Vollgeld
Das Geldsystem der Zukunft
Unser Weg aus der Finanzkrise
Thomas Mayer
Roman Huber
Vollgeld.
Das Geldsystem der Zukunft.
Unser Weg aus der Finanzkrise
© Tectum Verlag Marburg, 2014
ISBN 978-3-8288-6106-0
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-3350-0 im Tectum Verlag erschienen.)
Umschlagabbildung: istockphoto.com © dibrova (fallende Münzen, bearbeitet) und istockphoto © wrangel (Schweizer Frankenmünze, bearbeitet)
Satz, Layout, Coverdesign: Norman Rinkenberger|Tectum Verlag
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Wer anderen etwas vorgedacht
wird jahrelang erst ausgelacht.
Begreift man die Entdeckung endlich
so nennt sie jeder selbstverständlich.
Wilhelm Busch
Vorwort
KAPITEL 1:
Einstimmung
Sieben Fragen zum Geld… die Sie sich einmal stellen sollten
Einige Stimmen
KAPITEL 2:
Wer regiert die Welt – wir oder das Geld?
Wie kam es zur jüngsten Finanzkrise?
Die Euro-Krise
KAPITEL 3:
Hauptprobleme des heutigen Geldsystems
Giralgeldschöpfung der Banken
Wie kommt das Geld in Umlauf?
Nachteile des Schuldgeldsystems
Warum wurde die Geldherstellung privaten Firmen überlassen?
Die Technik der Verschleierung
KAPITEL 4:
Vollgeld könnte eingeführt werden, ohne dass wir es bemerken
Die wichtigsten Punkte der Vollgeld-Reform
Auswirkungen für Bankkunden
Vollgeld braucht Gewaltenteilung
KAPITEL 5:
Die großen Vorteile des Vollgeldes
Vollgeld ist einfach, verständlich und gibt es als Münzen schon seit Jahrtausenden
Vollgeld rentiert sich: 5 Billionen für die Euro-Staaten, 300 Milliarden für die Schweiz!
Vollgeld senkt die Staatsverschuldung der Euro-Staaten um 60 %, die Schweiz wird ganz schuldenfrei
Vollgeld beendet die Euro-Krise und macht EU-Bürokratie (ESM, Bankenunion, Basel III etc.) überflüssig
Vollgeld ist das sicherste Geld der Welt, Konkursbanken können abgewickelt werden
Vollgeld verhindert Finanzblasen
Vollgeld schützt vor Inflation
Vollgeld mildert die Kluft zwischen Arm und Reich
Vollgeld reduziert den Wachstumsdruck
Vollgeld schafft freien Wettbewerb
KAPITEL 6:
Vollgeld in der Diskussion
Alternativen zum Vollgeld
Missverständnisse zum Vollgeld
Welche Probleme löst Vollgeld nicht?
Auswirkungen für Banken
KAPITEL 7:
Der Traum wird Wirklichkeit
Anhang
Online-Ergänzungsbuch
Anmerkungen
Verwendete Literatur
Dieses Buch ist ein Plädoyer für das Vollgeld. Vollgeld schafft ein einfaches, sicheres Geld- und Bankensystem, das viele Probleme des bestehenden, sehr ungerechten Geldsystems löst.
Was bedeutet der Name VOLLGELD? Vollgeld bringt zum Ausdruck, dass das elektronische Geld auf den Bankkonten vollwertiges, gesetzliches Zahlungsmittel und allein von der Zentralbank erzeugt wird, wie heute Münzen und Banknoten. Vollgeld ist von der ganzen Volkswirtschaft gedeckt, während elektronisches Geld, das von einer Bank erzeugt wurde, sich in Luft auflösen kann, wenn die Bank etwa bankrott geht.
Vollgeld ist keine Revolution oder fundamentale Alternative zum bestehenden System, sondern ein naheliegender nächster Schritt. Wir haben bereits über Jahrtausende hinweg mit den Geldmünzen ein Vollgeldsystem. Erst in den letzten drei Jahrhunderten bildete sich das heute bestehende Bankengeldsystem heraus. Vor über hundert Jahren wurde den Banken verboten, Papiergeld selbst zu drucken. Seitdem dürfen nur noch Zentralbanken Geld drucken. Dasselbe streben wir nun mit dem elektronischen Geld an. Dann können Banken kein eigenes Geld mehr schaffen, sondern nur noch Geld verleihen, das sie zur Verfügung gestellt bekommen haben.
Vollgeld hat sehr viele Vorteile:
•Das Geldsystem wird für die Bürgerinnen und Bürger wieder verständlich.
•Geld auf Girokonten ist vollumfänglich sicher, auch bei Bankenpleiten.
•Die heutige unkontrollierte Geldschöpfung durch die Banken wird eingedämmt und damit zukünftige Finanzblasen verhindert.
•Das Bankensystem wird weitgehend entflochten, so dass der Staat weniger durch Bankenpleiten erpressbar ist.
•Alle Gewinne aus der Geldschöpfung stehen ausschließlich der Allgemeinheit zur Verfügung. Die Vollgeldreform bringt den Bürgerinnen und Bürgern im Euro-Raum zusätzlich 5 Billionen Euro oder jenen in der Schweiz 300 Milliarden Franken.
•Die Umverteilung von Arm zu Reich allein durch die Inumlaufbringung von Geld durch verzinsliche Kredite wird beendet.
•Eine Wettbewerbsgleichheit zwischen Banken und Unternehmen sowie zwischen Groß- und Kleinbanken wird hergestellt.
•Der Wachstumsdruck auf die Wirtschaft wird reduziert.
Ein Geld, das solche Wunder vollbringt? Gibt es das wirklich? Ist das wahr oder ist das ein Traum? Manchmal werden Träume wahr – nicht nur in Märchen, sondern auch im realen Leben. Vollgeld steht auf dem Boden aller Tatsachen, ist gut erforscht und leicht umsetzbar. Immer wieder plädierten Wissenschaftler für die alleinige Herstellung von Geld durch den Staat. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman und der Freiburger Ökonom Walter Eucken waren von der Idee überzeugt. 1935 schlugen der weltberühmte Volkswirt Irving Fisher und die „Chicagoer Schule“ als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise das „100%-Money“ vor. Das wurde vom Internationalen Währungsfond (IWF), der für die internationale Währungsstabilität verantwortlich ist, untersucht und in den positiven Wirkungen bestätigt. 1 Vollgeld ist eine Variante des 100%-Money, die die bewährten Regeln des Münzgeldes auf Papier- und Giralgeld ausdehnt. Daran arbeiten Forscher seit vielen Jahrzehnten. Hier seien besonders Rolf Gocht, Joseph Huber und James Robertson erwähnt, auf deren Arbeiten wir uns stark beziehen.
