JO WALTON

DER TAG DER LERCHE

Aus dem Englischen von Nora Lachmann

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[GOLKONDA]


Jo Walton

Ha‘penny

[New York: Tor Books, 2007]

Dies ist ein Roman.

Alle Personen, Organisationen und Ereignisse sind frei erfunden oder erscheinen in fiktiven Zusammenhängen.

© 2007 by Jo Walton

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin,

vermittelt durch die Agentur Thomas Schlück, Garbsen

© dieser Ausgabe 2015 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Robert Schekulin

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektur: Anne-Marie Wachs

Gestaltung: s.BENeš [http://benswerk.wordpress.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

golkonda@gmx.de

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-944720-67-8 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-944720-68-5 (E-Book)

Inhalt

Titel

Impressum

Danksagung

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Weitere Bücher beim Golkonda-Verlag

Für Tom Womack

aus Winchester

und Oxford

und Ploktacon,

der mutig für seine

Überzeugungen eintritt

Danksagung

Manchmal ist die Wahrheit unglaubwürdiger als alles, was man sich je ausdenken könnte. Sowohl die Bombenattentate der IRA 1939 als auch die von den Deutschen versehentlich über Dublin abgeworfene Bombe sind historisch verbürgt. An anderen Stellen bin ich von Tatsachen ausgegangen und habe möglichst glaubhafte Szenarien entwickelt, die reine Fiktion sind, glücklicherweise. Die Namen von Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Winston Churchill habe ich weitgehend beibehalten; Namen und Lebensumstände aller handelnden Personen sind jedoch frei erfunden.

Ich danke den Nutzern meines LiveJournal für die schnellen Antworten auf meine eigenartigen Fragen, insbesondere Tim Illingworth und David Dyer-Bennet, und für die aufmunternden Worte während des Schreibens (parpersky.livejournal.com).

Mein Dank gilt auch Lis Riba für ihre äußerst hilfreiche Frage, Emmet O’Brien für die sorgfältige Überprüfung des irischen Englisch, Patrick Nielsen Hayden, der an einem arbeitsreichen Morgen für mich Zeit hatte und überhaupt ein wunderbarer Lektor ist, Mary Lace für die schnelle Durchsicht der fertigen Texte und die nützlichen Kommentare, dem Team bei Tor, die wie bei allen meinen Bücher wirklich gute Arbeit geleistet haben, Janet Kegg, die Anne de Courcys 1939: The Last Season entdeckt und mir geschickt hat, Sarah Monette, die mich auf Five and Eighty Hamlets aufmerksam gemacht hat, ohne das ich wohl nie auf diese Geschichte gekommen wäre, sowie Sherwood Smith, Laura Tennenhouse, David Goldfarb, Madeline Kelly, David Dyer-Bennet, Jennifer Arnott und Janet Kegg, die das Manuskript gelesen haben.

Dank schulde ich auch dem verstorbenen W. T. Roberts of Ynys-y-Bwl, der bis ins hohe Alter jedes Programmheft seiner vielen Theaterbesuche aufbewahrt hat, und natürlich Mary Lace, die mir Zugang zu jenen Stücken seiner Sammlung verschafft hat, die aus der für meinen Roman relevanten Zeit stammen. Ich fand darin wunderbare Dinge, die ich mir nie hätte ausdenken können, und spürte einen Hauch der Theaterwelt von damals. Zu meiner großen Freude sind die Hefte mittlerweile in der University of Leicester allgemein zugänglich.

Christmas is coming, the goose is getting fat,

Please put a penny in the old man’s hat.

If you haven’t got a penny, a ha’penny will do,

If you haven’t got a ha’penny, then God bless you!

Englischer Kinderreim*

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»Als ich noch jung war«, erwiderte der Aufseher,

»waren die jungen Damen noch junge Damen.

Und die jungen Herren waren junge Herren.

Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Das Land braucht einen ’Itler«, sagte Padgett.

Dorothy L. Sayers, Aufruhr in Oxford (1935)

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* Bald ist Weihnacht, die Gans wird schön fett,

gib dem Alten ’nen Penny, sei doch so nett.

Hast du kein’ Penny, reicht ein halber im Pott.

Hast nicht mal ’nen halben, dann helfe dir Gott!

1

Leute wie ich kommen nicht an den Galgen. Niemand ist scharf auf ein peinliches Gerichtsverfahren, und außerdem ist Pappa ja nicht irgendwer. Ich bin nun mal eine Larkin. Niemand ist scharf auf die Schlagzeile: »Tochter eines Peers am Galgen.« Da ist es viel einfacher, mich als Verrückte wegzusperren und meiner Familie in Aussicht zu stellen, mich in ein oder zwei Jahren als geheilt in ihre Obhut zu entlassen – falls ich Stillschweigen bewahre. Was ich getan habe, mag furchtbar dumm gewesen sein, aber mein Verstand war nie klarer, außerdem kann ich die meisten Angehörigen meiner Familie nicht leiden. Ich hatte nie die geringste Absicht, Stillschweigen zu bewahren. Deshalb werde ich alles aufschreiben, in der Hoffnung, dass es irgendwann vielleicht irgendjemand lesen wird. Also, aufgepasst: So hat sich alles zugetragen, von Anfang bis Ende.

Begonnen hat es ganz harmlos mit einem Rollenangebot.

»Viola, du bist die einzige Frau, die ich mir als Hamlet vorstellen kann.« Antony beugte sich über den Tisch und sah mir tief in die Augen – wahrscheinlich hatte ihm mal jemand gesagt, dieser Blick sei gefühlvoll und unwiderstehlich –, doch für mich sah er aus wie ein Spaniel, der dringend eine Wurmkur nötig hatte. Antony war der bekannteste Schauspieldirektor Londons, ein Mann knapp über fünfzig mit vornehmen Allüren, der allmählich Fett ansetzte. Die berühmten Mittagessen mit ihm galten als große Ehre. Das selbstverständlich exklusive Tête-à-Tête im Venezia in der Bedford Street lief ebenso selbstverständlich auf das Angebot einer Hauptrolle hinaus – nach einem überaus leckeren Dessert, versteht sich.

