HIER STEHE ICH,
ICH KANN
NICHT ANDERS
In 80 Sätzen
durch die Weltgeschichte
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© September 2006 by Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Diana Lukas-Nülle
Bildmotiv: © Swim Ink 2, LLC / Corbis (Ausschnitt bearbeitet)
Lektorat: Carmen Kölz
Layout: Susanne Reeh
Gesamtherstellung: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda
Alle Rechte vorbehalten.
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-5257-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Herta und Hermann,
Lore und Hugo
Viele berühmte Sätze, die wir im Alltag lesen, hören und sagen sind zum Teil Jahrtausende alt. Sie entstanden in schicksalhaften Momenten der Weltgeschichte, entweder als Ausspruch oder wurden niedergeschrieben. Einige sind sogar älter als unsere heutige Sprache. Sie alle erzählen uns etwas über unsere Kultur und Geschichte.
Gehen wir den berühmten Zitaten der Geschichte nach und werfen einen Blick auf ihre Urheber und erforschen die Umstände, unter denen sie entstanden sind, können wir feststellen, dass sich mit ihnen nicht nur eine Reise in die Vergangenheit unternehmen lässt, sondern auch eine Abfolge von Stippvisiten zu besonders bedeutenden Wegmarken der Menschheitsgeschichte.
Dieses Buch lädt Sie auf eine Reise ein. So wie Jules Verne seinen Held Phileas Fogg in 80 Tagen um die Welt reisen ließ, verläuft unsere Reise in 80 berühmten Sätzen durch die Weltgeschichte und besucht Orte, Menschen und historisch bedeutsame Momente. Von »Erkenne dich selbst!« bis zu der »Achse des Bösen« durchmisst es einen Zeitraum von etwa 2600 Jahren.
Hinter jedem Zitat, das dieses Buch unterwegs aufsucht, verbirgt sich mindestens eine hochinteressante Episode der Geschichte. Jedes stößt eine Tür zu einem eigenen Abschnitt in Zeit und Raum auf, entfaltet überraschende Eindrücke vergangener Epochen und zeigt immer wieder den Menschen mit seinem sehr individuellen Blick auf die Welt.
Wie auf jeder Reise, muss man immer wieder die Entscheidung treffen, wo man halt macht, was man besichtigt und was man am Wegesrand stehen lässt. Da dieses Buch von der Weltgeschichte erzählt, habe ich literarische Zitate nur dann aufgenommen, wenn sie für eine besondere historische Zeit oder ein bedeutsames Ereignis in Politik und Gesellschaft stehen. An manchen Orten würden Sie vielleicht gerne länger verweilen, obwohl unsere Fahrt schon wieder weiter geht. Diese Reise verfolgt nicht den Anspruch, erschöpfend oder ausgewogen zu sein. Sie könnte es auch nicht leisten, nicht zuletzt, weil nicht jedes wichtige Ereignis der Weltgeschichte ein geläufiges Zitat hervorgebracht hat. Dieses Buch soll vielmehr in erster Linie Vergnügen an der Geschichte bereiten, und wenn Sie angeregt durch die Lektüre einiges ausführlicher nachlesen wollen, hilft Ihnen das Literaturverzeichnis weiter, das zu jedem Zitat Quellen nennt.
Ein letzter Hinweis: Jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen und obwohl das Buch chronologisch vorgeht, können Sie, sollte das ein oder andere Zitat auf den ersten Blick nicht Ihr Interesse wecken, dieses einfach überspringen. Vielleicht kommen Sie später wieder darauf zurück, womöglich, wenn Ihnen das Zitat erneut im Alltag begegnet.
Ich hoffe, dass Sie sich mir als »Reiseführer« dieser Reise in 80 Sätzen durch die Weltgeschichte anvertrauen und dass Ihnen dieses Buch zeigen kann, wie spannend Geschichte ist. Viel Vergnügen!
Helge Hesse
Düsseldorf, im Juni 2006
Diesen hohen Besuch hatte man selbst beim Orakel von Delphi noch nicht gesehen. Die Sieben Weisen, die klügsten Männer des antiken Griechenland, hatten die teils weite und beschwerliche Reise angetreten und sich in dem Heiligtum getroffen. Damit ein wenig ihres Wissens für alle Zeit auch dem heiligen Ort zuteil werde, bat der Priester des Orakels jeden von ihnen, einen Sinnspruch im Stein des Tempels zu hinterlassen. Als Erster verewigte sich der Staatsmann Chilon aus Sparta. Über den Eingang des Heiligtums meißelte er die Worte »Gnothi seauton!« (Erkenne dich selbst).
So beginnt eine der ältesten Urheberrechtsstreitigkeiten der Geschichte. War die Maxime »Erkenne dich selbst!« tatsächlich eine Idee Chilons? Oder hatte er sie nur übernommen? Stammte sie stattdessen von Thales, einem anderen der Sieben Weisen, dem viele diese Worte zuschreiben? Andere Quellen weisen den Satz sogar einem dritten damals Anwesenden zu: dem athenischen Staatsmann Solon.
Wem also ist eines der ältesten überlieferten Zitate der Menschheitsgeschichte zu verdanken? Auf wen gehen die Worte zurück, die wie die Initialzündung der abendländischen Philosophie anmuten? Bereits in der Antike hat diese Frage so manchen griechischen Denker beschäftigt.