An Vollgeld profitiert fast jede und jeder. Es gibt aber auch einige wenige Verlierer. Nicht jeder freut sich über Vollgeld:
•Die Investment-Banken müssten auf das einträgliche Geschäft der Börsen-Spekulation mit selbst erfundenem Geld verzichten, der Eigenhandel wird so stark eingeschränkt.
•Wenn in Folge der Vollgeldreform Staatsschulden getilgt werden, müssten die Banken auf das einträgliche Geschäft der Staatsfinanzierung mit selbst erfundenem Geld verzichten.
•Die bisherigen Inhaber von Staatspapieren müssten anderweitige Anlege-Möglichkeiten suchen, womöglich riskantere.
•Da es weniger Auf und Ab an den Finanzmärkten gibt, haben Spekulanten weniger Chancen auf schnelle Gewinne.
•Das Bankgeschäft wird insgesamt langweiliger und nichts mehr für Boni-Jäger.
Das Buch wurde hauptsächlich von Thomas Mayer geschrieben. Roman Huber formulierte Kapitel 2 „Wer regiert die Welt?“. Viele Freundinnen und Freunde haben das Manuskript durchgesehen. Unser besonderer Dank geht an: Elena Ball, Anne Dänner, Timm Gudehus, Joseph Huber, Klaus Karwat, Brigitte Krenkers, Ludolf von Mackensen, Walter Meier-Solfrian, Daniel Meier, Ralf Otterpohl, Iris Paxino-Brachmann, Mara Seeberger, Sebastian von Verschuer, Hansruedi Weber und Barbara Ziep.
Die Autorenhonorare dieses Buches fließen der Bewusstseins-Stiftung zu. Diese fördert Initiativen für die Einführung des Vollgeldes und weitere Reformen unseres Geldsystems. Wir suchen Mitstifter und Spender. (www.bewusstseins-stiftung.de)
In der Schweiz will die VOLLGELD-INITIATIVE erreichen, dass die Bürgerinnen und Bürger über die demokratische Kontrolle ihres Geldwesens abstimmen können (www.vollgeld-initiative.ch). Auch in Deutschland streben wir eine Volksabstimmung zur Vollgeld-Reform an. Wenn die bundesweite Volksabstimmung rechtlich geregelt wird – womit wir in den nächsten Jahren rechnen – wollen wir vorbereitet sein und starten können (www.vollgeld.org und www.monetative.de). In vielen anderen Staaten gibt es ähnliche Initiativen (www.internationalmoneyreform.org).
Viel Spaß beim Lesen!
Thomas Mayer und Roman Huber
im August 2014
1.Ist Ihnen bekannt, dass ca. 90 % des von uns verwendeten Geldes (das elektronische Geld auf unseren Bankkonten) nicht – wie von den meisten Menschen angenommen – durch die demokratisch legitimierten Zentralbanken, sondern durch private, gewinnorientierte Geschäftsbanken erzeugt und in Umlauf gebracht wird?
2.Wissen Sie, dass dieses Privileg der Banken, elektronisches Geld zu erzeugen, gesetzlich nicht explizit geregelt ist?
3.Ist Ihnen bekannt, dass mit einer Korrektur dieser Praxis die derzeitige Staatsverschuldung innerhalb weniger Jahre weitgehend getilgt werden könnte?
4.Ist Ihnen bekannt, dass dadurch auch Milliarden an jährlichen Zinszahlungen eingespart werden könnten?
5.Sind Sie der Meinung, dass die Banken künftig gleiche Rechte haben sollen wie alle anderen Unternehmen, welche ja selbst kein Geld herstellen können?
6.Würden Sie ein Geldsystem bevorzugen, das gewährleistet, dass die Wirtschaft auch ohne Wachstumsdruck stabil bleiben kann?
7.Wollen Sie ein Geld- und Bankensystem, das bei Bankenpleiten und Finanz-Crashs nicht ins Wanken kommt?
Das Problem der Geldschöpfung durch die Banken und die Einführung von Vollgeld wurde von Wissenschaftlern immer wieder diskutiert.
Irving Fisher (1867–1947) war einer der bedeutendsten Nationalökonomen Amerikas. Seine Publikationsliste umfasst 2000 Titel. Beim Börsencrash 1929 verlor er fast sein gesamtes Vermögen und auch seinen guten Ruf, da er noch kurz zuvor zum Kauf von Aktien geraten hatte. Als Konsequenz daraus veröffentlichte er 1935 sein letztes Buch „100%-Money“, in dem er eine Wiederherstellung des staatlichen Vorrechts auf Geldschöpfung forderte. 1 Darin schrieb er: „Wenn es ein 100%-Money-System gegeben hätte, wäre die große Depression nicht ausgelöst worden.“
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7d/Irvingfisher.jpg
Viele weitere Wissenschaftler forderten damals eine 100%-Deckung des Geldes und brachten das im „Chicago Plan“ in die politische Dikussion ein, setzte sich aber nicht durch.
In Deutschland arbeitete Rolf Gocht (1913–2008) die Idee des Vollgeldes aus. 2 Rolf Gocht war Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank von 1967 bis 1975. Er schrieb: „Die Ursache der unserer Geldordnung innewohnenden Unstabilität liegt in der Entstehung von Geld und seiner Vernichtung durch einen Bankkredit und dessen Tilgung.“
Quelle: Deutsche Bundesbank
Quelle: http://www.funeralre-lnfo.fr/wp-content/uploads/2012/10/Maurlce-Allals.png
In Frankreich war Maurice Allais (1911–2010), Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 1988, ein Befürworter der alleinigen Geldschöpfung durch den Staat: 3 „Der Staat und nur der Staat alleine darf die einzige Kompetenz der Geldschöpfung haben. Jede Geldschöpfung außer dem Basisgeld der Zentralbank muss verunmöglicht und die Erzeugung von Bankengeld abgeschafft werden.“
Quelle: Deutsche Bundesbank
Dennoch wurde die Vollgeld-Idee kaum aufgegriffen. Erst durch die Finanzkrise ab 2008 öffnete sich der Raum dafür, unser bestehendes Geld- und Bankensystem zu hinterfragen. Das brachte Sir Mervyn King, Präsident der Bank of England von 2003–2013, prägnant auf den Punkt: 4 „Von allen Möglichkeiten, das Bankwesen zu organisieren, ist die schlechteste die, die wir heute haben.“
SO WAR ES FRÜHER:
Die Zentralbank erzeugte Münzen und Banknoten im Gesamtinteresse des Landes. Die Gewinne kamen den Bürgerinnen und Bürgern zugute.
SO IST ES HEUTE:
Zu den Münzen und Banknoten kam das elektronische Geld dazu und macht heute 90 Prozent unseres Geldes aus. Das erzeugen die Banken im Eigeninteresse und streichen den Gewinn grossteils ein.
