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Übersetzung aus dem Englischen von Katrin Behringer

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014

ISBN 978-3-8270-7758-5

Deutschsprachige Ausgabe
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2014
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotive: Corbis/Max Wanger, GettyImages/SuperStock, GettyImages/Viorika Prikhodko
Datenkonvertrierung: psb, Berlin

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Sie zögerte, ehe sie anfing zu schreiben, und ihre blasse Hand verharrte einen Augenblick zitternd über dem Formular. Sie kam sich unsagbar altmodisch vor – selbst Menschen in ihrem Alter kannten sich heutzutage gut genug mit dem Internet aus, um eine Kleinanzeige online aufzugeben. Ihr Entschluss, die Redaktion aufzusuchen, war jedoch nicht ihrer Hilflosigkeit, sondern einer spontanen Laune entsprungen, nachdem sie ohnehin in Covent Garden gewesen war und dort mit Freunden zu Mittag gegessen hatte. Mit Leuten, die sie kannte, auf vertrautem Terrain, im Herzen der Londoner Verlagslandschaft. Ihr früherer Arbeitsplatz war nur einen Steinwurf entfernt, und in den hiesigen Restaurants – Rules, Christopher’s, Joe Allen – hatte sie viele schöne Stunden verbracht, Geschäfte gemacht, sich mit Freunden auf einen Drink getroffen. Das war ihr Leben gewesen. Und es war ein gutes Leben gewesen.

Was wollte sie dann also hier? War sie noch ganz bei Trost? Sollte sie nicht endlich die Vergangenheit ruhen lassen, anstatt einem Traum nachzujagen, dem Traum von einem Leben, das sie gar nicht gelebt hatte?

Sie hob den Kopf und blickte zu der Frau hinter dem Schalter, in der Hoffnung auf eine ermutigende Geste oder irgendein anderes Zeichen dafür, dass sie das Richtige tat. Doch die Frau telefonierte gerade und der einzige Ansporn, der ihr blieb, war die quälende Stimme in ihrem Kopf.

Diese Stimme ermahnte sie schon seit Wochen, dass sie, falls sie tatsächlich vorhatte, es zu tun, falls sie tatsächlich vorhatte, dorthin zu reisen, es jetzt tun müsse, solange sie noch konnte.

Heute spürte sie ihre zweiundsiebzig Jahre mehr als deutlich. Es war ihr unbegreiflich, wie irgendjemand behaupten konnte, das Älterwerden sei etwas Schönes und Erfreuliches. Und doch versuchte die Gesellschaft, Millionen von Menschen in ihrem Alter genau das vorzugaukeln. In ganz London, in allen möglichen Zeitschriften hatte sie entsprechende Anzeigen gesehen. Lächelnde, weißhaarige Frauen mit ebenmäßigen Gesichtszügen, die günstigere Kfz-Versicherungen für die über Siebzigjährigen bewarben. Verdächtig erschwingliche Wohnungen in Hochglanz-Immobilienbroschüren, die sich als luxuriöse seniorengerechte Zufluchtsstätten für die über Fünfundfünfzigjährigen entpuppten. Anscheinend verfügte die »Generation Gold« über eine beachtliche Kaufkraft. Es gab noch mehr dieser irreführenden Bezeichnungen. Der Ausdruck »Silver Surfers« etwa – für Leute ihres Alters, die sich mit dem Internet besser auskannten als sie – klang so sportlich, wie sie sich zuletzt in den Achtzigerjahren gefühlt hatte.

Doch was sollte so schön daran sein, älter zu werden? Ihre Freunde fingen an wegzusterben. Zwar noch nicht viele, aber es kam durchaus vor, und jedes Mal, wenn eine weitere traurige Nachricht sie ereilte, wurde sie schmerzlich an ihre eigene Sterblichkeit erinnert.

Sie hatte oft daran gedacht in letzter Zeit. An ihn gedacht. Auch wenn ihr nicht ganz klar war, wie man sich an Dinge erinnern konnte, die gar nicht geschehen waren. Alles, was sie hatte, waren ihre Tagträume über ein Leben, das sie zusammen hätten verbringen können, wenn nicht eine Nacht dazwischengekommen wäre, eine Nacht, die alles verändert hatte. Doch in letzter Zeit hatten diese Gedanken sie so sehr beschäftigt, dass sie beschloss, es nun endlich zu tun – nach New York zu reisen, in die eine westliche Großstadt, die sie noch nie besucht hatte. Die Stadt, die für ein Leben stand, das sie nicht gelebt hatte.

Sie nahm allen Mut zusammen und fing an zu schreiben. Für Reue oder Zweifel war jetzt nicht der richtige Moment. Im Alter ging es darum, das zu tun, was man schon immer tun wollte, Unerledigtes zu Ende zu bringen, bevor die Zeit ablief.

Ja, es war richtig gewesen, hierherzukommen. Sie hatte das Richtige getan. Sie überreichte der Anzeigenfrau ihr Formular, bezahlte, nahm ihre Tasche und verließ das Büro, nachdem sie sich noch erkundigt hatte, wann die Anzeige geschaltet werden würde. Sie sah auf die Uhr. Es war schon halb fünf. Sie musste noch so vieles vorbereiten, Telefonanrufe tätigen, und ihr blieben lediglich wenige Stunden, um alles zu erledigen.

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18. Dezember 2012

»Heute Abend macht er dir einen Heiratsantrag, du wirst sehen.«

Amy Carrell blickte zu ihrem guten Freund Nathan Jones hinüber, der auf der anderen Seite der Restaurantküche stand.

»Und woher willst du das so genau wissen?«, fragte sie, während sie drei Teller aufnahm und sich fachmännisch auf den Arm legte. »Wenn er mich nach Paris entführen würde, würde ich ja direkt misstrauisch werden. Aber wir gehen doch bloß zu einer Büroparty – was soll daran bitte romantisch sein?«

Nathan verdrehte die Augen. »Machst du Witze? Es ist Weihnachten, Süße, und die Party findet im Tower of London statt. Abends! Noch romantischer geht es gar nicht, würde ich sagen.«

»Früher wurden im Tower of London Leute geköpft, Nathan.«

»Das stimmt. Anne Boleyn zum Beispiel. Anscheinend hat es mehrere Anläufe gebraucht, da sie einen sehr schmalen Hals hatte.«

»Wie ich schon sagte. Nicht gerade romantisch«, Amy schmunzelte und bahnte sich einen Weg durch die Schwingtür der Küche mitten hinein in das Getöse des Forge Bar and Grill. Das Forge war eines der schickeren Restaurants auf der geschäftigen Upper Street in Islington im Norden Londons. Anmutig wie eine Tänzerin bewegte sich Amy von Tisch zu Tisch und stellte die Teller geschickt vor den einzelnen Gästen ab. Heute Abend musste sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wer das Kürbisrisotto bestellt hatte und wer das Schnitzel – alle aßen Truthahn. Das war bereits die sechste Weihnachtsfeier in dieser Woche und eine war so schlimm wie die andere.

