Originalausgabe
© by the Estate of Clark Ashton Smith
Anmerkungen © 2013 by Scott Connors und Ron Hilger
© dieser Ausgabe 2015 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Alexander Rösch
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-283-2
www.Festa-Verlag.de
»Es ist bemerkenswert«, sagte Dr. Manners, »wie sehr unser Arzneiwissen durch die interplanetarischen Forschungen erweitert wurde. In den vergangenen dreißig Jahren hat man auf den anderen Welten unseres eigenen Sonnensystems Hunderte bisher unbekannter Substanzen entdeckt, die entweder als Arzneien oder als medizinische Wirkstoffe eingesetzt werden können. Es wird interessant sein, zu erfahren, was die Allan-Farquar-Expedition von den Planeten Alpha Centauris mitbringen wird, wenn – oder falls – sie ihr Ziel erreicht und es ihr danach gelingt, zur Erde zurückzukehren. Ich bezweifle allerdings, dass man etwas noch Wertvolleres als Selenin entdecken wird. Wie Sie wissen, hat das Selenin, das von einer fossilen Flechte stammt und bei der ersten Mondmission im Jahre 1975 entdeckt wurde, die alte Geißel Krebs fast völlig ausgerottet. Wenn man es auflöst, bildet es die Grundlage für ein unfehlbares Serum, das sowohl zur Vorbeugung als auch zur Heilung eingesetzt wird.«
»Ich fürchte, ich bin nicht ganz auf dem neuesten Stand der Dinge«, entschuldigte sich der Bildhauer Rupert Balcoth, der Manners’ Gast war. »Natürlich hat jeder von Selenin gehört. Und ich habe kürzlich oft über ein Mineralwasser von Ganymed gelesen, dessen Wirkungen dem mythischen Jungbrunnen entsprechen sollen.«
»Sie meinen Clithni, wie es von den Ganymedern genannt wird. Es handelt sich um eine klare, smaragdgrüne Flüssigkeit, die in hohen Geysir-Fontänen aus den Kratern ruhender Vulkane aufsteigt. Die Wissenschaftler glauben, dass im Genuss des Clithni das Geheimnis der beinahe wunderbaren Langlebigkeit der Ganymeder begründet liegt, und sie sind der Ansicht, es könnte bei der Menschheit ähnlich wirken.«
»Aber einige der außerirdischen Arzneien haben sich als nicht ganz so hilfreich für die Menschheit erwiesen, nicht wahr?«, meinte Balcoth. »Ich glaube, von einem marsianischen Gift gehört zu haben, das die schöne Kunst des Mordens sehr erleichtert. Und mir wurde gesagt, dass das Betäubungsmittel Mnophka von der Venus weitaus schlimmere Auswirkungen auf den menschlichen Körper hat als jedes andere irdische Alkaloid.«
»Natürlich«, bemerkte der Doktor mit philosophischer Gelassenheit, »können viele dieser neuen chemischen Agenzien missbraucht werden. Diese Gefahr teilen sie mit allen unseren einheimischen Arzneien. Wie immer ist es der Mensch, der die Wahl zwischen Gut und Böse hat … Ich vermute, dass es sich bei dem marsianischen Gift, von dem Sie gesprochen haben, um Akpaloli handelt, den Saft eines gewöhnlichen rötlich-gelben Krauts, das in den Oasen des Mars wächst. Es ist farblos und ohne jeden eigenen Geschmack oder Geruch. Es tötet fast sofort, hinterlässt keine Spuren und ahmt die Symptome eines Herzinfarktes nach. Zweifellos sind viele Menschen durch einen heimlichen Tropfen Akpaloli in ihrem Essen oder ihrer Medizin umgebracht worden. Aber Akpaloli ist auch ein sehr mächtiges Stimulans, wenn man es in winzigen Dosen verabreicht, und nicht selten hilft es dabei, Paralysierte auf geradezu wundersame Weise wiederzubeleben.
Selbstverständlich«, fuhr er fort, »müssen wir noch unendlich viel über etliche dieser außerirdischen Substanzen lernen. Ihre Eigenschaften sind oft durch reinen Zufall entdeckt worden – und in manchen Fällen harren sie noch ihrer Entdeckung.
Nehmen Sie zum Beispiel Mnophka, das Sie vorhin erwähnt haben. Obwohl es in gewisser Hinsicht den irdischen Narkotika wie Opium und Haschisch ähnelt, wirkt es weder betäubend noch schmerzstillend. Hauptsächlich beschleunigt es das Zeitgefühl und verstärkt alle Empfindungen, seien sie angenehm oder quälend. Derjenige, der es einnimmt, hat den Eindruck, sich mit der Geschwindigkeit eines Wirbelwinds zu bewegen, auch wenn er in Wirklichkeit vielleicht still auf dem Sofa liegt. Er existiert in einem Strom von Sinneseindrücken und scheint in wenigen Minuten die Erfahrungen von Jahren zu machen. Die Auswirkungen auf den Körper sind beklagenswert: eine tiefgreifende Erschöpfung und ein schnelleres Altern des Hautgewebes analog der Zeitspanne, die der Abhängige lediglich in seiner Illusion durchlebt hat.
Es gibt einige andere, vergleichsweise wenig bekannte Mittel, deren Nebenwirkungen noch seltsamer als die von Mnophka sind, falls das überhaupt möglich ist. Ich vermute, Sie haben noch nie von Plutonium gehört, oder?«
»Nein«, gab Balcoth zu. »Berichten Sie mir davon.«
»Ich kann noch etwas Besseres tun – ich kann Ihnen ein wenig davon zeigen, auch wenn es nicht besonders beeindruckend aussieht. Es handelt sich lediglich um ein feines weißes Pulver.«
Dr. Manners erhob sich aus dem pneumatisch gepolsterten Sessel, der seinem Gast zugewandt stand, und ging zu einem großen Schrank aus synthetischem Ebenholz, dessen Regalböden voller Phiolen, Flaschen, Zylinder und Schachteln verschiedenster Größen und Formen waren. Als er davon zurückkehrte, händigte er Balcoth eine flache, winzige Phiole aus, die zu zwei Dritteln mit einer mehligen Substanz gefüllt war.
