»Moskau! … Das Leben, scheint mir, ist hier lebendiger, unmittelbarer als bei uns. … Ich konnte hier einige Zeit leben und würde mich nach und nach heimisch fühlen.« So beginnen Christa Wolfs Aufzeichnungen über eine Stadt, die sie 1957 zum ersten Mal besucht. Im Oktober 1989, mitten in den Wochen des Umbruchs in der DDR, tritt sie ihre letzte Reise in die Sowjetunion an. Insgesamt zehnmal ist sie dort, von den Sicherheitsdiensten der UdSSR wie der DDR beobachtet.
Sie folgt als Touristin zusammen mit Dostojewskis Enkel den Spuren des großen Russen in Sankt Petersburg. Fährt mit Max Frisch auf der Wolga nach Gorki. Trifft am Schwarzen Meer eine schlagfertige Moskauer Rechtsanwältin und steht in Komarowo am Grab Anna Achmatowas. Vor allem aber ist sie eine scharfe Beobachterin der sozialen und politischen Verhältnisse.
In ihren Tagebuchnotizen entsteht ein facettenreiches Bild des Großen Bruders, eines Riesenreichs im Wandel, bis hin zu den Tagen des dramatischen Endes, und gleichzeitig erleben wir Christa Wolf im Dialog mit sich selbst und den russischen Freunden wie Lew Kopelew. Ergänzt werden ihre Aufzeichnungen durch Texte ihres Mannes Gerhard Wolf sowie durch Briefe, zeitgenössische Fotos und Dokumente.
Christa Wolf, geboren am 18. März 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), wurde für ihr Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Georg-Büchner-Preis sowie dem Thomas-Mann- und dem Uwe-Johnson-Preis. Sie starb am 1. Dezember 2011 in Berlin.
Aus dem Nachlaß erschienen unter anderem Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert 2001-2011 (2013) sowie die Erzählungen August (2012) und Nachruf auf Lebende. Die Flucht (2014).
CHRISTA WOLF
MOSKAUER TAGEBÜCHER
WER WIR SIND UND WER WIR WAREN
Reisetagebücher, Texte, Briefe, Dokumente 1957-1989
Herausgegeben von Gerhard Wolf
unter Mitarbeit von Tanja Walenski
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:
Erste Auflage 2014
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlagabbildungen: Archiv Gerhard Wolf
Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-73699-9
www.suhrkamp.de
Gerhard Wolf: Wer wir sind und wer wir waren
ERSTE REISE 1957
In Moskau und Armenien mit einer Delegation von DDR-Autoren, 1. bis 23. Juni 1957
Gerhard Wolf zur ersten Reise
ZWEITE REISE 1959
In Moskau und Kiew zum III. Schriftstellerkongreß der UdSSR, 17. bis 29. Mai 1959
Christa Wolf: Über Otto Gotsche (2010)
Gerhard Wolf zur zweiten Reise
Tagesordnung des Schriftstellerkongresses
Christa Wolf an Wladimir Steshenski, 3. September 1960
Wladimir Steshenski an Christa Wolf, 14. September 1960
DRITTE REISE 1963
In Moskau mit Brigitte Reimann, 7. bis 16. Oktober 1963
Gerhard Wolf zur dritten Reise
Aus Brigitte Reimanns Tagebuch, 8. bis 16. Oktober 1963
Arkadi Jerussalimski an Christa Wolf, 26. Mai 1965
Christa Wolf an Frau Jerussalimskaja, 3. Dezember 1965
VIERTE REISE 1966
Über Moskau nach Gagra am Schwarzen Meer, 10. Oktober bis 12. November 1966
Gerhard Wolf zur vierten Reise
Wladimir Steshenski an Christa Wolf, 20. Dezember 1967
Christa Wolf an Wladimir Steshenski, 15. Juni 1969
Christa Wolf über Juri Kasakow: Das Eigene (1966)
Christa Wolf über Vera Inber: Der Sinn einer neuen Sache (1967)
FÜNFTE REISE 1968
Auf der Wolga nach Gorki und über Moskau nach Leningrad und Vilnius, 17. Juni bis 3. Juli 1968
Aus Max Frischs Tagebuch, 17. bis 22. Juni 1968
Gerhard Wolf zur fünften Reise
Christa Wolf: Begegnungen. Max Frisch zum 70. Geburtstag (1981)
Christa Wolf an Lew Kopelew, 28. November 1969
Lew Kopelew an Christa Wolf, 29. August 1973
Christa Wolf an Lew Kopelew, 15. September 1973
SECHSTE REISE 1970
In Leningrad und im Schriftstellerwohnheim Komarowo, 14. bis 29. Juli 1970
Christa Wolf: Erinnerung an Efim Etkind (2010)
Gerhard Wolf zur sechsten Reise
Lew Kopelew an Gerhard Wolf, 12. Dezember 1971
SIEBTE REISE 1973
In Moskau zur Majakowski-Ausstellung, 14. bis 29. Juli 1973
Gerhard Wolf zur siebten Reise
Christa Wolf: Fragen an Konstantin Simonow (1973)
Christa Wolf: Donnerstag, 27. September 1973
Lew Kopelew: Wahrheitsmuster. Über einen Roman von Christa Wolf (1988)
ACHTE REISE 1981
In Moskau, 1. bis 5. Dezember 1981
Gerhard Wolf zur achten Reise
NEUNTE REISE 1987
In Moskau und Riga, 5. bis 25. Juni 1987
Gerhard Wolf zur neunten Reise
Auszüge aus einem Gespräch der Übersetzer
Nina Fjodorowa und Albert Karelski mit Jewgenija (Shenja) Kazewa (1988)
ZEHNTE REISE 1989
In Moskau, 9. bis 14. Oktober 1989
Christa Wolf: Abschied von Moskau (2010)
Gerhard Wolf zur zehnten Reise
MEMORIAL
Gerhard Wolf: Zur Erinnerung an Efim Etkind und Lew Kopelew
Christa Wolf: Von dem multiplen Wesen in uns. Briefwechsel mit Efim Etkind (1992)
Efim Etkind: Der Kern des Kerns oder »Lob des Gedächtnisses« (1994)
Efim Etkind: Die Freiheit. Für Gerhard Wolf, in memoriam unserer ›sozialistischen‹ Vergangenheit (1998)
Lew Kopelew: Dichterin unter geteiltem Himmel – Christa Wolf (1993)
Christa Wolf: Mit dem absoluten Sinn für Toleranz. Totenrede für Lew Kopelew (1997)
Editorische Notiz
Quellennachweis
Abbildungsnachweis
Wer wir sind und wer wir waren,
Wer weiß, wo kamen wir her
Gerüchte blieben nur von jenen Jahren,
Wir aber sind nicht mehr.