»He Schnecke!«

Sie zuckte zusammen, als ihr jemand einen Klaps auf den Po gab.

»Hol uns doch noch ’ne Flasche von dem Blubberzeug, ja?« Der Mann hatte einen roten Kopf und zwinkerte ihr zu. »Und wie wär’s mit deiner Telefonnummer?«

»Ich schicke Ihnen den Sommelier vorbei, Sir«, gab sie zurück und zwang sich zu einem Lächeln.

»Oho, eine sexy Amerikanerin«, er grinste anzüglich, nachdem er Amys Akzent gehört hatte. »Warum setzt du dich nicht und trinkst ein Glas Schampus mit uns? Vielleicht nach Feierabend?«, rief er Amy hinterher, die schon zurück in die Küche geflohen war.

»Grapscher an Tisch zwei«, informierte sie Nathan. Ihr Freund nickte nur und spähte durch das Bullauge in der Küchentür. »Rote Backen, weißes Hemd?«

»Treffer. Ein widerlicher Typ.«

»Keine Sorge, ich könnte mir vorstellen, dass sein Hemd einen schönen roten Fleck abbekommt, bevor er geht. Ich sehe da einen kleinen Zusammenstoß mit einem Weinglas voraus.«

»Nussbraten!«, brüllte eine Stimme. Beide drehten sich um, als eine Frau mit zerzausten Haaren zur Tür hereinrauschte. Cheryl, die Besitzerin des Forge, hatte zwar ein Herz aus Gold, konnte aber fluchen wie ein Bierkutscher, und wenn sie so grimmig aussah wie jetzt, legte man sich besser nicht mit ihr an. »Ich musste mich gerade von drei Idioten an Tisch sechs blöd anmachen lassen, von wegen, wenn sie jetzt nicht sofort ihren Nussbraten serviert kriegen, würden sie aufstehen und gehen.«

»Oh, tut mir leid, ich kümmer mich drum«, meinte Amy und war schon auf dem Weg zur Küchendurchreiche, als Nathan sie am Handgelenk festhielt und vielsagend auf seine Uhr tippte. »Ich übernehme die Gemüsefreunde, mach du mal, dass du wegkommst.«

»Wo willst du denn hin?«, fragte Cheryl stirnrunzelnd.

»Heute ist doch Daniels Feier, weißt du nicht mehr?«

»Menschenskind, Amy. Du bist doch gerade erst gekommen.«

Weil sie bei einem Vortanzen gewesen war, das viel länger gedauert hatte als geplant, war sie eine halbe Stunde zu spät zu ihrer Schicht erschienen, was Cheryl nicht müde wurde ihr unter die Nase zu reiben.

»Dafür komme ich morgen früher.«

»Das reicht nicht. Ich brauche jemanden, der morgen eine Doppelschicht übernimmt. Denk an das Trinkgeld und sag, dass du es machst.«

»Na gut«, erwiderte Amy, wohl wissend, dass sie das Geld brauchte.

»Wunderbar, dann ab mit dir. Los, los«, scheuchte Cheryl sie mit beiden Händen aus der Küche. »Willst du dich oben umziehen?«

Amy lächelte dankbar, als ihre Chefin einen klimpernden Schlüsselbund aus der Hosentasche ihrer Jeans zog und ihr zuwarf.

»Und wehe, der Schuft macht dir nachher keinen Antrag«, rief Cheryl ihr nach, während sich Amy ihre Tasche schnappte und über die Treppe nach oben verschwand.

In der Wohnung über dem Restaurant angekommen, betrachtete sich Amy im Spiegel und seufzte. Ihre hellblonden Haare standen in alle Richtungen ab, ihre Wangen waren von der Hitze in der Küche gerötet und – igitt, sie schnüffelte an ihrer Bluse – zu allem Übel stank sie auch noch nach Gänseschmalz-Bratkartoffeln. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die kleine Duschkabine, doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Genau genommen hatte sie für gar nichts mehr Zeit.

Schnell öffnete sie ihre Tasche und entleerte den Inhalt auf das Bett. Zwei zerknitterte Kleider, in denen sich eine Bürste, ihr Make-up und ihre High Heels verfangen hatten, fielen heraus. Das erste war ein schwarzes, knielanges Etuikleid aus dem Secondhandladen, das zweite ein rostrotes Paillettenkleid, das sie für einen Anlass wie diesen im Sommerschlussverkauf ergattert hatte. Zwar ließ die Qualität ziemlich zu wünschen übrig – auf dem Boden ihrer Tasche waren bereits einzelne Pailletten verstreut wie kleine verlorene Pennymünzen –, aber trotzdem war es todschick, ein absoluter Hingucker. Jetzt musste sie sich nur noch entscheiden. Sie überlegte, welches Bild sie heute Abend von sich vermitteln wollte. Verführerisch und unwiderstehlich? Oder wollte sie lieber niveauvoll wirken, wie eine Frau von Welt, wie die perfekte zukünftige Ehefrau?

Sicher, vorher in der Küche hatte sie sich über Nathans Bemerkung lustig gemacht, und noch vor zwei Tagen war sie der festen Überzeugung gewesen, ihr Freund Daniel Lyons, mit dem sie seit etwas mehr als einem Jahr zusammen war, würde eher zum Mond fliegen als vor ihr auf die Knie zu gehen. Doch das war, bevor sie in seiner Sockenschublade gewühlt und zwischen den ordentlich zusammengerollten Strumpfbällchen eine zartblaue Schachtel erspäht hatte – eine Geschenkbox von Tiffany. Es war zu verlockend, sie nicht zu ignorieren, und am liebsten hätte sie gleich nachgesehen, was sich darin verbarg, doch dann war Dan zurück ins Schlafzimmer gekommen und sie hatte schnell die Schublade zuknallen müssen.