Hundert Jahre nach besagtem Ereignis meinte Anaximenes, der wie Thales aus Milet stammte, Chilon habe Thales aus purer Geltungssucht den Satz gestohlen. Weitere hundert Jahre später wies der weise Antisthenes der ersten Priesterin des Orakels von Delphi, der berühmten Phaemonoe, die Urheberschaft des Satzes »Erkenne dich selbst!« zu. Von ihr, so glaubte er, habe dann Chilon den Spruch entlehnt. Auch wenn wir den Streit wohl nie werden klären können, in der Tendenz spricht vieles für Thales als Urheber. Denn der Satz »Erkenne dich selbst!« scheint wie geschaffen, den Beginn der abendländischen Philosophie zu markieren, und mit Thales von Milet nahm sie für viele ihren Anfang.
Warum gilt gerade Thales als einer der ersten Philosophen? Befragen wir die Geschichtsschreibung. Diese lässt die Philosophie meist mit den griechischen Denkern um 650 – 450 v. Chr. beginnen. Man nennt diese Denker Vorsokratiker, weil sie die Philosophie vor Sokrates prägten, der dann um 450 eine neue Richtung im Denken einschlug. Die Vorsokratiker bezeichnet man häufig auch als Naturphilosophen, weil sie sich vor allem darum bemühten, die Zusammenhänge der Natur zu verstehen. Daher ist es kein Wunder, dass fast jeder von ihnen eine Schrift mit dem Titel Über die Natur verfasst hat. Thales gilt als der Erste dieser Vorsokratiker oder Naturphilosophen, zu denen auch sein Schüler Anaximander, der bereits erwähnte Anaximenes, die Pythagoreer, die Eleaten wie Xenophanes und Parmenides sowie die Atomisten wie Leukipp und Demokrit gehören. Auch die Sophisten wie Protagoras ordnet man oft noch den Vorsokratikern zu, obwohl diese im engeren Sinne keine mehr sind.
Die Naturphilosophen suchten nach dem die Welt durchdringenden Urstoff oder Urprinzip, aus dem alles entstanden ist. Sie wollten das Wesen allen Seins erkennen. Für Thales war der Ursprung allen Lebens das Wasser. Er argumentierte, wie Aristoteles berichtet, alle Pflanzen seien feucht, auch alle Samen. Alle Leichen hingegen trockneten aus. Thales ging so weit, dass er meinte, die Welt sei ein großes, auf dem Wasser schwimmendes Floß. Die Gründe für Thales’ Verbundenheit mit dem Wasser sind nachzuvollziehen. Immerhin hatte er viel von seinem Wissen in Ägypten und Mesopotamien – also an Nil, Euphrat und Tigris – erworben, wo man das Wasser verständlicherweise besonders verehrte.
Warum man letztlich Thales den Zuschlag für den Satz »Erkenne dich selbst!« geben möchte, liegt daran, dass er zeigte, wie das Wahrnehmen des eigenen Ichs, seiner Stärken und Schwächen, zu Lösungen beitragen kann. Sein Leben, sein Individualismus schienen immer wieder der Maxime »Erkenne dich selbst!« zu folgen. »Dich«, so kann man die Worte verstehen, »gibt es nur einmal. Nur du bist in der Lage dich zu erkennen und die Entscheidungen über die Wege zu treffen, die du gehst.«
Die Worte »Erkenne dich selbst!« stehen für die Abkehr vom Vertrauen auf die Götter und für den Beginn des Nachdenkens über den Ursprung, den Lauf und die Zusammenhänge der Welt. Auch weil die Aufforderung »Erkenne dich selbst!« den Menschen selbst in den Mittelpunkt der Erkenntnis rückt, markiert sie den Anfang der Philosophie. Seit über 2500 Jahren mahnt sie jeden, sich und sein Dasein in der Welt zu hinterfragen und die eigene Rolle im Leben zu finden. Dass der Satz die Jahrtausende überdauerte, zeigen auch die Worte, die Oscar Wilde im 19. Jahrhundert niederschrieb: »Über der Pforte der antiken Welt stand geschrieben: ›Erkenne dich selbst!‹ Über der Pforte unserer neuen Welt sollte geschrieben stehen: ›Sei du selbst‹.«
Thales war ganz »er selbst«. Er lebte die meiste Zeit in Milet, einer reichen griechischen Hafenstadt, gelegen auf einer Halbinsel an der Westküste Ioniens in der heutigen Türkei. Milet war ein gutes Pflaster für die Geburt der »Liebe zur Weisheit«, wie man die Philosophie sinngemäß übersetzen kann. Denn die wohlhabenden Mileter mussten sich nicht mehr um das Überleben des nächsten Tages sorgen. Die geschenkte Zeit nutzten sie, um über Zusammenhänge nachzudenken, über Ursachen und Wirkungen der Dinge. Thales stand noch mehr Zeit zur Verfügung als den meisten seiner Mitbürger, denn er war der Sohn wohlhabender phönizischer Eltern. Er erlernte einen Beruf, mit dem man ihn heute halb als Naturwissenschaftler und halb als Techniker bezeichnen würde. Die Wissenschaften waren noch nicht in einzelne Disziplinen getrennt. Als junger Mann reiste Thales nach Ägypten, in den Mittleren Orient und auch nach Athen. Vor allem bei ägyptischen Priestern eignete er sich das damalige Wissen über Mathematik, Navigation und Astronomie an. Zurück in Milet versuchte er sich zunächst in der Stadtpolitik. Doch bald war es erneut die Betrachtung der Natur, der er seine Zeit widmete. Thales wurde stadtbekannt und man sagte ihm nach, ein versponnener Kauz zu sein. Auf den ersten Blick schien er sich auch alle Mühe zu geben, die Philosophie gleich zu ihrem Beginn in den Ruf geraten zu lassen, ein Betätigungsfeld eigentümlicher und zerstreuter Gelehrter zu sein. So betrachtete Thales eines Nachts im Gehen die Sterne und weil er nicht auf den Weg achtete, fiel er in einen Brunnen. Eine Magd, die das beobachtet hatte, sagte lachend zu ihm, er beschäftige sich zwar mit den Dingen im Himmel, doch sehe er nicht, was direkt vor seinen Füßen liege.