Boris Pasternak
IN WIRKLICHKEIT
Und dieser Spiegel, da in Wasser klar
Dein Ich für dich erkennbar war.
Fort ist die Zeit und fort ist der Raum …
Doch helfen kannst auch du mir kaum.
Anna Achmatowa
IM TRAUM
Schwarze Trennung, immerwährend, trage
Ich mit dir gemeinsam. Ach, du weinst?
Gib mir lieber deine Hand und sage,
Daß du wieder mir im Traum erscheinst.
Anna Achmatowa
»Eine Reihe von Gesichtern taucht vor mir auf, Moskauer, Leningrader, Menschen, mit denen du offen und rückhaltlos reden konntest … So daß du eine Zeitlang dachtest, da seien doch so viele kluge kritische Menschen, dieses Riesenreich von innen her zu reformieren … ›Utopie‹, sagt man heute mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln. Du sahst ihre müden, entschlossenen Gesichter …, in denen auf einmal ein anderer Geist wehte. Kaum einer von denen ist noch da …«
Christa Wolf, »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«
Christa Wolf hat seit den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg immer ein persönliches Tagebuch geschrieben (ihr Jugendtagebuch hatte ihre Mutter vor der Flucht aus dem heimatlichen Landsberg verbrannt), einfach um festzuhalten, was ihr geschah und wie sie darüber dachte. Sie sah dies später aber nie als Teil ihres eigentlichen literarischen Schaffens an, anders als etwa Max Frisch, der seine Tagebuchprosa als eigenes Genre auffaßte. Eine Ausnahme bilden die Texte in »Ein Tag im Jahr« und »Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert«, die sie von 1960 bis zu ihrem Tod kontinuierlich verfaßte, auch mit der Absicht einer späteren Veröffentlichung. Überraschend und einmalig ist es nun, Max Frisch und Christa Wolf bei ihrer ersten Begegnung auf einer Wolga-Fahrt in ihren zeitgleichen Aufzeichnungen und in ihrer Korrespondenz kennenzulernen.
Christa Wolfs vorliegende Journale ihrer und unserer gemeinsamen Reisen nach Moskau und in die Sowjetunion von 1957 bis 1989 fanden sich neben ihren persönlichen Tagebucheintragungen in ihrem Nachlaß. Es sind Notate, manchmal akribisch, ausführlich, manchmal nur Momentaufnahmen, die mit unbestechlichem Blick festhalten, was sie sieht und erlebt, erfährt und denkt. Die oft unerwarteten und später auch geplanten Treffen und Bekanntschaften mit Menschen, skeptischen Literaturbeamten, Übersetzern ihrer Texte und Autoren, geben ihr neben den öffentlichen Verlautbarungen und eigenen Wahrnehmungen Einblick in den inneren Zustand und die Geschichte der Gesellschaft, die sich sozialistisch nennt. Aus einigen Begegnungen entwickelt sich eine langjährige Freundschaft.
Christa Wolfs Reisen sind deshalb auch Ausgangspunkt für Betrachtungen zur Literatur russischer Schriftsteller. Einige von ihnen kennt man heute kaum noch, die Bücher von anderen konnten nur im Westen erscheinen, manche wurden damals des Landes verwiesen und ausgebürgert.
Mit ihren Namen erreichen uns ihre Stimmen über das letzte Jahrhundert hinweg. Sie sind Zeugnisse von Widerständigkeit, von Träumen, von einem ausgeprägten Sinn für überlebensnotwendige Toleranz. Damit, so ist zu hoffen, leisten sie auch einen Beitrag zum Verständnis für Konflikte und Gefahren in unseren Tagen.
3. Juni 57
Moskau!
1 Der Rote Platz
Ich hatte mich vorher gefragt, was wohl in Moskau mich am ersten beeindrucken würde: Es kamen der Flugplatz, die Begrüßung (Steshenski, Ashajew, Michalkow, Medwedew u. a.), die Fahrt: Große neue Bauten am Rande der Stadt. Und plötzlich überholte uns ein »Pobeda«, und in ihm sah ich das Profil eines ganz jungen, vielleicht 14-15jährigen Mädchens: blonde Haare, zum Kranz gesteckt, grüner Pullover, klares, sinnendes Gesicht.
Das rührte mich an.
Und am nächsten Tag: Majakowskis Totenmaske. So ruhig, gelöst. Ganz anders als sein letztes Bild, kurz vor seinem Tod: Verkrampft, trotzig, erbittert. Aber nun: Er hatte abgeschlossen, er war zu einem Ende gekommen.
Sehr angenehm die beiden Führerinnen im Majakowski-Museum: Junge Frauen oder Mädchen (die eine erwartete ein Kind), sehr bescheiden, würdig und sicher. Nichts von anbiedern. (Ich muß noch versuchen, mit ihnen zu sprechen.)
Majakowskis »Wanze«: Ein überraschendes Stück. Nach viel Altmodischem, auch Kitschigem, das man allenthalben trifft, plötzlich etwas ganz Modernes, von einer großen Zuschauermenge begeistert beklatscht (viel Jugend, darunter entzückende Liebespaare). Dieselben Zuschauer, die am Abend vorher auch mit Beifallsstürmen auf die ziemlich mäßige tatarische Oper »Musa Dshalil« reagiert hatten, weil ihr Inhalt erschütternd und progressiv ist (Musa Dshalil wurde in Moabit von den Nazis umgebracht).
Das ist überhaupt etwas Auffallendes. Es gibt hier keinen Snobismus, in keiner Sache. In der Landwirtschaftsausstellung sitzen Bauern und Bäuerinnen lange vor den einzelnen Tafeln, lassen sich von den Führern alles erklären und machen sich unbeholfene, aber genaue Notizen. Sie sind von ihren Kolchosen als die besten Arbeiter zur Ausstellung nach Moskau geschickt worden und müssen dafür natürlich etwas geben. Ein großer Ernst, der an den Sinn des Fleißes glaubt, herrscht überall.
