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György Dragomán

DER SCHEITERHAUFEN

Roman

Aus dem Ungarischen von
Lacy Kornitzer

Suhrkamp Verlag

Emma, eine dreizehnjährige Waise, wächst im Internat auf. Ihre Eltern sollen bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein. Eines Tages erscheint eine Unbekannte, die sich als ihre Großmutter ausgibt. Widerstrebend folgt das Mädchen ihr in eine fremde Stadt. Überscharf, als müsse sie sich jedes Atemzuges vergewissern, dass er wirklich sei, registriert Emma jedes Wort, jede Geste.

Von den neuen Klassenkameraden wird sie gehänselt und bedroht, denn ihre Großmutter gilt als Spitzel und Geisteskranke – das blutige Ende des alten Regimes liegt noch nicht lange zurück. Während Emma sich in der Schule zu behaupten lernt, eine leidenschaftliche Mädchenfreundschaft schließt und sich schüchtern verliebt, kämpft die alte Frau um ihr Vertrauen. In Monologen, die strudelnd in den Abgrund ziehen, gibt sie sich selbst preis – und die Geschichte eines Verbrechens, das sich vor Jahrzehnten draußen im Garten abgespielt hat, im Holzschuppen, unter dem Nussbaum.

»Die schmerzvollsten Geschichten«, heißt es einmal, »könne man nur so erzählen, dass der, der zuhört, das Gefühl hat, dass sie ihm selbst widerfahren, dass es seine eigenen Geschichten sind.« Skrupulös, mit einer minimalistischen Erzähltechnik, die den Übertritt ins Magische, Phantastische erlaubt, schildert György Dragomán das Fortwirken eines Traumas: schuldlos schuldig geworden zu sein. Die radikale Heldin seines Entwicklungsromans zerreißt das Gespinst aus Lüge, Verdacht und Gewalt und stürmt hinaus ins Leben.

György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mureş)/Siebenbürgen, Rumänien geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman A pusztítás könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen. Der weiße König (2005; dt. 2008, st 4313) ist in dreißig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.

Lacy Kornitzer, in Budapest geboren, Theaterregisseur, Dramaturg und Übersetzer. Er dreht Kurzfilme, veröffentlicht Essays und übersetzt aus dem Ungarischen, u.a. Bücher von Szilárd Borbély, Imre Kertész, Péter Nádas, Alaine Polcz, László Végel und István Örkény. Er lebt seit 35 Jahren in Berlin.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Unterstützung seiner Arbeit.

Abweichungen der vorliegenden Übersetzung von der Originalausgabe wurden mit dem Autor abgestimmt.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Máglya bei Magvető in Budapest

© Dragomán György, 2014

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen

Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk

und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Frank Willershäuser

eISBN 978-3-518-74205-1

Für Anna

EINS

Ich warte im Flur, vor dem Direktorzimmer. Betrachte die Tafeln, die Absolventen in ihren weißen Blusen. Bei mir ist es erst in fünf Jahren so weit. Ich betrachte ihre Frisuren, die meisten tragen Zöpfe, ich beschließe, darum zu bitten, dass ich mit offenem Haar auf der Tafel sein darf. Ich ziehe das Gummi ab, mache das Haar auf und kämme es mit den Fingern. Schon ziemlich lang. Seit einiger Zeit lasse ich es wachsen.

Ich warte. Sehe zum Fenster hinaus in den Park. Auf den kahlen Pappeln der Allee hocken schwarze Vögel. Raben.

Ich betrachte die Raben und warte.

Ich frage mich, was die Direktorin wohl von mir will.

Bald bin ich ein halbes Jahr im Internat. Alle sind freundlich zu mir, die Schülerinnen, die Lehrer, die Erzieher. Sie bedauern mich wegen dem, was mit Vater und Mutter passiert ist.

Ich betrachte die Bäume, will nicht an sie denken. Ich warte.

Endlich geht die Tür auf. Die Direktorin ruft mich herein.

Ich trete ein. Vor ihrem Schreibtisch stehen zwei Lehnstühle. Sie bedeutet mir, Platz zu nehmen.

Auf dem anderen Lehnstuhl sitzt jemand. Eine alte Frau. Gebeugt sitzt sie da, ich sehe nur ihren schwarzen Pullover und ihre knochigen Schultern, in ein großes schwarzes Tuch gehüllt. Mit beiden Händen wärmt sie eine kleine Kaffeetasse, dreht und schwenkt sie hin und her. Die Untertasse liegt auf der Tasse, die knochigen Finger drücken sie an, als fürchte sie, etwas zu verschütten.

Ich setze mich. Sage guten Tag. Der lederbezogene Sitz des Lehnstuhls ist unangenehm hart.

Die alte Frau sieht auf, grüßt, nennt mich beim Namen. Ihre Augen sind von kaltem Grau, ihr Gesicht ist streng, auch ihre Stimme ist kalt.

Die Direktorin sagt, die alte Dame sei meinetwegen gekommen.

Sie sei meine Großmutter, sagt die Frau, und sie sei gekommen, um mich zu sich zu nehmen.

Ich habe keine Großmutter, sage ich. Auch keinen Großvater. Ich habe überhaupt niemanden.

Das stimmt nicht, sagt sie, sie sei sehr wohl meine Großmutter. Mamas Mutter.

Das ist nicht wahr, sage ich. Mama war Waise.

Nein, sagt sie. Meine Mutter sei keine Waise gewesen, mitnichten. Nur habe sie sich mit ihren Eltern völlig zerstritten und sei gegangen, sie habe sie nach einem heftigen Streit zurückgelassen, sie wolle sie nie mehr sehen, habe sie gesagt. Sie habe es so gewollt, und bitte, so sei es gekommen, hätte sie es bloß nicht getan. Danach hätten sie nichts mehr von ihr gehört, sie hätten nicht mal gewusst, ob sie noch lebe oder gestorben sei, nicht einmal, dass es ein Enkelkind gibt. Mein armer Großvater werde es nun auch nicht mehr erfahren. Nie hätte sie von meiner Mama gedacht, dass sie derart kaltherzig sei.

Das ist nicht wahr, sage ich. Ich bin nicht Ihr Enkelkind.

Doch, das sei wahr, sagt die Alte. So wahr sie hier sitze.

Die Direktorin sagt etwas. Sie sagt der alten Frau, sie möge lieber etwas einfühlsamer und freundlicher sein.

Die Alte fuchtelt mit der Kaffeetasse, sagt, sie solle schweigen, ihr nicht reinreden, es sei besser, all das gleich zu Beginn zu klären. Durch die Bewegung verrutscht die Untertasse, das Porzellan knirscht, die Tasse fällt aber nicht herunter, die Alte hält sie gut fest.