1949 war das Jahr der Cross-Gender-Besetzungen. Acht Jahre nach Kriegsende erstrahlten die Londoner Theater in altem Glanz, zum Bersten voll mit allem, was das Leben so bot. Palmer hatte im Jahr zuvor damit angefangen, und zwar mit Der Herzog von Malfi im Aldwych. Alle meinten, das könne bestenfalls ein Flop werden, aber wir gingen trotzdem hin, weil wir neugierig waren. Nach den begeisterten Kritiken für Charlie Brandin in der Rolle des Herzogs sprang Sir Marmaduke auf den Zug auf, indem er in Barries Quality Street sämtliche Männerrollen mit Frauen besetzte und sämtliche Frauenrollen mit Männern. Das Stück war der größte Erfolg der Wintersaison, weshalb auf dem Spielplan für den Sommer kaum noch ein Stück stand, das nicht gegen den Strich besetzt war.

Ich spottete so sehr wie alle anderen, wenn nicht sogar mehr, hatte Rollen ausgeschlagen und daran gedacht, die Stadt zu verlassen und auf bessere Zeiten zu warten. Aber wo sollte ich hin? Die Londoner Theater schlugen sich wacker gegen die Konkurrenz der Kinos, obwohl der Kampf anderswo längst verloren war. Die Provinzbühnen pfiffen aus dem letzten Loch. In meinen ersten Jahren als Schauspielerin war jedes Londoner Stück auf Tournee durchs ganze Land gegangen, natürlich nicht mit der Erstbesetzung, sondern mit der zweiten Garnitur. Dasselbe Stück konnte sogar mehrmals auf Tournee gehen, die zweite Garnitur in Brighton, Birmingham und Manchester und die dritte dann in Cardiff, Lancaster und Blackpool. Die schlimmsten Engagements waren die, bei denen man noch im kleinsten Kaff spielte, am Sonntag quer durchs Land mit dem Zug fahren musste und in schrecklichen Absteigen hauste. So musste man immer anfangen, aber sobald man bekannter war und sich ein wenig von London erholen wollte, riss sich die zweite Garnitur um einen. Doch seit dem Krieg waren Tourneen rar geworden, und die Konkurrenz war immens. Es gab nur noch London, und ab und zu mal etwas anderes. In der Provinz konnte man lange auf ein Stück warten. Die Leute darbten. Keine Ahnung, wie sie das aushielten. Wahrscheinlich mit Laienspielgruppen und Ausflügen nach London, wann immer sie es sich leisten konnten. Aber vielleicht waren sie auch ganz glücklich mit dem, was das Kino ihnen bot.

Jedenfalls konnte ich mir keine Hoffnungen auf eine Tournee machen. Wenn ich mich einschränkte, mochte ich eine Saison ohne Engagement überstehen. Allerdings konnte ich mich auch nicht darauf verlassen, dass meine Auszeit nur eine Saison dauern würde. In der Theaterwelt zählt nur der Augenblick, und sobald ein Name nicht mehr auftaucht, gerät er schnell in Vergessenheit. Ich wollte nicht aufhören zu spielen, und was sollte ich auch sonst tun? Etwa verhungern? Nun, ich hatte die Wahl, zu verhungern oder in die Arme meiner Familie zurückzukehren, was sicher noch schlimmer gewesen wäre. Meine Familie ist ein Volk von Kannibalen, nur tragen sie um den Hals keine Totenköpfe, sondern Perlen und Diamanten.

Ich schaute Antony möglichst unentschlossen an. Falls ich die Rolle annahm, konnte ich diesen Blick gut gebrauchen. Hamlet ist berüchtigt für seine Unentschlossenheit. Und es gab doch sicher Schlimmeres, als ein paar Tage lang den Spott von Freunden auszuhalten? Eine Rolle wie Hamlet bekommt man schließlich nicht jeden Tag angeboten. Ich hatte mich vor allem wegen des guten Essens zum Lunch einladen lassen, obwohl ich mir beinahe sicher gewesen war, dass ich Antonys Angebot ausschlagen würde. Er war nicht knauserig, und das Venezia hatte guten Wein. Aber Hamlet! Es gibt nur wenige wirklich gute Rollen für Frauen, und Hamlet war eine Traumrolle, falls die Cross-Gender-Besetzung nicht eine absurde Farce aus dem Stück machen würde. Schon sah ich die Leuchtreklame vor meinem geistigen Auge: VIOLA LARK ALS HAMLET.

»Willst du alle umbesetzen?«, fragte ich, rückte ein wenig ab und gab dem Kellner einen Wink, meinen Teller abzuräumen, auf dem nicht ein Krümel Tiramisu übrig geblieben war.

Antony hob sein Glas und trank einen Schluck Wein. »Nein. Nimm nur mal an, Hamlet wäre die Tochter und Erbin des dänischen Königs. Ist es dann nicht viel wahrscheinlicher, dass ihr Onkel die Macht an sich reißt? Und viel schwieriger für sie, selbst danach zu greifen? Ihr Zögern ist viel plausibler als bei einem Mann. Ihr Verhalten Gertrud gegenüber und auch die Vorwürfe an Claudius passen perfekt. Horatio möchte mehr als ein Freund für sie sein. Rosenkranz und Güldenstern könnte man sich quasi wie Penelopes Freier vorstellen. Laertes könnte ebenfalls ein Auge auf sie geworfen haben, er ist Hamlets wahre Liebe, was dem Ende noch einen ganz besonderen Kick gibt. Eigentlich ergibt das ganze Stück weit mehr Sinn, wenn man es so betrachtet.«

Er hatte mich fast überzeugt. »Und Ophelia?«, fragte ich, während der Kellner uns unauffällig Wein nachschenkte. »Daraus willst du doch sicherlich kein lesbisches Liebesverhältnis machen?« Im Theater gibt es genügend Frauen, die Männer nicht mal anschauen, und genügend Männer, die sich nichts aus Frauen machen, doch eigenartigerweise würden alle völlig außer sich geraten, wenn dies auch nur in einer Nebenhandlung auf der Bühne zum Ausdruck käme.

»Im Text findet sich kein Anhaltspunkt für eine sexuelle Beziehung«, sagte Antony nachdenklich. »Man könnte aber auch alles Mögliche darin sehen. Warum nicht? Geh ins Kloster, heißt es doch.«

»Aber schickt Polonius sie nicht zu Hamlet, um ihn zu verführen?« Ich schüttelte den Kopf; um mich zu vergewissern, hätte ich das Stück noch einmal lesen müssen. Da ich Ophelia nie gespielt hatte, erinnerte ich mich nur vage an die Szene. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein aufgeblasener Wichtigtuer wie er lesbische Liebe protegiert oder dass der gute Lord Chamberlain uns gestatten würde, so was auf der Bühne zu zeigen.«

»Das ist ja das Wundervolle an dir, Viola, du hast wirklich was im Kopf«, sagte Antony. »Die meisten jungen Schauspielerinnen haben keinen blassen Dunst. Hmm. Wir könnten Ophelia umbesetzen und auch zu einem Verehrer machen. Hamlet wird von Verehrern belagert, Laertes und Ophelia sind Brüder. So funktioniert es, meine Liebe. Die Klosterzeile müsste man dann allerdings streichen. Eigentlich wollte ich den Text nicht verändern, nur das Offensichtliche austauschen, sie, er und so weiter, aber Hamlet wird ja immer gekürzt, wohlüberlegt, aber kräftig zusammengestrichen. Sonst würde die Aufführung vier Stunden dauern.«

Ich konnte mir eine Frau als Hamlet vorstellen, von Verehrern belagert, von Zweifeln und von Geistern geplagt. Eine Jungfrau, abgestoßen vom sexuellen Gehabe der Mutter und selbst unsicher. Schon fühlte ich mich in die Rolle ein. »Ich nehme an«, sagte ich und leerte mein Glas.