Seitdem war sie nicht mehr allein in seinem Schlafzimmer gewesen, doch immer wenn sie daran dachte, wurde ihr ganz schwindlig vor Aufregung, und sie konnte nicht anders, als in jede seiner Bemerkungen und liebevollen Gesten eine versteckte Andeutung hineinzuinterpretieren. »Mach dich schick«, hatte er gesagt, als sie über die heutige Party gesprochen hatten. Und sie war sich sicher, dass sie eine leichte Nervosität an ihm verspürt hatte, was für jemanden, der so souverän und selbstsicher auftrat wie Daniel, höchst ungewöhnlich war.

In zwanzig Minuten musste sie bereits am Tower sein, also hielt sie sich erst das eine Kleid hin, dann das andere. Was trägt man an einem Abend, der das Leben womöglich für immer verändert?, ging ihr durch den Kopf, während sie ihr Spiegelbild betrachtete. Einen Moment lang gab sie sich der Vorstellung hin, wie er im milchweißen Schimmer des Mondlichts einen glitzernden Solitär über ihren Ringfinger streifen würde. Dann würden sie sich mit ihrem Smartphone fotografieren und sie würde das Bild auf Facebook posten, damit alle ihre Freundinnen es sehen konnten. Irgendwann später würden sie es dann ihren Kindern zeigen und im Alter wehmütig darüber schmunzeln. Es wäre ein Foto für die Ewigkeit, ein Bild, das für immer in Erinnerung bleiben und über das man Jahre später noch reden würde – und auf dem man natürlich so gut wie möglich aussehen wollte.

»Na dann«, flüsterte sie, schlüpfte schnell in das Paillettenkleid und trat näher an den Spiegel heran, um sich die Haare zusammenzubinden. Natürlich war das Kleid sehr kurz und eng und sie konnte nur hoffen, dass bis Mitternacht nicht schon alle Pailletten abgefallen waren, aber lieber aufreizend aussehen als brav und altbacken, dachte sie bei sich und warf das Etuikleid zurück aufs Bett.

Dann zog sie ihre High Heels an und eilte aus dem Restaurant. Sie hörte noch, wie Nathan ihr nachpfiff, als sie auch schon auf der Straße stand, wo wie gerufen ein schwarzes Taxi vor ihr zum Stehen kam.

»Tower of London«, rief sie dem Fahrer atemlos zu, bevor sie die Autotür zuschlug. »Und fahren Sie nicht über die City Road, da ist um diese Zeit immer die Hölle los.«

In Wirklichkeit hatte Amy keinen blassen Schimmer, ob der Verkehr auf der City Road tatsächlich so schlimm war oder ob der Taxifahrer überhaupt dort entlanggefahren wäre, sie wollte lediglich demonstrieren, dass sie sich in London auskannte, denn ansonsten würde er dank ihres amerikanischen Akzents sofort denken: »Aha, Touristin!«, und eine Null an den Preis anhängen – eine Null, die sie sich definitiv nicht leisten konnte. Sie ließ sich in den Sitz zurücksinken, sah den kleinen roten Zahlen zu, die auf dem Taxameter tickten, und widerstand dem Impuls, im Futter ihrer Handtasche nach herausgefallenen Zwanzig-Pence-Münzen zu kramen – wenn sie ehrlich war, konnte sie sich diese Taxifahrt eigentlich nicht leisten.

Für einen Augenblick ließ Amy ihre Gedanken schweifen und überlegte, was es bedeuten würde, wenn Nathan mit seiner Vorahnung tatsächlich recht hätte. Wie sich ihr Leben für alle Zeiten ändern würde, sollte sie wirklich Mrs Amy Lyons werden, denn Fakt war, dass sich dadurch alles ändern würde. Keine Doppelschichten mehr im Forge, um irgendwie die Miete für ihre winzige Einzimmerwohnung in Finsbury Park zusammenzukratzen; kein Vortanzen mehr und kein Bangen, ob jemand ihr endlich ein Engagement in einer Tanzproduktion geben würde; kein Stolpern mehr von Date zu Date, in der Hoffnung, sich nicht völlig lächerlich zu machen; kein Herumwühlen mehr in irgendwelchen Sockenschubladen auf der Suche nach einem Beweis dafür, dass jemand sie tatsächlich liebte.

»Ich werd verrückt, der Tower ist ja beleuchtet wie ’n Weihnachtsbaum«, wunderte sich der Taxifahrer, als sie auf die Lower Thames Street abbogen. Vor ihnen staute sich eine lange Schlange schicker Autos, und Menschen in Abendgarderobe strömten auf die Straße.

»Ist wohl ein besonderer Abend heute, was?«

»Ich hoffe doch«, gab sie mit einem kleinen Lächeln zurück, beugte sich nach vorn und reichte ihm den einzigen Zwanzig-Pfund-Schein, der sich in ihrer Geldbörse befand.

Dann stieg sie aus und ging über das Kopfsteinpflaster bis zum Pförtnerhaus. Wow, dachte sie beeindruckt und betrachtete das historische Gebäude, das sich, kunstvoll in Flutlicht getaucht, vor dem pechschwarzen Himmel abzeichnete. Ihre Familie und ihre Freunde waren alle überrascht gewesen, als sie ihnen verkündet hatte, sie würde New York verlassen und stattdessen nach London gehen, um dort für die auf Körpertheater spezialisierte Performancegruppe Blink zu arbeiten, die zwei Jahre zuvor vom Broadway ins Londoner West End umgezogen war.

Niemand in ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis zu Hause war je aus den USA herausgekommen – noch nicht einmal für einen Urlaub. Warum sollte man in die Alpen reisen, wenn man selbst wunderschöne schneebedeckte Berge hatte? Warum sollte man sich die Mühe machen und das Loire-Tal besuchen, wenn man doch auch einfach einen Inlandsflug buchen und ins Napa Valley reisen konnte? Besonders ihr Dad war der Meinung: Wenn etwas nicht in den fünf New Yorker Boroughs passierte, dann passierte es nirgendwo. Doch England und speziell London hatten Amy schon immer fasziniert – die Geschichte und Kultur der Stadt, ihre majestätische Schönheit, die Tatsache, dass genau hier schon Könige und Königinnen und Generäle und feine Damen in ausladenden Gewändern entlangstolziert waren –, und auch wenn sie damals Angst davor gehabt hatte, ihr Leben in New York aufzugeben, so war sie inzwischen nicht mehr sicher, ob sie jemals wieder dorthin zurückkehren wollte.