DAS WILL DIE VOLLGELD-INITIATIVE:
Die Zentralbank soll auch das elektronische Geld erzeugen. Das geschieht dann wieder im Gesamtinteresse des Landes.
Schaubild 1: Das will die Vollgeld-Initiative
Seit 2008 begleitet uns nun die Finanzkrise, die gravierendste Krise seit der Großen Depression 1929. Immer mehr Menschen in ganz Europa verarmen. Die Hoffnung von Millionen von Jugendlichen in Südeuropa, ein sinnerfülltes Leben zu führen, schwindet. Die Politik hat immer wieder mit Geld Zeit erkauft – um die Lösung der Probleme, für die man keine Antwort hatte, in die Zukunft zu verschieben.
Die Mehrheit der Menschen befürchtet, dass die Politiker der Situation nicht mehr gewachsen sind. Die Mehrheit der Menschen glaubt, dass ihre Stimme bei der Wahl kaum mehr einen Unterschied macht. Immer mehr Menschen stellen sich die Frage: Leben wir noch in einer demokratischen Grundordnung oder hat nicht in Wirklichkeit eine abgehobene, oligarchische Clique von Bankern und Konzernlenkern die Macht übernommen?
Diese Frage hat nicht nur akademischen Wert, sondern ist von entscheidender Bedeutung für unser Leben. Wer regiert tatsächlich? Wer entscheidet über das Wohl und Wehe von Millionen, ja Milliarden von Menschen? Kann die demokratisch legitimierte Politik noch die Spielregeln unseres Zusammenlebens gestalten? Falls nicht, wäre unsere demokratische Grundordnung eine Farce, Wahlen nur ein Medienspektakel.
Die Finanzwirtschaft konditioniert die Realwirtschaft in immer stärkerem Maße. Beide haben einen ungebührlich hohen Einfluss auf die demokratisch legitimierte Politik.
Durch das Auftreten des mächtigen Mitspielers Finanzkapital wurde ein neues Stadium erreicht im Verhältnis zwischen Demokratie und Kapital. Denn längst üben die Finanzmärkte ihren Einfluss nicht mehr nur indirekt aus, indem sie investieren oder nicht investieren. Sie üben ohne Umwege insofern direkten Einfluss aus, als dass sie über Finanzierung oder Nicht-Finanzierung von Staaten entscheiden. Die Demokratie zieht den Kürzeren. Die Macht geht nicht mehr vom Volke aus, sondern dieses wird vom „Finanzvolk“ abgelöst.
Wir wollen über diese Feststellung einen Schritt hinausgehen und zeigen: Die zugrunde liegenden Rahmenbedingungen sind die eigentlichen Ursachen der Krise. Unsere heutige Geldordnung und die fehlende Regulierung und Gestaltung der Märkte sind das Problem. Dies wollen wir in elf kurzen Thesen ausführen.
Dafür betrachten wir zunächst, wie es zur jüngsten Finanzkrise kam. Wir werden zeigen, dass vor allem auch die Politik und nicht nur die Märkte versagt haben. Darin liegt aber auch Hoffnung: Wenn die Krise durch politische Entscheidungen erst ermöglicht wurde, dann könnten politische Entscheidungen auch das Ruder wieder herum reißen.
In der Politik geht die Macht – nach unserem Verständnis – von den Bürgerinnen und Bürgern aus. Wir sind der Souverän. Wir sind der Staat. Am Ende zahlen wir die Zeche.
Damit sind wir auch in Verantwortung. Zuerst einmal ist es keine angenehme Erkenntnis, dass die von uns gewählten Politikerinnen und Politiker und damit letztlich wir selbst für dieses Desaster mitverantwortlich sind. Wir können die Schuld nicht mehr auf die anderen abschieben. Aber das macht uns im zweiten Schritt wieder zu handlungsfähigen Akteuren. Wir sind nicht mehr Teil oder Opfer der Verhältnisse, sondern deren Verursacher und damit auch die potentiellen Löser der Probleme.
Der Anfang: US-Immobilienkrise ab 2007
Es begann im Frühjahr 2007 mit der US-Immobilienkrise. Es wurden im großen Stil günstige Hypothekenkredite an private Bauherren mit geringer Kreditwürdigkeit vergeben. Die Banken warfen mit billigem Geld nur so um sich. Kredite wurden an Menschen mit geringem Einkommen oder Gelegenheitsjobs vergeben – ohne jegliche Bonitätsprüfung. War das Eigenkapital nicht vorhanden, wurde dies durch andere Darlehen finanziert. Wenn man die Gepflogenheiten bei einem Hauskauf hierzulande kennt, kann man gar nicht glauben, wie fahrlässig Kredite an Menschen vergeben wurden, die sich das eigentlich gar nicht leisten konnten. Gleichzeitig gab es eine Boom-Stimmung, in deren Folge derjenige der Dumme zu sein schien, der nicht in dieses Karussell einstiegt. Es war völlig normal, dass man den einen Kredit mit dem anderen deckt, die eine Kreditkarte mit der anderen. Genährt wurde das ganze Spiel durch die Hoffnung auf endlos steigende Immobilienpreise. Tatsächlich haben sich die Immobilienpreise in den USA zwischen 1996 und 2006 verdoppelt. Das Ende eines solchen Booms – angetrieben durch zu viel und zu billiges Geld – ist üblicherweise, dass irgendwann die Blase platzt, die Immobilienpreise wieder sinken, es zu immer mehr Zahlungsausfällen bei den Darlehensnehmern kommt, Banken wanken und der ganze Spuk in sich zusammenfällt – eine regionale Krise.
Wie aber konnte sich diese regionale Krise weltweit ausbreiten?
Vor einigen Jahren konnte man sich das gar nicht vorstellen: Banken verkaufen Kredite einfach weiter. Als ich das zum ersten Mal hörte, war ich entsetzt. Die Bank oder Sparkasse meines Vertrauens verkauft meinen Kreditvertrag einfach weiter und ich habe plötzlich einen völlig anderen, anonymen Gläubiger. Darf die Bank das überhaupt? Ja, sie darf, im Kleingedruckten steht es. Natürlich sinkt dann die Motivation der Bank, die Bonität des Kreditnehmers zu prüfen, gegen null. Denn zurückgezahlt wird an jemand anderen.
Die Kredite wurden nicht nur einfach an die Börse weitergereicht, sondern die Wall-Street-Börsianer schnürten aus einem Kredit mit einer Menge von anderen Darlehen – Konsumkredite, Ausbildungskredite, Kreditkartenschulden, Hypotheken – ein an der Börse handelbares Paket. Für dieses sogenannte Verbriefen haben die Banken deftige Gebühren kassiert. Kürzel wie ABS 1 und CDO und viele andere stehen dafür. Dies ist an sich noch nichts Skandalöses, auch der seriöse deutsche Hypothekenpfandbrief funktioniert nach diesem Prinzip, solange ein Anleger das Risiko solcher Finanzprodukte realistisch einschätzen kann.