»Wunderbar.« Antony strahlte. »Dank deines weithin bekannten familiären Hintergrunds muss ich gar nicht erst fragen, ob du in England geboren bist.«

»Eigentlich in Irland.« Über den weithin bekannten familiären Hintergrund ärgerte ich mich ein bisschen. Die Zeitungen hatten um meine Familie immer ein solches Aufheben gemacht, dass es zu Beginn meiner Karriere richtig lästig gewesen war. Mir graute beim Gedanken, die Leute wollten mich womöglich nur der Sensation wegen auf der Bühnen sehen, wie einen mittelalterlichen Tanzbären. »Pappa war dort als Lord Lieutenant stationiert. Aber ich bin britische Staatsbürgerin.«

Antony runzelte die Stirn. »Hast du einen neuen Ausweis?«

»Natürlich.« Ich fischte ihn aus meiner Handtasche und legte ihn aufgeschlagen auf den Tisch. Mit großen Augen blickte uns die Viola auf dem Foto an. »Die Ehrenwerte Viola Anne Larkin. Geburtsdatum: 4. Februar 1917. Größe: 174 Zentimeter. Haarfarbe: blond. Augenfarbe: blau. Religionszugehörigkeit: anglikanisch. Geburtsort: Dublin. Nationalität: britisch. Mutter: Britin. Vater: Brite.« Ich schlug den Ausweis zu. »Und man könnte alle Großmütter und Großväter hinzufügen bis hin zu einem Lord Carnforth, der 1802 eine französische Gräfin geheiratet hat, auf mütterlicher Seite kann man sogar bis zur Eroberung durch die Normannen zurückgehen.«

»Schon in Ordnung. Tut mir leid, aber nach den neuen Bestimmungen dürfen wir niemanden mehr engagieren, der nicht waschechter Brite ist.«

»Die neuen Bestimmungen sind nichts als Zeitverschwendung.« Ich steckte mir eine Zigarette an.

»Da kann ich dir nur beipflichten, meine Liebe, aber ich muss sie befolgen, sonst bekomme ich Ärger.« Antony seufzte. »Meine Mutter war Amerikanerin, was mich in den Augen mancher Leute schon verdächtig macht.«

»Aber sind die Amerikaner nicht unsere Vettern in Übersee oder so ähnlich?« Ich blies Rauch in die Luft.

»Sicher doch«, erwiderte Antony in zynischem Tonfall. »Aber für einige wird Amerika immer die Heimat von Mrs Simpson sein, und Präsident Roosevelt hat uns 1940 jede Hilfe verweigert, was mir gewisse Schwierigkeiten bei der Ausstellung der neuen Papiere bereitet hat. Blanker Unsinn, wie du ja schon gesagt hast.« Er trank aus.

»Das solltest du dir nicht so zu Herzen nehmen. Hast du schon eine der anderen Rollen besetzt?«

Der Kellner servierte den Kaffee so geschmeidig wie ein Zahnradgetriebe und, ehrlich gesagt, auch ebenso gut geölt. Antony nahm Zucker, als Mann brauchte er sich um ein paar Zentimeter Bauchumfang mehr oder weniger keine Sorgen zu machen. Dann kam er endlich wieder auf das Stück zu sprechen.

»Den Claudius wollte ich selbst spielen. Genug Bosheit, um einen Mord zu begehen, aber noch genügend Gewissen, um sich schuldig zu fühlen. Eine sehr interessante Rolle. Äußerst vielschichtig.«

Ich trank einen Schluck Kaffee. Er war ganz hervorragend. Italiener wissen eben, wie man guten Kaffee macht. »Du wirst bestimmt großartig sein. Und wie wunderbar, mal wieder mit dir zu spielen.« Das war nicht nur geschmeichelt. Sofern ihm die Rolle lag, war Antony wirklich ein guter Schauspieler, und die Rolle des Claudius passte zu ihm. Ich erinnerte mich noch gut an seine peinlichen Auftritte als liebeskranker Melancholiker und war froh, dass er dafür inzwischen zu alt war.

Antony lächelte, eitel wie alle Schauspieler. »Es ist mir gelungen, Lauria Gilmore für die Rolle der Gertrud zu gewinnen. Sie wird ihr mehr als gerecht werden.«

Lauria war ein alter Hase auf der Bühne, sie hatte die Gertrud schon früher gespielt, und auch sonst fast alle nur denkbaren Rollen. »Ich bin mit ihr in Bunbury aufgetreten«, sagte ich.

»Als Lady Bracknell war sie ganz fantastisch.« Antonys Blick glitt in die Ferne. »Und du warst auch eine großartige Gwendolen.«

Ich hatte Cecily gespielt, aber man konnte nun wirklich nicht erwarten, dass Antony sich daran erinnerte. Es war acht Jahre her, in der ersten Spielzeit nach dem Krieg, als alle noch ein wenig neben sich standen, weil die Luftangriffe endlich aufhörten und Hitler vor dem Ärmelkanal haltmachte. Niemand konnte wissen, ob der Farthing-Friede Bestand haben oder ob nicht jeden Augenblick ein neuer Krieg ausbrechen würde. Die Theater spielten gewagte Revuen oder seichte Komödien, die uns zum Lachen brachten. Wir brauchten die Heiterkeit, um uns daran zu gewöhnen, dass keine Bomben mehr fielen, die uns plötzlich in Stücke reißen konnten. Der bissige Humor von Wilde hatte damals genau den richtigen Ton getroffen.

»Was ist mit den Verehrern?«, fragte ich.