Sie zeigte ihre Einladung vor und eilte rasch nach drinnen – der Wind blies trotz ihres Mantels durch ihr dünnes Kleid und sie wollte verhindern, dass noch mehr Pailletten abfielen.

»Zum FO, Miss?«, fragte ein älterer Mann in einer dunklen Uniform.

»Wie bitte?«

»Zum FO, zum Dinner des Foreign Office?«

»Ach so, natürlich«, stammelte sie und fühlte sich auf einmal unsicher und gehemmt. Sehe ich etwa nicht so aus, als wollte ich auf eine Party des britischen Außenministeriums gehen?, fuhr es ihr durch den Kopf. Schnell versuchte sie, den Saum ihres Kleids nach unten zu ziehen, um ihre Oberschenkel zu bedecken. Als sie nochmals zu dem Mann hinsah, merkte sie jedoch, dass er ihr nur helfen und sichergehen wollte, dass sie nicht in die falsche Richtung ging. Er deutete nach rechts.

Die Feier fand im sogenannten Pavillon in der Nähe des Festungsgrabens der Anlage statt. Der Schauplatz war spektakulär: Hinter dem Pavillon ragten die grauweißen Wände des Towers empor, angestrahlt von lila Scheinwerfern. Es waren bereits Hunderte von Leuten da, und als sie sich umsah, fühlte sie sich hilflos und verloren. Sie schrieb Daniel eine SMS und besah sich dann die riesigen Tischpläne, die vor ihr aushingen.

»Schick siehst du aus«, sagte eine Stimme, während sich eine Hand um ihre Taille schmiegte.

Als sie sich umdrehte, blickte sie direkt in Daniels Gesicht. Er sah umwerfend aus in seinem einreihigen Smoking und stach heraus wie ein Filmstar aus einer Menge gewöhnlich aussehender Menschen.

»Gefalle ich dir?«, fragte sie und fühlte sich plötzlich fröhlich und in Partystimmung. Als Teenager war Amy nie besonders selbstbewusst gewesen, was ihr Aussehen anging. Ihre Haare hatten die unangenehme Eigenschaft, sich zu kräuseln, besonders während der schwülen New Yorker Sommer, und sie hatte einen leichten Überbiss, der sie an guten Tagen aussehen ließ wie Liv Tyler, ihr meistens jedoch das Gefühl gab, einfach nur doof und albern zu wirken.

Wenn man allerdings neben Daniel Lyons stand, war es unmöglich, sich nicht ebenfalls attraktiv zu fühlen.

Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Am liebsten würde ich dich sofort schnappen und nach Hause in mein Bett tragen, aber vermutlich wären meine Eltern nicht besonders begeistert, wenn ich plötzlich verschollen wäre.«

»Deine Eltern?«, entgegnete sie erschrocken und rückte ein winziges Stück von ihm ab.

Er blickte sie mit seinen strahlend blauen Augen an. »Ich habe auch erst heute erfahren, dass sie kommen. Anscheinend sitzen sie an unserem Tisch, aber keine Sorge, vielleicht kann ich mit den Tischkarten noch etwas drehen, falls wir rechtzeitig drin sind.«

»Uns ans andere Ende des Saals verfrachten zum Beispiel?«

Ein leichtes Stirnrunzeln zeichnete sich zwischen seinen Augenbrauen ab. »Na komm, so schlimm sind sie nun auch wieder nicht.«

Jetzt war es an Amy, sich gekränkt zu fühlen, als ihr ein besonders unangenehmer Nachmittag im Hochsommer in den Sinn kam, als sie Vivienne und Stephen Lyons zum ersten Mal begegnet war. Sie hatten gemeinsam ein Polospiel besucht. Amy war sich immer noch nicht sicher, worüber sie sich mehr geärgert hatte. Darüber, dass Daniel sie nur als »eine« Freundin vorgestellt hatte, oder über die Tatsache, dass Mr und Mrs Lyons sie anscheinend für so unwichtig hielten, dass sie den ganzen restlichen Tag über nicht mehr als zwei Worte mit ihr gewechselt hatten.

»Wie war denn dein Tag, Schatz?«

»Gut. Ich hatte ein Vortanzen.«

»Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Wie ist es gelaufen?«

»Ganz gut, glaube ich. Die Choreografie ist von Eduardo Drummond, der gerade der neue Star am Modern-Dance-Himmel ist. Das Stück könnte ziemlich groß rauskommen. Und ich hatte den Eindruck, dass er mich wirklich gut fand …«

»Na, dann haben wir heute Abend ja allen Grund zum Feiern, oder?« Er lächelte und winkte einem Freund auf der anderen Seite des Saals zu.

Amys Herz machte einen kleinen Sprung. »Wieso Grund zum Feiern? Noch bin ich doch gar nicht genommen …«

Sie wurden von einer Gruppe von Männern in den Dreißigern unterbrochen, die Daniel, dem vielen Schulterklopfen nach zu urteilen, gut zu kennen schien. Das passierte oft, wenn sie zusammen unterwegs waren. Er schien jeden zu kennen. Es gab Kumpels von der Schule, seine Freunde aus Cambridge, Freunde von der Arbeit, Fußballfreunde, irgendwelche Freundinnen – diese Sorte mochte sie am wenigsten …

Er stellte ihr seine Freunde zwar vor, doch sie redeten einfach weiter über Leute, die sie kannten, Geschäfte, die sie gemacht hatten, und ihre Pläne für die Weihnachtsfeiertage, die sie anscheinend hauptsächlich mit Jagdausflügen, Skifahren und Partys verbringen würden.

Obwohl sie und Daniel aus zwei verschiedenen Welten stammten, ging ihnen, wenn sie allein waren, nie der Gesprächsstoff aus. Bei gesellschaftlichen Veranstaltungen wie dieser hingegen fühlte sich Amy nie besonders wohl; sie fand sich nie witzig oder intelligent genug, um den Mund aufzumachen. Schließlich war es immer noch besser, gar nichts zu sagen, als sich mit einer dummen Äußerung zu blamieren.

Von einem Kellner ließ sie sich ein Glas Champagner reichen, froh, daran nippen zu können, bis es Zeit war, zum Abendessen in den Ballsaal zu gehen.

Sie schlängelten sich an den kreisrunden Tischen vorbei, die mit gestärkten Leinentischdecken, poliertem Silberbesteck und einem riesigen Blumengesteck in der Mitte festlich eingedeckt waren, und dort an Tisch fünfzehn standen sie auch schon an ihren Stühlen – Daniels Eltern.