Und das ist ja wohl das Wichtigste.
Leider gibt es wenig, das stimmt, und die Auslagen sind gar nicht verlockend. (Im GUM waren wir noch nicht.) Kleider sehr altmodisch (gestern allerdings in dem neuen Bahnbrecher-Film sah man auch modernere, vielleicht will man sie propagieren).
Gestern abend unterhielt ich mich längere Zeit über den Dolmetscher mit unserer Serviererin Assja. Eine ausgesprochen reizvolle, hübsche Frau in meinem Alter, mit Charme, sehr lebhaft, intelligent, lebendige Augen. Sie überwand bald die erste Verlegenheit und erzählte freimütig von sich: Sie verdient 600 Rubel und mit Prämien für Planerfüllung meistens tausend. Ihr Mann arbeitet als Mechaniker: Ihr 5jähriges Kind heißt Евгений [Jewgeni]. Assja arbeitet seit ihrem 14. Lebensjahr, zuerst als Dreherin, dann in einer Gießerei, seit drei Jahren hier im Hotel. Sie besucht während ihrer Arbeitszeit Sprachkurse für Deutsch, um dann »Administrator« zu werden. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Sie ist seit 6 Jahren Parteimitglied und ist stolz darauf.
Über die Jugendfragen in Moskau: Seit einigen Monaten gibt es ein Gesetz, welches festlegt, daß schon ein Randalieren auf der Straße zu 2 Wochen Arrest führt. Da werden sie dann mit unbezahlten Arbeiten beschäftigt. Im Hotel waren auch zwei Fälle. Über sie hat das Freundschaftsgericht, dem auch Assja angehört, beschlossen, sie als Komsomolmitglieder zu verwarnen und in ihrer Arbeit um eine Stufe zu degradieren.
Assja ist sehr literaturinteressiert. Sie bezieht gesammelte Werke von Puschkin, Lermontow, Gogol usw. Mit ihrem Mann, der auch viel liest, streitet sie sich über Literatur. Sie selbst stellte sich mit ihrem Namen gleich als eine Turgenew-Gestalt vor.
Unsere Problematik Ost- und Westberlin war ihr unfaßlich.
11. 6.
Nachdem in den ersten Tagen bei mir absolute Gedankenarmut herrschte, strömen jetzt die Gedanken, ausgelöst durch die Eindrücke, auf mich ein; ausgelöst auch durch Diskussionen mit Helmut und Igor.
2 Foto der Delegation bei einem Spaziergang vor Moskau
Von links: Zwei sowjetische Funktionäre, dann Wolfgang Joho, Christa Wolf, Eduard Zak, Peter Huchel, Monica Huchel
Von Igor kann man einiges lernen, den Blick fürs Wesentliche und Festigkeit. Der Blick fürs Wesentliche bedeutet oft: Vereinfachung. Aber anscheinend ist diese Vereinfachung oft nötig und keineswegs unzulässig.
Über die Diskussionen, die nach dem XX. Parteitag bei uns stattfanden, wußte er fast besser Bescheid als wir. Offenbar begleitet er unsere Delegation nicht von ungefähr. – Er war anderer Ansicht als wir zunächst, daß nämlich die »liberalen« Strömungen unter der Intelligenz bei uns unwesentlich gewesen seien, daß sie keine Chance hatten, etwa solche Formen wie in Ungarn oder Polen anzunehmen. Er hielt die Strömungen für stark genug, daß sie in einer Zeit, da gewisse Kreise führende Köpfe suchten, durchaus gefährlich hätten werden können. Allerdings spricht Igor, als Diplomat, nicht völlig offen mit uns, wenn er uns auch mehr vertraut als den anderen. Diesen Wall zu durchbrechen, wird uns nicht gelingen; auch bei Стеженский [Wladimir Steshenski] nicht, der mir immer sympathischer wird, seit ich weiß, daß er nach 1945 Kulturoffizier in Berlin war. Ich glaube, sowohl er als auch Igor beobachten uns alle sehr genau und machen sich im stillen ihre Gedanken über uns. Das kann nicht immer gerade zum besten unserer Delegation ausfallen, da z. B. Huchel [XXX] ein eitler Fratz ist. Und M. Zimmering, der Leiter, ist von einer atemberaubenden Plattheit. Joho hat auch seine Ressentiments, aber er weiß sie selbst einigermaßen witzig abzuschätzen. Zak ist noch der Vernünftigste.
Igor war sehr böse auf einen Artikel Kunderas in der Nationalzeitung, wo er schrieb, daß nun endlich nicht mehr »Volkstümlichkeit und Einfachheit« die höchsten Kriterien in d. Kunst seien. Schön und gut: so ausgedrückt ist es auch nicht richtig, wenn man nicht mit Einfachheit Primitivität und mit Volkstümlichkeit falsche Popularität meint. Und das meint man hier, glaube ich, immer noch manchmal.
Das Leben, scheint mir, ist hier lebendiger, unmittelbarer als bei uns. Es fehlt der üble Spießersnobismus, der es mir unmöglich macht – eben gerade, weil er auch in mir steckt – frei heraus zu sagen: Ich liebe mein Volk. Das Volk hier ist wirklich »Volk«: Arbeiter und Bauern, arbeitende Menschen beherrschen das Straßenbild. Ich könnte hier einige Zeit leben und würde mich nach und nach heimisch fühlen.
Aber der »Geschäftsgeist« ist immer noch nicht ausgestorben: Manche Leute verdienen sich ihren Lebensunterhalt damit, daß sie für andere bei der Kontrolle ihrer Autovoranmeldung Schlange stehen und dafür 3 Rubel verlangen. – Auf dem schwarzen Markt ist Benzin billiger als im Normalverkauf, weil die Prämien für Einsparung v. Benzin den Fahrern nicht soviel einbringen wie der Verkauf desselben Benzins auf dem schwarzen Markt.
3 Postkarte von Christa an Gerhard Wolf. Motiv: Lomonossow-Universität in Moskau
Sozialistisches Bewußtsein für die Masse ist erst bei weitgehender Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erreichen. Mit Ideen allein geht es nicht.
17. 6. 57
Inzwischen liegt auch Armenien hinter uns. Ein sehr fremdes Land, sehr fremde Menschen. Große, interessante Eindrücke.
21. 6. 57
Morgen Abreise
Kann man schon resümieren?