»Ich habe noch niemanden angesprochen, aber ich dachte an Brandin als Laertes und an Douglas James als Horatio. Über Ophelia habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, schließlich hatte ich bislang eine Frau für die Rolle vorgesehen. Ansonsten wird es ja nicht viele Frauen geben. Oder doch – ich könnte den Schauspieler-König und die ganze Truppe zu einem Frauenensemble machen und das Stück im Stück zu einer Art Ballett.« Antony nahm mich gar nicht mehr wahr.

»Das wird sicher wundervoll«, sagte ich. »Wie wär’s mit Mark Tillet als Ophelia? Vor zwei Jahren habe ich mit ihm in Papperlapapp auf der Bühne gestanden, das Stück war nicht gut und lief auch nicht lange, aber Mark war großartig, meiner Meinung nach.«

»Hmm?« Antony kehrte aus seinen Tagträumen zurück. »Wer?«

»Mark Tillet.«

»O nein.« Antony seufzte. »Ein Jude, meine Liebe, im Moment der absolute Ruin. In dieser Spielzeit will ich das Wort Jude nicht einmal andeutungsweise im Zusammenhang mit einem meiner Stücke hören, allerhöchstens wenn es sich um Der Kaufmann von Venedig handelt.«

Ich trank den Kaffee aus. »Mark? Tatsächlich? Wäre ich nie drauf gekommen. Er sieht überhaupt nicht jüdisch aus.«

»Weil er weder Hakennase noch Schläfenlocken hat und auch kein Exemplar von Die Protokolle der Weisen von Zion mit sich herumträgt?« Antonys Lachen hatte nichts Freudiges an sich, ein reines Bühnenlachen. »Eine junge Dame mit deinem familiären Hintergrund würde sich wahrscheinlich wundern, wie viele Juden beim Theater sind.«

»Den Mist mit dem Hintergrund kannst du dir schenken«, blaffte ich. »Seit 1936 steh ich auf den Brettern. Ich habe etwas ganz anderes gemeint.«

»Entschuldige«, sagte Antony, aber das war nur so dahingesagt. »Niemand will bezweifeln, dass du inzwischen weißt, wie es am Theater zugeht.« Er stellte die Tasse ab und winkte dem herumschleichenden Kellner. »Nachdem ich dich nun für die Hauptrolle gewonnen habe, werde ich mich verabschieden, um den Rest des Ensembles anzuwerben. Die Proben beginnen am Montag, Punkt zehn im Theater.«

Ich lachte. »Aber du hast mir noch gar nicht erzählt, auf welcher Bühne wir spielen.«

»Im Siddons. Angemessen, nicht wahr?«

»Und wie.« Natürlich mochten seit Sarah Siddons noch jede Menge andere Frauen Hamlet gespielt haben, aber mir fiel keine einzige ein.

»Ach, und noch was, da du jetzt zugesagt hast.« Antony beugte sich vor und flüsterte in vertraulichem Tonfall: »Laura weiß es auch schon, aber sonst noch niemand, deshalb solltest du es für dich behalten, bis es offiziell bekanntgegeben wird. Bei der Premiere, am Freitag, dem 1. Juli, werden wir ein erlauchtes Publikum haben: den Premierminister und Herrn Hitler.«

Ich war kein Snob, und es war mir zwar vollkommen schnuppe, aber damit würden wir auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Presse bekommen. »Das ist gut«, sagte ich. »Was für ein Coup!«

Wir verabschiedeten uns vor dem Lokal. Es war ein typischer englischer Junitag: Feine Tröpfchen rieselten aus dem leichten Nebel. Mein irisches Kindermädchen hatte solche Tage immer »weiches Wetter« genannt. Ich wollte nach Hause, um das Stück zu lesen, obwohl ich den Text erst lernen konnte, wenn ich ein Exemplar mit Antonys »wohlüberlegten« Streichungen und allen Änderungen in Bezug auf er und sie in den Händen hatte. Rasch ging ich durch Covent Garden zur U-Bahn. Mit meiner guten Freundin Molly Gaston und unserer Garderobiere Mrs Tring teilte ich mir eine Wohnung hinter dem Britischen Museum. Mrs Tring war im Grunde nicht nur unsere Garderobiere. Sie war nicht wählerisch und kleidete jeden ein. Aber im Sommer 1941 war sie bei Bunbury meine Garderobiere gewesen und hatte am Rande erwähnt, dass sie eine Wohnung suchte – nach den Luftangriffen hatte in der Stadt ein regelrechtes Chaos geherrscht. Seither sorgte sie für ein gemütliches Zuhause in der Wohnung, deren billige Miete der Hauptgrund gewesen war, dorthin zu ziehen. Mollie und Mrs Tring waren so etwas wie eine Familie für mich, aber weit besser als meine eigenen Verwandten, denn sie waren nicht so verdammt hinterhältig wie diese.

Die Leute glauben, nur weil mein Vater ein Lord ist, müsste ich vom Familienvermögen leben. Das ist völliger Schwachsinn. Natürlich könnte ich das, genauer gesagt, es gab mal eine Zeit, in der es mir möglich gewesen wäre. 1935 wollte mich meine Mutter in die Gesellschaft einführen, doch ich wollte schon mit achtzehn nichts anderes, als Schauspielerin zu werden. Eine Saison lang tat ich ihr dann doch den Gefallen und lernte dabei eine ganze Menge, obwohl das gar nicht beabsichtigt gewesen war, danach wollte ich meiner Wege gehen. Mamma sagte, sie würde nie wieder ein Wort mit mir wechseln und ich bekäme nicht einen Penny von der Familie, aber ich ging trotzdem fort. Seitdem stehe ich mit meiner Familie auf Kriegsfuß. Nie wieder ein Wort miteinander wechseln, das ist leicht gesagt, aber wirklich einhalten lässt sich das natürlich nur schwer. Doch ich habe es nie vergessen und bin auch nie wieder nach Carnforth gefahren. Meine kleine Schwester Dodo besucht mich, wenn sie in London ist, und wenn die Kinder dabei sind, gehen wir in den Zoo, und ich lade alle auf ein Eis ein. Aber als Rosie einmal unerwartet bei einer Vorstellung von Papperlapapp auftauchte und mir Blumen schickte, was ganz süß von ihr war, habe ich sie nicht in meine Garderobe gebeten. Das Theater ist eine Welt für sich. Dafür hätte sie sicher kein Verständnis gezeigt.