Thales’ Mutter hätte ihr vermutlich beigepflichtet und dann noch seufzend hinzugefügt: »Würde er doch wenigstens die Frauen beachten!« Denn so sehr sie ihren Sohn auch drängte, er wollte partout nicht heiraten. Auch wenn einige Quellen sagen, Thales habe eine Frau und sogar einen Sohn gehabt, ist folgende Überlieferung zu schön, um auf ihre Wahrheit geprüft zu werden: Auf die Drängeleien seiner Mutter, endlich zu heiraten, soll er jahrelang hartnäckig geantwortet haben: »Noch ist nicht die Zeit dazu«, bis er endlich antworten konnte: »Nun ist die Zeit dazu vorüber.«
Zum Star der Wissenschaft seiner Zeit stieg Thales auf, als er eine Sonnenfinsternis vorhersagte, die er mit einigem Glück aus alten Quellen gedeutet hatte und die dann in Anatolien tatsächlich zu sehen war. Schriftliches ist von Thales nicht erhalten. Wenn überhaupt, so wird von dem großen frühen Geschichtsschreiber der Philosophie Diogenes Laertius vermutet, verfasste er zwei Schriften über astronomische Fragen. Im Mittelpunkt seines Denkens standen zweifellos die Naturwissenschaften und da vor allem die Astronomie. Auch wenn Thales glaubte, die Welt sei eine Scheibe und der Himmel eine Halbkugel, die darüber gestülpt sei, leistete er auf diesem Gebiet Beachtliches.
Thales starb vermutlich mit Ende 70, andere Quellen sagen sogar, er sei 90 geworden. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er im Stadion einem Wettkampf zugeschaut. Der Philosoph des Wassers war infolge der gerade herrschenden Hitze an Austrocknung und an Altersschwäche gestorben.
Doch eine Sache wäre noch zu klären. Was hat Thales damals in Delphi getan, als Chilon die Worte »Erkenne dich selbst!« in Stein meißeln ließ, obwohl er sehr wahrscheinlich nicht der erste war, der sie formuliert hatte? Welchen Spruch ließ Thales daraufhin in dem Heiligtum verewigen? Es war der schlichte Satz »Gedenke der Freunde«. Wer weiß, an wen Thales dabei gedacht hat – und an wen nicht.
Alles fließt? Auf den ersten Blick könnte man meinen, Heraklit habe den Staffelstab des Thales von Milet übernommen. Denn der hatte gesagt, der Urstoff allen Seins sei das Wasser. Das Neue bei Heraklit war – wenn wir die beiden Worte des Zitates interpretieren –, dass er das Wasser als etwas Dynamisches verstand. Für ihn war alles im Fluss. Alles wird, alles vergeht, alles ändert sich. Nichts bleibt, wie es ist.
Heraklit jedoch als einen Philosophen des Wassers zu bezeichnen, hieße wohl zuallererst, seinen Unmut zu erregen. Denn er verdammte das Wasser als das größte Übel, das es für den Menschen gebe, weil es alles in schändlichste Tiefen hinabziehe. Für Heraklit war das Feuer die Ursubstanz aller Dinge, denn Feuer wandle sich »in das All und das All in Feuer«, wie es in den von ihm erhaltenen Fragmenten heißt.
Wie Thales war auch Heraklit vornehmer Herkunft. Sein Vater war ein direkter Nachfahre des Gründers der Stadt Ephesos, gelegen im Landesinnern der anatolischen Halbinsel, in der heutigen Türkei. Ephesos beherbergte mit dem Tempel der Artemis eines der sieben Weltwunder der Antike. Eines Tages trug man Heraklit sogar die Königswürde an. Doch er wies sie zurück und übertrug sie auf seinen nächstgeborenen Bruder. Politik und Macht waren nicht Heraklits Sache, er war auch kein besonders geselliger Zeitgenosse. Dazu hielt er viel zu wenig von seinen Mitmenschen und auch an seinen Philosophenkollegen ließ er kaum ein gutes Haar. Hesiod, Xenophanes und Pythagoras kanzelte er gnadenlos ab.
Diogenes Laertius berichtet, Heraklit habe sich eines Tages im Artemistempel mit kleinen Jungen ins Würfelspiel vertieft. Als Mitbürger hinzutraten und ihm angesichts dieser nach ihrer Meinung nichtsnutzigen Tätigkeit Vorhaltungen machten, beschied er sie barsch, dass dies besser sei als mit ihnen den Staat zu führen.
