Kapitel 4
Wie ich vermutet hatte, war Logans Vergangenheit kein Thema mehr, nachdem Janice ausgezogen war. Offenbar hatte sich jeder, mich eingeschlossen, von Mr. Carmichael überzeugen lassen, dass uns von Logan keine Gefahr drohte. Trotz meines Zanks mit meinem Nachbarn fragte ich mich ab und zu, wie sein gesellschaftliches Alltagsleben als ehemaliger Verbrecher wohl aussah. Beruflich schien er wieder auf die Beine gekommen zu sein – Mr. Carmichael war der Eigentümer von Fire und hatte Logan offenbar dort einen Job gegeben. Aber das hatte sicherlich auch viel mit Menschenkenntnis zu tun. Nicht jeder war ein Mr. Carmichael. Janice war das beste Beispiel dafür. Also musste Logan jedes Mal, wenn er ein Formular ausfüllte oder seine Abwesenheit während seiner Haft erklären musste, mit einer vorschnellen Verurteilung rechnen.
In gewisser Hinsicht war er immer noch ein Gefangener.
Ich wusste, wie verletzend es sein konnte, wenn die Menschen sich weigerten, genau hinzugucken.
Gegen meinen Willen tat er mir wirklich leid. Außerdem wollte ich unbedingt wissen, warum er verurteilt worden war, auch wenn ich das natürlich nie zugeben würde. Es konnte sich ja nur um ein minderschweres Vergehen handeln, sonst würde Mr. Carmichael ihn sicher nicht für vertrauenswürdig halten. Vielleicht war ich naiv, aber ich lebte damit in seliger Unwissenheit und war glücklich.
Logan hielt sein Versprechen und versuchte seinen Lärmpegel zu drosseln. Während der nächsten paar Wochen kam es noch einmal zu lautstarkem Sex, aber es gab keine Musik und keine Partys mehr. Wenn wir uns im Treppenhaus begegneten, grüßten wir uns höflich, aber hauptsächlich deshalb, weil es auf schlechte Manieren schließen lassen würde, wenn wir uns ignorierten.
Das Leben verlief wieder in halbwegs normalen Bahnen, und ich arbeitete sogar nachts wieder.
Aber ich ging nicht viel aus.
Nach dem katastrophalen Date mit Bryan – dem fünften in einer Serie katastrophaler Dates – war ich ziemlich skeptisch, aber ich langweilte mich auch zu Tode. Chloes Verlobter war eine Zeitlang zu Hause, und Aidan musste viel trainieren.
Also willigte ich widerstrebend ein, als Chloe Anfang der Woche anrief, um mich zu fragen, ob ich Lust hätte, mit einem Kollegen von ihr auszugehen.
Ich war angenehm überrascht, als sich herausstellte, dass John auf eine altmodische Weise gut aussah, und ich fand es liebenswert, dass ihn das Treffen mit mir nervös machte. Nachdem wir eine halbe Stunde im Restaurant gesessen hatten, bereitete mir das Tempo, in dem er Wein hinunterkippte, zunehmend Sorgen. Anscheinend brauchte er Alkohol als Aufputschmittel, um sich mit mir unterhalten zu können, und kannte seine Grenzen offenbar nicht.
Und John und Alkohol waren ganz offensichtlich keine gute Kombination.
Er hatte mich freundlich und warm angesehen, als wir uns im Restaurant getroffen hatten, auch wenn sein Blick ständig ängstlich durch den Raum schweifte, während wir plauderten und überlegten, was wir essen wollten.
Bei seinem dritten Glas Wein trat jedoch ein spöttisches Glitzern in seine Augen.
»Ich habe Bilder von dir gesehen«, sagte er.
Ich sah von meiner Pasta auf und fragte mich, was um alles in der Welt er meinte. »Bitte?«
Er grinste, ein vom Wein getrübtes, leicht benommenes Lächeln. »Bei Facebook. Chloe zeigt mir ihre Fotos bei Facebook. Ich fand dich schon immer sehr hübsch.«
Sein Kompliment ließ mich erröten. »Danke.«
John beäugte plötzlich meine Brust, und ich verkrampfte mich. »Aber du könntest dich ein bisschen sexier kleiden. Du hast eine tolle Figur, aber man sieht leider nicht viel davon.«
Ich verbarg mein Erschrecken über seine anzügliche Bemerkung, betrachtete sein fast leeres Weinglas und wünschte, ich hätte den Mumm, etwas zu sagen, aber ich wollte im Restaurant keine Szene heraufbeschwören. Also erwiderte ich seinen glasigen Blick mit einem stummen Tadel. »Ich bevorzuge einen eleganteren Stil.«
Er hob abwehrend die Hände. »Oh, ich wollte dich nicht kränken. Ich wollte nur andeuten, dass du vielleicht nicht mehr Single wärst, wenn du dich anders anziehen würdest.«
Mir blieb fast der Bissen im Hals stecken.
»Und du würdest mit offenen Haaren besser aussehen. Mit der Hochsteckfrisur wirkst du etwas streng.«
Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte ihn auszublenden, weil seine Krittelei unseligerweise eine Erinnerung auslöste …
Die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzten ausgelassen. Ich war noch nie so nervös gewesen; den ganzen Tag hatte ich keinen Bissen hinunterbekommen.
Mein erster Schulball.