Am Fahrstuhl zur U-Bahn kam mir Charlie Brandin entgegen. »Viola! Hast du es schon gehört?«

»Was denn?«, fragte ich und ging mit ihm zurück auf die Straße. Schauspieler lieben Klatsch noch mehr als Zimmermädchen. »Ich habe gehört, dass Antony dir die Rolle des Laertes in seiner neuen Inszenierung anbieten will. Wir werden also wieder ein Liebespaar sein und uns anschmachten.«

Charlie ist ein Homo – wie schon gesagt, im Theater wimmelt es von denen –, deshalb war ein kleiner Flirt völlig unverfänglich. »Aber Laertes ist doch der Bruder von Ophelia ...« Es dauerte einen Augenblick, ehe es klick machte. »Nein! Du spielst den Hamlet?«

Ich grinste. »Konnte nicht widerstehen.«

»Schätzchen, ich bin so was von erleichtert, dass ich in dieser Spielzeit Futter bekomme, ohne meine Beine in Strumpfhosen zu zwängen, dass ich die Tortur, dein Liebhaber zu sein, ohne Klagen ertragen werde.« An einigen Theatern wurde nicht nur gegengeschlechtlich besetzt, sondern auch kostümiert. »Wollen wir uns bei Mimi’s mit Pancakes vollschlagen, um das zu feiern?«

»Vollgeschlagen habe ich mich schon im Venezia. Ich bringe keinen Krümel mehr runter. Aber wenn du magst, werde ich einen Kaffee trinken und dir beim Essen zuschauen.«

Wir drehten um und gingen zurück nach Covent Garden. Mimi’s ist ein kleines Café, das in seinen zwei Stockwerken mit der altersschwachen Treppe dazwischen hauptsächlich Theaterleute bewirtet.

»Die Sache mit der Cross-Gender-Besetzung ist nur eine vorübergehende Mode«, sagte Charlie. »Ehe wir uns versehen, ist es auch schon vorbei.«

»Vielleicht. Aber vielleicht steht auch irgendwann in den Büchern, im Elisabethanischen Theater seien sämtliche Rollen von Männern gespielt worden, in der Renaissance hätte man dann Frauen zugelassen, und eine Weile hätte man geglaubt, jeder solle bei seinem Geschlecht bleiben, nur um in den späten 40er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder etwas Neues auszuprobieren, sodass nun jeder und jede unabhängig vom Geschlecht alle Rollen spielen konnte ...«

Charlie lachte. »Im nächsten Jahr stecken wir alle wieder in den richtigen Klamotten. Darauf wette ich fünf Pfund. Schlägst du ein?«

»Bin ja nicht blöd – ich glaube ja auch, dass du recht hast.«

Charlie hielt mir die beschlagene Tür auf, und ich betrat das Café.

Mollie saß an einem der begehrten Tische im Erdgeschoss und aß ein Schinkensandwich, dessen Kanten sich bereits wellten. Sie winkte mir zu. »Hast du es schon gehört?«, fragte sie.

»Was denn? Können wir uns zu dir setzen?«

»Ich habe mit Pat zu Mittag gegessen, aber wie ihr seht, ist er schon fort, und ich wollte auch gerade gehen, aber nun werde ich noch einen Kaffee mit euch trinken.«

Die Kellnerin kam. Im Gegensatz zur Hälfte der Bedienung war sie keine Möchtegern-Schauspielerin, sondern eine Frau aus dem Viertel. »Was soll’s denn sein, Liebes?«, fragte sie.

»Drei Kaffee und einen Stapel Pancakes«, sagte ich. Dann glitt ich auf die Bank neben Mollie, und Charlie quetschte sich auf die Bank gegenüber.

»Lauria Gilmore ist tot. In die Luft gesprengt«, sagte Mollie.

»Das wollte ich dir auch schon erzählen«, beschwerte sich Charlie. »Aber du hast mich mit den Neuigkeiten über Hamlet abgelenkt.«

»In die Luft gesprengt?«, fragte ich. Die Kellnerin stellte den Kaffee auf den Tisch, und meiner schwappte in die Untertasse. »Wie denn? Etwa von Anarchisten, wie das Schloss in Wales?«

»Könnte schon sein, aber warum sollten sie so was tun?«, fragte Charlie.

»Ich glaube, die tun so was einfach nur zum Spaß«, sagte ich.

»Vielleicht hat sie irgendwas gewusst«, sagte Mollie düster dräuend.

»Oder sie war ihnen im Weg«, sagte Charlie mit einem schrecklich falschen russischen Akzent.

»Na, ich weiß nicht, sie war doch immer eher links«, sagte Mollie mit ihrer normalen Stimme. »Immer schrecklich bedacht auf Frauenrechte und Gewerkschaften und Wahlen und so.«

»Unsinn«, sagte ich. »Sie war Schauspielerin. Die sind nie politisch. Wahrscheinlich war sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Die arme Lauria. Nun wird sie nie meine Mutter spielen.«

Charlie lachte dröhnend und legte die Hand aufs Herz. »Tot, und sie hat mich nie Mutter genannt«, deklamierte er mit melodramatischem Timbre.

Ich kicherte. »Eher hat sie mich nie Tochter genannt. Aber wir sollten nicht lachen. Was auch immer geschehen ist, es ist einfach furchtbar. Ich mochte Lauria, man konnte sich auf sie verlassen, sie war eine der Besten, ganz alte Schule.«

»Du musst zur Beerdigung, wenn sie in deinem Stück spielen sollte«, sagte Mollie.

»Antony meinte, sie hätte zugesagt. Aber wir müssen sowieso alle hingehen. Zwar habe ich seit Bunbury nicht mehr mit ihr auf der Bühne gestanden, aber allein der Respekt gebietet es.«

»Die ganze Theaterwelt wird da sein«, sagte Charlie. »Was könnte dramatischer sein, als von einer Bombe in Stücke gerissen zu werden? Da kann sicher niemand widerstehen. Außerdem war Lauria auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, besser gesagt, ein Mann an ihrer Stelle hätte sich auf dem Höhepunkt befunden. Für ältere Frauen gibt es ja nicht mehr so viele Rollen, aber die wenigen hat sie großartig gespielt. Als Gertrud wäre sie sicher fantastisch gewesen. Das hat sie schon einmal bewiesen.«

»Bist du jemals mit ihr zusammen aufgetreten?«, fragte Mollie.