»Daniel. Amy.« Sie lächelten gezwungen, während ihr Sohn auf sie zukam. Als Vivienne Lyons ihr einen flüchtigen Begrüßungskuss gab, atmete sie die Pomade und das teure Parfüm der älteren Frau ein, das ihr eigenes Eau de Bratkartoffeln hoffentlich überdecken würde.

»Wie geht es euch beiden? Amy, du sitzt zwischen Stephen und Nigel Carpenter.«

Sekunden später fand sie sich auch schon eingekeilt zwischen Daniels Vater und einem Hünen von Mann in voller Paradeuniform wieder. Als sie sich hinsetzte, rutschte der Saum ihres Kleids hoch, sodass der Stoff kaum ihre Oberschenkel bedeckte. Nigel Carpenter, ein »alter Freund der Familie«, schielte nach unten, während Amy sich schnell eine Serviette über den Schoß warf, für den Fall, dass man ihre Unterhose sehen konnte.

»Guten Abend, Amy«, sagte Stephen förmlich und berührte ihre Schulter. »Ich hoffe, du bist wohlauf?«

»Ja, durchaus, danke«, antwortete sie und wünschte sich insgeheim ins Forge zurück.

Alle anderen am Tisch – drei über sechzigjährige Paare und Nigels Frau Daphne – schienen sich bereits zu kennen.

»Was machen Sie denn beruflich, Amy?«, wollte Daphne wissen. Sie hatte scharfe Gesichtszüge und eine gepflegte graue Bobfrisur und war etwa halb so groß wie ihr Mann.

»Ich bin Tänzerin«, sagte sie schnell.

»Irgendein Stück, in dem ich Sie gesehen haben könnte?«

»Das kommt darauf an, wo Sie ins Theater gehen«, meinte Amy leichthin.

»Wir sind Förderer des Royal Opera House. Daher kennen wir auch Vivienne.« Sie lächelte.

»Ich mache eher modernen Tanz. In kleineren Theatern.«

»Etwa im Rambert?«

»Nein«, antwortete Amy und verzog gequält das Gesicht. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Frau keine ihrer tänzerischen Darbietungen gesehen hatte. Ganz bestimmt nicht ihren bisher hochkarätigsten Auftritt – ein MTV-Video für den Rapper K Double Swagg aus Harlem.

»In welchen Inszenierungen haben Sie denn in letzter Zeit mitgewirkt?«

»Amy war fast das ganze Jahr über verletzt«, erklärte Daniel mit einem etwas verlegenen Gesichtsausdruck. Seinen Freunden und Leuten von der Sorte der zwanzig- bis dreißigjährigen Partybekanntschaften, wie sie sie im Foyer getroffen hatten, erklärte er normalerweise nicht ohne Stolz, dass Amy Tänzerin war. Sie war nicht dumm – sie wusste, dass seine Freunde vor allem deshalb grinsten und sich beeindruckt zeigten, weil der Ausdruck »Tänzerin« eine Art Codewort dafür darstellte, dass jemand gut im Bett war, und auch wenn sie das ziemlich ätzend fand, musste sie zugeben, dass Daniel sie zumindest immer unterstützte, wenn es um ihre beruflichen Ziele ging.

»Ach herrje.«

»Aber heute war sie bei einem Vortanzen, das ganz gut lief, stimmt’s, Amy?«, sagte Daniel, der einen zunehmend angespannten Eindruck machte.

»Um was für ein Stück ging es denn?«, fragte Vivienne Lyons.

Eine Lampe schien Amy genau auf den Kopf und ihr wurde allmählich heiß. »Es ist eine ganz neue Produktion, mit eigens komponierter Musik und eigener Choreografie«, erklärte sie und trank einen Schluck Wasser. »Es geht um die Geburt des Tangos.«

»Tango?«, wiederholte Stephen Lyons und verzog amüsiert den Mund. »Ganz schön lasziv, oder?«

Sie sah, wie Daniels Mutter ihrem Mann einen warnenden Blick zuwarf.

Amy zwang sich, ruhig zu bleiben und sich nicht provozieren zu lassen. Sie musste unbedingt einen guten Eindruck machen – immerhin waren diese Leute ihre potenziellen Schwiegereltern –, und außerdem war der Tango einer ihrer Lieblingstänze und sie fühlte sich moralisch verpflichtet, ihn zu verteidigen.

»Wenn er richtig und professionell getanzt wird, ist Tango elegant, wunderschön und leidenschaftlich«, erklärte sie.

»Tango dreht sich ausschließlich um Sex«, hielt Vivienne Lyons abfällig dagegen. »Er entstand in den Slums von Argentinien und Uruguay. Tango war die Musik der Bordelle. Jeder Aspekt des Tangos ist geprägt von Sexualität und Erotik. Führen, Folgen.« Sie hielt inne und lächelte, auch wenn diese Geste nicht zu ihren Augen vordrang. »Na ja, aber immerhin scheinst du auf dem Weg der Besserung zu sein, wenn du es schaffst, zu einem Vortanzen zu gehen.«

Amy griff zu ihrem Champagnerglas, ihre gute Laune war verflogen. Vivienne Lyons war derart eingebildet und versnobt. Am liebsten hätte sie ihr in allen Einzelheiten geschildert, auf welche Weise sie sich den Zeh gebrochen hatte, was fast das Ende ihrer Tanzkarriere bedeutet hätte, ganz zu schweigen davon, dass sie deswegen das letzte halbe Jahr außer Gefecht gesetzt war. Wenn sich etwas ausschließlich um Sex gedreht hatte, dann dieser Kurzurlaub, den sie mit Daniel im Juni verbracht hatte. Ein einziges Mal hatten sie es aus ihrem Himmelbett herausgeschafft, um eine Fahrradtour am Fluss zu unternehmen, doch dabei war sie gestürzt und hatte sich den Fuß verletzt. Sie bezweifelte, dass ihr Freund mit diesen Details freiwillig am Esstisch herausrücken würde.

Beim Gedanken an den Unfall fing ihr Zeh, der in einem engen Topshop-Schuh steckte, an zu pochen, doch gleich darauf wurde sie auch schon abgelenkt durch die Ankunft der Vorspeise, die aussah wie ein Kaktus auf einem Porzellanteller.