Die Ratingagenturen haben Anleger getäuscht
Hier kommen die Ratingagenturen ins Spiel: Zur Bewertung (Rating) solcher Finanzprodukte wendet man sich an eine der drei großen Ratingagenturen Fitch, Moody‘s oder Standard & Poor‘s. Diese hätten dem ganzen Treiben einen Riegel vorschieben können, wenn sie kritische und realistische Bewertungen vergeben hätten. Aber auch sie wollten mitverdienen und gaben zusammengewürfelten faulen Krediten die Goldnote, das höchste Rating AAA. Frei nach dem Motto: Ein fauler Kredit ist ein Stück Unrat, aber wenn man viele Stücke Unrat zusammenlegt, kommt dabei kein Haufen Unrat heraus, sondern eine Anleihe Triple-A-Rating. 2 Die Ratingagenturen haften aber nicht für ihre falschen Bewertungen und die Investmentbanken verkauften diese Pakete in die ganze Welt. So breiteten sich diese Schrotthypotheken im gesamten globalen Finanzsystem aus und sickerten weltweit in die Bilanzen von Tausenden von Banken hinein.
Im Hintergrund: Schattenbankenwesen
Das waren aber nur die offensichtlichsten Symptome einer tieferen, strukturellen Fäulnis der globalen Finanzarchitektur.
Im Laufe der Jahre hatte sich ein regelrechtes „Schattenbankenwesen“ entwickelt. Auf den ständig wachsenden Finanzmärkten entstanden Finanzunternehmen, die aussehen wie Banken, sich verhalten wie Banken, Geld verleihen wie Banken, aber – und das ist das Entscheidende – nicht unter derselben Aufsicht stehen wie Banken. 3 Diese Schattenbanken bewegten am Vorabend der Krise ähnlich hohe Summen wie die konventionellen Banken, standen aber nicht unter staatlicher Kontrolle, hatten keinerlei Zugang zu Notenbankkrediten und es gab keine Entsprechung zu einer Art Einlagensicherung. Reguläre Banken nutzten dieses Schlupfloch und gründeten vielfach spezielle Zweckgesellschaften, die riesige Verbindlichkeiten hielten, die aber nicht in den Bilanzen der Banken auftauchten.
Banken wie Schattenbanken erzielen ihre größten Gewinne mit Eigenhandel, also das Handeln von Finanzinstrumenten auf eigene Rechnung und mit selbst erzeugtem Geld, sowie mit undurchsichtigen Derivaten. Derivate sind Instrumente, mit denen man auf die Entwicklung von Preisen, Aktien oder Kursen wetten kann. Mit geringem Kapitaleinsatz können riesige Gewinne eingefahren werden oder fast aus dem Nichts Forderungen in Millionen- und Milliardenhöhe entstehen.
Während die Banken und innerhalb der Banken auch nur noch die Finanzmathematiker, die sogenannten „Quants”, die mathematischen Formeln ihrer Produkte kennen, tappen die Kunden meist im Dunkeln.
Auch Kreditausfallversicherungen gehören zur Gruppe der Derivate. Sie wurden entwickelt, damit Banken sich gegen das Ausfallrisiko, zum Beispiel von Schrotthypothekenpapieren, absichern können. Sie gehören zum Komplexesten, was je von der Wall Street entwickelt wurde. Gleichzeitig gehörten sie zu den Finanzinstrumenten mit der höchsten Wachstumsrate. Addiert man im Jahr 2008 die Nennwerte all dieser Papiere, kommt man auf 62.000 Milliarden Dollar – also in etwa so viel, wie in einem Jahr auf der ganzen Erde produziert wird. Während bei einem Hypothekenpfandbrief noch ein realer Wirtschaftswert dahinter steht, nämlich eine Immobilie, sind diese Papiere künstlich und lassen sich im Gegensatz zu Aktien und Anleihen endlos vermehren. Der Handel mit diesen Papieren wird kaum strikter gehandhabt als die mittägliche Pizzabestellung. Am Telefon oder per E-Mail sprechen die Händler ihre Kontrakte ab. Die Banken, die als aktivste Teilnehmer die Preise festsetzen, schicken von Zeit zu Zeit ihre Kurslisten per E-Mail herum. Warren Buffett, die Anlegerlegende, bezeichnete bereits 2002 Derivate als finanzielle Massenvernichtungswaffen, deren Gefahren im Augenblick zwar verborgen, die potentiell jedoch todbringend seien. 4 Entstanden ist ein riesiger unkontrollierter Finanzmarkt, der sich weitgehend von der Realwirtschaft abgekoppelt hat, diese aber massiv beeinflusst.
Anreiz für Risiko: Gehalts- und Bonussystem
Dazu kamen Bonussysteme, die absurd hohe Prämien auszahlten, aber nicht in gleichem Maße bestraften, wenn sich die Lage verschlechterte. Fred „the Shred“ Goodwin, ehemals Chef der Royal Bank of Scotland und die Symbolfigur des gierigen Bankers, wurde Ende 2008 aus dem Amt gejagt, nachdem seine Expansionspolitik das zweitgrößte Geldhaus des Königreichs an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht hatte. Am Ende mussten die Steuerzahler die angeschlagene Bank mit 45 Milliarden Pfund (53,6 Milliarden Euro) stützen. Teurer war keine andere Bankenrettung. Doch der Bankmanager weigerte sich nach seiner Ablösung monatelang, „freiwillig“ auf seine Pensionsansprüche gegenüber seinem ehemaligen Arbeitgeber zu verzichten. Nur widerwillig begnügte sich Goodwin schließlich mit einem Ruhekissen von rund 340.000 Pfund pro Jahr – gut 200.000 Pfund weniger als ursprünglich vereinbart.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Kartenhaus wackelt. Seit 2004 begann die Fed (US-Zentralbank), sukzessive die Leitzinsen zu erhöhen. Damit stiegen auch die Zinsen für Darlehen. Als nun Immobilienbesitzer ihre Darlehen umschulden wollten, kamen sie zunehmend in die Bredouille. Da ab 2006 die Hauspreise zu sinken begannen, war ein Immobilienverkauf auch keine Lösung mehr und die Blase platzte.
Baufinanzierer, aber auch Banken, die die Finanzpakete gekauft hatten, gerieten in heftige finanzielle Turbulenzen. Die Hypothekenkrise entwickelte sich im Laufe des Jahres 2007 zu einer regelrechten Vertrauenskrise unter den Banken und fand ihren vorläufigen Höhepunkt im Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers im September 2008.