Charlie schüttelte den Kopf. »Das wäre das erste Mal gewesen. Aber nun wird nichts mehr draus. Nur eine fabelhafte Beerdigung könnte das noch wettmachen.«

Mollie lachte. »Charlie, du bist einfach schrecklich.«

Die Kellnerin brachte die Pancakes, das Einzige, was man guten Gewissens bei Mimi’s bestellen konnte, denn sie wurden frisch gebacken.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie in die Luft gesprengt wurde«, sagte ich. »Woher hast du das?«

»Von Bunny«, sagte Mollie. »Du weißt doch, dass sie dicke Freundinnen waren. Morgen steht es in allen Zeitungen. Vielleicht bringen sie es auch schon heute Abend in der Spätausgabe vom Standard.«

Und genau so war es. Als Charlie gegessen hatte und wir zur U-Bahn zurückgingen, sprang uns die neue Schlagzeile des Evening Standard entgegen: »Schauspielerin von Terroristen-Bombe zerfetzt.«

2

»Ekelhaftes Wetter, Sir«, sagte Sergeant Royston, als Inspector Carmichael die Tür des Polizeiwagens zuzog.

Carmichael machte sich nicht die Mühe zu antworten. Royston schaltete in den ersten Gang und fädelte sich in den Verkehr auf der High Holborn ein. »Schimpft sich Juni, sieht aber ganz anders aus.«

Carmichael knurrte.

»Wenigstens müssen wir diesmal nicht wieder aufs Land, Sir«, versuchte es Royston noch einmal.

Carmichael starrte stur geradeaus, während der Bentley sich den Weg durch die grauen Londoner Straßen bahnte. Im Regen wirkten die scharfen Kanten der Gebäude weicher. Wenn man sich schon verkaufte, dann am besten gleich Körper und Seele, dachte Carmichael. Und als Lohn sollte man die schöne Helena bekommen, aber keinesfalls sollte man da weitermachen, wo man aufgehört hat, als man die Seele noch besaß, wo man sich mit Verweisen rumschlagen musste, weil man den Wagen zu lange an der Parkuhr hatte stehen lassen, oder mit den Plattitüden, die Sergeant Royston von sich gab.

»Ich sagte gerade, wenigstens müssen wir diesmal nicht wieder aufs Land«, wiederholte Royston und sah Carmichael von der Seite an, als sie an einer Ampel stehen blieben. »Sir …«

Das Letzte, worauf Carmichael jetzt Lust hatte, war ein Gespräch mit Royston über irgendwelche Befindlichkeiten. »Hampstead«, sagte er offensichtlich angewidert. »Das ist beinahe genauso schlimm, in mancher Hinsicht sogar noch schlimmer. Jede Menge Leute mit Geld und entsprechendem Gehabe.«

»Seltsamer Wohnort für eine Schauspielerin, wenn man es recht bedenkt«, sagte Royston.

»Zweifellos«, stimmte Carmichael zu. »Welchen Stadtteil würden Sie denn bei einer Schauspielerin erwarten?«

»Bloomsbury«, sagte Royston prompt. »Vielleicht auch Covent Garden. Jedenfalls zentral und in der Nähe der Theater. Hampstead ist mehr was für Börsenhändler, wie Sie schon sagten, gehobene Leute mit entsprechendem Gehabe.«

»Eins der Dörfer, die sich London einverleibt hat«, sagte Carmichael, als Royston in die Finchley Road einbog. »Früher war Hampstead ein ebenso scheußlicher Flecken wie die Dörfer, durch die wir in Hampshire gefahren sind, tiefste Provinz, meilenweit weg von London. Spielende Kinder auf den Wiesen. Blühende Hecken am Wegesrand. In den Tagen von Dr. Johnson ist die Londoner Gesellschaft nach Hampstead gefahren, um dort zu picknicken. Nun hat der Moloch den Ort geschluckt. Sogar die U-Bahn fährt hin. Warum sollte eine Schauspielerin, die Erfolg hat, nicht genauso gut dort leben wie überall sonst.«

»Und sich dann in die Luft sprengen lassen?« Royston bog in eine baumgesäumte Allee mit viktorianischen Villen ein, den Bedford Drive.

»Das steht auf einem anderen Blatt«, sagte Carmichael.

Royston fuhr langsamer und hielt vor einer Polizeiabsperrung, neben der ein junger Bobby stand. Auf der anderen Seite lungerten Presseleute, die man auch ohne Notizbücher und Fotoapparate erkannt hätte, weil sie die Aura von Raubtieren umgab.

»Scotland Yard«, beschied Royston dem Bobby und hielt seinen Ausweis hoch. »Inspector Carmichael und Sergeant Royston.«

»Sie werden schon erwartet, Sir. Den Wagen müssen Sie stehen lassen und zu Fuß weitergehen. Die Absperrung darf ich nicht öffnen«, sagte der Bobby. Royston parkte am Straßenrand. Kaum waren sie ausgestiegen, klickten auch schon die Kameras.

»War es ein Terroranschlag?«, rief ein Mann im beigen Regenmantel, worauf so viele Fragen auf sie einprasselten, dass nicht mehr auszumachen war, von wem sie kamen. Royston quetschte sich durch die Absperrung, während die Meute Carmichael umzingelte, der mit erhobener Hand um Ruhe bat.

»... genau wie in Wales?«, ließ sich noch ein Journalist vernehmen und schwieg dann betreten.

»Ich weiß nicht mehr als Sie. Sobald ich neue Informationen habe, werde ich eine Erklärung abgeben.«

»Nun seien Sie doch kein Spielverderber, sagen Sie wenigstens irgendwas.« Die Frau lächelte, von ihrer Hutkrempe tropfte der Regen.

»Sind Sie nicht Inspector Carmichael, der den Mord an Thirkie aufgeklärt hat?«, fragte ein Mann mit spitzer Nase, der fast auf dem Dach eines roten Austin Mini lag.

»Stimmt«, sagte Carmichael finster im Blitzlichtgewitter. »Sobald ich eine Erklärung abzugeben habe, werden Sie die bekommen.«

»Können Sie zumindest bestätigen, dass Miss Gilmore ermordet wurde?«, fragte die Frau.

Alle weiteren Fragen gingen im allgemeinen Tumult unter. Carmichael tauchte unter der Schranke hindurch und gesellte sich zu Royston.

»Hausnummer fünfunddreißig«, sagte der Bobby und zeigte auf ein paar Stufen, die von der Straße zu einer Gartenpforte führten. »Gehen Sie von hinten hinein.«

Carmichael folgte Royston, der schon auf den Stufen stand. Die Rufe der Presse klangen wie das Gebell von Jagdhunden. Ob er wohl dieses Jahr noch Gelegenheit zur Jagd haben würde? Vielleicht ein paar Tage im November in Leicestershire. Nichts ging über einen schnellen Ritt auf unbekanntem Gelände, ohne zu wissen, wohin der Fuchs einen führte.