Mir scheint, die wichtigsten Ergebnisse dieser Reise werden die indirekten sein, diejenigen, von denen man nicht einmal genau weiß, wie sie zustande kommen: Ich habe wieder richtige Lust, zu arbeiten, zu schreiben. Es scheint sich wieder zu lohnen.
Man muß einmal untersuchen: Welches sind die Kriterien für »Menschlichkeit« in unserer Zeit? Was ist es denn, was den Menschen zum Menschen macht? Was ist also der Grundstein für die bessere Gesellschaft? Das sind Fragen, bei denen wir heute schon besser abschneiden würden. Das sind Fragen für die Literatur.
Ein anderer Entschluß steht fest: Ich werde Russisch lernen.
Und ich werde viel lesen, mehr als bisher. Zu verdanken habe ich das vor allem Wladimir, das und manches andere …
Eine Geschichte spukt mir im Kopf herum, vielleicht die Fabel zu einem seit langem – genauer, seit drei Jahren – in mir lagernden Stoff. (Seit der Zeit, da ich Pawel kennenlernte, dessen Bild jetzt endgültig und für immer für mich ungefährlich geworden ist.):
Eine junge Frau (etwa 25) zwischen zwei Männern: Mit dem einen ist sie verheiratet, er ist Direktor einer Schule; der andere ist sein Freund, Lehrer an dieser Schule; die Frau selbst arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut. Sie haben ein Kind, einen 3jährigen Jungen. Der Freund des Mannes ist auch verheiratet, hat eine sehr aparte, liebenswerte Frau, auch ein kleines Kind.
Der Mann etwa Just-Typ: Egozentrisch, aber klug und kann verwirren. Die Frau wenig Lebenserfahrung, er ist ihr erster Mann, sie läßt sich von ihm jahrelang gefangennehmen und liebt ihn. Zur Zeit, da die Handlung einsetzt, beginnt aus ihrer Ehe schon eine Gewohnheit zu werden, was aber beiden nicht bewußt wird.
Der Konflikt entsteht, als der Freund des Mannes in eine Lage gerät, da er Menschen brauchte, die zu ihm stehen, da es aber etwas Mut kostet, zu ihm zu stehen. Der Mann der Frau wendet sich von ihm ab, mit guten, klugen Gründen. Die Frau aber beginnt den Freund zu lieben. Und er sie auch.
4 Die Delegation vor dem Sewan-See bei Eriwan. Zweiter von links ist Wolfgang Joho, daneben Wladimir Steshenski, Christa Wolf und Max Zimmering. In der Mitte Peter Huchel, ein armenischer Teilnehmer, dann Eduard Zak und Monica Huchel, ganz rechts Helmut Hauptmann
Es müßte damit enden, daß die Frau ihren Mann verläßt, dessen Stellung äußerlich unerschütterlich bleibt, da er sich rechtzeitig revidiert. Aber die Ehe des Freundes wird trotz schwerster Gefährdung nicht angetastet, die Frau verläßt mit ihrem Kind die Stadt und findet einen anderen Arbeitsplatz.
Sicher würde ich das nicht schaffen. Was mich daran so reizt, das sind die Liebesbeziehungen zwischen der Frau und dem Freund des Mannes. Dauer d. Geschichte: Etwa 4 Wochen.
Ich fahre sehr reich beschenkt nach Hause, voller Dankbarkeit, voller neuer Einsichten, die sich vorbereiten, voller tiefer Gefühle.
Goethe: aufsteigende und verfallende Epochen.
Christa Wolf konnte als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Schriftstellerverbandes der DDR an einer Delegation von Autoren teilnehmen, die Moskau und Armenien besuchte und einen Freundschaftsvertrag zwischen dem Schriftstellerverband der Sowjetunion und dem der DDR unterzeichnete. An der Delegation nahmen der Dichter Peter Huchel mit seiner Frau Monica, die Schriftsteller Helmut Hauptmann, Wolfgang Joho, Eduard Zak und Max Zimmering teil. Sie wurden empfangen von Funktionären des sowjetischen Schriftstellerverbandes wie Wassili Ashajew (1915-1968), Autor des stalinistischen Produktionsromans »Fern von Moskau« (1948), und Sergej Michalkow (1913-2009), einem vielgelesenen Lyriker, überdies Autor von Kinderbüchern in Millionenauflage und Autor der Hymne der Sowjetunion; wir begegneten ihm 1968 bei einer Wolgafahrt wieder.
Christa Wolf lernte ferner Wladimir Steshenski (1921-2000) kennen. Er war Germanist und Übersetzer, u. a. der Bücher von Franz Fühmann, Max von der Grün und Wolfgang Koeppen. 1945 diente er als Kulturoffizier der Sowjetarmee in Berlin und wurde später Leiter der Auslandsabteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes; mit Anna Seghers stand er in Briefwechsel. Wir trafen Steshenski nahezu bei jedem Moskau-Aufenthalt wieder und freundeten uns auch mit seiner Familie, seiner Frau Irina und der bei ihnen wohnenden Tochter, an. Als loyaler Literaturbeamter nahm er an internationalen Friedenstreffen, wie 1982 in Den Haag, teil und vertrat immer die offizielle Meinung. Natürlich sah ihn ein Dissident wie Lew Kopelew nur kritisch, und er verglich ihn mit Tschitschikow, der Hauptfigur aus Gogols »Toten Seelen«.
Die erste Begegnung mit Moskau regte Christa Wolf zu ihrer »Moskauer Novelle« an, die 1961 erschien, aber in russischer Übersetzung nie veröffentlicht wurde. Auch ein Film nach der Novelle, den Konrad Wolf als Regisseur drehen wollte, scheiterte am Einspruch der sowjetischen Zensur gegen das Drehbuch. Christa Wolf hat die »Moskauer Novelle« später in dem Aufsatz »Über Sinn und Unsinn von Naivität« (1974) kommentiert.
5 Besuch beim Katholikos, dem Oberhaupt der armenischen Katholiken, in Eriwan
Daß Peter Huchel zur Zeit der Reise bereits in großen Schwierigkeiten war, weil er als Chefredakteur der Zeitschrift »Sinn und Form« abgesetzt werden sollte, war Christa Wolf sicher nicht bekannt; wie sie, die bis dahin nur Kritiken und Rezensionen veröffentlicht hatte, wohl kaum von Huchel beachtet wurde – daher die distanzierende Bemerkung in den Notizen.