Die Finanzkrise schwappte schnell nach Deutschland über, auch deutsche Banken wie die Mittelstandsbank IKB, die SachsenLB, die WestLB, die BayernLB und die Hypo Real Estate wurden aufgrund ihrer Spekulationen am US-Immobilienmarkt erfasst.
Die Finanzkrise war vorhersehbar.
US-Vizepräsident Dick Cheney behauptete noch Anfang 2009 „Niemand war klug genug, das zu durchschauen. Das hat niemand kommen sehen.” 5 Doch die Finanzkrise in den USA kam nicht aus heiterem Himmel. So sagte etwa Nouriel Roubini (Wirtschaftsprofessor aus New York und früherer Wirtschaftsberater von Bill Clinton) 2006 auf dem Höhepunkt des Booms die Krise vorher. 6 Auch andere Wissenschaftler – zugegebenermaßen wenige – hatten schon im Jahr 2000 vor der Immobilienblase gewarnt.
Wie trifft die Krise der Finanzmärkte Realwirtschaft und Bürger?
Eine beliebte These unter den Finanzmarktakteuren ist: „We are all big boys.“ Das soll heißen: Wir sind alle institutionelle Anleger und spielen zu den gleichen Bedingungen, somit ist das Spiel fair, manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Das ist fundamental falsch. Denn die Bank gewinnt unter dem Strich immer – zu Lasten der kleinen Anleger. Die Zauberformel dafür lautet: asymmetrische Informationen. 7 Die Bank kann allen anderen Spielern, die am Tisch sitzen, in die Karten schauen; sie weiß genau, was jeder Kunde auf dem Markt tut, ja, sie gibt sogar die Karten aus. Wie könnte die Bank da je verlieren? Sie hat einen uneinholbaren Informationsvorsprung. Greg Smith, ein ehemaliger Goldman-Sachs-Manager, berichtet, dass Wall-Street-Banken es teilweise schafften, an jedem Tag in einem Quartal Gewinne zu machen, 90 Tage am Stück.
Doch dies muss ja irgendjemand bezahlen. Wer bezahlt diese Gewinne, indem er Verluste macht? Wer zahlt die Zeche, wenn eine Kommune sich auf Geschäfte mit J. P. Morgan mit Derivaten einlässt, das Ganze schief geht und der kommunale Haushalt dadurch auf Jahre hinaus am Rande des Konkurses steht? Wer trägt die Konsequenzen, wenn die Schulden ganzer Staatshaushalte mit Hilfe von Goldman Sachs schon beim Einstieg in den Euro verschleiert werden? Wer beißt in den sauren Apfel, wenn ein Staat mit Derivaten Milliarden von Dollar verzockt, die eigentlich den Bürgern gehören? Wessen Milliarden gehen flöten, wenn Investmentfonds die Altersvorsorge von Rentnern aufs Spiel setzen? Wer zahlt Milliarden von Euro zu viel an Zinsen, wenn die Großbanken den Libor, den Referenzzinssatz für Studiendarlehen und Hypotheken, manipulieren? Wir alle, die ganz normalen Bürger – und nicht die „big boys“!
Ein Bündel von Faktoren führte in die Krise: das Verhalten der Finanzmärkte inklusive der installierten Bonussysteme, die schwache Unternehmensaufsicht, der Aufstieg des Schattenbankenwesens und zu viel, zu billiges Geld.
Wer trägt nun die Verantwortung dafür?
War es in erster Linie menschliche Schwäche, die Gier und Unethik der Manager, der Trader und der anderen Finanzmarktakteure? Haben die Notenbanken versagt, vielleicht sogar der Markt? Oder haben zumindest zu entscheidenden Teilen die politischen Strukturen diese Zustände herbeigeführt, sei es durch Unkenntnis, Fehler oder gesteuert durch mächtigen Lobbyeinfluss?
These 1:
Entscheidungen der Politik, nicht der Wirtschaft oder der Finanzwirtschaft haben die Grundlagen für die folgenden Krisen geschaffen. Die massive und grundlegende Liberalisierung der Finanzmärkte wurde durch die Politik entschieden und ermöglicht.
Es ist zu simpel, zockenden Banken und gierigen Managern die alleinige Schuld für die Auswüchse der Finanzmärkte zuzuschieben. Die Liberalisierung der Finanzmärkte ist nicht gottgegeben, sie war gewollt und wurde von Politikerinnen und Politikern ermöglicht. Die Grundlagen für all die kaum mehr durchschaubaren Finanzinstrumente wie Derivate, Kreditausfallversicherungen, aber auch die unterschiedlichen Rettungsschirme haben Parlamente beschlossen oder zugelassen. 8
Der erste große „Big Bang“ der plötzlichen Deregulierung der Finanzmärkte fand im Jahr 1986 unter Margaret Thatcher statt. Ein Großteil der Regeln für den Handel an Börsen wurde gestrichen, Banken durften uneingeschränkt ins Wertpapier- und Investmentgeschäft einsteigen, der Computerhandel wurde eingeführt und ausländische Firmen wurden an der Börse zugelassen. In kürzester Zeit war nichts mehr wie früher. Feine englische Handelsbanken, Familienunternehmen mit traditionsgeladenen Namen wie Warburg, Fleming, Kleinwort Benson wurden von amerikanischen und europäischen Großbanken übernommen. Statt mit der Finanzierung des Handels verdienten sie das meiste Geld nun mit Kapital. Das Investmentbanking schaffte den Durchbruch. Die Regulierungsbehörden ließen das zu. Der Rest Europas musste sich der Liberalisierung der britischen Finanzmärkte anpassen.
Im Februar 1990 beschloss in Deutschland die schwarz-gelbe Bundesregierung das „Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Finanzmärkte“. Neben vielen anderen Regeln fällt auch die sogenannte „Börsen-Umsatzsteuer“. Bis 1991 hatte es also bereits eine „Finanztransaktionssteuer“ oder Tobin-Tax in Deutschland gegeben, die später immer wieder diskutiert wurde. Im November 1999 hob Bill Clinton den Glass-Steagall Act aus dem Jahr 1933 auf, der als eine Lehre aus der ersten Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 hervorgegangen war. Das Geschäft mit Wertpapieren musste nicht länger vom normalen Bankgeschäft mit Einlagen, Zinsen und Krediten getrennt sein. Erst dadurch konnten die Bankgiganten entstehen, die aufgrund ihrer schieren Größe nie pleitegehen durften, da sie dann nicht nur die Gambler der Finanzmärkte, sondern Tausende von Unternehmen und Millionen von Bürgern in den Abgrund reißen würden.