Sie griff zu Messer und Gabel, wobei sie darauf achtete, das kleinere, außen liegende Paar zu nehmen – das hatte Daniel ihr bei ihrer zweiten Verabredung gezeigt. »Wenn du unsicher bist, immer von außen nach innen vorgehen«, hatte er ihr geraten.

Was ja alles schön und gut war, aber Amy hatte trotzdem keine Ahnung, wie sie damit die Artischocke verzehren sollte. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Vivienne sie beobachtete, und da sie nicht unerfahren wirken wollte, hielt sie die Artischocke mit Messer und Gabel fest und versuchte, eines der nach oben stehenden Blätter abzusäbeln. Das ballförmige Gemüse überschlug sich natürlich sofort, stieß geräuschvoll gegen den Tellerrand und warf die kleine Schale um, deren Nacho-Käsedip-ähnlicher Inhalt sich sogleich über die Tischdecke entleerte.

»Scheiße«, murmelte Amy und versuchte, die Artischocke wieder in die Tellermitte zu befördern.

»Wie bitte?«, fragte Vivienne mit vor Empörung aufgerissenen Augen.

»Ausreißer«, sagte Amy schnell. »Ich meinte‚ so ein kleiner Ausreißer.«

Daniel beugte sich über seine eigene Artischocke, zupfte ruhig eines der äußeren Blätter ab, tauchte es in die Sauce, nahm es dann in den Mund und zog den weichen Teil mit den Zähnen ab. Mist, dachte Amy, so macht man das also.

Mit hochrotem Kopf fing sie an, Daniel zu imitieren. Ihre Augen starr auf den Teller gerichtet, traute sie sich nicht, den Kopf zu heben, und wünschte sich, sie würde im Erdboden versinken. Das restliche Abendessen über saß sie schweigend da und hörte dem öden Small Talk der Lyons zu, nickte an den richtigen Stellen und achtete darauf, welches Besteck die anderen benutzten, bevor sie es wagte, mit dem nächsten Gang zu beginnen. Als das Dessert abgeräumt wurde, war sie schon ziemlich beschwipst von dem Champagner, den sie aus lauter Langeweile getrunken hatte, und freute sich darauf, bald nach Hause gehen zu dürfen – selbst wenn man sie auf einer Trage hinausschaffen müsste.

»So, nun ist es wohl an der Zeit, einen kleinen Toast auszubringen«, erklärte Stephen Lyons, räusperte sich und wandte seine volle Aufmerksamkeit Daniel zu. »Ich freue mich und bin stolz, euch verkünden zu können, dass es unserem Sohn gelungen ist, sich einen höchst respektablen Posten in Washington zu sichern.«

Ein anerkennendes Raunen ging wie eine La-Ola-Welle um den Tisch, doch da hob Daniel die Hand, um zu widersprechen. »Dad, bitte. Noch ist es nicht offiziell.«

»Unsinn, heute Morgen hat mich ein Bekannter aus Whitehall angerufen, um mir zu gratulieren. Auf Daniel!«, rief er und hob sein Champagnerglas.

Amy warf ihrem Freund einen kurzen Blick zu. Sie wusste seit Monaten, dass eine Beförderung bevorstand. Sie hatte seine Nervosität geteilt, ihm Mut gemacht und ihm versichert, dass sie hinter ihm stand, wenn auch nicht immer leichten Herzens. Schließlich hatte sie von Anfang an gewusst, dass eine Versetzung ins Ausland bei einem Mitarbeiter des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und Commonwealth-Fragen auf dem Sprung ins diplomatische Korps nicht nur sehr wahrscheinlich, sondern quasi unvermeidlich war. Bevor sie und Daniel sich kennengelernt hatten, war er zum Beispiel gerade erst aus Brüssel wiedergekommen, wo er kurze Zeit gearbeitet hatte. Eine erneute Versetzung dorthin wäre jedoch so ähnlich, wie von Liverpool nach London zu pendeln, hatte er sie wiederholt beruhigt.

»Washington«, wiederholte Amy mit einem nervösen Lachen. Vielleicht war das ja sogar noch besser als ein Posten in Europa, überlegte sie. Sie wollte nach ihrer Kaffeetasse greifen, streifte jedoch dabei ein Weinglas, das prompt umfiel und seinen Inhalt über die Tischdecke und in ihren Schoß ergoss.

Für einen Augenblick herrschte völliges Chaos: Vivienne rief nach dem Kellner, Daniel sprang auf, um das Glas aufzufangen, und Stephen beugte sich zur Seite und tupfte Amy mit seiner Serviette ab.

»Komm, ich helfe dir, meine Liebe«, sagte er. »Du bist ja ganz nass geworden.«

»Nein, nein, es geht schon …«, erwiderte Amy, bevor ihr bewusst wurde, dass die Hand des älteren Manns auf ihrem Oberschenkel verharrte. Sie spürte, wie seine Finger ihr nacktes Bein streichelten, und sah schockiert hoch. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. »Bitte entschuldigt, ich … ich gehe wohl besser kurz zur Toilette«, murmelte sie.

»Ich glaube, jetzt fangen gleich die Reden an«, meinte Nigel und legte ihr die Hand aufs Knie, um sie am Aufstehen zu hindern.

Sie nickte schnell und blieb sitzen, während ein Mann mittleren Alters das Podium betrat und sich fast eine halbe Stunde lang darüber ausließ, was es doch für ein hervorragendes Jahr gewesen sei und welche Magie die Olympischen Sommerspiele 2012 in London verströmt hätten, während Amy auf ihrem Stuhl herumrutschte und hilflos mit ansah, wie sich der Wein über ihre Oberschenkel verteilte und langsam in Richtung Unterhose lief.

Sobald er seine Rede beendet hatte und der Applaus abgeflaut war, sprang sie auf und floh.

Ihr Herz klopfte. Hatte Daniels Vater ihr wirklich über den Oberschenkel gestreichelt oder hatte sie die Situation völlig falsch interpretiert? Sie hatte keine Ahnung, da sie inzwischen definitiv betrunken war und dringend frische Luft brauchte.

»Was ist denn los, Amy?« Sie war erleichtert, als sie sah, dass Daniel aus dem Hauptsaal herauskam. »Alles okay?«

Sie nickte nervös und sah an ihrem Kleid hinunter, welches – den Pailletten sei Dank – das Schlimmste verdeckte.

»Wow, Washington«, sagte sie schließlich.