»Plutonium«, erklärte Manners, »kommt, wie der Name bereits andeutet, vom einsamen, erfrorenen Pluto, den bisher nur eine einzige irdische Expedition besucht hat – diejenige, die von den Cornell-Brüdern John und Augustine angeführt wurde und die 1990 begann, aber erst 1996 mit ihrer Rückkehr zur Erde endete, als schon fast alle sie aufgegeben hatten. Wie Sie sicherlich gehört haben, starb John auf der Rückreise zusammen mit der Hälfte der Expeditionsteilnehmer, und als die übrigen die Erde erreichten, war ihnen nur noch ein Reservetank mit Sauerstoff geblieben.
Diese Phiole enthält etwa ein Zehntel des existierenden Plutonium-Bestandes. Augustine Cornell ist ein alter Schulfreund von mir und hat mir dieses Fläschchen gegeben, bevor er sich den Allan-Farquar-Leuten angeschlossen hat. Ich kann mich glücklich preisen, dass ich etwas so Seltenes besitze.
Die Geologen der Gruppe haben dieses Pulver gefunden, als sie unter den erhärteten Gasen nachgebohrt haben, von denen dieser kleine, sternerhellte Planet bedeckt ist, weil sie etwas über dessen Zusammensetzung und Geschichte in Erfahrung bringen wollten. Unter den gegebenen Umständen konnten sie nicht viel tun; die Zeit war begrenzt und die Ausrüstung schlecht, aber sie haben einige erstaunliche Entdeckungen gemacht, von denen das Plutonium nicht die geringste war.
Wie Selenin ist es ein Nebenprodukt pflanzlicher Versteinerung. Zweifellos ist es viele Milliarden Jahre alt und reicht in die Zeit zurück, als Pluto genügend innere Hitze besaß, um die Entwicklung gewisser rudimentärer Pflanzenarten auf seiner Oberfläche zu ermöglichen. Damals muss er eine Atmosphäre besessen haben, auch wenn die Cornells keine Beweise für früheres tierisches Leben gefunden haben.
Plutonium enthält neben Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff noch weitere winzige Mengen einiger nicht klassifizierter Elemente. Es wurde in kristallinem Zustand entdeckt, verwandelte sich aber sofort in das feine Pulver, das Sie hier sehen, als es im Raumschiff der Luft ausgesetzt wurde. Es ist wasserlöslich und bildet ein dauerhaftes Kolloid ohne die geringste Ablagerung, solange es sich in Ruhe befindet.«
»Sie sagen, es handelt sich um eine Arznei«, meinte Balcoth. »Wie wirkt es?«
»Dazu komme ich gleich – auch wenn die Wirkung nur schwer zu beschreiben ist. Die Eigenschaften dieser Substanz wurden nur durch Zufall entdeckt. Auf der Rückreise vom Pluto entdeckte ein Mitglied der Expedition, das vor Raumfieber fast bewusstlos war, die nicht gekennzeichnete Flasche und nahm eine kleine Dosis, da der Mann glaubte, es handle sich um Bromid oder Kalium. Sein fiebriger Zustand wurde dadurch für eine Weile aufrechterhalten, denn er erhielt einige völlig neue Vorstellungen von Raum und Zeit.
Seitdem haben etliche weitere Personen mit diesem Mittel Experimente angestellt. Die Auswirkungen dauern nicht lange an (der Einfluss des Mittels nimmt stets nach einer halben Stunde ab), und sie sind bei jedem unterschiedlich. Es gibt keine Nebenwirkungen – weder nervliche noch geistige oder körperliche, soweit man bisher weiß. Ich habe es selbst ein- oder zweimal genommen und kann das bestätigen.
Aber ich bin mir nicht sicher, was diese Substanz mit denjenigen macht, die sie einnehmen. Vielleicht ruft sie nur eine Störung oder Metamorphose der Empfindungen hervor, wie Haschisch es zu tun pflegt; oder sie dient der Stimulierung irgendeines rudimentären Organs oder eines schlummernden Sinnes im menschlichen Gehirn. Jedenfalls führt sie zu einer Veränderung der zeitlichen Wahrnehmung – die tatsächliche Zeitdauer wird völlig anders empfunden – und dehnt sie zu einer Art von Wahrnehmung des Weltalls aus. Man sieht die Vergangenheit und auch die Zukunft in Bezug zum eigenen Selbst wie eine Landschaft, die sich zu allen Seiten erstreckt. Es stimmt allerdings, dass man nicht sehr weit schauen kann. In jeder Richtung sind nur die Ereignisse mehrerer Stunden zu erkennen, aber es ist eine sehr merkwürdige Erfahrung, die dabei hilft, einen anderen Blick auf das Rätsel von Raum und Zeit zu werfen. Es ist völlig anders als die Täuschungen, die durch Mnophka hervorgerufen werden.«
»Das klingt sehr interessant«, gab Balcoth zu. »Allerdings habe ich noch nie mit Narkotika herumexperimentiert, auch wenn ich in meinen jungen, romantischen Tagen ein- oder zweimal Cannabis Indica eingenommen habe. Damals hatte ich wohl gerade Gautier und Baudelaire gelesen. Wie dem auch sei, die Wirkung war ziemlich enttäuschend.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie es nicht lange genug eingenommen haben, sodass Ihr Körper nicht in der Lage war, Rückstände der Droge in sich aufzunehmen«, sagte Manners. »Daher waren die Auswirkungen vom visionären Standpunkt aus gesehen unerheblich. Aber bei Plutonium ist es vollkommen anders. Schon von der ersten Dosis an erhalten Sie die besten Resultate. Ich glaube, es wäre ziemlich interessant für Sie, Balcoth, da Sie Bildhauer sind. Sie würden einige sehr ungewöhnliche plastische Anblicke erhalten, die sich nicht leicht mit euklidischen Ebenen und Winkeln ausdrücken lassen. Ich würde Ihnen gern sofort eine kleine Dosis verabreichen, wenn Sie dieses Experiment machen wollen.«
»Sie sind sehr großzügig, wo die Substanz doch so rar ist, nicht wahr?«
»Ich bin keineswegs großzügig. Seit Jahren plane ich, eine Monografie über außerirdische Alkaloide zu schreiben, und Sie könnten mir zu einigen wertvollen Daten verhelfen. Mit der Art Ihres Hirns und Ihrem hoch entwickelten Künstlersinn sollten die Visionen, die das Plutonium hervorruft, ungewöhnlich klar und deutlich sein. Ich bitte Sie nur darum, sie mir nachher so genau und vollständig wie möglich zu beschreiben.«
»Also gut«, stimmte Balcoth zu. »Ich probiere gern etwas Neues aus.« Seine Neugier war angestachelt, und er ließ sich von Manners’ Bericht über diese bemerkenswerte Droge verführen.