Die Direktorin verstummt. Die Alte sagt, sie möge so gut sein und hinausgehen, sie wolle mit mir unter vier Augen reden.

Ich möchte ihr sagen, sie soll nicht gehen, aber ich sage es nicht.

Die Direktorin erhebt sich langsam, man sieht, sie geht nur ungern, in der Tür sagt sie noch, sie sei draußen auf dem Flur.

Ich nicke.

Die Tür fällt zu. Ich sehe die Alte nicht an. Ich gucke auf meine Schuhe, die schwarz glänzenden Knöpfe auf den Spangen, unten an meinen Knöcheln.

Ich spüre, wie sie meine Hand nimmt, ihre ist warm und feucht, ich höre, wie sie schnieft. Ich hebe den Kopf und sehe Tränen in ihren Augen.

Eine Weile schaut sie nur, sagt nichts. Ich sehe, wie ihr die Tränen langsam übers Gesicht rinnen.

Sie befeuchtet ihre Lippen, die Zunge ist blassrosa. Dann spricht sie. Ihre Stimme klingt verändert. Weicher. Wärmer.

Sie sagt, ich solle ihr nicht böse sein. Sie habe nichts Schlechtes über meine Mama sagen wollen. Wie könne sie auch schlecht über sie sprechen, wo sie doch ihre Tochter war. Ihre geliebte Tochter. Die sie seit mehr als fünfzehn Jahren nicht gesehen habe. Und die sie nun nie mehr wiedersehen werde. Auch wenn sie ihr böse gewesen sei, sie habe ihr doch längst verziehen. Und sie sei sich sicher, dass meine Mama ihr auch verziehen hätte. Bestimmt. Das fühle sie in ihrem Herzen.

Sie zieht ihren Stuhl näher an mich heran, fährt mir mit der Hand übers Haar.

Sie sagt, ich sei für sie ein Geschenk des Schicksals. Jetzt, nach dem Tod meines armen Großvaters, habe sie niemanden mehr. Nur ich sei ihr geblieben. Ich solle verstehen, ich sei ihre Enkelin, wir gehörten zusammen, sie werde mich so lieben, wie sie ihre Tochter geliebt habe. Und noch viel mehr. Ich solle mitkommen. Sie bitte mich inniglich.

Ich antworte nicht.

Sie sagt, ich müsse mitkommen. Mir bleibe gar nichts anderes übrig, es sei mein Schicksal, sagt sie.

Nein, antworte ich.

Etwas wie Zorn lodert in den Augen der alten Frau auf, doch ihr Gesicht und ihr Mund lächeln. Sie sagt, sie werde es mir beweisen.

Sie nimmt meine Hand, zieht sie zur Kaffeetasse, die wir jetzt gemeinsam halten, wir beide mit beiden Händen. Das Porzellan ist warm.

Sie bittet mich, aufzupassen.

Ich spüre, wie meine Hand sich bewegt, wir drehen die Tasse um, und nun sitzt die Kaffeetasse verkehrt herum auf der Untertasse. Schwarzer Kaffeesatz sickert heraus, bildet dünne Rinnsale, formt sich zu Zacken. Ich sehe, wie die Zacken dicker werden und ineinanderlaufen.

Die Alte dreht die Tasse um und stellt sie auf die Untertasse. Sie fordert mich auf hineinzusehen.

Ich sehe hinein.

Der Kaffeesatz hat an der Innenseite der Tasse ein braunes Muster gebildet, eine Art Labyrinth im Sand.

Die Alte dreht die Tasse langsam im Kreis und fordert mich von neuem auf, hineinzusehen.

Ich sehe hinein.

Plötzlich erkenne ich in dem Muster mein Gesicht. Es hebt sich in feinen Linien ab, sieht aus wie eine frische Tuschezeichnung, ich sehe meine Augen, meine Nase, den Schwung meines Mundes, mein Kinn. Ich muss lächeln. Das bin ich.

Die Alte legt den Finger auf den Tassenrand, führt ihn im Kreis, durch die Berührung beginnt das Porzellan zu klingen, die Linien meines Gesichts zerfließen, werden breiter, es ist, als würde ich größer und älter. Ich sehe das Gesicht von Mama, ich erkenne es, das ist sie, ihr Blick, ihr liebevolles, aber trauriges Lächeln, dann wird auch sie älter, ihr Gesicht bekommt Falten, das Kinn wird spitz, schon sehe ich das Gesicht der Alten, schon ist sie es, die mich aus dem Kaffeesatz anlächelt.

Ich spüre, dass die Tasse ganz abgekühlt ist, ich lasse sie mir aus der Hand nehmen, die Alte stellt sie auf den Schreibtisch der Direktorin.

Ich blicke auf, mit Tränen in den Augen, und höre, wie die Alte zu mir spricht.

Ich möge sie Großmama nennen, sagt sie.

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Großmutter sagt, am besten sollten wir so schnell wie möglich aufbrechen. Wenn wir den Nachmittagszug noch kriegen, könnten wir gegen Mitternacht zu Hause sein. Ich solle meine Sachen zusammensuchen und packen, mich von allen, die mir lieb sind, verabschieden. Gut wäre, wenn ich in einer halben Stunde fertig sei.

Sie fragt, ob ich eine Uhr habe, und noch bevor ich sagen kann, nein, aber oben im Schlafzimmer gebe es eine große Wanduhr, nimmt sie schon ihre Armbanduhr ab. Sie legt sie mir in die Hand und sagt, die habe sie immer meiner Mutter schenken wollen. Ein Familienstück.

Die Uhr fühlt sich warm an, Großmutter bittet mich, sie mir genau anzusehen.

Ich öffne die Hand. Eine rechteckige Uhr, auf dem schmalen Zifferblatt sind anstelle der Zahlen bunte, stecknadelkopfgroße Steinchen, sie glänzen wie Wassertropfen, das Steinchen an der Stelle der Eins ist fast durchsichtig, dann werden sie, eines nach dem anderen, immer dunkler, das Steinchen für die Zwölf ist beinahe schwarz.

Eine solche Uhr habe ich noch nie gesehen, der Sekundenzeiger hüpft nicht wie auf der großen Wanduhr, sondern geht, ohne zu stocken, im Kreis, dünn wie ein Härchen, dreht er widerstandslos seine Runden, ich starre auf den Zeiger, kann meinen Blick nicht lösen, er dreht sich wie der Strudel im Waschbecken, als wäre ein Haar ins Waschbecken gefallen, als würde der Strudel das Haar hinabreißen, tiefer, immer tiefer.