Ich starrte in den Spiegel, zupfte an meinem Haar und meinem Kleid herum und überlegte, ob ich meine Haare hätte aufstecken und vielleicht doch das schwarze Kleid statt des violetten tragen sollen.
»Was will der Junge vor der Tür?«
Ich fuhr herum. Mein Puls raste, als meine Mutter im Türrahmen lehnte und mich abschätzig musterte. Dabei drehte sie ein Glas Rotwein in der Hand.
»Ich dachte, du bist heute Abend mit Mrs. Ferguson zum Dinner verabredet.«
Sie sah mich finster an. »Offenbar nicht. Was verheimlichst du mir? Warum trägst du diesen scheußlichen Fetzen?«
»Ich bin zum Schulball eingeladen worden.«
Sie schnaubte. »Von dem kleinen Jungen an meiner Tür? Er hat Akne.« Sie rümpfte angewidert die Nase.
Ich wurde rot und blickte zur Seite. »Er heißt Michael, und ich mag ihn.«
»Kommt er aus einer guten Familie?«
»Wieso?« Ich hob ängstlich den Kopf, weil Michaels Vater Zahnarzt und seine Mutter Schauspielerin in einer Seifenoper war. Schwer zu sagen, ob sie das in den Augen meiner Mutter zu einer ›guten Familie‹ machte.
»Weil«, seufzte sie ungeduldig, »ich wissen muss, ob dieser Junge es wert ist, dass ich dir rate, dieses Kleid auszuziehen, in dem du aussiehst wie ein Elefant.« Sie starrte mich argwöhnisch an. »Hast du dich an die Diät gehalten?«
Ich begann zu zittern. »Die Schulkrankenschwester sagt, das sei nichts für eine Vierzehnjährige.«
»Woher will die Schulkrankenschwester etwas über deine Essgewohnheiten wissen?«
»Ich … ich bin in der Schule ohnmächtig geworden.«
Mutter verdrehte die Augen. »Gott, wie rührselig.«
Meine Finger krallten sich in den Stoff meines Kleides und zerknitterten ihn. Ich war durchaus schlank, aber anscheinend für meine Mutter mit den Modelmaßen immer noch nicht dünn genug.
»Also?«, fauchte sie. »Wer ist dieser Junge?«
»Seine Mutter ist Andrea Leeds.«
»Die Schauspielerin?« Mutter legte nachdenklich den Kopf schief. »Ich schätze, es könnte schlimmer sein. Jedenfalls kannst du das da nicht tragen.« Sie stellte das Glas auf meinen Schreibtisch und schlenderte zu meinem Kleiderschrank. »Wir wollen einmal sehen, ob wir etwas finden, das dir den Hauch einer Figur verleiht. Jungen mögen Mädchen, die wie Mädchen aussehen, Gracelyn. Sexy wirst du nie sein, aber wir können versuchen, dich zumindest ein bisschen weiblich wirken zu lassen.« Seufzend betrachtete sie meine Kleider. »Mit deinem Haar müssen wir auch etwas machen. Du siehst so struppig aus wie ein Straßenköter. Nächste Woche lässt du es schneiden.«
Ich berührte eine Strähne meines langen Haares. »Ich möchte es nicht abschneiden lassen.«
Ihr Kopf fuhr herum, ihre dunklen Augen blitzten wütend auf. »Solange du unter meinem Dach lebst, mein Geld nimmst und meinen Namen repräsentierst, tust du, was ich sage. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Mutter.«
»Zur Hölle mit Kindern«, murmelte sie, während sie sich wieder meiner Garderobe widmete. »Ich hätte nie welche bekommen, wenn dein verdammter Vater nicht unbedingt Erben für seinen Medienkonzern gebraucht hätte. Aber verschwendet er einen einzigen Gedanken daran, dass ich diejenige bin, die unter deiner Dummheit zu leiden hat? Nein, natürlich nicht …« Sie verstummte und versank in ihren Gedanken.
Tränen brannten in meinen Augen, aber wie immer drängte ich sie zurück und schluckte den schmerzhaften Kloß in meiner Kehle hinunter.
»Oh Scheiße«, stöhnte John und fuhr sich gequält mit der Hand durch das Haar. »Ich sage schon wieder immer nur das Falsche. In meinen Gedanken klingt es gut, aber es kommt total falsch heraus.« Er beugte sich über den Tisch. Sein Ellbogen stieß gegen seinen Dessertlöffel, der klirrend herunterfiel. Er bemerkte es noch nicht einmal. »Ich finde dich toll, Grace. Wirklich.«
Ich lächelte mein angetrunkenes Gegenüber matt an. »Schon gut. Lass uns einfach weiteressen.«
Zum Glück bestritt John die restliche Unterhaltung, ohne an mir herumzukritteln, obwohl er nicht einmal nach mir fragte. Er redete viel über seinen Job und seine Eltern und seine Vorliebe für Rugby. Er stellte mir nur einzige Frage: »Wie ist es eigentlich, mit Aidan Ramage befreundet zu sein?«
»Freundschaftlich?«, gab ich unverbindlich zur Antwort, da mich sein einschleimender Tonfall irritierte.
Seine Bewunderung für Aidan rettete das Date nicht mehr. Ich wusste, wie schwierig es sein konnte, neue Leute kennenzulernen, und dass sich selbst die nettesten Menschen wie Idioten aufführten, wenn sie nervös waren. Aber ein Säufer war nichts für mich. Schon gar nicht einer, der mich an meine Mutter erinnerte.