Manners holte ein antikes Whisky-Glas, das er fast bis zum Rand mit einer gold-roten Flüssigkeit füllte. Dann entkorkte er die Flasche mit dem Plutonium und gab der Flüssigkeit eine Prise des feinen weißen Pulvers hinzu, das sich sofort und still auflöste, ohne die geringsten Blasen zu werfen.
»Bei der Flüssigkeit handelt es sich um Wein aus einer süßen marsianischen Knolle, die als Ovvra bekannt ist«, erklärte er. »Er ist leicht und harmlos und wird den bitteren Geschmack des Plutoniums wegnehmen. Trinken Sie es rasch und lehnen Sie sich dann in Ihrem Sessel zurück.«
Balcoth zögerte und betrachtete die rot-goldene Flüssigkeit.
»Sind Sie sicher, dass die Nachwirkungen wirklich so schnell vergehen?«, fragte er. »Es ist jetzt Viertel nach neun, und ich muss um etwa zehn Uhr aufbrechen, denn ich habe eine Verabredung mit einem meiner Auftraggeber im Belvedere-Club. Es handelt sich um den Milliardär Claud Wishhaven, dem ich ein Basrelief in Pseudojade und Neojaspis für die Halle seines Landhauses schaffen soll. Er will etwas wirklich Fortschrittliches und Futuristisches haben. Wir werden es heute Abend besprechen und eine Entscheidung über die Motive und alles andere treffen.«
»Dann haben Sie fünfundvierzig Minuten Zeit«, versicherte ihm der Doktor, »und spätestens nach dreißig werden Ihr Hirn und Ihre Sinne wieder vollkommen normal funktionieren. Es hat noch nie Schwierigkeiten gegeben. Ihnen bleiben sogar noch fünfzehn Minuten übrig, in denen Sie mir alles über Ihre Sinneseindrücke berichten können.«
Balcoth leerte das kleine antike Glas mit einem einzigen Zug und lehnte sich, wie Manners es befohlen hatte, in den tiefen pneumatischen Kissen des Sessels zurück. Er hatte den Eindruck, leicht und endlos durch einen Nebel zu fallen, der sich mit unerklärlicher Schnelligkeit im ganzen Zimmer ausgebreitet hatte; doch trotz des Nebels hatte er undeutlich wahrgenommen, dass Manners ihm das leere Glas aus den schlaff werdenden Fingern genommen hatte. Er sah Manners’ Gesicht weit über sich; es war klein und verschwommen, als ob er es in ungeheurer Ferne sehe, und die einfache Handlung des Doktors schien in einer völlig anderen Welt stattzufinden.
Er fiel und schwamm weiterhin durch den ewigen Nebel, in dem alle Dinge wie im uranfänglichen Dunst des Chaos aufgelöst waren. Nach einer zeitlosen Spanne nahm der Nebel, der zunächst einheitlich grau und matt gewesen war, ein fließendes Strahlen an, das sich in jedem Augenblick veränderte, und das Gefühl des sanften Fallens wurde zu einem schwindelerregenden Drehen, als ob er in einem immer schneller werdenden Strudel gefangen wäre.
Gleichzeitig zu dieser Bewegung in dem Mahlstrom prismatischen Strahlens schienen seine Sinne eine unbeschreibliche Veränderung durchzumachen. Die wirbelnden Farben wurden langsam, aber stetig zu erkennbaren, festen Umrissen. Wie bei einem Schöpfungsakt traten sie aus dem unendlichen Chaos heraus und schienen ihren Platz in einer gleichermaßen unendlichen Landschaft einzunehmen. Das Gefühl der Bewegung in einer abwärtsführenden Spirale erstarrte zu vollkommener Bewegungslosigkeit. Balcoth fühlte sich nicht mehr als lebendiges organisches Wesen; er war ein abstraktes Auge geworden, ein entkörperlichter Mittelpunkt visuellen Bewusstseins, allein im Weltall schwebend und doch in einer engen Beziehung zu dem froststarrenden Anblick stehend, auf den er von seinem unbeschreiblichen Aussichtspunkt aus hinunterstarrte.
Es überraschte ihn nicht, dass er anscheinend in zwei Richtungen gleichzeitig blickte. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine gewaltige Weite, die völlig bar jeder natürlichen Perspektive war und von einem ununterbrochenen Basrelief oder Fries aus menschlichen Gestalten durchschnitten wurde, der in einer geraden Linie dahinlief, welche wie eine unzerstörbare Mauer wirkte.
Für eine Weile war dieser Fries für Balcoth vollkommen unverständlich, und er erkannte nichts als eisige, fließende Umrisse vor einem Hintergrund aus wiederholten Massen und verworrenen Winkeln und Abschnitten anderer menschlicher Friese, die sich aus einer unsichtbaren, jenseitigen Welt entweder näherten oder wieder in sie verschwanden, oft auf eine ganz plötzliche und unerwartete Weise. Dann schien die Vision klarer und deutlicher zu werden, und allmählich verstand er.
Er sah, dass das Basrelief vollständig aus einer Wiederholung seiner eigenen Person bestand, die so deutlich sichtbar war wie einzelne Wogen eines Stroms, und in ihrer Gesamtheit besaßen sie eine flussähnliche Einheit. Unmittelbar vor ihm und in einiger Entfernung zu beiden Seiten saß die Gestalt in einem Sessel – und dieser Sessel war nun der gleichen wogenden Wiederholung unterworfen. Der Hintergrund bestand aus der ins Unendliche vervielfältigten Gestalt des Doktor Manners in einem anderen Sessel und dahinter aus zahllosen Abbildern eines Medizinschranks und einem Teil der Wandtäfelung.