Den in Heraklits Augen letzten Beweis dafür, wie schlecht sie waren, lieferten ihm seine Mitbürger, als sie – wie Diogenes Laertius berichtet – Hermodor, den damaligen Herrscher über die Stadt und ein Freund von Heraklits Familie, mit der Begründung verjagten, dass unter ihnen »keiner der Beste sein (solle), und wenn einer das ist, dann sei er an einem anderen Orte und bei anderen Leuten«. Heraklit grollte: »Recht täten die Epheser, sich Mann für Mann aufzuhängen allesamt.« Er verließ die Stadt und wurde Eremit.
In der Einsamkeit verfasste er eine Schrift, die wie die Hauptwerke der meisten Naturphilosophen Von der Natur hieß. Er hinterlegte sie im Artemistempel. Keiner, der sie las, verstand sie. Die Sätze wirkten wie Orakelsprüche und die mehrdeutigen Bilder, in denen Heraklit sprach, brachten ihm den Beinamen »der Dunkle« ein. Wer weiß, vielleicht hat er es so gewollt. In jedem Fall führte die Vielfalt, mit der seine Worte interpretiert werden können, dazu, dass ihn noch heute Philosophen auf mannigfache Weise deuten. Böse gesprochen: Heraklits Sätze kann jeder mehr oder minder so auslegen, wie es ihm gerade passt. Daher gilt also auch in gewisser Weise für die Heraklit-Rezeption: »Alles fließt.«
Worum ging es Heraklit? Sein Anliegen war weniger das Sein der Dinge, sondern vielmehr das Werden und Vergehen, und so sah er alles Dasein als permanenten Wandel. Das Leben war für ihn ein immer währender Kampf der Gegensätze. Verbindet man den Satz »Alles fließt« mit einem anderen berühmten Satz von ihm, mit »Der Kampf ist der Vater aller Dinge«, dann stößt man in das Herz seines Denkens. Denn für Heraklit trieben Gegensätze wie Für und Wider, Sein und Nichts die Welt, das gesamte Leben voran. Man kann sagen, dass bei Heraklit bereits die Thematik von These und Antithese aufscheint und damit die Dialektik. Diese Denkweise wurde bald von den Sophisten, wie Protagoras, ins Zentrum der Philosophie gerückt und erfuhr dann ihre erste große Blüte durch Sokrates.
Mit dem Satz »Alles fließt« nahm Heraklit die Gegenposition zu der Auffassung seines Zeitgenossen Parmenides ein. Der war wie viele Denker jener Tage der Ansicht, dass gar nichts im Dasein fließe. Für Parmenides war alles Sein unbeweglich und unveränderlich. Alles sei immer schon da gewesen. Dass der Mensch Veränderung wahrnehme, liege lediglich an Täuschungen der Sinne. Befrage man die Vernunft, müsse man erkennen, dass es nur Sein oder Nichtsein gebe.
Während also Parmenides auf das Sein und die reine Vernunft setzte, vertraute Heraklit auf die Sinne und auf ihre Wahrnehmung von Veränderungen. Auf diese Weise schuf Heraklit einen Gegenentwurf zur allgemeinen Denkauffassung seiner Zeit.
Von Heraklits Satz »Alles fließt« wissen wir durch Platon, der die Worte »Pánta rhei« (Alles fließt) Sokrates im Dialog Kratylos in den Mund legt und ihn verkünden lässt, Heraklit habe diesen Spruch gelehrt. In Heraklits erhaltenen Schriften – nur Fragmente haben die Zeiten überdauert – ist das wortwörtliche Zitat »Alles fließt« nicht zu finden. Doch bei ihm selbst stößt man – je nach Übersetzung – auf zwei ebenfalls berühmt gewordene Sätze, die ohne weiteres als variierende »Langfassungen« des Mottos »Alles fließt« zu deuten sind. Der erste heißt: »Wir können nicht zweimal in denselben Fluss steigen.« Soll heißen: Wenn wir zum zweiten Mal in einen Fluss steigen, ist völlig neues Wasser herangeflossen und auch wir haben uns inzwischen verändert. Daher sei beim zweiten Mal nichts so, wie es beim ersten Mal war. Der zweite erhaltene Satz variiert diesen Gedanken nur: »In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht: wir sind es und sind es nicht.«
Das öffentliche Leben spielte sich im antiken Athen vor allem auf der Agora ab, dem Markt- und Versammlungsplatz zu Füßen der Akropolis. Das weite Dreieck war lose umsäumt von Tempeln und den wichtigsten Verwaltungs- und Versammlungsgebäuden des Stadtstaates. Diejenigen, die nicht am politischen Tagesgeschäft teilnehmen mussten, gingen vielleicht an den über den Platz verteilten Marktständen entlang und schlenderten dann hinüber zu dem Monument der athenischen Helden, an dessen Sockel Papyruszettel mit den neuesten öffentlichen Bekanntmachungen angebracht waren.
Wer in das angrenzende Haus von Simon, dem Flickschuster trat, um sein repariertes Schuhwerk abzuholen, traf dort an manchen Tagen den Philosophen Sokrates, der wie der Staatschef Perikles zu Simons Kunden gehörte. Vielleicht wurde man von Sokrates sofort in ein Gespräch verstrickt, das man im Schatten einer Säulenhalle fortführte. Womöglich begegnete man auch Protagoras, und dann konnte man ihn fragen, ob es immer noch so wahnsinnig teuer sei, sich von ihm in der Kunst der Rede unterrichten zu lassen.