»Ich weiß«, gab Daniel zurück. Er versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen, doch die Freude über die Beförderung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich wollte es dir eigentlich unter vier Augen sagen, aber heute Nachmittag habe ich zufällig mit Dad telefoniert … Außerdem wollte ich dir Weihnachten nicht verderben.«

»Nein, Quatsch. Das ist doch toll.«

»Dann lass uns feiern.«

»Aber nicht da drin. Nicht an diesem Tisch«, sagte sie leise.

»Tu einfach so, als wären sie gar nicht da«, meinte er.

»Sie haben was gegen mich.«

»Sie haben nichts gegen dich. Sie sind nur ein bisschen altmodisch.«

»Altmodisch? Sie waren schlicht und einfach unverschämt, Daniel. Sie haben sich abfällig über meinen Beruf geäußert, über meine Karriere …«

»Ich habe auch nicht gewusst, dass es in dem Stück um Tango geht.«

»Jetzt sag bloß, du hast auch ein Problem damit.«

»Meine Mutter hat sich ein bisschen unglücklich ausgedrückt …«

»Aber du findest, dass sie recht hat«, erwiderte Amy.

»Ach komm, lass uns das Thema wechseln. Entspann dich.«

»Entspann dich! Das ist mein Beruf, Daniel. Vielleicht könntest du meine Karriere ausnahmsweise mal ernst nehmen.«

»Ich nehme sie ja ernst. Sehr ernst. Wenn du willst, kannst du mir nachher gern eine Privatvorführung geben«, sagte er und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

»Du findest also wirklich, dass sie recht hat«, gab sie verletzt zurück. »Du findest es anzüglich.«

»Ach, komm schon, Amy …«

»Gib’s zu«, sagte sie und spürte, wie ihre Hände zitterten.

»Nein, ich finde nicht, dass eine Tangoshow anzüglich ist«, erwiderte Daniel langsam. »Aber du musst doch zugeben, dass Tango wirklich ziemlich lasziv ist und dass du vielleicht …«

»Vielleicht was?«

Er zögerte. »Dass du überlegen solltest, ob du wirklich willst, dass man dich in so einer Show auftreten sieht.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Daniel, das ist eine richtig gute Inszenierung. Du weißt, wie lange ich außer Gefecht gesetzt war. Das ist eine Supergelegenheit für mich.«

»Eine Supergelegenheit für Leute, sich ein ganz bestimmtes Bild von dir zu machen«, entgegnete Daniel in schärferem Tonfall. Er rieb sich die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. »Überleg doch mal. Seit wir zusammen sind und ich Leuten von deinem Beruf erzähle, wollen meine Familie und meine Freunde dich unbedingt einmal in einem Stück erleben. Allerdings weiß ich nicht, ob ich es so toll finde, wenn du dabei aufgedonnert bis zum Gehtnichtmehr in Netzstrumpfhosen und irgendeinem nuttigen hautengen Trikot auf der Bühne stehst, so gern ich dich privat in so einem Kostüm sehen würde.«

»Nuttig?«, erwiderte sie ungläubig. Fast sofort trat ihr ein Bild von sich selbst mit schwarzer Strumpfhose und dick aufgetragenem roten Lippenstift vor Augen. Nur gut, dass Daniel sie nie in dem »K Double Swagg«-Video gesehen hatte.

»Du weißt, was ich meine.«

Er streckte ihr beschwichtigend die Hand entgegen, doch Amy fühlte sich tief gekränkt.

»Tja, zum Glück gehst du jetzt nach Washington, da bleibt dir wenigstens mein nuttiger Anblick erspart.«

»Apropos …« In seiner Stimme schwang irgendetwas mit. Ein entschuldigender, verlegener Unterton, der sie an einen Satz denken ließ, den er erst vor wenigen Augenblicken gesagt hatte.

»Du hast gemeint, du wolltest mir Weihnachten nicht verderben«, unterbrach sie ihn mit leiser Stimme, als ihr wieder einfiel, weshalb er ihr nichts von seiner Beförderung erzählt hatte. »Für wie lange wirst du versetzt, Daniel?«

»Achtzehn Monate.«

Das war kürzer, als sie gedacht hatte – viele diplomatische Posten hatte man mindestens zwei oder drei Jahre lang inne. »Könnte schlimmer sein«, sagte sie und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. »Eigentlich ist es sogar gut: Ich könnte wieder nach New York ziehen und mir ein Engagement am Broadway suchen, und bis Washington ist es mit dem Flugzeug nur ein Katzensprung. Ich hatte tierische Angst, sie würden dich nach Afrika oder Südostasien versetzen, aber immerhin habe ich schon mal den richtigen Pass, stimmt’s?«

Amy brachte ein schwaches Lächeln zustande. Sie hoffte, er würde etwas sagen, wünschte sich, er würde beteuern, dass er unmöglich so lange von ihr getrennt sein könne, dass sie sich doch in Capitol Hill eine kleine Wohnung zusammen mieten könnten, nur sie beide, dass er es überhaupt nur ernsthaft in Erwägung ziehen würde, diesen bescheuerten Job anzunehmen, wenn sie mitkäme. Es gäbe doch bestimmt auch Tanzensembles in Washington, oder?

Doch er blieb stumm, wich stattdessen einen Schritt zurück und blickte sie verlegen an. »Hör mal, ich will auf keinen Fall, dass du wegen mir umziehen musst. Und außerdem hast du doch jetzt dieses tolle Angebot.«

Ihre Blicke trafen sich, sie sah in seine tiefblauen Augen.

»Aha, jetzt ist es auf einmal ein tolles Angebot …«

»Ich habe dir nie etwas vorgemacht, ich habe dir nie etwas versprochen«, sagte er leise. »Das ist mein Beruf, du wusstest doch, dass ich irgendwann ins Ausland versetzt werde.«

»Aber du musst doch nicht in dem Moment, in dem ein Flugticket in deinem Eingangskorb landet, unsere Beziehung in den Wind schreiben.«

Sie wartete darauf, dass er etwas sagte.

»Bitte, Amy, wir wollen doch beide nicht, dass es so endet«, murmelte er schließlich.

»Endet …«, echote sie ungläubig, als ihr klarwurde, was seine Worte bedeuteten. Sie dachte an die Geschenkschachtel von Tiffany in seiner Schublade und ihr fiel wieder ein, dass sie hierhergekommen war in der Hoffnung, ja, im sicheren Glauben, er würde ihr tatsächlich einen Heiratsantrag machen. Sie musste laut auflachen über ihre eigene Dummheit. »Ich gehe jetzt besser«, zischte sie mit so viel Selbstbeherrschung, wie sie aufbringen konnte.