Balcoth folgte dem Blick zu der Seite, die man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks als die linke bezeichnen mochte, und nun gewahrte er, wie er das antike Glas leerte und Manners vor ihm stand. Dann sah er noch weiter entfernt sich selbst und Manners, wie dieser ihm das Glas reichte und wie er die Dosis Plutonium hineinschüttete, wie er zum Schrank ging und das Fläschchen holte, wie er aus dem pneumatischen Stuhl aufstand. Jede Bewegung, jede Handlung des Doktors und seiner eigenen Person während ihres Gesprächs war in umgekehrter Reihenfolge sichtbar und reichte in die ferne, unheimliche Landschaft hinein wie eine Wand aus Steinskulpturen. Es gab keine Unterbrechung in der Kontinuität seiner eigenen Gestalt, aber Manners schien bisweilen wie in eine vierte Dimension hinein zu verschwinden. Wie er sich später erinnerte, waren das die Augenblicke, in denen sich der Doktor nicht in seinem Blickfeld befunden hatte. Es war eine ausnahmslos visuelle Wahrnehmung, und obwohl Balcoth sah, wie sich sowohl seine Lippen als auch die von Manners bewegten, hörte er doch kein Wort und auch keinen anderen Laut.
Das Ungewöhnlichste an dieser Wahrnehmung war die völlige Abwesenheit jeder perspektivischen Verkürzung. Obwohl Balcoth alles von einem festen, unbeweglichen Punkt aus zu sehen schien, stellten sich ihm die Landschaft und der sie zerschneidende Fries ohne die geringste Verkleinerung in der Ferne dar und blieben auch dort klar und deutlich erkennbar.
Als er nach links schaute, erkannte er sich selbst, wie er Manners’ Wohnung betrat; dahinter begegnete er seinem Ebenbild, wie dieses in dem Aufzug stand, der ihn in das neunte Geschoss des hundertstöckigen Hotels gebracht hatte, in dem Manners lebte. Dann schien der Fries eine offene Straße als Hintergrund zu haben, mit einer verworrenen, andauernd sich verändernden Masse anderer Gesichter und Umrisse, Autos und Gebäudeabschnitte wie in einem alten futuristischen Gemälde. Einige Einzelheiten waren deutlich erkennbar, andere waren rätselhaft gebrochen und verschwommen, sodass sie kaum zu erkennen waren. Alles war in dem starren Strom des Zeitmusters neu angeordnet, ungeachtet seiner räumlichen und zeitlichen Beziehungen.
Balcoth verfolgte die drei Blocks von Manners’ Hotel bis zu seinem eigenen Studio zurück und sah dabei all seine vergangenen Bewegungen, was immer ihre Richtung im dreidimensionalen Raum gewesen war, in einer geraden Linie in der Zeit-Dimension. Endlich befand er sich in seinem Studio, und dort vereinigte sich der Fries aus seinen eigenen Gestalten in dem unheimlichen Anblick der vom Raum verwandelten Zeit mit den Basreliefs, die aus seinen Skulpturen gebildet wurden. Er sah sich selbst, wie er an einem Nachmittag mit seinem Meißel einer symbolistischen Statue den letzten Schliff gab, während das Glimmen des roten Sonnenuntergangs durch ein unsichtbares Fenster fiel und den blassen Marmor entzündete. Dahinter verblasste das Glimmen, und die halb nur herausgemeißelten Züge der Statue einer Frau waren zu sehen, der er den vorläufigen Namen »Vergessen« gegeben hatte. Irgendwo zwischen den nur teilweise wahrgenommenen Skulpturen wurde der Blick zur linken Seite undeutlich und verschmolz bald in einem amorphen Nebel. Er hatte sein eigenes Leben als stetigen Gletscherstrom gesehen, der sich etwa fünf Stunden weit in die Vergangenheit hinein erstreckte.
Zur rechten Seite sah er die Zukunft. Hier saß seine eigene Gestalt unter dem Einfluss der Droge im Sessel gegenüber dem Basrelief des Dr. Manners und dem andauernd wiederholten Schrank und der Wandtäfelung. Viel weiter hinten bemerkte er, wie er langsam und allmählich aus dem Sessel aufstand. Er erhob sich zu einer aufrechten Position, schien noch wie in einem uralten Stummfilm für eine Weile mit dem zuhörenden Doktor zu reden. Danach schüttelte er Manners die Hand, verließ die Wohnung, fuhr mit dem Lift nach unten und folgte der offenen, hell erleuchteten Straße in Richtung des Belvedere-Clubs, wo er sich mit Claud Wishhaven treffen wollte.
Der Club lag nur drei Blocks entfernt in einer anderen Straße, und den kürzesten Weg dorthin bildete eine schmale Gasse zwischen einem Bürogebäude und einem Lagerhaus hinter dem ersten Block. Balcoth hatte vor, diese Gasse zu nehmen, und in seiner Vision sah er das Basrelief seiner zukünftigen Gestalt über den Bürgersteig an verlassenen Türen und nur schwach erkennbaren Mauern vorbeigehen, die hoch bis zu den erloschenen Sternen zu reichen schienen.
Offenbar war er allein, es gab keine anderen Passanten, sondern nur die stillen, schimmernden, endlos wiederholten Winkel laternenerhellter Mauern und Fenster, die seine immer wiederkehrende Gestalt begleiteten. Er sah sich, wie er die Gasse entlangging, gleich einem Strom in einer tiefen Schlucht, und ungefähr in der Mitte kam die seltsame Vision zu einem plötzlichen, unerklärlichen Ende, anstatt sich allmählich in dem formlosen Nebel aufzulösen, der seinen Blick in die Vergangenheit begrenzt hatte.
Der skulpturenartige Fries mit seiner architekturalen Einrahmung schien eine scharfe und klare Abbruchkante zu haben und verschwand in einem Abgrund unermesslicher Schwärze und Nichtexistenz. Die letzte wellenartige Duplikation seiner eigenen Person, der undeutlich sichtbare Türdurchgang dahinter und das schimmernde Pflaster des Bürgersteigs wirkten, als seien sie durch ein niedergehendes Schwert aus Finsternis gespalten worden, und hinter der vertikalen Linie des Schnitts war – nichts.
Balcoth fühlte sich vollkommen von seinem Selbst getrennt, erhoben über den Strom der Zeit und die Ufer des Raums, schwebend in einer abstrakten Dimension. Diese Erfahrung dauerte möglicherweise in ihrer gesamten Ausdehnung nur einen Augenblick – oder eine ganze Ewigkeit. Ohne sich zu wundern, ohne Neugier oder Nachdenklichkeit, betrachtete er wie ein vierdimensionales Auge gleichzeitig die ungleichen Kreuzungen seiner eigenen Vergangenheit und Zukunft.