In jenen Tagen war Protagoras wer. Er war befreundet mit Euripides, dem Tragödiendichter, und mit dem die Stadt regierenden Perikles. Protagoras kam aus einer armen Familie im thrakischen Abdera, nahe der heutigen griechisch-türkischen Grenze. Die Skurrilität, die man den Einwohnern von Abdera nachsagte, mündete in dem Begriff »abderitisch«, mit dem man Einfältigkeit und Schildbürgertum beschrieb. Wie zum Trotz brachte Abdera berühmte Söhne wie den Naturphilosophen Demokrit und eben besagten Protagoras hervor.
Dem etwa 25 Jahre älteren Demokrit gebührt das Verdienst, »Entdecker« des jungen Protagoras gewesen zu sein, der damals in Abdera mit Transporten für Kaufleute den Lebensunterhalt für seine Familie verdiente. Demokrit wurde eines Tages Zeuge, wie Protagoras eine große Ladung Holz auf einen Esel packte. Das Geschick, das Protagoras dabei zeigte, war für Demokrit ein Hinweis, dass der junge Mann auch für die Philosophie begabt sein müsse. Er beschloss, sich seiner anzunehmen. Protagoras enttäuschte seinen berühmten Förderer nicht. Vor allem als Redner zeigte er außergewöhnliche Begabung. Nachdem er in Abdera eine Zeit lang als öffentlicher Vorleser gearbeitet hatte, zog es ihn schließlich in das Athen des Perikles. Dieser ließ gerade auf der Akropolis, dem weißen, die Stadt überragenden Felsen, neue Prachtbauten wie das Parthenon errichten.
In der Regierungszeit des Perikles standen nicht nur die Architektur, das Handwerk und alle Künste in hoher Blüte, auch die Demokratie als Gesellschaftsform erfuhr ihren ersten Höhepunkt. So setzte Perikles durch, dass auch weniger vermögende athenische Bürger an der Regierung mitwirken konnten, indem er ihnen ihre politische Tätigkeit bezahlen ließ. In jenen Tagen, vielleicht den besten, die die Stadt je erlebte, zog es die Menschen des übrigen Griechenland, vor allem die Intellektuellen, nach Athen.
Protagoras wurde in Athen rasch als Lehrer der Redekunst reich und berühmt. Wie das möglich war? Die Antwort liefert die radikale Form der Demokratie, die man dort zur Zeit des Perikles praktizierte. Der Volksversammlung, in der die wichtigsten politischen Entscheidungen zu treffen waren, gehörten nicht etwa nur bestimmte gewählte Personen an, sondern alle freien Männer der Stadt. Weil jeder als politisch gleich fähig eingestuft wurde, bestimmte man die politischen Beamten, wie etwa die Männer des Rats und der Gerichte, per Los aus den Reihen der Volksversammlung. Nur die Strategen wie Perikles und die Finanzaufsicht wurden gewählt. Daher konnte, wer in diesem Staat nach Macht und Einfluss strebte, nicht mehr auf Zugehörigkeit zum Adel oder auf Reichtum vertrauen, sondern musste argumentieren und überzeugen können. Dass darüber die öffentliche Rede zunehmend zum rhetorischen Wettstreit geriet, kam dem Wesen der Griechen entgegen, schließlich haben sie die Olympischen Spiele erfunden und trugen auch sonst begeistert Wettkämpfe in Kunst und Schauspiel aus. All das war Humus für die Sophisten, jene Gelehrte, die in der Redekunst und der geschickten argumentativen Verteidigung jedweder Ansicht unterrichteten. Protagoras war Vorreiter und Star dieses Berufsstandes und womöglich sogar der Erste, der sich »Sophist« nannte.
Auch wenn die Bezeichnung »Sophist« später für Menschen gebraucht wurde, die man der Rechthaberei bezichtigen wollte, hatte das Wort zu Protagoras’ Zeiten zunächst einen guten Klang. Denn es stand in seinem griechischen Wortursprung für nichts anderes als für einen Lehrer der Weisheit. Doch weil die Kritiker der Sophisten, allen voran Sokrates und Platon, sehr viel berühmter und einflussreicher als jene wurden, schrieben auch in diesem Fall die »Sieger« die Geschichte. Sokrates und Platon stellten die Sophisten als spitzfindige und keiner Wahrheit oder Moral verpflichtete Söldner des Denkens und Redens dar. Vor allem Sokrates wollte sich trotz vieler Gemeinsamkeiten klar gegen diese abgrenzen.