Inzwischen hatte der Regen nachgelassen, hing nur noch als feiner Nebel in der Luft. Royston öffnete das grün lackierte Tor aus reich verziertem Schmiedeeisen, ebenso viktorianisch wie das Haus. Der Weg teilte sich. Ein Pfad führte zwischen zwei Blumenrabatten mit Rosen und Stiefmütterchen zu einer rosaroten Eingangstür. Der andere bog ab in eine Lücke vor dem völlig identischen Nachbarhaus zur Linken. Royston schlug diesen Weg ein, und Carmichael ging ihm nach.

»Wie nennt man so eine Lücke zwischen den Häusern, Sergeant?«

»Gartenweg, Sir. Aber nur, wenn sie breiter ist.«

»In Lancashire heißt das Gässchen«, sagte Carmichael, als sie im hinteren Teil des Gartens ankamen.

Hier hatten ebenfalls Rosenbüsche gestanden, um ein kleines Stück Rasen herum. Nun waren die Rosen entwurzelt und die Erde von der Explosion aufgerissen. Der Boden war mit Glassplittern übersät, die unter Roystons Stiefeln knirschten. Durch ein großes Loch in der Fassade sah man die Überreste eines Raums, der wahrscheinlich das Esszimmer gewesen war. Tapetenfetzen flatterten an den zerborstenen Wänden.

»Wie nach einem Luftangriff«, sagte Royston und schob ein verbogenes Stück Eisen mit dem Fuß beiseite.

Ein großer Mann in Pioniersuniform schritt durch das Loch auf sie zu. »Nicht ganz«, sagte er. »Damals kamen die Bomben von oben. Die hier ist im Haus explodiert.«

»Scotland Yard«, sagte Carmichael, und sie zückten die Ausweise. Der Soldat hieß Curry und war Captain. Dann traten zwei Polizisten der Metropolitan Police dazu, Sergeant Griffith und Inspector Jacobson aus Hampstead. Alle prüften gründlich die Ausweise der jeweils anderen und schüttelten sich die Hand.

»Ich würde ja gerne reingehen, aber die Decke könnte runterkommen, da bleiben wir besser im Regen stehen«, sagte Jacobson.

»Wenn man so was Regen nennen kann«, sagte Griffith verächtlich.

»Also keine vergessene Fliegerbombe?«, fragte Carmichael Captain Curry, ohne sich weiter über das Wetter auszulassen.

»Dachte auch erst an einen Blindgänger. Hätte seit 1940 unentdeckt unter dem neu gebauten Wintergarten liegen können, um dann auf einmal doch noch zu zünden. Passiert immer wieder. Hab schon von Fällen in Frankreich gehört, wo eine Mine aus dem Großen Krieg ruhig in der Erde lag, bis ein Bauer darin herumstochert und beide in die Luft fliegen.« Gedankenversunken bohrte Curry mit der Fußspitze in der Erde. »Aber das haut nicht hin. Das Zentrum der Explosion war im Haus, nicht im Wintergarten, und niemand hat eine alte deutsche Bombe im Esszimmer liegen. Außerdem bin ich ziemlich sicher, dass es eine selbstgebastelte Bombe war, will aber erst noch die chemische Analyse abwarten.«

»Jüdische Terroristen?«, fragte Griffith eifrig.

Carmichael besah sich die Trümmer genauer. Terroristen? Oder war es wie beim letzten Mal? Hatte die Regierung Grund gehabt, die Schauspielerin zu töten? Hatte sie ebenfalls zu viel gewusst? Waren er und Royston hierher geschickt worden, weil die Machthaber wussten, dass sie notfalls auch etwas vertuschen würden? Nur weiter so, dachte er bitter. Bombenanschläge vertuschen, Kinder in Gaskammern leugnen. Er wusste genau, wie er reagieren würde, wenn man ihn vor die Wahl stellte.

Jacobson schien Griffiths Eifer ebenfalls nicht zu schmecken. »Warum sollten Anarchisten einen Bombenanschlag auf Lauria Gilmore verüben?«, fragte er. »Hat jemand von Ihnen sie schon mal auf der Bühne gesehen?«

»Als Knirps war ich in Kleopatra«, sagte Royston.

»Beneidenswert«, sagte Jacobson. »Bin selber ein kleiner Theaternarr. Seit dem Krieg habe ich keinen ihrer Auftritte verpasst. In ihrer Generation gab es keine Bessere.«

»Ich habe sie in Bunbury gesehen, gleich nach dem Krieg«, meldete sich Carmichael. Er war mit Jack hingegangen, aus Solidarität mit all den toten Schwulen, hatten sie sich gesagt. Er hatte sich gut amüsiert und beim Hinausgehen die Paare beneidet, die Händchen halten konnten. »Ich fand sie sehr gut.«

»Ob gut oder nicht, sie war bloß ’ne Schauspielerin«, sagte Curry und versetzte damit den schönen Erinnerungen einen Dämpfer. »Hatte nichts mit Politik zu tun.«

»Zwei Todesopfer.« Jacobson war wieder ganz sachlich. »Liegen in der Leichenhalle des Reviers. Eines ist zweifelsfrei als Miss Gilmore identifiziert worden, das andere ist wahrscheinlich ihr ... guter Freund Matthew Kinnerson. Mr Kinnerson gehört das Haus, er bezahlt alle laufenden Kosten.«

»Wohnt er auch hier?«, fragte Carmichael.

»Ist in Amersham gemeldet, Sir, zusammen mit seiner Frau. Wohnt aber anscheinend hier«, sagte Griffith. »Als wir im letzten Jahr wegen einem Einbruch da waren, hab ich die beiden für ein Ehepaar gehalten, bis wir die Personalien aufgenommen haben. Der hatte sie die ganze Zeit im Arm, und sie hat in einer Tour geflötet, Schatzi hier und Schatzi da.«

Royston notierte es.

»Könnte Mrs Kinnerson die Leiche identifizieren?«, fragte Carmichael.

»Möglicherweise könnte das der Zahnarzt von Mr Kinnerson«, sagte Jacobson. »Seiner Frau will ich den Anblick nicht zumuten, selbst wenn sie sich nicht mehr so nahe standen.«

»Wer hat Gilmore identifiziert?«, fragte Carmichael.