Auch unter Rot-Grün wurden weitere massive Deregulierungen in Deutschland beschlossen. Bis Ende 2009 wurden vom Bundestag über hundert Rechtsakte zur Deregulierung der Finanzmärkte in Deutschland unter Berücksichtigung der Rahmensetzung durch die EU verabschiedet. 9
Parlamente und Regierungen waren also ursächlich daran beteiligt, die Finanzmärkte so weit zu deregulieren, dass sich ein ungehemmter Marktkapitalismus Bahn brechen konnte. Nicht nur die bösen Banken tragen die Schuld und Verantwortung. In gewisser Hinsicht haben sie sich sogar im Rahmen ihrer Zielsetzungen, nämlich Shareholder-Value zu generieren und Gewinnmaximierung zu betreiben, vielleicht nicht ethisch, aber zumindest „rational“ verhalten.
Infolge dieser Liberalisierungen wuchsen zu große Bankinstitute heran, sie wurden „too big to fail“. Ginge eines von ihnen pleite, würde dies – so die Theorie – einen Dominoeffekt auslösen, der zu einer Weltwirtschaftskrise führen würde.
Wie sehr dies alles jegliches vernünftige Maß überschritten hat, wird sichtbar, wenn wir vergleichen, wie groß die Finanzmärkte im Vergleich zur Realwirtschaft sind. Noch im Jahr 1990 betrug das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die gesamte Wertschöpfung der realen Wirtschaft, 22 Billionen Dollar. Die Summe aller synthetischen Finanzmarktprodukte lag bei zwei Billionen Dollar, also einem Zehntel. 2010 ist das globale BIP auf 63 Billionen Dollar angewachsen, die synthetischen Produkte dagegen auf 600 Billionen Dollar. Die Realwirtschaft hat sich verdreifacht, die Finanzwirtschaft hat sich verdreihundertfacht. Die Bewegungen in der Finanzwirtschaft sind also längst nicht mehr durch realwirtschaftliche Vorgänge gedeckt. Dies ist das Ergebnis von jahrzehntelanger Deregulierung.
These 2:
Die Selbstregulierung der Märkte hat nicht funktioniert.
Ein zentrales Argument für die Deregulierung war, dass man sich zu 100 Prozent auf die Selbstregulierung der Märkte verlassen könne. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes würde weiser und zielsicherer als jedes Einzelwesen die Märkte regulieren. Ein staatliches Eingreifen sei insofern überflüssig. Mit einem nüchternen Blick können wir heute feststellen, dass die Selbstregulierung der Finanzmärkte nicht funktioniert hat. Denn danach hätten sich in den Märkten Blasen jeder Art bilden können – seien es Immobilienblasen oder Anfang des Jahrtausends die Dotcom-Blase – irgendwann wären diese Blasen geplatzt und der Markt hätte sich wieder selbst bereinigt. Jahrzehntelang wurde so an die mystische Kraft der Selbstheilung geglaubt. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008 gestand sogar Alan Greenspan, der ehemalige Chef der amerikanischen Zentralbank und einer der mächtigsten Verfechter der Doktrin der freien Märkte, ein: „Ich entdeckte einen Fehler in dem Modell, das ich für die den Gang der Welt entscheidende und alles bestimmende Funktionsstruktur hielt.“ 10 Märkte können also versagen. Dies ist in der volkswirtschaftlichen Diskussion beileibe keine neue Erkenntnis. 11 Umso erstaunlicher, ja fast schon erbärmlich, war zu beobachten, wie schnell dann die Verfechter der Deregulierung der Märkte Geld vom Staat zur Rettung der Banken forderten, also einen massiven Eingriff in den Markt.
These 3:
All die neuen Finanzprodukte wurden nach ihrer Erfindung durch die staatlichen Aufsichtsbehörden genehmigt und könnten auch wieder verboten werden.
Eines der „giftigsten“ Finanzprodukte, die Credit Default Swaps, wurden von J. P. Morgan entwickelt. Die grundlegende Idee war, das Risiko der Zahlungsunfähigkeit (Default) zu tauschen (Swap). Das Risiko sollte also verkauft werden können. Nun dreht sich im Bankenwesen im Grunde alles um das Thema Risikoeinschätzung. Das ist nicht irgendein Randthema, sondern der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Bankengeschäfts. Deshalb gab es für dieses neue Produkt, das erlaubte Risiken zu reduzieren vermochte, einen ungeheuren neuen Markt. Der erste Geschäftsabschluss dieser Art wurde zwischen J. P. Morgan und Exxon im Jahr 1989 abgeschlossen, als Exxon einen Riesenkreditbedarf hatte, um die Schäden der Ölkatastrophe durch die Exxon Valdez zu finanzieren. Nach monatelangen, zähen Verhandlungen genehmigten schließlich die Aufsichtsbehörden diesen Deal. Entscheidend war nun für J. P. Morgan, dieses Verfahren tauglich für den Massenmarkt zu machen und auf lästige Einzelfallprüfungen zu verzichten.
Die Aufsichtsbehörden haben dies zugelassen. Ihre Aufgabe wäre aber gewesen, sowohl den Zusammenbruch einzelner Firmen wie auch die systembedrohenden Risiken einzudämmen. Natürlich war der Lobbydruck der Finanzindustrie riesig, aber gerade darum braucht es ja unabhängige Aufsicht und Kontrolle.
Der Kerngedanke dieser These besagt etwas sehr Einfaches: Für jedes Bankgeschäft – seien es Anlageberatung, Anlagevermittlung, Vermögensverwaltung, der Eigenhandel (also das Handeln von Finanzinstrumenten auf eigene Rechnung) oder für die verschiedenen Finanzinstrumente (handelbare Wertpapiere, Devisen, Derivate etc.) – braucht es eine schriftliche Genehmigung der Bankenaufsichtsbehörden. 12
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass all diese Bank- und Finanzangebote – vor allem die, die nicht der Realwirtschaft dienen – auch wieder reguliert, begrenzt oder verboten werden könnten.
These 4:
Mindestens bis zum Beginn der Finanzkrise herrschte eine ideologische Hegemonie des Finanzsektors. Mangels ausreichenden Verständnisses ökonomischer Zusammenhänge war eine unabhängige eigene Einschätzung durch die Parlamentarier nicht möglich.
In den Jahren 2000 bis 2006 gab es im Deutschen Bundestag überhaupt kein Problembewusstsein in Bezug auf den Finanzsektor. Als dann die Katastrophe ins Rollen kam, waren die Parlamente überfordert und bestellten die Verursacher des Problems – die großen Banken – zur Heilung eben dieses Problems ein.
Die meisten Parlamentarier hatten zu diesem Zeitpunkt und viele haben auch heute noch keine eigene unabhängige Einschätzung im Bereich der Geldpolitik. Hier geht es den meisten Politikern aber nicht anders als zahllosen intelligenten, belesenen Menschen, die nicht die geringste Ahnung von den simpelsten ökonomischen Grundlagen haben, die jedoch notwendig für das Verständnis der ganzen Finanzbranche sind. Erschwerend für die Politik war, dass der Mainstream der Wirtschaftswissenschaft diese Entwicklung nicht vorausgesehen und nicht davor gewarnt hatte.