Über die Reise nach Armenien liegen leider keine Aufzeichnungen vor, nur Fotos berichten davon, auch vom Besuch des Katholikos, Oberhaupt der armenischen Katholiken, in Eriwan.
17. 5. 59
Moskau, nun doch; nachdem die Vorfreude schon wieder vergangen war. Im Flugzeug stellt Strittmatter Betrachtungen über die Relativität von Raum und Zeit an: Wenn man vom Fenster aus auf den Flügel des Flugzeugs schaut, scheint sich, je weiter der Blick zur Spitze wandert, das Flugzeug umso langsamer zu bewegen. Vorausgesetzt, daß man mit einem Auge noch ein Stück Land als Richtpunkt erhascht. Blickt man genau auf den Flügel direkt am Rumpf und liegt die Maschine sehr ruhig, hat man überhaupt nicht das Gefühl der Bewegung. Während wir schon jenseits der Oder sind, fährt das Auto, das uns zum Flugplatz brachte, noch nach Berlin rein. Wir reden über Einstein, über die Möglichkeit von »Marsmenschen«, die in letzter Zeit durch die Forschungen sowjetischer Wissenschaftler wieder in größere Nähe gerückt sind. Behaupte noch einer, die beiden Marsmonde (von dem Durchmesser!) seien künstliche Monde, vor Zeiten von vernunftbegabten Wesen hochgeschossen. Die darunterliegende Kultur ist längst vergangen – eine Vorstellung, die mich etwas deprimiert. Auch der große Komet, der 1908 in Sibirien niederging, soll ein Venusschiff gewesen sein!
2400 m. hoch, Felder wie verschwimmende Wasserflecken. Schönes, leicht dunstiges Wetter bis Wilna. Wie immer reichhaltiges Mittagessen. Die Landung, wenn auch von kleinen Luftböen durchsetzt, hatte mir kaum zu schaffen gemacht. Auf der Toilette funktioniert die Spülung nicht – wie vor zwei Jahren; und rote Seife liegt da, wie damals. Tischgespräch: Aus einem ND-Artikel zu schließen, gleichen die sowjetischen Schriftstellerprobleme den unseren aufs Haar. Ich werfe ein: Hoffentlich auf einem etwas höheren Niveau! Gotsche und Strittmatter bestreiten. Gotsche erläutert Prinzipien unserer Literaturpolitik: Unsere Leute mehr propagieren, über die Abseitsstehenden den Mantel des Schweigens breiten und sie die Vergänglichkeit des Ruhms fühlen lassen.
6 Christa Wolf, Erwin Strittmatter, Anna Seghers und Otto Gotsche
Wilna – Moskau. Wolkenfelder, phantastische Figuren. Die Wolkentürme und -banken sind nach oben, gegen den unwahrscheinlich blauen Himmel, scharf abgegrenzt, nach unten zu verfließen ihre Ränder. Teilweise hinten – blaue Regen- und Gewitterbänke. Der Propeller, das hatte ich gar nicht mehr so genau in Erinnerung, wird bei schneller Umdrehung unsichtbar bis auf einen flimmernden, gelb-weißen durchsichtigen Kreis, den die Propellerspitzen ziehen. 3000 Meter Höhe.
In Moskau hat es geregnet. Mengen von Flugzeugen, auch TU's, auf dem Flugplatz. Steshenski und Sobko empfangen uns, sehr nett. Champagner. Auf dem Weg nach Moskau überholt das Auto 300 Amateurmarathonläufer, die zur Spartakiade üben. Und dann der riesenbreite neue Häuserring. Noch unfertig, doch so schnell es geht, bewohnt. Neue breite Hauptstraße, führt über eine doppelstöckige Brücke (darunter U-Bahn).
Mein Status ist natürlich weitgehend unklar: Stesh. bringt mich zur deutschen Botschaft, wo mir ein Sonntagsdiensthabender zwar Geld auszahlen, aber kein Zimmer geben kann. Zurück. Es klappt doch noch im »Москва« [»Moskwa« – Hotel »Moskau«], Riesengebäude, sehr gut.
Tischgespräch mit Anna Seghers (die mich sehr herzlich begrüßt), Karlludwig Opitz, Str. [Strittmatter], Go. [Gotsche], Stesh. [Steshenski]. Seghers animiert Gotsche zum Geschichtenerzählen; Go. erzählt aus der illegalen Arbeit. Man spricht über Techniken beim Schreiben: ob mit Tonband oder nicht? Anna sagt, sie würde sich genieren, mit Mikrophon zu Leuten zu gehen, um ihre Aussagen festzuhalten. (Ich auch.)
Steshenski-Witz: Während der Taschkenter Konferenz läutet ihn nachts der Flugplatz aus dem Bett: Drei Neger sind angekommen, sie haben kein Geld und müssen untergebracht werden. Ein Zweibett-, ein Einbettzimmer im Hotel; alle drei sind in bunte Tücher eingewickelt und werden auf die Zimmer verteilt. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, daß der eine Bewohner des Zweibettzimmers eine Frau ist. Steshenski schließt: »Nun gutt. Aber kamen keine Beschwerden. Und das ist Hauptsache!«
Nr. 2: Ein Mütterchen kommt zum ersten Mal nach Moskau und sieht den Wald von Fernsehkreuzen auf den Häusern; »Boshe moi!« [»Mein Gott!«] ruft sie aus, »seit wann begräbt man denn die Leute auf den Dächern?«
Noch gut eine Stunde Gorkistaße auf- und abgelaufen, bis GUM und Roten Platz. Schön. Sonntag abend, und Menschen über Menschen. Eine Spur besser angezogen schon als vor zwei Jahren. Auch die Auslagen besser. Vorhängeschloß vor jedem Laden. Keine Hunde, fällt Opitz auf. Kein Platz in den Wohnungen dafür. Go. erzählt von früheren Besuchen, teilweise aus den zwanziger Jahren.
Eben Glockenspiel des Kreml aus dem Radio. Mitternacht.
In einem Reclamheftchen aus Gorkis Aufsätzen herausgelesen: »Die Liebe ist die Grundlage der Kultur, der Hunger die der Zivilisation.«
Канцелярия [Kanzeljarija]: Kanzlei: Hund vor der Tür.