Nach jenem zeitlosen Intervall vollkommener und vollständiger Wahrnehmung setzte ein rückwärtslaufender Prozess der Veränderung ein. Er, das allsehende Auge, hoch erhaben im Überraum, bemerkte eine Bewegung, als würde er an einem feinen Faden zurück in den Kerker von Raum und Zeit gezogen, aus dem er sich kurzfristig befreit hatte. Er schien dem Fries seines eigenen sitzenden Körpers nach rechts zu folgen und spürte schwach einen Rhythmus oder ein Pulsieren in seiner Bewegung, das zu den auftauchenden Duplikationen der Gestalt passte. Mit seltsamer Klarheit erkannte er, dass die Zeiteinheit, durch welche diese Duplikationen bestimmt wurden, das Schlagen seines eigenen Herzens war.
Mit zunehmender Schnelligkeit löste sich die Vision versteinerter Form und starren Raumes zu einem spiralförmigen Wirbel zahlreicher Farben auf, durch die er nach oben gezogen wurde. Endlich kam er wieder zu sich, saß in dem pneumatischen Sessel, und Dr. Manners befand sich ihm gegenüber. Der Raum schien ein wenig zu schwanken, als ob er ein letztes Mal kurz von der unheimlichen Verwandlung berührt würde, und in seinen Augenwinkeln schienen noch Fäden der Regenbogenhaut zu hängen. Doch abgesehen davon war die Wirkung der Droge vollkommen verschwunden, allerdings hinterließ sie eine einzigartig klare und lebhafte Erinnerung an die beinahe unbeschreibliche Erfahrung.
Sofort stellte Dr. Manners ihm Fragen, und Balcoth beschrieb seine visionären Erfahrungen so vollständig und ausführlich wie möglich.
»Da gibt es eine Sache, die ich nicht verstehe«, sagte Manners am Ende mit einem verwirrten Stirnrunzeln. »Ihrem Bericht zufolge haben Sie in einer direkten Linie fünf oder sechs Stunden in die Vergangenheit zurückgeschaut und dabei so etwas wie eine sich stetig fortsetzende Landschaft wahrgenommen, aber der Blick in die Zukunft endete abrupt, nachdem Sie dieser für eine Dreiviertelstunde oder sogar noch weniger gefolgt sind. Ich habe nie zuvor gehört, dass die Droge so ungleichmäßig wirkt; die Blicke in die Vergangenheit und die Zukunft waren bei den anderen, die Plutonium eingenommen haben, stets gleich lang.«
»Nun«, bemerkte Balcoth, »das wahre Wunder besteht darin, dass ich überhaupt in die Zukunft schauen konnte. In gewisser Weise kann ich den Blick in die Vergangenheit verstehen. Er ist offenbar aus Erinnerungen und meinen früheren Bewegungen zusammengesetzt, und den Hintergrund bilden alle Eindrücke, die meine Sehnerven während dieser Zeit erhalten haben. Aber wie kann ich etwas wahrnehmen, das noch gar nicht geschehen ist?«
»Das ist natürlich ein Rätsel«, stimmte Manners ihm zu. »Ich kann mir nur eine einzige Erklärung vorstellen, die für unseren begrenzten Verstand begreifbar ist: Alle Ereignisse, aus denen sich der Strom der Zeit zusammensetzt, sind bereits geschehen, geschehen gegenwärtig und werden für immer geschehen. In unserem üblichen Bewusstseinszustand nehmen wir mit den körperlichen Sinnen nur jenen Augenblick wahr, den wir die Gegenwart nennen. Unter dem Einfluss des Plutoniums waren Sie in der Lage, den Augenblick der gegenwärtigen Wahrnehmung in beide Richtungen auszudehnen und gleichzeitig einen Teil von dem zu sehen, was sich für gewöhnlich jenseits unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten befindet. Deshalb ist Ihnen die Vision Ihrer eigenen Person als unbeweglicher Körper erschienen, der sich am Zeitstrang entlang erstreckt.«
Balcoth war inzwischen aufgestanden und wollte gehen. »Ich muss mich auf den Weg machen«, sagte er, »sonst komme ich zu spät zu meiner Verabredung.«
»Ich werde Sie nicht länger aufhalten«, sagte Manners. Er schien zu zögern und fügte dann hinzu: »Ich verstehe noch immer nicht, warum Ihre Zukunft so plötzlich beendet war. Die Gasse, in der sie zu enden scheint, ist die Falman Alley, wie ich vermute – der kürzeste Weg von hier aus zum Belvedere-Club. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Balcoth, würde ich eine andere Route nehmen, selbst wenn sie ein paar Minuten länger dauern sollte.«
»Das klingt ziemlich düster«, lachte Balcoth. »Glauben Sie etwa, mir wird in der Falman Alley etwas zustoßen?«
»Ich hoffe es nicht, aber ich kann nicht dafür garantieren, dass es nicht so sein wird.« Manners klang völlig ernst und aufrecht. »Sie sollten meinem Rat folgen.«
Balcoth spürte die Berührung eines kurz vorbeiziehenden Schattens, als er das Hotel verließ – eine Vorahnung, die so flüchtig und sanft war wie der Flug eines Nachtvogels mit lautlosen Schwingen. Was konnte das bedeuten – dieser Abgrund endloser Schwärze, in den sich der Fries seiner eigenen Zukunft wie ein gefrorener Wasserfall gestürzt zu haben schien? Erwartete ihn an jenem Ort und zu jenem Zeitpunkt eine Bedrohung?
Während er die Straße entlangging, hatte er das seltsame Gefühl einer Wiederholung – als würde er etwas tun, das er schon einmal getan hatte. Er erreichte die Abzweigung der Falman Alley und holte seine Uhr hervor. Wenn er schnell ging und dieser Gasse folgte, würde er den Belvedere-Club pünktlich erreichen. Wenn er aber um den nächsten Block herumging, wäre er ein wenig zu spät. Balcoth wusste, dass sein Gönner Claud Wishhaven ein regelrechter Zuchtmeister war und sowohl von sich selbst als auch von allen anderen äußerste Pünktlichkeit erwartete. Also nahm er den Weg durch die Gasse.