Um den Sophisten und vor allem Protagoras Gerechtigkeit zukommen zu lassen, kommt der berühmteste Satz, der Protagoras zugeschrieben wird, gerade recht: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«, auf Griechisch: »Anthropos metron hapanton.« Protagoras soll ihn in seiner nicht erhaltenen Schrift Aletheia (Wahrheit) niedergeschrieben haben. Dieser später so genannte Homo-mensura-Satz wurde schon in der Antike oft zitiert. Aristoteles erwähnte die Worte in seiner Metaphysik und Platon ging auf sie in seinem Dialog Theaitetos ein. Darin beschäftigt sich Platon mit der Erkenntnis und zitiert Protagoras mit den Worten: »Denn irgendwo sagte er, der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass (wie) sie sind, der nichtseienden, dass (wie) sie nicht sind.«
Protagoras ging es mit diesem Satz um die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Immer wieder streitet die Philosophie darüber, ob er vom Menschen als Gattungsbegriff oder vom Menschen als Individuum sprach. Denn ob man die Menschheit an sich oder jeden einzelnen Menschen zum Maß aller Dinge erklärt, führt zu völlig verschiedenen Schlüssen. Macht man die Menschheit in ihrer Gesamtheit zum Maß aller Dinge, geht es um kollektive Begriffe. Doch damit verlässt man auch in Bezug auf Erkenntnis das Individuelle und blendet Abweichungen aus. Versteht man in Protagoras’ Satz den Menschen aber als ein Individuum, das Maß aller Dinge ist, dann berücksichtigt man, wie verschieden die Sicht auf die Welt und damit wie facettenreich die menschliche Erkenntnis sein kann.
Vieles spricht dafür, dass Protagoras Letzteres im Auge hatte und die Erkenntnisfähigkeit des einzelnen Menschen meinte. Insofern könnte »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« auch heißen: »Alles Menschliche – alle Erkenntnis über die Dinge, die Welt – ist subjektiv.« Denn nur der Mensch misst und bewertet die Erscheinungen der Welt – seine Schlüsse zieht er aufgrund seiner begrenzten und subjektiven Sicht. Daher gibt es, wo der Mensch im Spiel ist, keine Objektivität. Das, was der Mensch erkennt, ist nicht absolut, sondern nur relativ. Auch eine andere, recht häufige Auslegung dieses Satzes wird damit widerlegt: Protagoras sei es um eine Erhebung des Menschen über die Natur gegangen. Genau das hatte er nicht im Sinn.
Dass Protagoras mit seinen berühmten Worten die Relativität der Erkenntnis ansprach, legt auch ein anderer Satz von ihm nahe: »Über jede Sache gibt es zwei entgegengesetzte Aussagen.« In diesen Worten zeigt sich nicht nur der Geist der Sophisten, sondern in ihnen findet sich auch die Benennung von These und Antithese. Doch bei Protagoras entsteht daraus keine Dialektik und damit eine Synthese, wie zwei Jahrtausende später bei Hegel, sondern läuft der Gedanke auf die Schlussfolgerung hinaus, dass es keine endgültige Wahrheit gibt und daher jeder einzelne Mensch mit seiner Sicht zu akzeptieren ist. Für das Zusammenleben der Menschen leitet sich daraus die Aufforderung ab, den Pluralismus der Meinungen und Lebensformen zu pflegen und zu schützen. Daher ist Protagoras der Philosoph der Demokratie. Es ist nur folgerichtig, dass Karl Raimund Popper, der große Staatsphilosoph des 20. Jahrhunderts und Hauptverfechter einer offenen Gesellschaft, Protagoras zu einem seiner Helden erklärte.
Als Protagoras bereits 70 Jahre alt war, hatten einige in Athen endgültig genug von ihm. Seine Schrift Über die Götter, in der er die Auffassung vertrat, es sei für den Menschen nicht festzustellen, ob es Gott gebe oder nicht, brachte ihm eine Anklage wegen Leugnung der Götter ein. Anders als einige Jahre später sein Kollege Sokrates entschloss er sich zu fliehen. Je nach Überlieferung ertrank er auf der Flucht beim Schiffbruch vor Sizilien oder starb friedlich im Exil.
Als sich das Jahr 400 v. Chr. dem Ende neigte, reichte in Athen ein gewisser Meletos eine Anklageschrift ein. Ihre Begründung schien an den Haaren herbeigezogen, die geforderte Strafe absurd übertrieben. Meletos beschuldigte den 70-jährigen Philosophen Sokrates, die alten Götter nicht anzuerkennen, sogar neue Götter einzuführen und obendrein die Jugend zu verderben. Deshalb sei nichts Geringeres als die Todesstrafe zu verhängen.
Sokrates war damals der bekannteste Philosoph in Athen. Doch so groß sein Ruhm auch sein mochte, er verkörperte alles andere als das Ideal seiner Zeit. Sein ganzes Benehmen, sein Aussehen, sein Lebenswandel waren für viele seiner Mitbürger ein Affront. Auf offener Straße stellte er sich plötzlich unbekannten Leuten in den Weg und verwickelte sie in philosophische Gespräche – und die verliefen nicht immer angenehm. Wer an einem späten Vormittag auf der Agora, dem athenischen Marktplatz einkaufen wollte, dem konnte es passieren, dass er an seinen Erledigungen gehindert wurde, weil ein ungewaschener, nachlässig gekleideter kleiner Mann mit knolliger Nase, mächtigem Schädel und schütterem Haar an seine Seite trat, ihn mit wachen Augen unter hoher, vorgewölbter Stirn fixierte und ihm aus heiterem Himmel die Frage stellte, was Weisheit sei oder was man gut und was man gerecht nennen könne. Antwortete der Angesprochene dann, stellte ihm Sokrates rasch die nächste Frage. Diese zog die gegebene Antwort oft in Zweifel. Der Gefragte dachte nun womöglich noch länger nach, gab eine nächste Antwort, der sofort eine weitere bohrende, verunsichernde, auf die Schwäche der Argumentation zielende Frage des Sokrates folgte. Nach einiger Zeit dachten vermutlich die meisten, Sokrates wolle sie bloßstellen. Das war aber nicht sein Anliegen. Sokrates fragte, um Wissen zu erlangen. Er befragte auf diese Weise nicht nur andere, sondern auch sich selbst und zog damit immer wieder seine eigenen Gedanken und Schlussfolgerungen in Zweifel. Diese besondere Art des Gesprächs, in dem der Lehrer der Hinterfragende ist und den Schüler animiert, über die gestellten Fragen nachzudenken und das, was er eigentlich meint, zu sagen und damit zu echtem Wissen zu gelangen, kennt die Philosophie als sokratische Methode. Sie war Sokrates’ wichtigstes Instrument in seinem Bemühen um wahre Erkenntnis und das daraus abzuleitende richtige Handeln.