Als nun in Deutschland die Hypo Real Estate in eine Schieflage kam, war es dann auch Josef Ackermann von der Deutschen Bank, der im Kanzleramt seine Lösung der Krise präsentierte: Es drohe die Kernschmelze des gesamten Bankenwesens und damit der Wirtschaft: Die großen Banken würden sich gegenseitig im Dominoeffekt in den Abgrund reißen, der Zahlungsverkehr käme zum Erliegen, ein Run auf die Banken setze ein, die Förderbänder stünden still und die LKWs könnten die Supermärkte nicht mehr mit Lebensmitteln versorgen. Deshalb müsse die Hypo Real Estate vom Staat gerettet werden. Im Lichte dieses Schreckensbildes reagierte das Parlament ohne jegliche grundlegende Diskussion. Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein so umfangreiches Gesetzesvorhaben wie das Finanzmarktstabilisierungsgesetz mit einem so ehrgeizigen gesetzgeberischen Zeitplan auf den Weg gebracht. Alle im Bundestag vertretenen Fraktionen verzichteten auf ihre Rechte. Alle Fristen wurden ignoriert. Innerhalb einer Woche wurde das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, das unter dem Begriff „Rettungsschirm“ Bekanntheit erlangte, beschlossen.
Montag, 13.10.08: Die Bundesregierung kündigt Gesetzesvorhaben an.
Mittwoch, 15.10.08: Lesung im Bundestag, Verlagerung in den Haushaltsausschuss.
Freitag, 17.10.08: Zustimmung im Bundestag.
Es liefert unter anderem die Grundlage für die Arbeit des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin), der der deutschen Finanzbranche mit bis zu 480 Milliarden Euro unter die Arme greifen kann. Zum Vergleich: Der bundesdeutsche Haushalt im Jahr 2008 belief sich auf 283 Milliarden Euro. Über 10 Euro Rentenerhöhung wird oft monatelang im Parlament gestritten, über das 1,5-Fache des gesamten jährlichen Haushalts gab es im Grunde keine Diskussion. 13 Die meisten Parlamentarier waren sicherlich von der Wucht und Schnelligkeit der Finanzmarktkrise überfordert. Wer wollte schon für die mögliche „Katastrophe“ verantwortlich sein, wenn man selbst die ökonomischen Zusammenhänge nicht wirklich überblickte?
These 5:
Wichtige Entscheidungen und Gesetzesentwürfe werden nicht mehr von der demokratisch legitimierten Politik vorbereitet, sondern von externen Experten, die vielfach nicht dem Gemeinwohl, sondern ihren eigenen Interessen verpflichtet sind.
Der Gesetzentwurf für das Finanzmarktstabilisierungsgesetz (Banken-Rettungsschirm) wurde nicht vom Bundesfinanzministerium selbst, sondern von der Anwaltskanzlei Freshfields, einer der weltweit größten Wirtschaftskanzleien und Vorreiter beim Einstieg von Anwaltskanzleien in das Lobbygeschäft in Deutschland, ausgearbeitet. 14 Die Kanzlei war auch an der Umsetzung und Vergabe der Finanzhilfen beteiligt. Freshfields beschäftigt nach eigenen Angaben 2.500 Anwälte in 27 bedeutenden Wirtschaftszentren der Welt und berät internationale Unternehmen, Finanzinstitute und Regierungen.
Um es zusammenzufassen: Freshfields erarbeitete und formulierte den Gesetzestext für den Rettungsschirm, half dem Bund und SoFFin bei der Mittelvergabe und beriet gleichzeitig Banken bei der Antragstellung an den SoFFin! Dies ist nur ein – wenn auch besonders krasses – Beispiel von überbordendem Lobbyeinfluss. Dies muss nun aber sicher auch vielen Abgeordneten aufgefallen sein. Spätestens nach diesem Notrettungspaket im Jahr 2008, als der Bundestag unter Druck in drei Tagen das SoFFin-Gesetz beschlossen hatte, hätte das Parlament drastische Entscheidungen treffen müssen, um nie wieder in so eine erpresserische Situation zu geraten.
Warum ist das bis heute nicht in ausreichendem Maße geschehen? Im Finanzausschuss gab und gibt es mittlerweile genügend Expertise, um weitreichende Reformen zu beschließen. Eine Theorie, vielleicht auch eine bequeme Ausrede, war: Ein nationaler Alleingang nützt nichts. Spätestens auf der Ebene der EU oder der G20 blockieren entweder England unter dem Einfluss der Londoner City oder die USA unter dem Einfluss der Wall Street.
Die Finanzindustrie hat in den letzten Jahrzehnten dramatisch an politischer Macht gewonnen, nicht durch schnöden Lobbyismus, sondern durch eine Art intellektuelle Übernahme. Sie etablierte eine Art Glaubenssystem: Was gut ist für die Wall Street oder die Londoner City oder das Frankfurter Bankenviertel, ist auch gut für die USA, die EU oder Deutschland. Nach dem Fall der Mauer 1989 feierte der ungebremste Kapitalismus eine Siegesparty, die fast zwanzig Jahre dauerte. Sehr offensichtlich sieht man die Einflussnahme am Drehtürkarussell zwischen Wall Street und Washington. Robert Rubin, einst Vize-Chef von Goldman Sachs, diente in Washington unter Clinton als Finanzminister und wurde später Vorstandschef der Citigroup. Henry Paulson, Vorstandschef von Goldman Sachs während der langen Boom-Phase, wurde Finanzminister unter George W. Bush. John Snow, der Vorgänger von Paulson, wurde nach seinem Ausscheiden Chef von Cerberus Capital Management, einem großen Private-Equity Fonds. Nachdem Alan Greenspan die Fed verließ, wurde er Berater von PIMCO, dem größten Player im internationalen Anleihegeschäft.
Eine ganze Generation von Politikern war fasziniert von der Wall Street und der Londoner City, immer und vollständig überzeugt, dass alles wahr sei, was auch immer die Banken sagten. Fast alle Regulierer, Gesetzgeber und Wissenschaftler haben angenommen, dass die Manager dieser Banken wussten, was sie taten. Es entstand eine Art Vetorecht der Finanzwirtschaft gegenüber der Politik. Natürlich war dies zum großen Teil nur eine Illusion.