Ich kann meinen Blick nicht lösen, ich sehe, wie sich der Zeiger dreht, dreht und dreht, das Waschbecken ist voller Wasser, voll kaltem, kaltem Wasser, ich habe es eingelassen, um mir das Gesicht zu waschen, um nicht mehr so heftig zu weinen, die Genossin Polizeioffizier sagte, als sie mich entließ, ich solle mir das Gesicht waschen. Sie war freundlich, streichelte mir sogar den Arm, obwohl ich sie wieder schlagen wollte, sie wieder treten wollte, sie wieder beißen wollte, ich wollte, dass sie weggeht, zurückgeht, dorthin, wo sie hergekommen war, dass es wieder so ist, als wäre sie nie die Treppe hinaufgestiegen, als wäre sie nie vor unserer Tür stehen geblieben, als hätte sie nie bei uns geklingelt, als hätte sie nie unsere Wohnung betreten, als hätte sie mir nie gesagt, ich solle mich setzen, als hätte sie nie erzählt, was sie erzählt hat von meiner Mutter und meinem Vater und von dem Kohlenlaster, als hätte sie nie gesagt, dass sie es bedaure, dass sie es ehrlich und von Herzen bedauere, als hätte sie nie gesagt, dass ich stark sein soll. Ich will, dass sie zurücknimmt, was sie gesagt hat, ich will, dass es nicht wahr ist, ich will, dass alles wieder so wird, wie es früher war, bevor sie kam und alles verdorben hat, ich will, dass Mutter und Vater wieder nach Hause kommen.

Ich stecke den Stöpsel in den Abfluss und stelle das Wasser ab, ich will den Strudel nicht mehr sehen. Schluss damit.

Ich tauche mein Gesicht ins Wasser, es ist sehr kalt, auch die Hände tauche ich ein, ich presse sie mir ans Gesicht, drücke sie mir auf die Augen, halte die Luft an, ich will nicht atmen, will nicht an Vater und Mutter denken, will nichts denken, das Wasser ist eisig, meine Hände sind eisig, nur die Luft unten in meiner Lunge ist heiß, ich nehme die Hände vom Gesicht. Ich umklammere das Waschbecken, öffne die Augen und verschnaufe, ich sehe die Luftblasen meines Atems, sie prallen gegen das Waschbecken, zerplatzen, kleinere Blasen entstehen, wirbelnd schwimmen sie vor meinen Augen, nur nicht anrühren, denke ich, das ist alles, nicht bewegen, das kalte Wasser einatmen, die Nase, den Mund, die Kehle, die Lunge damit füllen, statt Luft das eiskalte Wasser einatmen. Das weiße Email des Waschbeckens ist ganz nah, ich sehe die zarten Risse, ich will das Wasser in mich hineinatmen und kann nicht.

Ich reiße meinen Kopf aus dem Waschbecken, wild, als wäre nicht ich es, die ihn hebt, fast hätte ich mir den Nacken am Wasserhahn angeschlagen. Auch meine Hand gerät in Bewegung, selbständig, als wäre sie nicht meine Hand, sie greift hinein, fasst den Metallring und reißt den Stöpsel heraus, der Abfluss schmatzt, schluckt das Wasser, ich weine nicht, starre wieder in den Strudel, der sich dreht, dreht und dreht, entdecke ein langes schwarzes Haar, ich weiß, es ist von meiner Mutter, es war ins Waschbecken gefallen, als sie sich vor der Fahrt noch kämmen wollte. Ich greife mit zwei Fingern ins Wasser, um das Haar zu schnappen, es gelingt nicht, der Strudel reißt es in den Abfluss. Ich starre das leere Waschbecken an, mein Gesicht ist kalt, ich kann nicht mehr weinen, will den Wasserhahn aufdrehen, will wieder den Strudel sehen. Von weitem, von draußen, höre ich die Stimme der Genossin Polizeioffizier, sie fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei, ich starre ins Waschbecken, will hinausrufen, nein, nichts ist in Ordnung, nichts, nichts, nichts, dann sage ich aber doch, ja, ich komme gleich. Kalt und ruhig ist meine Stimme, eine fremde Stimme, sobald ich sie höre, weiß ich auch schon, dass es meine Stimme ist, ich greife zu dem kleinen Brett unter dem Spiegel, nehme Mamas Kamm, fahre mir damit durchs Haar, es knistert.

Jemand ruft mich beim Namen, eine fremde Stimme, die Stimme meiner Großmutter, sie fragt, wie spät es sei. Die Armbanduhr liegt in meiner Hand, ich sehe den Sekundenzeiger, wie er, ohne zu stocken, im Kreis geht, seine Runden dreht und dreht.

Ich will etwas sagen, es ist drei viertel vier, sage ich. In Ordnung, sagt Großmutter, viertel nach vier unten am großen Tor, mit deinem Gepäck.

Ich werde dort sein, sage ich und starre auf die Uhr.

Großmutter sagt, sie werde mir helfen. Sie greift nach meiner Hand, nimmt die Uhr, erst da bemerke ich, dass das Armband aus Metall ist. Großmutter spannt es zwischen den Fingern auf, legt mir die Uhr an, mit dem Zifferblatt nach innen. So müsse man diese Uhr tragen, sagt sie. Dann lässt sie den Verschluss einschnappen, kalt liegt das Metallband um mein Handgelenk, es macht mir Gänsehaut. Großmutter sagt, mein Handgelenk sei schön und schmal, die Uhr sitze genau richtig, man müsse nichts verstellen, sieh selbst, wie gut dir die Uhr steht.

Das silberne Uhrenarmband glänzt auf meiner Haut, es scheint aus drei Metalldrähten geflochten zu sein, aber man sieht nicht, wo die Segmente ineinandergreifen. Ich spüre das Gewicht am Handgelenk, will etwas sagen, danke schön, sage ich.

Großmutter nickt und sagt, trag sie mit Freuden.

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Der Schlafsaal ist leer. Die anderen sind in der Klasse, auch ich wurde ja von dort ins Direktorzimmer gerufen. Ich gehe zu meinem Bett, bücke mich und ziehe meinen Rollkoffer hervor. Er ist bordeauxrot, der Reißverschluss ist kaputt, schon kurz nach dem Kauf hat er nicht mehr funktioniert, meine Mutter war wütend gewesen, denn man konnte ihn nicht reparieren, und auch das Geld wurde nicht erstattet. Ich lege den Koffer aufs Bett.