Spencer: »Aus bleiernen Instinkten läßt sich kein goldenes Verhalten machen.«
Gorki polemisiert dagegen.
In der Hotelhalle treffen wir Noneschwili. Ich traue mich nicht, russisch zu sprechen. Aber er schenkt mir einen großen Schokoladentaler.
28. 5.
Vorabend vor der Abreise. So lange habe ich also – meinen Vorsätzen ganz zuwiderhandelnd – keine Zeile geschrieben. Wir waren zu gehetzt. Auch jetzt muß ich einen ziemlichen inneren Widerstand erst überwinden.
Zuerst schien es, die Reise würde sehr nüchtern und nutzlos verlaufen. Der Kongreß – Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag vormittag, Sonnabend vormittag – war eine einzige, ziemlich ungemilderte Qual. Surkows Referat langweilig, breiig, formalistisch – und so auch die Diskussionsbeiträge. Richtige, unterstreichenswerte Erklärungen, Rechenschaftsberichte, aber kein entscheidender Vorstoß in die nötige Richtung. Interessant: Von 468 Delegierten (5600 Schriftsteller insgesamt) nur 38, die nach 1946 angefangen haben zu schreiben. Große Überalterung. Und – ich kann es mir nur als Überbleibsel aus vergangenen Zeiten erklären – kein Mut zu eigener Meinung. Mit Ausnahmen: Rjurikow, Smirnow, neuer Chefredakteur der »Lit. Gasjeta« [Literaturzeitung], sprach als einziger ohne vorbereitetes Konzept. Die anderen plauderten aneinander vorbei. Erwin dichtet:
»Dichter, dichte dicht und dauerhaft,
Dichter, dichte ohne Sauersaft.«
Wir hatten das Gefühl: So ein Kongreß wäre heute bei uns nicht mehr möglich. Rjurikow wies darauf hin, daß die UdSSR von ČSSR und uns lernen könnte.
7 Faksimile: Tagebuch-Doppelseite
Kreml-Saal, wo der Oberste Sowjet tagt: Groß, weiß, schlicht, schön. Lenin-Statue an der Stirnseite. Sehr angenehme, tageslichtähnliche Beleuchtung. Daneben übrige Prachträume: Georgi-Saal, Wladimir-Saal usw. Mosaikfußboden, spiegelglatt, herrliche Wandgemälde und Goldschnitzereien. Anna, als ich zum ersten Mal in einem dieser Säle stand und ihn bestaunte: »Du, höre mal, in deinem ganzen Leben, sag ich dir, hast du noch nicht ein so herrliches Klosett gesehen wie hier im Kreml. Alles in Mahagoni!« So was macht sie gerne. Strittmatter nennt sie eine ausgekochte Hexe, geizig soll sie auch sein, aber ich kann mir nicht helfen: Mir gefällt sie sehr. Sie hat mir ein winzigkleines weißes Pferdchen aus Elfenbein geschenkt. Überhaupt war sie sehr nett zu mir. Einmal sagte sie, als sie gerade im GUM gewesen und von dem Riesenbetrieb dort sehr beeindruckt war: »Du, manchmal muß ich denken, der Marx hat das nicht gewußt, als er sich seine ganzen Sachen ausgedacht hat, daß es so viele Menschen auf der Welt gibt, besonders hier im Osten; so viele Blusen und Röcke zum Beispiel kann man doch gar nicht machen, wie die alle kaufen und anziehen wollen …« – »Mag er's nicht gewußt haben – was hätte das geändert?« »Hast schon recht, geändert hätte's nichts.« Sie denkt viel über unsere Zeit nach und scheint sich mit manchem sehr zu quälen. Ehe sie irgendein Bedenken anmeldet, entschuldigt sie sich hundertmal und schiebt andere vor, die es ihr eingeflüstert haben sollen. Sie hat Angst, man könnte sie als revisionistisch verschreien.
8 Christa Wolf beim Schriftstellerkongreß
1. Juni
Wieder zu Hause. Und wieder das mir schon bekannte Wehgefühl zu überwinden, das neben und unter der großen und schönen Wiedersehensfreude immer aufsteigt. Mit Wladimir habe ich einen Freundschaftspakt geschlossen. Er war sehr traurig in den letzten Tagen; »ganz durcheinander« sagte er, während er vor mir stand und – ich weiß nicht zum wievielten Male – mein Halstuch zusammenzog. »Ich fühle mich komischerweise so wohl in deiner Nähe«, sagte er, und ich lachte und verwies ihm das »komischerweise«. Aber mir war auch nicht immer zum Lachen, wenngleich ich nicht daran dachte, mir irgendwelche nicht vorhandenen Gefühle einzureden. Und ihm habe ich sie auszureden versucht, erfolglos. Mein Mann habe, meinte er, das große Los gezogen, als er mich geheiratet habe. Wir duzten uns seit dem Empfang im Kreml. Ich merkte bald wieder, worauf es mit ihm hinauslaufen sollte. »Du verstehst dich doch gut mit deiner Frau?« fragte ich ihn. Er schwieg. Dann: »Nicht besonders und nicht immer.« Das war der Kern der Sache, er kam später darauf zurück. Sie interessiere sich nicht für seine Arbeit. Zwar hätten sie sich immer wieder gern, aber sie hätten auch schon von Trennung gesprochen, und das sei schlimm genug und ein schlechtes Zeichen. Ich war erschrocken. Voriges Mal war ich also ganz umsonst so eifersüchtig auf seine Frau gewesen! Ich sagte ihm das und auch, daß ich sie sehr gerne habe. Er sieht in mir irgend etwas sehr Gutes, Großes, das machte mich ganz beklommen. »Du verstehst alles«, sagte er. »Das ist sehr ungewöhnlich für dein Alter.«
Allerdings hatte ich wirklich seinen kritischen Punkt gespürt: Er verwandelt sich immer mehr in einen Apparatschik. Eigene Meinung scheint dort in manchen Kreisen noch weniger üblich zu sein als bei uns. Der ganze Kongreß war ein Zeichen dafür. Und er, der seit zehn Jahren unter verschiedenen Dynastien im Verband arbeitet, bleibt natürlich nicht davon verschont. An dieser Bemerkung knabberte er herum. Er sprach – was nun wieder mich sehr betroffen machte – von der allgemeinen Müdigkeit seiner Generation, die von einem Zeitabschnitt zum anderen vergebens auf ein besseres Leben gehofft habe. »Und wenn man fast vierzig ist, braucht man etwas mehr als immer nur Enthusiasmus, braucht man etwas Festes.« Er lebt mit seiner Frau in einem Zimmer zusammen: »Das halten selbst Engel nicht aus.« Da hat er recht. Auch in die riesigen Neubauten am Stadtrand werde meist eine Familie in ein Zimmer eingewiesen: Pro Person 5 m2. Steshenskis sind in eine Wohnungsbaugenossenschaft eingetreten und werden 9 m2 pro Person bekommen: Eine kleine 2-Zimmer-Wohnung. Wie gut geht es uns!