Sie schien vollkommen verlassen zu sein, wie in seiner Vision. In der Mitte näherte sich Balcoth der nur undeutlich wahrgenommenen Tür – dem Hintereingang des riesigen Lagerhauses –, die das Ende seines Zeitstrangs bezeichnet hatte. Die Tür war das Letzte, was er wahrnahm, denn in diesem Augenblick ging etwas auf seinen Kopf nieder, und sein Bewusstsein wurde von der Nacht, die er vorhergesehen hatte, ausgelöscht. Er war sehr leise und wirkungsvoll von einem Räuber des einundzwanzigsten Jahrhunderts überfallen und niedergeschlagen worden. Der Schlag war tödlich gewesen, und die Zeit war zumindest für Balcoth nun an ihr Ende gekommen.
Es gab mehr als einen Grund, warum Bently seiner Bestellung zum Vertreter der britischen Regierung in Shaitanabad mit nur geringer Begeisterung entgegensah. Es hieß, dort sei das Klima sogar für indische Verhältnisse besonders heiß, und die Bevölkerung bestand in der Hauptsache aus Schlangen, Tigern und Wildschweinen. Überdies wurde die Haltung der Eingeborenen gegenüber Fremden vom Radscha abwärts als unfreundlich beschrieben. Der letzte Regierungsvertreter war angeblich an einem Sonnenstich gestorben, und derjenige vor ihm war plötzlich zu einem unbekannten Ziel aufgebrochen, ohne sich vorher die Mühe gemacht zu haben, um eine Entlassung nachzusuchen. Aber da nun einmal jemand diese Position bekleiden musste, ging Bently nach Shaitanabad. Von der nächsten Eisenbahnstation waren es noch hundert Meilen mit dem Kamel und mit einem Ochsenkarren über ausgedörrte Berge und durch sandige Wüsten.
Zu Beginn waren seine Eindrücke des Landesteils kaum ermutigend. Den ersten Blick darauf warf er vom Gipfel eines kaktusbewachsenen Berges durch einen roten Dunst aus staubgetränkter Hitze. Sofort bemerkte er den festungsartigen Palast des Radschas, der hoch auf einem Felsen im Nordosten lag und grimmig die flachdächerige Stadt überragte. Der Palast war als Nahargarh oder Tigerfestung bekannt. Der Rest Shaitanabads wurde aus schmalen, unregelmäßigen Gassen, aus Basaren mit winzigen Läden, die kaum größer als Schachteln waren, aus üblen Gerüchen, plagenden Insekten, farbenfroh gekleideten Menschen und einer Atmosphäre wie aus Tausendundeiner Nacht gebildet. So war es schon vor Hunderten von Jahren gewesen, und so würde es in Hunderten von Jahren noch immer sein. Die örtliche Temperatur betrug 49 Grad im Schatten und manchmal sogar noch mehr. Außer dem Vertreter der britischen Regierung gab es keine anderen Engländer an diesem Ort – nicht einmal einen Missionar. Dies möge zur Beschreibung Shaitanabads genügen.
Bently war froh darüber, dass seine Residenz außerhalb der Stadt lag und die Bengali- und Radschput-Diener seines Vorgängers bereits auf ihn warteten. Ein Bad, eine recht gut zubereitete Mahlzeit und ein trotz der Hitze erholsamer nächtlicher Schlaf vertrieben die Erschöpfung der Reise und sorgten für angenehmere Perspektiven.
Da seine erste Pflicht ein Besuch beim Radscha war, machte er sich in Begleitung seines Dieners Lal Das am nächsten Morgen auf den Weg zum Palast. Bently stieg eine in den hoch aufragenden Sandstein gemeißelte Treppe hinauf, die den einzigen Zugang zu der Festung darstellte, und trat durch ein großes Tor in einen Innenhof. Dort ließ man ihn in den unbarmherzigen Strahlen der indischen Sonne stehen, während die Diener des Radschas in die Festung liefen und die Ankunft des britischen Vertreters ankündigten. Schließlich kamen sie zurück und führten ihn über eine tiefe Veranda in eine Halle, von der ein weiterer Raum abging. Dieser Raum, der mit persischen Teppichen ausgelegt war und dessen Mauern mit seltenen und kostbaren Kinkhab-Wandbehängen geschmückt waren, wirkte nach der Hitze draußen kühl und angenehm.
Chumbu Singh, der Radscha, saß auf einem mit einem Kissen ausgepolsterten Gadi und war von einigen seiner Diener umgeben. Er war ein großer, schlanker Mann von etwa vierzig Jahren und trug den eigenartigen Backenbart der Radschputen. Seine Kleidung bestand aus einem perlenbestickten Mantel, einer Hose aus weißer Wildseide und einem prächtig bestickten Turban. Mit der einen Hand spielte er an dem edelsteinbesetzten Griff eines Kurzschwertes, das in einer breiten Seidenschärpe steckte.
Bei diesem ersten Treffen war das Gespräch kurz und formell. Der Radscha erkundigte sich nach Bentlys Gesundheit und erbat dessen Meinung über solche Themen wie das hiesige Klima. Er sprach fließend Englisch und schien gut ausgebildet und klug zu sein.
»Ich hoffe, es wird Ihnen in Shaitanabad gefallen«, sagte er schließlich. »Hier gibt es gute Jagdmöglichkeiten. Wenn Sie einmal Tiger jagen wollen, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen dabei zu helfen.«
Als sich Bently verabschiedete, war er von dem Radscha recht angetan und geneigt, gewisse gegenteilige Berichte über dessen Betragen als übertrieben abzutun. Eingeborene Prinzen neigten stets dazu, nicht sehr erfreut über die Art der Briten zu sein. Vielleicht hatte dies zu Chumbu Singhs schlechtem Ruf im offiziellen britischen Lager geführt.
Während der nächsten zwei oder drei Wochen glaubte Bently, den Charakter des Radschas richtig eingeschätzt zu haben. Chumbu Singh zeigte sich so rasch mit gewissen Verwaltungsreformen einverstanden, die Bently ihm vorschlug, dass es kaum einen Zweifel an der Aufrichtigkeit des Radschas geben konnte, der offensichtlich den modernen Weg des Fortschritts einschlagen wollte. Bisher lief alles viel besser, als Bently vorhergesehen hatte, und sogar die Temperatur fiel nun in der Nacht auf 37 Grad. Nachdem eine Landeigentumsfrage geklärt worden war, bei der Bentlys Hilfe eingefordert wurde, machte ihm der Radscha einen Vorschlag.