In meinem Schrank hängen die Kleider auf Bügeln, der verschossene rote Wintermantel, meine drei Blusen, zwei Röcke, die Jeans mit Dreiviertelbein. Ich nehme sie heraus und lege sie aufs Bett.

In den Fächern drei Unterhosen, Socken, Strümpfe, auf dem oberen Brett meine Sportkleidung und der Turnsack mit Mamas altem Trainingsanzug, auf dem untersten meine beiden großen Norwegerpullover.

Alles lege ich aufs Bett.

Auch meine Schuhe nehme ich aus dem Schrank, nur die mit der Schnalle nicht, die habe ich ja an, ich habe noch ein Paar schwarze Lackschuhe und ein Paar weiße Tennisschuhe, die mit den grünen Gummisohlen.

Nur meine alte Schuluniform und die Pionieruniform hängen noch im Schrank, seit Silvester darf man sie nicht mehr anziehen. Seitdem braucht man keine Uniform mehr, und Pioniere gibt es auch nicht mehr. Doch ich nehme sie heraus. Das gelbe Rangabzeichen aus Garn hat sich vom Knopf des Pionierhemds gelöst, die Quasten haben sich verheddert.

Der Schrank ist jetzt ausgeräumt, bis auf ein Foto, das an der Innenseite der Tür klebt. Es ist in Farbe, aber die Farben sind ziemlich verblasst, das liege daran, hat Vater gesagt, dass die Entwicklung nicht gut gelungen sei. Auf dem Foto sind wir drei, Mutter, Vater und ich. Es ist oben in den Bergen entstanden, an einem Seeufer, es ist das einzige Bild, auf dem wir alle drei drauf sind, Vater hat es mit Selbstauslöser geschossen, wir lachen uns kaputt, weil Vater, der den Apparat auf einen Baumstumpf platziert und den Auslöser eingestellt hatte, so schnell zu uns rennen wollte, dass er über einen Zweig stolperte, sich sofort wieder aufrappelte und gerade noch rechtzeitig angerannt kam, um es ins Bild zu schaffen, und er hatte sogar noch Zeit, die Arme um uns zu legen, und erst als er bei uns stand, bemerkten wir, dass sich ein Tannenzweig in seinem Pullover verfangen hatte, und das brachte uns noch mehr zum Lachen.

Ich betrachte das Foto, sehe Mutters aufgelöstes Haar, berühre es mit der Kuppe meines Zeigefingers, streichele darüber, aber ich spüre es nicht, nur die Glätte des Fotopapiers. Mit dem Fingernagel fahre ich unter das Bild und trenne es vorsichtig von der Schranktür ab. Es geht gut, das Papier reißt nicht, nur an einer Ecke der Rückseite bleibt etwas Holzmehl haften.

Ich nehme meinen rot-blau-schwarzen Norwegerpullover vom Bett, die im Ärmel versteckte Plastiktüte raschelt. Ich ziehe sie heraus, eine kleine gelbe Tüte mit Mamas schön gefaltetem französischem Seidentuch, im Zipfel des Tuchs sind die Eheringe eingeknotet. Seit dem Begräbnis habe ich es nicht mehr angerührt, auch jetzt ertaste ich es nur durch die Tüte, denke an den Jasminduft von Mamas Parfüm, das in dem Tuch aufbewahrt ist. Das Foto schiebe ich zwischen die Falten, durch die Schicht aus Plastik und Seide spüre ich seine harte Fläche.

Ich will die Tüte in den Ärmel zurückstecken, als mir einfällt, wie Großmutters Finger die Armbanduhr an meinem Handgelenk befestigt haben. Ich stecke die Tüte nicht in den Ärmel zurück, sondern lege sie aufs Bett. Im Koffer liegen nur Vaters zusammengerollte Hosengürtel und mein altes Federetui. Ich hole den alten Anspitzer heraus, die Klinge sitzt locker, ich kann mit dem Nagel meines kleinen Fingers das Schräubchen herausdrehen, ich schraube die Klinge heraus, mache damit einen langen Schnitt in das Futter über dem Kofferboden, schiebe die Tüte und das Seidentuch mit den Eheringen zwischen den Kunstlederbezug und das Futter, streiche mit der Hand darüber, innen und dann auch außen, das Kunstleder ist ganz schön dick, man wird nicht erkennen, dass dahinter etwas versteckt sein könnte.

Ich nehme die beiden Gürtel meines Vaters heraus, die Schnalle des schwarzen hake ich in das letzte Loch des braunen ein, ziehe die Schnalle fest, das Gürtelende stecke ich in die angenietete Lederschlaufe, so ist er lang genug, um den Koffer zusammenzubinden.

Ich packe meine Kleider und Schuhe ein, hole mein Nachthemd unterm Kopfkissen hervor und lege es obendrauf, mache den Koffer zu, hebe ihn an, schiebe den Gürtel unten durch, dann durch den Griff, ziehe ihn straff und schnalle ihn zu.

Ich bin fertig.

Ich ziehe den Mantel an, nehme den Schal aus dem Ärmel und binde ihn mir um den Hals, die Strickmütze setze ich noch nicht auf.

Ich sehe mich im Schlafsaal um. Ich habe alles, lasse nichts zurück.

Zum Schluss gehe ich noch einmal zum Fenster, schaue hinaus in den Park. Mitten auf der Allee sehe ich jemanden stehen, dessen Schal im Wind flattert und der sich nicht bewegt, ich weiß, es ist Großmutter, ich weiß, sie beobachtet die Raben.

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Ich gehe über den Flur, meine Schuhe klacken auf dem Beton. Die Gurte, die den Koffer zusammenhalten, quietschen bei jedem zweiten Schritt.

Vor dem Klassenzimmer bleibe ich stehen. Ich müsste nicht hineingehen, eigentlich will ich mich von niemandem verabschieden.

Einen Augenblick zögere ich, dann hebe ich doch den Arm, klopfe an, öffne die Tür.

Die rothaarige Lehrerin springt von ihrem Pult auf, lächelt mich an, sie ist nicht überrascht, mich im Mantel und mit dem Koffer in der Hand zu sehen. Bestimmt hat die Direktorin schon mit ihr gesprochen.

Sie winkt mich heran. Als ich vor der Tafel stehe, winkt die Lehrerin erneut, die Mädchen erheben sich von ihren Bänken.

Ich weiß, ich müsste mich von ihnen irgendwie verabschieden, doch ich möchte nichts sagen. Ich blicke auf meine Schuhe, auf die schwarze Ölfarbe des Fußbodens. Dann hebe ich den Kopf. Ich weiß, was man in solchen Fällen sagen muss, doch ich bringe kein Wort heraus.

