatistik der USA bezieht z. B. nur Menschen ein, die maximal 1 Jahr arbeitslos sind. Sie sagt über die Zahl der Arbeit suchenden Menschen dort also überhaupt nichts aus. Spätestens nach 26 Monaten endet die Arbeitslosenhilfe in fast allen Bundesstaaten. Danach gibt es die Möglichkeit, Lebensmittelmarken zu beziehen, wenn das Haushaltsvermögen nicht über 2000 US-Dollar liegt. Im Jahre 2012 bezogen ca. 48 Millionen Menschen diese Lebensmittelmarken, 20 % aller US-Haushalte! Wer sich aufgegeben hat und entsprechend dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht, bekommt gar keine Leistung. Umso interessanter ist ein Vergleich der Erwerbstätigenquote. Hier wird der Anteil der Menschen zwischen dem 16. und 60. Lebensjahr ausgewiesen, der einer Beschäftigung nachgeht.

Diese Erwerbstätigenquote liegt in den USA aktuell (2012) nur noch bei gut 60 % und geht bereits seit dem Jahr 2000 kontinuierlich zurück.23 In Deutschland beträgt die Erwerbstätigenquote noch 70 %. Ein großer Markt, der in Nordamerika Mitte der 90er Jahre geschaffen wurde, hat für die Situation der Arbeitnehmer also nichts gebracht. Es handelt sich um die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA). Dadurch wurde eine Freihandelszone der USA mit Mexiko und Kanada mit insgesamt 464,4 Millionen Einwohnern geschaffen. Jetzt soll eine noch größere Freihandelszone gemeinsam mit der EU geschaffen werden. Immerhin wissen wir schon vorher, wie sich die Zahl der Arbeitsplätze in immer größeren Freihandelszonen entwickeln wird: stetig abwärts! Ähnliches gilt für die Reallöhne. Folgende Gesetzmäßigkeit ist auf jeden Fall anzunehmen: Je größer das Ganze, umso unwichtiger der Einzelne!

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»Amerika blickt voller Sorge nach Europa« (Quelle: Burkhard Mohr)

Ich werde den Versuch unternehmen, auch mit einigen Rückgriffen auf die Diskussion der letzten 15 Jahre, etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Wie kann es z. B. sein, dass die Wahlbeteiligung immer weiter zurückgeht, obwohl die Politik mit ihren Vorzeigestatistiken behauptet, die Lage, besonders am Arbeitsmarkt, wäre so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr? Eine geringe Wahlbeteiligung bedeutet ganz sicher, dass es sehr viele Menschen in Deutschland gibt, die schon lange keine Hoffnung mehr haben, dass sich an ihrer prekären Situation jemals etwas ändern wird.

Ein schönes Beispiel für diesen Selbstbetrug stellt die Landtagswahl in NRW im April 2012 dar. Die Wahlbeteiligung betrug genau 59,6 %. Davon erhielt die »strahlende Siegerin« Hannelore Kraft 39,1 %, ihr Herausforderer Norbert Röttgen 26,3 %. So weit, so gut. Eine neue Hoffnungsträgerin, gar mögliche Kanzlerkandidatin war geboren. In absoluten Zahlen sieht das Ganze dann schon anders aus. Es gab in NRW 13.262.049 Wahlberechtigte, davon stimmten 3.049.983 für die SPD, also 23 %. Die CDU erhielt 2.050.321 Stimmen, dies sind dann respektable 15,5 %.24 In Frankreich haben zur gleichen Zeit über 80 % der Wahlberechtigten an der Präsidentenwahl teilgenommen, vermutlich weil sie tatsächlich eine Wahl hatten. Zumindest sah es im Frühjahr 2012 danach aus. Es lagen unterschiedliche Programme vor, nicht nur die berühmten Sparprogramme ohne jedes Ziel, und im Wahlkampf ging es nicht nur um Currywurst. Die Wahlberechtigten mussten in den letzten Jahren schon einiges ertragen. Ob die Volksparteien wirklich noch die Mehrheit der Wahlberechtigten und damit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, erst recht der Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger hinter sich haben, ist längst nicht sicher.

Statistiken können nicht beschreiben, wie ein Mensch seine persönliche Lage empfindet. Die Lage am deutschen Arbeitsmarkt ist daher auch nicht so eindeutig wie es vor Wahlen gern beschrieben wird. Es scheint Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung von Arbeit, Arbeitsbedingungen und Entlohnung zu geben, die in der öffentlichen Debatte nicht erklärt werden. Aber nicht, weil sie zu kompliziert sind, sondern weil Änderungen eben nicht gewünscht sind.