»Ich habe für den heutigen Abend eine Tigerjagd angesetzt«, sagte er. »Möchten Sie mich begleiten?«
Bently bejahte eifrig.
»Das ist ein schreckliches Tier, Sahib«, fuhr der Radscha fort. »Es hat schon viele Menschen getötet. Seine Höhle liegt in den Bergen – in einer alten Tempelgrotte, die, wie meine Untertanen behaupten, von Geistern und Teufeln heimgesucht wird. Wie dem auch sein mag, der Tiger ist bereits für sich genommen so schlimm wie viele Teufel. Er pirscht sich bei hellem Tageslicht an Dorfbewohner und Vieh heran und tötet nicht nur, wenn er hungrig ist, sondern auch aus reiner Bosheit. Wir planen, ihn bei seiner Höhle zu erlegen.«
Als die letzten Sonnenstrahlen den heißen roten Sandstein des Nahargarh verlassen hatten und sich der graue Schleier der Dämmerung über Shaitanabad senkte, kamen Chumbu Singh und einige seiner Gefolgsleute zur Residenz und verkündeten, dass alles vorbereitet sei. Die Männer waren bewaffnet und ritten auf drahtigen Baluchi-Ponys. Bently schloss sich ihnen zusammen mit Lal Das an, und die Gruppe machte sich auf den Weg über die rasch dunkler werdende Ebene. Ihr Ziel war, wie Chumbu Singh bereits verkündet hatte, eine niedrige, vom Dschungel überwucherte Bergkette, die zwei Meilen in nordöstlicher Richtung entfernt lag. Die Ebene – oder eher Wüste – davor war unfruchtbar und trug kaum einen Baum oder ein Gebüsch, und ihre Eintönigkeit wurde nur von einigen hässlichen Wadis oder Bodenrinnen durchbrochen, die beträchtliche Schwierigkeiten bereiteten, da ihre Durchquerung großer Reitkünste bedurfte und sie für ein langsames Fortkommen sorgten.
Nachdem die Berge ohne Zwischenfälle erreicht waren, wurden die Pferde in der Nähe einer alten Gruft in der Obhut der Diener zurückgelassen. Der Radscha, Bently, Lal Das und zwei Radschputen gingen zu Fuß weiter. Zuerst folgten sie einem Ochsenweg und dann einem schmalen Trampelpfad, wobei einer der Radschputen als Führer diente. Der Pfad, der abwechselnd steigend und wieder fallend durch Kaktusgebüsch, tiefe Schluchten und zwischen großen Felsbrocken entlang verlief, drang immer tiefer in das Gebirge ein.
Der Mond war aufgegangen, und als sie aus einem Dschungelstück hervortraten, sah Bently die Tempelgrotte, von der Chumbu Singh gesprochen hatte. Sie befand sich in einer steilen Bergflanke, wo der Sandstein allmählich leichtem Granit wich. Vor der Grotte befand sich ein kleiner ebener Vorplatz, der mit Kaktuspflanzen und einigen größeren Bäumen bewachsen war. Es gab drei Eingänge; der mittlere war etwa fünf Meter hoch, während die beiden anderen kleiner waren. Der größere stand offen, aber die übrigen waren mit Geröll und allerlei anderem Unrat verstopft.
Die Jäger mühten sich den Hang hinauf, kletterten über Felsbrocken und kämpften sich durch dichtes Gestrüpp. Es gab keinen Pfad mehr, und das Fortkommen war keineswegs angenehm. Eine Handvoll Kakteen bildete sogar in einer Mondscheinnacht und vor uralten, bemerkenswerten Ruinen einen eher unangenehmen als begeisternden Anblick.
»Das ist der alte Tempel der Jain«, sagte der Radscha, als sie schließlich keuchend vor dem Eingang standen.
Bently spähte hinein und sah, wie das Mondlicht auf riesige, nur undeutlich wahrnehmbare Gestalten fiel; es waren alte, vergessene Götter, herausgemeißelt aus festem Granit. Außerdem waren große Tatzenspuren im tiefen Sand zu erkennen; sie stammten offensichtlich von dem Tiger. Zweifellos handelte es sich bei ihm um ein riesenhaftes Tier, denn Bently hatte noch nie solch große Abdrücke gesehen.
Die beiden Radschputen untersuchten sie sorgfältig und verliehen danach ihrer Überzeugung Ausdruck, der Tiger sei zur nächtlichen Jagd aus der Höhle gekrochen und werde vermutlich nicht vor dem Anbruch des nächsten Tages zurückkehren. Sie waren sich sicher, dass er nicht in der Höhle war. Der Radscha schien über die Aussicht auf ein langes Warten verärgert zu sein und schimpfte die Radschputen aus, weil sie es nicht so eingerichtet hatten, dass sie früher bei der Höhle eingetroffen waren und den Tiger abfangen konnten.
»Ich muss mich bei Ihnen vielmals entschuldigen«, sagte er und wandte sich Bently zu. »Da sieht man, was geschieht, wenn man diesen Kerlen vertraut. Aber da es so große Mühen bereitet hat, hierherzugelangen, schlage ich vor, dass wir auf den Tiger warten.«
»Selbstverständlich«, stimmte Bently ihm zu. »Ich bin bereit, so lange zu warten, wie es nötig ist, um einen Schuss auf die Bestie abfeuern zu können.«
»Sehr gut«, meinte der Radscha und nickte. »In der Zwischenzeit sollten wir einen Blick in das Innere der Tempelgrotte werfen. Sie ist ein interessanter Ort und hat in ganz Indien nicht ihresgleichen.«
Auch dem stimmte Bently bereitwillig zu. Daraufhin schickte der Radscha einen der beiden Radschputen sowie Lal Das mit dem Befehl zu den anderen Dienern zurück, aufmerksam Wache zu halten für den Fall, dass der Tiger unerwartet zurückkehrte. Der verbliebene Radschput holte eine Fackel hervor, und die drei Männer betraten die Höhle. Zunächst schritten sie durch eine Art von Peristyl oder Vorkammer, die sich dreißig Meter hinter dem Eingang zu einer geräumigen Grotte weitete. Dies war der Hauptraum. Gewaltige, reich verzierte Steinsäulen stützten die Decke, und an den Seiten schauten Götter und Göttinnen der Jain-Mythologie, Arhat genannt, finster herunter. Die Fackel erhellte sie nur schwach und beließ vieles im Schatten, und in diesem Schatten erschuf die Einbildungskraft seltsame Gebilde. Ein schmaler Tunnel, der von der Grotte wegführte, endete in einer kleineren Kammer, die mit herabgestürzten Fragmenten übersät war. Mehr als einmal war es notwendig, über einen Gott zu klettern, dessen Antlitz im Staub vergraben lag. Ein weiterer kurzer Korridor führte zu einem gewölbten Eingang, der zu zwei Dritteln von Schutt versperrt war.