Die rothaarige Lehrerin kommt zu mir, bleibt neben mir stehen, legt mir den Arm um die Schulter. Sie sagt, liebe Mädchen, es hat sich so ergeben, dass unsere Schwester Emma uns heute verlässt, sie dankt euch für die Güte, die ihr ihr entgegengebracht habt, und bittet euch, sie in guter Erinnerung zu behalten. Obwohl sie nur eine kurze Zeit bei euch war, wird sie euch niemals vergessen. An dieser Stelle stockt die Stimme der rothaarigen Lehrerin, als sei sie gerührt, sie seufzt, holt tief Luft, wischt sich die krausen Haarsträhnen aus dem Gesicht, lächelt mich wieder an, spricht weiter und sagt, Abschied nehmen falle niemandem leicht, dann bittet sie die Mädchen, diesen schweren Moment mit einem schönen Lied leichter zu machen, und solange sie singen, könnte ich meine restlichen Sachen zusammensuchen und einpacken.

Sie hebt die Arme und gibt den Einsatz.

Die Mädchen fangen an zu singen, alle zusammen, auch die rothaarige Lehrerin singt mit, ich kenne das Lied, ich habe es auch oft gesungen, es ist schön und traurig, es handelt vom langen Weg und vom Staub des langen Weges. Ich stehe nur ein bisschen herum, ich höre ihnen zu und sehe sie an, dann gehe ich zu meinem Platz, klappe das Mathebuch und mein Matheheft zu, nehme die restlichen Bücher und Hefte aus meiner Bank, stelle meinen Koffer auf den Sitz. Ich mache den Gürtel nicht auf, ziehe nur den kaputten Reißverschluss an einem Ende des Koffers auf und schiebe die Bücher und Hefte durch den Spalt, die gelben Metallzacken kratzen an meiner Haut, ich schiebe sie tief zwischen meine Kleider.

Das Gesicht der rothaarigen Lehrerin ist vom Singen ganz rot geworden, sie dirigiert mit ausladenden Gesten, als stünde sie vor dem Schulchor und nicht nur vor den Mädchen der Klasse.

Sie steht direkt vor der Tafel, an der Wand darüber sind drei rechteckige Flecken, zwei im Querformat, dazwischen ein senkrechter, dort hing das Foto des Genossen General, zu beiden Seiten Aufschriften in roten Buchstaben über die Heimat, das Volk, die Partei und den Frieden, sie sind nicht mehr da, seit Silvester gibt es solche Aufschriften nirgends mehr, auch das Foto des Generals hängt nirgends mehr.

Ich stecke den Füllhalter in den Koffer, beobachte das Gesicht der Lehrerin, ihre Stimme höre ich stärker heraus als die der Mädchen, ihr Schrei fällt mir wieder ein, ihr kreischender, gellender Schrei, mit dem sie sich das Rangabzeichen eines Oberkommandierenden vom Pionierhemd riss und darauf herumtrampelte, einen Stuhl an die Wand schleuderte, auf den Stuhl sprang und das riesengroße Foto des Genossen General, dreimal größer als lebensgroß, von der Wand des Prunksaals herunterriss und es auf den Fußboden warf, ich sehe das Glas im Fotorahmen zerspringen, die Lehrerin spuckt auf das Foto des Generals und zerrt es aus dem Rahmen, es sei vorbei, schreit sie, Schluss, aus, vorbei, und auch wir erheben uns und stoßen unsere Stühle zurück, auf die wir uns ursprünglich gesetzt hatten, um uns gemeinsam die Neujahrsansprache des Genossen General anzuhören, doch jetzt rennen wir nach vorn zum Fernseher, schubsen einander und drängeln, um besser sehen zu können, und brüllen gleichzeitig los, dass es vorbei sei, Schluss, aus, vorbei, und wir reißen die Fahnen von den Wänden und die Aufschriften mit den roten Buchstaben, und ich sehe das Gesicht des Genossen General im Fernsehen, wachsgelb und blutig liegt es im grauen Schlamm, und jemand holt einen großen gelben Bronzepokal aus der Vitrine, den die Schüler des Internats im Friedenswettbewerb gewonnen haben, und der Pokal fliegt, sich in der Luft drehend, gegen den Bildschirm, auf dem das blutüberströmte Gesicht des Genossen General funkelnd zerspringt, und dann rennen wir durch die Räume und Klassenzimmer und Stuben und reißen die Bilder und Aufschriften von den Wänden, das Krachen der Bilderrahmen und das Klirren von Glas und das Ritschratsch der Pappen dröhnt mir noch in den Ohren, und da war der Scheiterhaufen auch schon fertig, er fing nur schwer Feuer, bis wir Dieselöl über die dicken roten Bücher schütteten, das Öl, mit dem die Wochendienstler samstags den Fußboden einschmieren, und als das Feuer endlich aufloderte, lächelte der Genosse General zwischen den knisternden Flammen Hunderte und Tausende Male zu uns herüber, und wir standen um das Feuer und sangen, dass es vorbei ist, es ist aus, Olé-Olé, und außer den rußigen Glassplittern, die wie abgebrannte schwarze Zähne aussahen, blieb vom Scheiterhaufen nichts übrig. Zwei Tage danach nahm ich einen Splitter und legte ihn in mein Mäppchen, er ist jetzt noch da zwischen den Bleistiften und Schreibfedern.

Ich beobachte das Gesicht der rothaarigen Lehrerin, die Mädchen, wie sie singen, nun ist es bereits ein anderes Lied, es handelt nicht mehr vom langen Weg, sondern vom Vaterland, davon, dass unser Vaterland unser Zuhause ist und dass wir zu ihm stehen, treu bis in den Tod. Ich singe nicht mit, ich versuche mir vorzustellen, was sie sehen, stelle mir vor, dass sie mich sehen, wie ich meinen schäbigen Mantel richte und ihnen zuwinke, dass sie sehen, wie ich den Koffer nehme und aus dem Klassenzimmer gehe und wie ich mich auf der Schwelle noch einmal umdrehe und ihnen winke.

Ich öffne den Mund, will auf Wiedersehen sagen, Gott mit euch, doch das sage ich nicht, ich flüstere, es ist vorbei, Schluss, aus, vorbei, Olé-Olé, dann drehe ich mich um und mache die Tür des Klassenzimmers hinter mir zu.

Ich gehe die Treppe hinunter, höre sie immer noch singen, laut und immer lauter.

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Als ich durch die Tür hinaustrete, sehe ich Großmutter immer noch da stehen, in der Mitte der Allee, nur dass sie jetzt nicht mehr die Raben anblickt, sondern das Internatsgebäude.