Die wahren Gründe für die Anklage des Sokrates werden wir wohl nie in Erfahrung bringen. Fest steht, dass Athen in jenen Tagen nach politisch turbulenten Jahren wieder zur Demokratie zurückfand. Wenige Jahre zuvor hatte die Stadt den verheerenden Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) gegen Sparta verloren. Der spartanische Feldherr Lysander setzte 30 Oligarchen ein, die brutaler wüteten als alle ihre Vorgänger in den Jahrhunderten davor und die als die »30 Tyrannen« in die Geschichte Athens eingingen. Sokrates, der nicht die schlechtesten Verbindungen zu dieser Herrscherclique hatte, ließ sich in jener Zeit nichts zuschulden kommen. Doch als die Demokraten die Tyrannen vertrieben hatten, empfand mancher, der nun bei der anbrechenden inneren Neuordnung Athens vor allem Sicherheit und klare Antworten suchte, gerade Sokrates mit seinem Nonkonformismus, seinem Infragestellen jeder vermeintlichen Gewissheit, als Bedrohung der erhofften Ruhe. Die archaische Seite Athens erstarkte wieder. Anders als in den meisten anderen griechischen Siedlungen des Mittelmeerraums, hatten sich die Menschen Athens trotz der Vorreiterrolle der Stadt in der Dichtkunst, der Bildhauerei und der Architektur nie von den alten staatlichen Götterkulten gelöst. Nun zeigte sich, dass in Athen das neue rationale Denken in der Philosophie trotz Sokrates noch längst nicht verankert war. Sokrates, bekannt, geachtet, bewundert, stand als Störenfried da.
Der Prozess des Sokrates wurde ein großes Ereignis. Im Frühjahr 399 kam der Fall wie seinerzeit in Athen üblich vor einer Jury von 500 Bürgern zur Verhandlung. Sokrates verteidigte sich selbst. Den Gedanken »Ich weiß, dass ich nichts weiß« stellte er ins Zentrum seiner Selbstverteidigung.
Während des Prozesses hielt Sokrates drei Reden, die sein Schüler Platon später in seiner Schrift Apologie des Sokrates festhielt. In der ersten, seiner eigentlichen Verteidigungsrede, wies Sokrates alle Anklagepunkte zurück. Er kam auf das Argument seiner Ankläger zu sprechen, dass einer, der die Dinge erforsche wie er, die Existenz der Götter leugnen müsse. Seine Weisheit, so sagten seine Anhänger, sei ein Beweis dafür. Sokrates erörterte daraufhin, wie er in den Ruf der Weisheit gelangt sei. Er berichtete, wie sein Freund Chairephon in Delphi das Orakel gebeten habe, ihm den Weisesten Athens zu nennen. Das Orakel habe geantwortet: »Weise ist Sophokles, weiser ist Euripides, aber von allen der Weiseste ist Sokrates.«
Als Sokrates davon erfuhr, beschloss er, den Orakelspruch zu widerlegen. Er befragte Politiker, Dichter und Handwerker. Dabei bemerkte er, dass sie sich alle für weiser hielten, als sie tatsächlich waren. Und das nur, weil sie ihr jeweiliges Metier gut beherrschten. Aus dieser Beobachtung folgerte Sokrates, dass er tatsächlich wohl der Weiseste von ihnen sei. Denn er selbst glaube nicht, weise zu sein. »Ich weiß, dass ich nichts weiß« war sein berühmtes Fazit.