Mir ist klar geworden, daß auch heute noch mit dem durchaus erträglicher gewordenen Optimismus manche tiefe, schwere Unterströmung überdeckt wird, auch in der Literatur. Wladimir ist anscheinend auf dem Punkt, wo die Spannkraft nachläßt und ein gefährliches Vakuum sich auftut. Die Frage: Lohnt es sich überhaupt? steht im Hintergrund. Eine leidliche Frage. In mich legt er alles hinein, was ihn diese Lebenskrise überwinden helfen kann. Er meint gar nicht so sehr und nicht nur mich. – Über alles das haben wir offen gesprochen, und eben das brauchte er. Er habe viele Freunde, aber keinen, mit dem er über alles sprechen könne und der ihn verstehe. Seine Frau erfährt von Artikeln, die er irgendwo veröffentlicht hat, manchmal als letzte. Er tat mir leid, und das ganze, was er von mir haben wollte, konnte ich ihm ja nicht geben. Er versprach mir zum Schluß, er wolle versuchen, nicht traurig zu sein, sondern aktiv und fröhlich. Und mir war fast ein bißchen weh, daß man nicht mehreren Menschen zugleich alles sein kann. Ob das später mal anders wird?
Außer diesem waren überhaupt am stärksten die Erlebnisse am Rande: Ein Gastmahl auf grusinisch im grusinischen Restaurant, dem Noneschwili als gestrenger Tamada [Tischmeister] vorstand. Strittmatter dichtete:
»Nachts hörst du in den Besenkammern
die schönen Fraun der Grusier jammern.«
Lidija Gerassimowa, die uns betreute, eine 48jährige, früher sicher sehr schöne Frau, war im Untergrund, hinter all ihrer Fürsorge und Bescheidenheit, sehr traurig. Ihr Mann, ein Österreicher, mit dem sie zwanzig Jahre zusammen gelebt hat, hat sie verlassen. Ihre Tochter geht im Herbst für 2-3 Jahre als Geologin nach Sibirien. Das kann sie nicht verwinden.
Ein Hauptthema, das immer wieder anklang: Bei aller Gleichheit der ideologischen Situation dort und hier doch die große Verschiedenheit: Wir leben an der Grenze. Man leistet sich drüben bei ihnen manches, was wir nicht können und wollen: Zum Beispiel die Remarque-Überschwemmung. »Zeit zu leben und Zeit zu sterben« und »Drei Kameraden« werden verschlungen. Warum? Einhellige Antwort: Weil das menschliche Thema Liebe und Freundschaft gut behandelt wird. Das ist doch eine große Kritik an ihrer Literatur! Natürlich spielt auch Neugier mit, weil sie ja so lange vom Westen ganz abgeschnitten waren. Aber sie brauchen noch viele und tiefe Diskussionen über den Zusammenhang von Weltanschauung und künstlerischer Meisterschaft – um mal zwei Worte zu gebrauchen, die schon Schlagworte geworden sind.
Eine Nacht – vor unserem Abflug nach Kiew – verbrachten wir mit Sobko und Kornejtschuk, der gerade Geburtstag feierte. Sobko rief mich jeden Morgen an und schickte mir einen Blumenkorb. Er hatte sich zum Abschied einen Kuß ausgebeten, es wurde aber nur ein Handkuß daraus, weil so viele Leute herumstanden. Gerade das gefiel mir. Er hat nur ein Bein. Als Kornejtschuk die Geschichte eines deutschen Offiziers erzählte, der um eines russischen Mädchens willen sich und sein Flugzeug den Feinden ergeben hatte und sie als moderne Romeo-und-Julia-Geschichte bezeichnete, sagte Sobko leise zu mir: »Das ist keine Romeo-und-Julia-Geschichte; bei denen waren nur zwei Familien verfeindet, hier sind es zwei Völker. Und Verrat bleibt da immer eine mißliche Sache, unter welchen Umständen auch immer.« Darüber hätte ich gerne noch mit ihm gesprochen.
Kornejtschuk erzählt folgende Anekdote: Vor Jahren besuchte ihn und seine Frau Wanda Wassilewska John Steinbeck. Gastmahl, Getränke. Steinbeck kritisiert die Sowjet-Regierung, Wassilewska zwingt ihn, auf Stalin zu trinken. Langes Schweigen. Dann Steinbeck: »Trinken Sie mit mir zusammen auf den Sessel im Weißen Haus, der seit Roosevelts Tod verwaist ist.« – Er stritt sich stundenlang mit ihnen über Sowjetdemokratie. Erst als er am nächsten Tag in einem Lokal eine Schlägerei erlebte, die sich über eine Stunde hinzog, ohne daß ein Milizionär erschien, war er überzeugt, daß es in der Sowjet-Union Demokratie gibt.
Witz: Wo kann man neue Lenin- und Stalinpreise zusammen in einem Bett liegen sehen? – Bei Kornejtschuk und Wassilewska.
Kiew ist herrlich. Hügel, Gärten, Parks. Neue, breite Straßen, Boulevards. Am tiefsten beeindruckte mich der Rundblick vom Heldendenkmal über den Dnjepr und das weite Land. Ein sehr schönes Sommertheater.
Kornejtschuk erzählte von seinem Besuch bei Gerstenmaier. (Er will eine Komödie schreiben: Als Sowjet-Schriftsteller in Westdeutschland.) G.'s Tochter hatte Lenin gelesen und ihrem Vater verboten, ihn zu beschimpfen. K. ließ diese Tochter grüßen.
In der Lomonossow-Universität waren wir auch bei deutschen Studenten.