Ich gehe die Treppen hinunter, der Wind greift in meinen Mantel. Ich setze die Strickmütze auf, ziehe sie über die Ohren, doch der Wind weht hindurch.

Großmutter sagt, ich sei spät dran.

Wegen der Verabschiedung, sage ich.

Macht nichts, wir sind noch in der Zeit, sagt sie. Zwischen den Fingern dreht sie einen Rosenkranz, die schwarzen Steine klappern gegen ihren Ring. Ich soll ihr den Koffer geben, sie werde ihn tragen.

Nein, sage ich, er ist nicht schwer.

Von ihr aus könne ich ihn schleppen, sagt sie.

Als wir losgehen, legt sich plötzlich der Wind.

Stumm gehen wir die Allee entlang, nur der Schotter knirscht unter unseren Schuhen. Auf einer größeren Fläche ist der Schotter schwarz, dort macht er ein anderes, lauteres Geräusch. Auf einmal bückt sich Großmutter und hebt etwas auf. Ein verkohltes Stück Holz, ein Teil davon glänzt noch, die Goldglasur ist nicht ganz weggebrannt. Großmutters Finger schließen sich um das Stück, reiben am verkohlten Teil.

Als wir das Tor erreichen, fragt sie, ob mir irgendwelche Erinnerungsstücke von Vater und Mutter geblieben seien, ein Foto vielleicht.

Nein, sage ich, ich habe nichts behalten dürfen. Die Worte, wie ich sie ausspreche, sind kalt, ich drehe mich um und blicke zurück zum Internat.

Ein großes graues Gebäude, an dessen Fassade der Putz abblättert, die Ziegelsteine, der Mörtel kommen zum Vorschein. Ich weiß, welches Fenster zu welchem Zimmer gehört, mir ist, als stünde jemand am Fenster des Schlafsaals und beobachte uns, doch nur einen Augenblick lang, dann ist der Schatten verschwunden.

Großmutter fragt, ob ich wüsste, wie lange ich hier war.

Ich will nicht antworten, dennoch sage ich, hundertzweiundfünfzig Tage.

Gerade lang genug, sagt Großmutter, knapp fünf Monate.

Sie ergreift meine linke Hand, zieht mit dem verkohlten Holz des Bilderrahmens vier schwarze Linien auf meinem Handrücken und durchkreuzt sie mit einer fünften. Das Stück Rahmenholz drückt sie mir in die Hand und sagt, wirf es hinter dich, sobald wir durchs Tor gegangen sind.

Wir treten über die glänzenden Schienen des Schiebetors, ich schwinge meinen Arm und schleudere das Stück Holz hinter mich.

Ich blicke mich nicht um, höre nur, wie es auf den Boden fällt.

ZWEI

Als wir am Bahnhof ankommen, tun mir schon die Arme weh, vergeblich wechsele ich den Koffer von der einen Hand in die andere, bei jedem Schritt wird er schwerer. Der Bürgersteig ist zu holperig, ich versuche gar nicht erst, den Koffer zu rollen, die Räder sind auch früher schon ständig irgendwo hängen geblieben.

Wir gehen die Treppe hinauf, der Betonboden im Innenbereich scheint ziemlich glatt zu sein, ich setze den Koffer ab und ziehe ihn, das Rattern der Kofferräder dröhnt durch die Vorhalle, alle Leute blicken uns an.

Ein Junge mit Mütze auf dem Kopf verkauft Schneeglöckchen, sie liegen in einer alten, vierfach gefalteten Zeitung. Er reicht uns ein Sträußchen, sagt, es sei Frühling. Hinter den grünen Sträußen lächelt ein Mund, nur halb zu sehen, doch ich erkenne ihn. Der Junge streckt uns den Blumenstrauß erneut entgegen und wiederholt, der Frühling sei da, es koste bloß eins fünfundzwanzig. Großmutter winkt ab, danke, sagt sie, wir möchten nichts.

Der Frühling werde trotzdem kommen, sagt der Junge und wendet sich ab, doch ich sehe, wie er uns noch einen Blick aus dem Augenwinkel zuwirft.

Die Räder rollen über ein Metallgitter, der Koffer macht ein Geräusch wie eine rostige Ratsche, das Ruckeln der Räder spüre ich im Ellenbogen, ich blicke zu Boden, unter dem Gitter ist dunkles Wasser, in dem Zigarettenkippen schwimmen.

Nur ein Schalter ist geöffnet, davor eine lange Schlange.

Großmutter holt ihre Geldbörse heraus, reicht sie mir und sagt, kauf du die Fahrkarten.

Ich weiß nicht, wohin.

Worauf Großmutter sagt, zu ihr, wohin sonst. Dann lacht sie auf, sagt mir kichernd den Namen der Stadt. Ich soll Fahrkarten für die zweite Klasse lösen.

Die Reihe kommt nur langsam voran. Ich blicke auf meine Uhr, der Sekundenzeiger dreht sich unablässig, wenn auch sehr langsam.

Großmutter sagt, sie sei gleich wieder da, und geht zum Fahrplan, der an der gekachelten Wand hängt.

Ich sehe mir die schwere, vollgestopfte Geldbörse an, durch das dünne graue Leder fühle ich die Münzen und die gefalteten Geldscheine.

Die Börse ist rund, fast kugelförmig. Auch der Verschluss ist seltsam, gezackte Metallbändchen greifen ineinander, die Klemme in der Mitte der Bänder ist zu einem kleinen runden Gesicht geformt, mit vorspringendem spitzem Kinn und einer Hakennase, links und rechts der Nase in Email gemalte kleine blaue Augen mit schwarzer Iris.

Ich schiebe meine Finger zwischen Nase und Kinn, drücke sie auseinander, und die Geldbörse springt mit einem lauten Klack auf. Viel Geld steckt darin, ineinandergekrumpelte Zehner, Hunderter, Fünfundzwanziger, dazwischen jede Menge Silbergeld. Ich weiß nicht, wie viel ich herausnehmen soll, und mache die Börse lieber wieder zu.

Ich komme an den Schalter, hinter der trüben Scheibe und dem Gitter sitzt eine Frau mit Kopftuch, sie neigt den Kopf zur Seite und fragt, wohin.

Ich sage den Namen der Stadt, und dass zwei Fahrkarten zweiter Klasse benötigt werden, die Frau tippt etwas in die Kasse und schiebt dann zwei rechteckige Pappkärtchen durch die Luke. Ich öffne die Geldbörse, frage, wie viel sie kosten, die Frau sagt, sechzehn fünfzig.