»Weiter kommen wir nicht«, sagte der Radscha, »aber wenn Sie die Fackel nehmen und auf den Schutthaufen klettern, können Sie von oben aus in eine noch größere Höhle blicken. Meine abergläubischen Diener sind der Ansicht, dass sie die Heimstatt von Geistern und Teufeln ist – den Wächtern des Tempels.«
Bentlys Neugier war angestachelt. Mit der Fackel in der Hand stieg er auf das Hindernis und spähte in einen Abgrund tiefster Schwärze. Er schien sich am Rand eines großen Loches zu befinden, dessen Boden das Fackellicht nicht auszuleuchten vermochte. Er glaubte, tief unten das Plätschern von Wasser in einem felsigen Flussbett zu hören, und seltsame Echos flossen hinauf, aber er konnte nichts sehen. Er stand vor einem gewaltigen Schlund, der bis zu den Grundfesten der Erde reichen mochte.
Plötzlich erhielt er einen heftigen Stoß von hinten, begleitet von einem gemurmelten Fluch, der über die Lippen des Radschas drang. Bently taumelte vorwärts und streckte dabei den Arm in dem verzweifelten Versuch aus, sich vor dem Fall zu retten. Er packte den Lauf des Gewehrs, das der Radscha bei sich trug, entriss es seinem Griff und schleuderte es in die Kluft vor ihm. Sofort folgte Bently dem Gewehr des Radschas und rutschte über einen steilen Abhang, der ihn in den sicheren Tod geführt hätte, wenn sich nicht sein eigenes Gewehr aus der Halterung gelöst hätte und zwischen zwei Felsen stecken geblieben wäre. Nun hing er mitten in der Luft, und nur der Kolben seiner Waffe hielt ihn noch. Ein Schauer aus Kieselsteinen rieselte an ihm vorbei ins Nichts.
Einige Augenblicke lang war er von der Gefährlichkeit dieser Lage gelähmt, doch dann überdachte sein Verstand die geringen Möglichkeiten, die ihm zur Flucht blieben. Anscheinend befand sich in seinem Rücken eine Seitenwand, und der eine Fuß ruhte auf einem schmalen Vorsprung. Er streckte die Hand aus, tastete umher und stellte fest, dass der schmale Vorsprung nichts anderes war als die Stufe einer unregelmäßigen Treppe, die in den Fels gehauen war und nach oben führte. Sie mochte zwar nur geringen Halt bieten, aber einstmals war sie sicherlich benutzt worden, und so entschied er sich, ihrem Verlauf zu folgen.
Er balancierte vorsichtig, zog sein Gewehr aus den Felsen und kroch Stufe für Stufe nach oben. Einmal rutschte sein Fuß weg, und er wäre beinahe gestürzt, aber er warf sich nach vorn und stellte fest, dass er in den Eingang eines engen Korridors taumelte. Jetzt war er vor dem Abgrund in Sicherheit, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Nun musste er sein Gewehr überprüfen, und soweit er es in der Dunkelheit beurteilen konnte, war er glücklicherweise unverletzt. Vorsichtig ging er weiter und stützte sich dabei mit der Hand an der Seitenwand ab. Schließlich kam er zu einer breiteren Treppe, die halb unter herabgestürztem Schutt begraben lag. Er kletterte darüber hinweg und gelangte in die Tempelgrotte.
Plötzlich schreckte er zurück. Ein rasselndes Knurren hallte durch die Höhle. Rasch wich Bently hinter die steinerne Statue eines Gottes zurück und spähte aus dem schützenden Schatten hervor. Durch einen Riss in der Höhlendecke fiel Mondlicht herein, dessen Silberschein den gelben Körper und die samtigen Streifen eines ungeheuerlichen Tigers überzog. Auch beleuchtete es den am Boden liegenden Radscha und seinen Radschput-Diener, die unter den gewaltigen Tatzen des Herrn des Dschungels lagen. Abermals hallte das rasselnde Knurren durch die Höhle. Die Augen der Bestie blitzten vor wilder Blutlust, während sie den Kopf senkte und ihre Zähne in die Kehle eines ihrer Opfer schlug.
Bently hob sein Gewehr an die Schulter, zielte ruhig und feuerte. Ein schreckliches Brüllen brachte die Steingötter zum Erbeben, und ein mächtiges Zucken packte den Körper des Tigers, als dieser zur Seite rollte. Bently feuerte erneut und kam dann aus seiner Deckung hervor. Ein weiterer Schuss auf geringere Entfernung beendete den Todeskampf des Tigers. Sein letzter Atemzug war ein ersticktes, trotziges Knurren.
Es bedurfte nur einer oberflächlichen Untersuchung, um Bently davon zu überzeugen, dass der Radscha und der Radschput nicht mehr in der Lage waren, sich in dieser Welt für ihren Verrat zu rechtfertigen, und die mangelnde Reaktion auf seine Rufe verdeutlichte ihm, dass die Diener des Radschas sofort die Flucht ergriffen hatten, als der Tiger unerwartet zurückgekehrt war. Der Radscha und der Radschput hatten der mächtigen Bestie unbewaffnet gegenübertreten müssen.
Wie Bently es schaffte, zurück zur Residenz zu gelangen, konnte er nur mit seinem Instinkt erklären. Der Tag war bereits angebrochen, als er das Grundstück erreichte. Dann handelte er mit rascher Entschlossenheit.
Er sandte den Befehl an die Diener des Radschas aus, unverzüglich in der Residenz zu erscheinen, damit eine offizielle Untersuchung vorgenommen werden konnte, und diese wiederum führte zu einer gründlichen Erforschung des Tempels. Durch einen anderen Eingang erhielt man Zutritt zu der Kluft, und einige dort vorgefundene Überreste bewiesen, wie sich der Radscha der unerwünschten Gegenwart all jener entledigt hatte, die ihn in seinen zweifelhaften Geschäften gestört hatten.