Der ehemalige IWF-Chefökonom Simon Johnson bringt es auf den Punkt: „Der Crash hat viele unschöne Wahrheiten über die Vereinigten Staaten aufgedeckt. Eine der alarmierendsten ist, dass die Finanzindustrie quasi die Regierung übernommen hat – ein Zustand, der eher auf Schwellenländer zutrifft und im Zentrum vieler Krisen von Schwellenländern steht. Wenn das IWF-Personal offen über die USA sprechen könnte, würde es den Rat geben, den sie allen Ländern in dieser Lage gibt: Es gibt keine Erholung, bis wir mit der Finanzoligarchie gebrochen haben, die grundlegende Reformen blockiert.“ 15
These 6:
Vielfach werden Entscheidungen als alternativlos dargestellt. Das TINA-Prinzip (There is no alternative) verhindert den offenen Diskurs, das gemeinsame Ringen um Lösungen.
Wieder am Fall Hypo Real Estate geprüft: Als Peer Steinbrück und Angela Merkel gemeinsam mit einigen Schlüsselfiguren von Großbanken entschieden haben, die Hypo Real Estate zu retten, gab es sicherlich Alternativen. So gab es Modelle, wie der Zahlungsverkehr auch nach der Pleite systemrelevanter Banken hätte aufrechterhalten werden können. Ob Merkel und Steinbrück solche Optionen bewusst verschwiegen oder ob sie selbst im Gruppendenken gefangen waren und solche Möglichkeiten gar nicht kannten, ist letztlich unerheblich.
Dabei fehlt, wie die FAZ formulierte, „oft nicht die Alternative, sondern der Wille, den Schleier zu lüften; klar zu sagen, welche Vor- und Nachteile mit einer Lösung verbunden sind, und so den Bürger ehrlich und geduldig teilhaben zu lassen an der Abwägung der Güter. Diese ist oft nicht leicht, und Entscheidungen, die am Ende wirklich allen nutzen, gibt es leider selten. Mit dem Etikett »alternativlos« stellt sich Politik als ohnmächtiges Vollzugsorgan eines von höherer Macht bestimmten Schicksals hin. Das schafft Verdruss beim Wähler. Warum soll er überhaupt noch seine Stimme abgeben, wenn Regierungshandeln so alternativlos ist wie behauptet?” 16
Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass es im Leben immer Alternativen gibt, meist sogar mehrere. Ob die Auswirkungen und Folgen erwünscht und förderlich sind, ist die zweite Frage. Diese Entscheidung kann aber erst getroffen werden, wenn die verschiedenen Szenarien offen, ehrlich und konsequent bis zu Ende gedacht werden. Wichtig ist hierbei auch aufzuzeigen, wie man zu bestimmten Schlussfolgerungen kommt. In den Feldern der Wirtschaft und der Politik geht es nicht um absolute Wahrheiten, sondern um Interessen, Einschätzungen, Präferenzen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Wir brauchen transparentere Strukturen, damit jeder zumindest die Chance hat, diese komplexen Zusammenhänge nachvollziehen zu können.
Auch die Euro-Rettung wurde im Deutschen Bundestag nicht ergebnisoffen diskutiert, damit wären wir beim nächsten Thema:
Zu der gerade beschriebenen gefährlichen Krise der Finanzmärkte kam nun drei Jahre später die Euro-Krise hinzu. Die Euro-Krise, genauer gesagt eine Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone, entstand, weil einige Staaten des Euro-Raums ihre Staatsschulden kaum mehr refinanzieren konnten. Dazu trugen auch die immensen Rettungspakete bei, mit denen die Staaten ihren Banken unter die Arme gegriffen hatten. Denn die Hilfen waren natürlich alle kreditfinanziert. Finanz- und Euro-Krise überlappen und verstärken sich gegenseitig. Die Euro-Krise ist in noch größerem Maße „hausgemacht“ als die Finanzkrise, denn hier schafft die Politik nicht nur den rechtlichen Rahmen, sondern ist auch selbst einer der wichtigsten Akteure. Wir drehen nun in Gedanken die Zeit um einige Jahre zurück.
Die Ursprünge des Euro
Als Deutschland durch die Wiedervereinigung neu erstarkte, diskutierte man in Europa darüber, ob die Bundesrepublik nicht doch wieder eine Gefahr darstellte. Um das auf jeden Fall zu verhindern, entstand das Bild des vereinigten, einheitlich verfassten, zentral regierten Europas. Der Maastricht-Vertrag, der die Europäische Union erst begründete, stellte Europa auf drei Säulen, deren erste die Wirtschafts- und Währungsunion war. Durch den Binnenmarkt wuchs Europa wirtschaftlich zusammen. Der politische Rahmen jedoch, zum Beispiel eine gemeinsame Steuerpolitik, fehlte. Auch fehlte der Mut, eine grundlegende demokratische Neuordnung zu schaffen. Doch sollte durch den Euro eine „immer enger werdende Integration“ in Gang gebracht werden. 17
So taten sich wirtschaftliche „Elefanten“ wie Deutschland und Frankreich mit „Mäusen“ wie Portugal, Irland oder Griechenland zusammen, wohlhabende Länder mit halben Entwicklungsländern, Schwergewichte mit Fliegengewichten. Das Versprechen des Vertrags von Maastricht jedoch war: Der Euro hält die Preise stabil, die Staaten werden verpflichtet, Schulden und Defizite zu begrenzen und kein Staat haftet für den anderen (No Bail-out). Kaum ein Land hat die sogenannten Konvergenz-Kriterien (Neuverschuldung unter drei Prozent, Gesamtverschulung unter 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP)) erfüllt. Aber die politische Entscheidung, auch Staaten wie Italien, Belgien und Griechenland mit über 100 Prozent Staatsverschuldung in die Euro-Zone aufzunehmen, war gefallen. In Deutschland und vielen anderen Staaten allerdings ohne die Bürger.
Warnende Stimmen: Der Euro kommt zu früh!
Bereits im Jahr 1992, vor der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags, unterschrieben 62 deutsche Ökonomieprofessoren ein Manifest gegen die Europäische Währungsunion. So hieß es 1992 unter anderem, dass „die ökonomisch schwächeren europäischen Partnerländer bei einer gemeinsamen Währung einem verstärkten Konkurrenzdruck ausgesetzt werden, wodurch sie aufgrund ihrer geringeren Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit wachsende Arbeitslosigkeit erfahren werden. Hohe Transferzahlungen im Sinne eines »Finanzausgleichs« werden damit notwendig.“ Sechs Jahre später schlossen sich mehr als 160 Ökonomieprofessoren einem Aufruf „Der Euro kommt zu früh“ an.
Hier geht es nicht um die fachliche Bewertung der verschiedenen Konzepte, es geht auch nicht um ein Für oder Gegen den Euro – es soll nur klargemacht werden, dass dies alles politische Entscheidungen waren, die aus bestimmten Motiven und Interessen heraus getroffen wurden. Es gab Alternativen. Man hätte genauso gut andere Entscheidungen treffen können.
Auswirkung der Einführung des Euro