Ich will in die Geldbörse greifen, doch die Zeitung mit den Schneeglöckchen kommt mir in die Quere. Der Junge, der sie verkauft, steht neben dem eisernen Geländer, er hält mir die Zeitung mit den Sträußchen hin, sagt, er schenke mir eins, weil ich schön sei, ich solle mir eins aussuchen. Ich möchte nicht, sage ich und spüre, dass etwas in die Geldbörse drückt, ich will hinfassen, aber der Junge sagt, na, nimm doch ein Sträußchen, das mittlere, es ist am schönsten, und er lächelt breit, zwischen seinen Zähnen sehe ich einen silbernen Glanz. Ich sage, ich möchte keine Blumen, er solle mich in Ruhe lassen, ich weiß, was er macht, ich will laut rufen, Hilfe, ein Dieb, doch da steht auch schon Großmutter neben uns, mit der einen Hand fasst sie die Zeitungstülle, sie sagt, danke, so nehmen wir sie gern, und entreißt dem Jungen die Zeitung mit den Sträußen, ihre andere Hand langt unter die Zeitung. Ihre Finger schließen sich um die Öffnung der Geldbörse, der Junge stöhnt auf, ich sehe, dass seine Hand schon bis zum Handgelenk in der Geldbörse steckt, während Großmutters Finger die gezackten Schnallen in sein Handgelenk pressen. Durch das Leder der Geldbörse fühle ich die Finger des Jungen, wie sie die Scheine festhalten, sehe, wie sich die Zähnchen in seine Haut bohren, und spüre, wie seine Finger das Papiergeld loslassen. Großmutter lächelt, blickt den Jungen an, sagt, er könne so viel Geld herausnehmen, wie er wolle, falls es ihm nichts ausmache, dass ihm die Hand abfalle. Dann sagt sie nichts mehr und löst plötzlich den Druck. Der Junge reißt die Hand aus der Börse, kein einziges Geldstück zwischen den Fingern, er sagt, entschuldigen Sie, gnädige Frau, sie möge ihm im Namen der Heiligen verzeihen, während er sich das Handgelenk reibt und massiert, als sei es ihm bis zu den Knochen abgestorben. Großmutter sagt, dieses eine Mal würde sie ihm verzeihen, er solle sich verpissen.

Der Junge dreht sich um und rennt quer durch die Halle, zur Tür hinaus.

Großmutter sagt, halte deine Mütze auf.

Ich nehme meine Strickmütze ab, halte sie ihr hin, sie kippt die Schneeglöckchensträuße hinein, wirft die zusammengeknüllte Zeitung auf den Boden.

Sie nimmt mir die Geldbörse aus der Hand, schiebt die Fahrkarten durch die Luke zurück und sagt zur Kassiererin, wir hätten es uns anders überlegt, wir würden lieber erster Klasse fahren.

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Die erste Klasse ist beinahe leer. Wir setzen uns auf die verschlissenen Samtsitze im Abteil, beide ans Fenster. Als ich meinen Koffer auf die Ablage hieven will, sagt Großmutter, ich solle mich nicht so anstrengen und ihn unten lassen, der Koffer könne auch auf dem Sitz bleiben.

Ich lehne mich zurück, blicke Großmutter an, über unseren Köpfen, zwischen dem Sitz und der Hutablage, ist über die ganze Breite des Abteils ein großer Spiegel angebracht, ein endloser Spiegelkorridor, ich sehe darin Großmutter und mich selbst, viele Male, immer kleiner und kleiner, die Spiegel vervielfachen unsere Gesichter, eine lange Schlange von Gesichtern, und wenn das Abteil erzittert, zuckt die Schlange, und vom Zusehen wird einem ganz schwindlig.

Im Spiegel sehe ich mein zerzaustes Haar, ich suche im Koffer nach meinem Kamm, ziehe ihn heraus und beginne mich zu kämmen.

Großmutter blickt mich an, sie lächelt. Sie sagt, seit sie erfahren habe, dass ich auf der Welt sei, habe sie keinen anderen Wunsch gehabt, als mich zu sich zu nehmen. Sie danke mir, dass ich mitgekommen sei, dass ich ihr vertraut habe.

Ich sage nichts, kämme mich ausführlich, sehe das Zeichen an meiner Hand, das Großmutter darauf gemalt hat.

Ich betrachte meine Haare im Spiegel, wie sie langsam zwischen den Zacken des Kamms hervorquellen, Müdigkeit überkommt mich, gleich werden mir die Augen zufallen.

Großmutter sagt, ich solle ruhig schlafen, sie werde schon aufpassen, keine Angst, ich werde nichts Schlechtes träumen.

Den Kamm lege ich neben mich auf den Sitz, neben die mit Schneeglöckchen gefüllte Strickmütze, dann schließe ich die Augen.

Ich träume vom Feuer. Ich weiß nicht, was da brennt. Ich sehe große rote Flammen, von ihren Spitzen steigt rußiger Rauch auf, das Feuer brennt zischend und knisternd, die Flammen rauschen wie der Wind. Es ist dunkel, nur das Feuer leuchtet, ich will nicht hinsehen, kann aber den Kopf nicht abwenden, muss die Flammen sehen, in deren Tiefe ich schwarze Bretter und Balken erkenne, verkohlte Papierfetzen, etwas bewegt sich ruckartig in der roten Glut, ich weiß nicht, was es ist, ich will es auch nicht wissen.

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Der Hunger weckt mich. Draußen ist es dunkel. An der Decke des Abteils brennt blass eine Neonröhre, Großmutters Haut sieht in diesem Licht knochenweiß aus, auch mein Gesicht über ihr im Spiegel ist knochenweiß.

Großmutter fragt, ob ich etwas geträumt habe. Nein, nichts, sage ich. Als ich still bin, höre ich meinen Magen lang und laut knurren und merke, wie ich rot werde.

Großmutter blickt mich an, und plötzlich lacht sie. Ich beobachte, wie ihre Nase beim Lachen Falten bekommt. Sie verstummt, sagt dann, merke dir gut, man darf nie ohne Proviant losfahren, man kann nie wissen, wie lang der Weg sein wird. Einmal, als meine Mutter noch ein Baby war, hätten sie nichts zu essen eingepackt, denn sie wollten bloß in die Nachbarstadt fahren, keine vierzig Kilometer weit, außer Wasser hätten sie nichts mitgenommen. Doch dann dauerte der Weg zwei Tage wegen der großen Überschwemmung, und wenn ihnen eine liebe Alte nicht ein Stückchen Brot mit etwas Käse und Milch gegeben hätte, sie wolle nicht wissen, was dann passiert wäre. Großmutter blickt mir in die Augen, merk dir, sagt sie, das Wichtigste, wenn man sich auf den Weg macht, ist der Reiseproviant.