»Das war ich«, sagte Jacobson. »War nicht ganz so verstümmelt wie Kinnerson, oder wer auch immer. Das Gesicht war unversehrt.«

»Sind ihre Verwandten in Kenntnis gesetzt worden?«

»Gibt wohl niemanden«, sagte Jacobson. »Nach dem Großen Krieg war sie kurz verheiratet und bald wieder geschieden, wenn ich mich recht entsinne. Die Eltern sind schon lange tot.«

»Was ist mit den Dienstboten?«, fragte Royston. »Könnten die etwas wissen?«

»Sie hatte auf jeden Fall welche«, sagte Griffith. »Zumindest noch im vergangenen Jahr. Ein Ehepaar, die Köchin und der Gärtner, und ihr Mädchen. Das Paar war schon seit Jahren bei ihr.«

»Und wo sind die drei?«, fragte Carmichael.

Griffith hob die Hände, als wollte er sagen, im Garten jedenfalls nicht. »Vielleicht hatten sie heute frei?«, schlug er vor.

»Vielleicht, oder einer von ihnen hat die Bombe gelegt und den anderen gesagt, sie sollten die Fliege machen.« Royston notierte wieder etwas.

»Wer hat die Polizei gerufen?«, fragte Carmichael.

»Ein Nachbar, Slater. Eigentlich mehrere, muss ganz ordentlich geknallt haben, aber Slater war der erste.« Jacobson wirkte nervös. »Hab schon einen Mann losgeschickt, um Erkundigungen einzuholen. Wollte Ihnen aber damit nicht auf die Füße treten, Carmichael.«

»Ich hätte Sie sowieso darum gebeten«, sagte Carmichael. »Aber sagen Sie Bescheid, sobald Sie was rausbekommen haben.« Er wandte sich an Curry. »Können Sie das Haus sichern?«

»Ja, obwohl es sicher billiger wäre, alles abzureißen und neu zu bauen.« Curry sah kopfschüttelnd auf die Trümmer.

»Vielleicht finden sich im Haus Hinweise, wo die Dienstboten abgeblieben sind und warum Miss Gilmore zur Zielscheibe eines Anschlags geworden ist«, sagte Royston und fügte ein »Sir« hinzu, als Curry ihn mit gerunzelter Stirn ansah.

»Werde gleich einen Trupp Pioniere anfordern, damit Sie das Haus gefahrlos durchsuchen können.«

»Haben Sie schon eine Vermutung, um was für eine Bombe es sich gehandelt hat?«, fragte Carmichael. »Selbstgebaut, sagten Sie.«

»Dünger und Bleiche«, sagte Curry. »Kann’s noch nicht beschwören, bin aber ziemlich sicher. Fragt sich nur, wie die Bombe ins Haus gekommen ist. Als Paketbombe ist das Zeug viel zu instabil, und man kann sie auch nicht einfach irgendwo verstecken, weil man nie sicher sein kann, wen man damit erwischt – man kann nicht mal sicher sein, dass sich überhaupt jemand in der Nähe befindet, wenn die Bombe hochgeht. Das Zeug ist völlig unberechenbar. Nicht mal ein anständiger Zeitzünder lässt sich anbringen. Oft genug sprengen sich die Bombenbauer damit selber in die Luft. Das könnte genauso gut hier der Fall gewesen sein.«

»Aber warum sollten eine Schauspielerin und ihr Freund eine Bombe bauen?«, fragte Carmichael.

»Ist auch nicht verrückter als alles andere, Sir«, sagte Griffith.

»Vollkommener Unsinn, das habe ich Captain Curry schon gesagt«, warf Jacobson ein.

Curry ignorierte ihn und wandte sich an Carmichael. »Werd mich dann mal um die Aufräumarbeiten kümmern, Inspector.«

Carmichael hob die Hand. »Wie lange werden Sie brauchen, Captain?«

»Kann ich nicht genau sagen. Aber ab morgen früh können Sie sicher überall rumlaufen.«

»Vielen Dank«, sagte Carmichael.

Curry nickte in die Runde und ging mit schnellen Schritten am Haus vorbei; laut knirschte das Glas unter seinen Stiefeln.

»Dann sollten wir jetzt auch in die Gänge kommen«, sagte Carmichael. »Als Erstes müssen wir nach den Dienstboten fahnden, damit wir erfahren, was sie wissen. Haben Sie die Namen, Sergeant?«

Griffith schüttelte den Kopf. »Steht alles in den Akten auf dem Revier. Das Mädchen hieß Mercedes, wie das Auto, das weiß ich noch.«

»Dann holen Sie sich die Namen und machen Sie die Leute ausfindig«, sagte Carmichael. »Falls auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass einer von ihnen die Bombe gelegt hat, können wir sie mit Fug und Recht festnehmen. Die Dienstboten der Nachbarn könnten über freie Tage und ähnliches Bescheid wissen. Sollten sie wirklich frei haben, werden sie ganz normal zurückkommen, dann passen wir sie hier ab. Im Übrigen: Warum ist die Straße abgesperrt?«

»Wir hatten befürchtet, es könnte eine zweite Bombe geben«, sagte Jacobson. »Aber Captain Curry war sehr gründlich, die Absperrung kann aufgehoben werden.«

»Tun Sie das, aber ein Bobby soll an der Treppe Posten beziehen, um die Reporter fernzuhalten«, sagte Carmichael. »Sonst werden die überall rumstöbern, ganz egal, wie gefährlich es ist, und das ist nicht in unserem Sinne. Besser, wir gehen ganz auf Nummer sicher und stellen einen zweiten Posten hier hinten in den Garten, das heißt also Nachtschicht für zwei Polizisten. Verdammte Presse. Ich sollte lieber zu ihnen gehen und ein paar Worte sagen, damit sie Ruhe geben.«

»Brauchen Sie Informationen über Miss Gilmores Karriere als Schauspielerin?«, fragte Jacobson beflissen.

»Das haben die sicher schon«, sagte Carmichael freundlich. »Ich werde nur sagen, dass Miss Gilmore tot ist und dass die Bombe weder von den Luftangriffen der Deutschen stammt noch derselbe Sprengstoff benutzt wurde wie in Campion. Aber ich werde ihnen noch nicht verraten, dass die Bombe im Haus explodiert ist. Die sollen sich erst einmal an anderen Dingen festbeißen.«

»Es sind doch keine wilden Tiere«, sagte Jacobson.

»Doch, jedenfalls bei einem Fall wie diesem, das werden Sie noch sehen«, sagte Carmichael. »Am besten fahre ich gleich nach der Erklärung erst einmal zu Ihnen aufs Revier. Falls das Personal bis dahin noch nicht aufgetaucht ist, kehre ich mit den Namen zum Yard zurück, um Nachforschungen in die Wege zu leiten. Morgen früh treffen wir uns dann hier, um das Haus zu durchsuchen. Dann hat Curry schon die Laborergebnisse, und wir wissen mehr über die Bombe.«