»Warte, Amy. Lass uns darüber reden …«

»Lass mich in Ruhe«, schrie sie und stieß ihn wütend von sich. Dann rannte sie los, geriet jedoch ins Schlingern, als ihre Absätze den Teppich berührten.

Draußen angekommen, atmete sie die kalte Nachtluft ein und schloss die Augen, froh, dass sie diesem Ort entkommen war, ausnahmsweise froh, allein zu sein.

Sie spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen, doch sie versuchte mit aller Macht, sie wegzublinzeln. Vor Kälte zitternd, fiel ihr ein, dass ihr Mantel noch in der Garderobe hing. Sie machte kehrt und ging zurück zum Pavillon, blieb jedoch abrupt stehen, als ihr am Ausgang eine vertraute Silhouette ins Auge stach. Erst im zweiten Moment sah sie, dass es nicht Daniel, sondern Stephen Lyons war.

»Du gehst, ohne dich verabschiedet zu haben?«, fragte er, zündete sich eine Zigarette an und ließ die Schachtel zurück in seine Anzugtasche gleiten.

Arroganter Idiot, dachte sie bei sich. Stephen Lyons war Ende fünfzig, hielt sich aber offensichtlich für eine Figur aus der Serie Mad Men. Widerwillig gestand sie sich ein, dass er damit nicht ganz unrecht hatte. Sein Sakko war rasiermesserscharf geschnitten, seine kalten, harten Augen hatten dieselbe eisblaue Farbe wie die seines Sohns und seine Überheblichkeit stellte er mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes zur Schau, der Millionen auf dem Konto hatte und sich nicht mehr beweisen musste.

Im Hintergrund konnte sie das Stimmengewirr und das Gelächter der Party hören. Eine Band spielte inzwischen und sie stellte sich vor, wie diese ganzen miesepetrigen alten Paare aufstanden, um artig zu tanzen, mit ausgestreckten Armen, um den anderen ja nicht mehr als nötig berühren zu müssen.

»Auf Wiedersehen, Mr Lyons«, sagte sie, seinem Blick ausweichend.

»Stephen«, antwortete er beiläufig und ließ eine Rauchspur durch seine Nasenlöcher entweichen.

»Auf Wiedersehen, Stephen«, sagte sie und fühlte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen ausbreitete.

»Brauchst du einen Fahrer? Oder Geld für ein Taxi?«

»Ich will Ihr Geld nicht«, entgegnete sie. »Ich habe es nie gewollt«, fügte sie in leiserem Ton hinzu, als er einen Schritt auf sie zumachte.

»Ich weiß, dass das schwer für dich sein muss«, erklärte Stephen Lyons. »Aber du musst realistisch sein. Hier geht es um Daniels Karriere, nicht um eure Beziehung.« Sein Gesicht spiegelte nun kein falsches Mitgefühl mehr wider, sondern hatte einen geschäftsmäßigeren Ausdruck angenommen.

»Und das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, oder wie?« Sie ärgerte sich über die Bitterkeit in ihrer Stimme, doch weshalb sollte sie ihre Enttäuschung verbergen? Sie wussten beide, dass sie soeben zugunsten eines Jobs abserviert worden war.

Stephen neigte den Kopf zur Seite – eine Geste, in der sich Mitleid und Herablassung mischten. »Ich bin sicher, dass du Daniel nicht egal bist«, sagte er dann. »Aber du musst verstehen, dass er sich jetzt darauf konzentrieren muss, sein Potenzial voll auszuschöpfen. Das hat für ihn immer an erster Stelle gestanden. Schon als kleiner Junge hat er sich immer besonders angestrengt, um die Konkurrenz hinter sich zu lassen und der Erste zu sein.«

»Und Sie meinen, ich würde ihm dabei in die Quere kommen?«

Stephen verzog das Gesicht. »Daniels Versetzung nach Washington ist doch erst der Anfang, Amy. Unter uns gesagt, man munkelt, dass er in drei bis vier Jahren einen Botschafterposten bekommen soll. Weißt du, wie ungewöhnlich es ist, dass jemand unter fünfunddreißig in ein so hohes diplomatisches Amt aufsteigt?«

Er trat seine Zigarettenkippe aus und sprach dann weiter. »Daniel will bis ganz nach oben. Und wir wissen, dass er es bis ganz nach oben schaffen kann. Botschafter Ihrer Majestät in Frankreich oder was weiß ich, selbst der Botschafterposten in den USA liegt im Bereich des Möglichen. Aber um das zu erreichen, um seinen Job so gut wie möglich zu erledigen, braucht er die richtige Partnerin an seiner Seite.«

»Was wollen Sie damit andeuten? Dass ich ihn nicht unterstützen würde?«

»Es geht nicht darum, dass du ihn nicht unterstützen würdest, sondern dass du ihn nicht unterstützen könntest«, entgegnete Stephen. »Als Frau eines Botschafters muss man eine ganz spezielle Rolle erfüllen. Man muss sich mit der Etikette und dem Protokoll auskennen, man muss Small Talk beherrschen und wissen, wie man mit heiklen Situationen umgeht. Das ist nicht jedermanns Sache. Und nicht jeder ist dafür geschaffen.«

»Es geht um die Artischocke, oder?«

Stephen lachte und seine Augen verweilten einen Augenblick zu lange auf ihrem Körper. »Nein, es geht nicht um die Artischocke.« Er griff in seine Tasche und zog eine Visitenkarte heraus. »Ich muss jetzt wieder rein«, sagte er abschließend. »Aber vielleicht könnten wir uns ja irgendwann einmal unter erfreulicheren Umständen wiedersehen? In jungen Jahren hatte ich ebenfalls ein Faible für Tänzerinnen. Und wie heißt es so schön: Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.« Er sprach das Wort »Tänzerinnen« aus, als würde man als Tänzerin nur eine Stufe über einer Prostituierten stehen.

»Sie können mich mal!«, knurrte Amy. Seine kränkenden Worte trieben ihr Tränen in die Augen.

»Da ist mein Sohn ja noch mal glimpflich davongekommen. Eine solche Ausdrucksweise – undenkbar in der Botschaft!«, meinte Stephen Lyons kopfschüttelnd und verschwand im Pavillon.