Wieder sahen wir: »Необыкновенный концерт« bei Obraszow [»Neobyknowenni konzert« – »Das ungewöhnliche Konzert«, legendäres Puppentheater]. Großartig. Später erlebten wir im wunderschönen neuen Haus des Schriftstellerverbandes ein ähnliches Estradenkonzert.
Mit Bredel einmal durch Moskau gestrolcht. Ich sprach mit ihm über sein Manuskript. Er interessierte sich für meine Einwände und beklagte sich, im ZK habe man ihm alle Konflikte herausoperieren wollen. Ich bin skeptisch. Es ist ja wirklich kein gutes Buch. Er zeigte mir die Lubljanka. Bredel macht auf mich den Eindruck, daß er an seiner Grenze angekommen ist. Er ißt viel und gut (vor allem Eis!), bezeichnet sich selbst als »Gummiball« und nach dem Chruschtschow-Referat als »Gummirakete«, lamentiert reichlich bei sonstiger Fröhlichkeit. Hat, ebenso wie Anna, wenn auch auf andere Weise, einen tiefen Knacks.
Strittmatter kam manchmal auf das Problem der modernen Heuchelei, der Masken, die wir alle tragen, zurück. Das ist natürlich sein Problem. Er macht sich im gewöhnlichen Leben stärker als er ist und sein kann. Immerhin war er 33, als der Krieg zu Ende ging, und von Antifaschismus gab es bei ihm keine Spur. Er muß ja neben einem solchen Mann wie Gotsche Komplexe haben und hat sie auch. – In Kiew, als Str. in einer Tischrede im Schriftstellerverband andeutete, wie zwiespältig die Gefühle von uns Deutschen bei einer Reise durch die Sowjet-Union sind, fing Gotsche an zu weinen. Auch er trägt eine Maske.
Ich kann nicht vergessen, wie an der überreich bestückten Tafel in einem sowjetischen Kolchos, der für eine DDR-Delegation ein Gelage gab, zwischen ausschweifenden Trinksprüchen auf euer aller Gesundheit, Glück und Wohlergehen immer mal wieder, niemals anklagend, die Rede war von dem Sohn, der als Partisan von den Deutschen erschossen, dem Bruder, der im Krieg gefallen, der Nachbarsfamilie, die ausgerottet worden war. Und wie da der Leiter eurer Delegation, ein alter Kommunist, der seine Unbeugsamkeit im Klassenkampf der zwanziger Jahre erworben und in Zuchthaus und Illegalität bewiesen hatte und der inzwischen ein hochrangiger, unversöhnlich engstirniger Funktionär geworden war, wie der einen Weinkrampf bekam, als er auf die Trinksprüche der Russen erwidern wollte.
Und es war auch diese Szene, die es dir später schwermachte, seinen Zorn und seine Gegnerschaft zu ertragen, als es darum ging, ihm grundsätzlich und scharf zu widersprechen. Deine kleinbürgerliche Herkunft habe dich eingeholt, konnte er dich anschreien, an die Stelle des Klassenstandpunkts sei bei dir Humanitätsduselei getreten, er habe sich bitter in dir getäuscht, du sollest keine Nachsicht von ihm erwarten. Da dachtest du an seine Zeit als Widerstandskämpfer und an deine eigene Zeit in der Hitlerjugend und wünschtest sehr, eure gegensätzlichen Standpunkte über das, was »uns« nützte, hätten euch nicht immer weiter auseinandergetrieben. Da standest du ihm in seinem riesigen Dienstzimmer gegenüber, in das du mit einem Passierschein und nach gründlicher Kontrolle durch bewaffnete Posten gelangt warst, die dich mit wachsamen Augen bis zum Paternoster verfolgten und deren ebenfalls bewaffnete Genossen im oberen Stockwerk schon auf dich warteten, um nochmals deinen Ausweis mit dem Passierschein zu vergleichen und dir dann den Weg durch endlose menschenleere Flure und eine Reihe von Vorzimmern zu weisen, die ihre Wirkung auf dich nicht verfehlten. Wozu brauchten sie das, woher diese Angst, diese Paranoia vor einem Volk, das ihnen soviel angetan hatte und dessen kleineren Teil sie nun regierten. Regieren mußten, ohne ihr Mißtrauen gegen dieses Volk je loszuwerden. Eine kalte Angst überkam dich, du hättest sie noch nicht in Worte fassen können. Damals ging es um ein Buch, das du geschrieben hattest und dessen Erscheinen der hochgestellte Genosse verhindern wollte, weil er es für schädlich hielt. Dir lag an diesem Buch, es war der Test, ob du in diesem Land weiter leben konntest oder nicht. Da schrie er dich an. Daß es um Grundsätzliches ging, wußtet ihr beide. Dann wurde sein Ton kalt, und dein Ton wurde verzweifelt. Ihr verabschiedetet euch unversöhnt, auf dem langen Weg zur Tür kipptest du um, und als du zu dir kamst, war über dir sein erschrockenes Gesicht.
Aus »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«
Als Redakteurin der Zeitschrift »Neue deutsche Literatur« war Christa Wolf Teil der offiziellen Delegation des Schriftstellerverbandes der DDR zum III. Schriftstellerkongreß der UdSSR; sie gab auftragsgemäß davon den offiziösen Bericht in der Beilage des »Neuen Deutschland« vom 20. Juni 1959. Zur Delegation gehörte Otto Gotsche, der Sekretär Walter Ulbrichts im Staatsrat und Verfasser linientreuer Romane wie »Zwischen Nacht und Morgen« (1959) und »Die Fahne von Kriwoj Rog« (1960); über ihn schreibt Christa Wolf in »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. Anna Seghers und Erwin Strittmatter waren mit Christa Wolf freundschaftlich bekannt, zu ihnen gesellte sich Willi Bredel, und sie alle nahmen an den Sitzungen des Kongresses teil. Aus der Bundesrepublik war Karlludwig Opitz (1914-1997) angereist, bekannt durch seinen auch in der DDR
Die deutschen Autoren begegneten dem georgischen Romancier Iosseb Noneschwili (1918-1980) und den russischen Schriftstellern Wadim Sobko (1912-1981) und Alexej Kornejtschuk (1905-1972).
Mit Wladimir Steshenski blieb Christa Wolf brieflich in Kontakt; im Jahr nach ihrer Reise schickte sie ihm das Manuskript ihrer »Moskauer Novelle«.