Großmutter sagt es genauso, wie es Mama gesagt hätte, das heißt nicht ganz genau so, aber ich weiß, dass ich diesen Satz von meiner Mutter gehört habe, ich erinnere mich nicht, wann genau, aber die Betonung weiß ich noch.

Es schnürt mir die Kehle zu, ich spüre eine Träne im Augenwinkel, ich wende mich ab und wische sie mit dem Handrücken weg.

Die dunkle Fensterscheibe spiegelt mein Gesicht, in der Schwärze dahinter elektrische Leitungsmasten.

Ich versuche zu lächeln, sehe Großmutter an und frage, wo denn der Proviant sei.

Sie kichert und sagt, wir hätten nichts dabei. Dann sagt sie, lass uns in den Speisewagen gehen, mal sehen, was es dort gibt.

Wir gehen. Ich nehme meinen Koffer mit, deswegen kann niemand im Korridor an uns vorbei.

Wir durchqueren zwei Waggons, und dann sind wir schon im Büfettwagen.

Es sieht aus wie in einer Kneipe, mit Theken zu beiden Seiten, an denen Leute lehnen, in Bergmannskluft und Arbeitskleidern. Sie trinken Bier mit Pflaumenschnaps. Das rieche ich.

Ein Mann steht hinter der Theke, unter seiner grauen Schürze lugt ein grüner Pullover hervor, auf der Theke hat er ein Schachbrett aus Wachstuch, darauf ein paar Figuren, er starrt auf die Stellung und kaut an einem Streichholz.

Großmutter fragt, was es zu essen gibt.

Nichts, sagt der Mann.

Das sei doch nicht möglich, sagt Großmutter. Irgendetwas müsse es doch geben. In dieser neuen freien Welt müsse es doch irgendetwas zu essen geben.

Der Mann sagt, er habe nichts, es gebe Bier, wenn wir wollten.

Großmutter betrachtet das Schachbrett, nimmt eine Figur und schiebt sie ein Stück vor.

Der Mann sagt, Schwarz müsse in drei Zügen gewinnen.

Kinderkram, sagt Großmutter. Auf ihrem Ring glänzt das Neonlicht, während sie die Figuren bewegt. Dann sagt sie, bitte schön, das war’s.

Der Mann starrt auf das Brett, schüttelt den Kopf. Er nimmt eine von Großmutter zuvor verrückte Figur, stellt sie auf ihren ursprünglichen Platz zurück, besieht sich die Stellung, um dann Großmutters Zug zu wiederholen, stellt die Figur erneut zurück, schaut wieder und wiederholt den Zug. Alle Achtung, sagt er. Er zieht eine Plastikkiste unter der Theke hervor und fegt die Figuren hinein.

Er sieht Großmutter an und sagt, es gebe Fischfrikadellen, saure Gurken und Schwarzbrot.

In Ordnung, sagt sie, fragt nicht einmal, ob ich so etwas mag.

Der Mann wendet sich um und stellt zwei Pappteller auf die Theke.

Großmutter zeigt auf einen Stehtisch am Fenster und sagt zu mir, bring doch das Essen dorthin.

Ich nehme die beiden Pappteller. Beim Gehen fließt mir das Gurkenwasser über die Finger.

Ich höre, wie Großmutter sich einen großen Wodka und mir einen Himbeersaft bestellt.

Ich stelle die Teller auf dem Stehtisch ab, sehe mir die bräunlich ölige Kruste der Fischfrikadelle an und warte, dass Großmutter die Getränke bringt.

Die Frikadelle schmeckt kaum nach Fisch, ist trocken wie Sägemehl, beim Reinbeißen zerbröselt sie mir im Mund. Ich bin so hungrig, dass es mir egal ist. So hungrig war ich in meinem ganzen Leben noch nicht.

Großmutter beobachtet mich, während sie isst. Es sei eine Freude zu sehen, was ich für einen Appetit habe. Meine Mama habe auch so gegessen. Als Kind sei sie sehr wählerisch gewesen, doch als sie größer wurde, habe sie alles gegessen, genau wie ich. Essen sei sehr wichtig für das Wachstum.

Ich lege die angebissene Frikadelle auf den Teller, ich sehe die Spuren meiner Zähne. Ich bin immer noch hungrig, will aber nicht mehr weiteressen. Lieber nehme ich ein Stück Brot.

Großmutter riecht am Wodka, dann trinkt sie ihn mit einem Schluck aus.

Ich esse meine Gurke auf, ihr Saft schmeckt gut, nach Essig. Die Finger wische ich mir am Rand des Papptellers ab.

Großmutter gibt mir Geld und sagt, hol mir noch einen Wodka und dir einen Himbeersaft. Es müsse ja nicht sein, doch heute sei ein besonderer Tag.

Der Mann hinter der Theke starrt auf das leere Schachbrett, ich schiebe ihm das Geld zu, er nickt und stellt die Getränke auf die Theke. Der Zug ruckelt, der Wodka schwappt fast aus dem Glas, ölig glänzt er an den Wänden des Glases.

Als ich die Gläser an mich nehme, höre ich plötzlich Musik, Ziehharmonika, Geige, Schlagzeug, ein langsames, trauriges Lied, das ich nicht kenne, das ich nie gehört habe.

Großmutter nimmt mir die Gläser ab, kippt ein wenig vom Wodka in den Himbeersaft, nur ein winziger Schluck, sagt sie, das kann nicht schaden, dann stößt sie mit den Gläsern an und sagt, auf dein Wohl und Gedeih.

Sie reicht mir das Glas, ich nippe daran, der Himbeersaft ist scharf geworden, beim Hinunterschlucken kratzt er mir warm in der Kehle.

Großmutter sagt, so bekäme ich mehr Farbe in die Wangen und bliebe nicht so schrecklich blass.

Wieder höre ich die Musik, nur viel lauter als zuvor. Die Tür des Büfettwagens springt auf, drei Musiker kommen herein, der erste mit einer Ziehharmonika, der zweite mit einer Geige, der dritte mit einem Schlagzeug, und sie spielen dasselbe traurige Lied, langsam, sehr langsam, es klingt wie unterdrücktes, keuchendes Weinen, der Schlafsaal kommt mir in den Sinn, wo nachts die Mädchen unter ihren Decken das Gesicht ins Kissen bohrten und weinten.