Nach der Übersetzung von Manfred Fuhrmann legte Platon Sokrates diese Worte in den Mund, als der von seinem Gespräch mit einem Politiker berichtete: »… er aber (der Politiker) bildet sich ein etwas zu wissen, obwohl er nichts weiß, während ich, der ich nichts weiß, mir auch nichts zu wissen einbilde.« Auch wenn Sokrates also den griffigeren Satz »Ich weiß, dass ich nichts weiß« so vermutlich nie sagte, schimmert auch in dessen »Langfassung« die berühmte sokratische Ironie durch. Denn natürlich wusste Sokrates etwas und würde man aus dem Satz die Ironie herausnehmen, müsste er etwa heißen: »Ich vermute etwas zu wissen, weiß aber, dass ich nicht genug weiß.«
Wie ging der Prozess weiter? Nach Sokrates’ Verteidigungsrede wurde abgestimmt. Schuldig oder nicht schuldig? 280 stimmten für schuldig, 220 waren für einen Freispruch. Nun, so wollte es das damalige Verfahren, sollte jede Seite, Anklage wie auch Verteidigung, eine Strafe vorschlagen, über die dann erneut abgestimmt wurde. Die Anklage plädierte abermals für die Todesstrafe. Was würde Sokrates anbieten? Falls er vorhatte, sein Leben zu retten, beging er nun den entscheidenden Fehler. Laut Platon schlug er in seiner zweiten Rede vor, ihm als öffentlichem Wohltäter in der Stadthalle lebenslang freie Kost zu gewähren. Das sollte eine Strafe sein? Es war eine Düpierung des Gerichts. Schließlich bot Sokrates mehr oder minder halbherzig eine Geldstrafe an. Doch der provozierende erste Vorschlag hatte den Schaden bereits angerichtet. Nicht jeder teilte den Humor des alten Philosophen. Nun stimmten, so berichtet es Diogenes Laertius, die 500 Jurymitglieder in einem Verhältnis von 360 zu 140 für die Todesstrafe – also viel mehr, als ihn zuvor für schuldig befunden hatten.
Daraufhin hielt Sokrates seine dritte, abschließende Rede. Platon berichtet, Sokrates habe sich zuerst an die gewandt, die ihn verurteilt hatten, und erklärt, dass sie sich mit seiner Verurteilung keineswegs den lästigen Fragen entziehen könnten, die bisher nur er gestellt hatte. Denn ihm würden andere nachfolgen, die noch unbequemer seien als er. An die Adresse seiner Freunde sagte er, dass er den Tod nicht fürchte. Sofern er ein traumloser Schlaf sei, sei er ein Gewinn. Sei der Tod aber, wie manche sagen, ein Leben in einer Welt, in der man den Menschen vergangener Zeiten begegne, dann freue er sich darauf, Homer, Hesiod oder Minos zu treffen und mit ihnen zu reden.
Eigentlich war es üblich, ein Todesurteil sofort zu vollstrecken. Da jedoch die Verurteilung Sokrates’ in die Zeit der Gesandtschaft zur heiligen Insel Delos fiel und niemand hingerichtet werden durfte, so lange das Schiff nicht zurück gekehrt war, schob man die Hinrichtung auf. Sokrates saß noch einen Monat im Gefängnis, wo ihn seine Freunde häufig besuchten. Im Dialog Kriton deutet Platon an, dass Sokrates die Möglichkeit zur Flucht gehabt habe, doch diese ungenutzt verstreichen ließ. Sokrates begründete sein Verhalten damit, dass er ein guter Bürger sein und nicht gegen das gesprochene Recht verstoßen wolle, auch wenn es sich gegen ihn selbst richte. Schließlich trank er aus dem Schierlingsbecher, und wenn es so gekommen ist, wie er es sich gewünscht hat, dann löchert er noch heute in einer anderen Welt nicht nur Minos und Homer mit seinen Fragen.
Sokrates’ Gedankengang des »Ich weiß, dass ich nichts weiß« wurde essenziell für die Philosophie. Denn jede Suche nach Erkenntnis beginnt mit dem Eingeständnis, etwas nicht zu wissen. Sokrates wollte Nichtwissen und Scheinwissen aufdecken und den einzelnen Mensch durch vernünftige Einsicht – die Sokrates mit Tugend gleichsetzte – zu richtigem Handeln führen. Im Alltag fällt die Äußerung »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, wenn jemand vor voreiligen Schlussfolgerungen warnen und zum nochmaligen Nachdenken anregen oder mit einer gewissen Ironie sein Nichtwissen dokumentieren will. Beide Arten seiner Anwendung hätten Sokrates vermutlich Spaß gemacht.
Im Juli des Jahres 387 v. Chr. versammelten sich etwa 30 000 gallische Krieger weniger als 15 Kilometer vor Rom an einem kleinen Nebenfluss des Tiber namens Allia. Ihnen hatte sich ein 40 000 Mann starkes römisches Heer entgegengestellt. Der Anblick der groß gewachsenen gallischen Krieger mit ihren langen, hellen Haaren, gekleidet in Felle und bunte Stoffe, war für die meisten römischen Soldaten nicht nur ungewohnt, sondern einschüchternd.
Seit Jahren waren die Barbaren, wie die Römer sie nannten, über die Poebene immer weiter nach Italien vorgedrungen. Rom war noch weit von seiner späteren Macht entfernt. Doch der Ehrgeiz der römischen Bürger war bereits groß. Sie strebten danach, die Region zu beherrschen. Irgendwann musste das Heer der Stadt Rom den Barbaren entgegentreten.
Als die Waffen der Heere klirrend aufeinandertrafen, zeigte sich schnell, dass den Römern ein Feldherr fehlte, der ihre Reihen zusammenhielt. Den ruhmreichen Camillus hatten sie gerade verbannt, da er auf die Alleinherrschaft in der Stadt aus gewesen war. Das römische Heer wandte sich bald zur Flucht, löste sich auf und die Schlacht an der Allia geriet zu einem der größten Desaster der römischen Geschichte. Schnell drang die Kunde der verheerenden Niederlage nach Rom und es hieß, die siegreichen Gallier seien auf dem Weg in die Stadt. Männer, Frauen und Kinder flohen.
Doch etwa tausend römischen Soldaten unter Führung des Marcus Manlius gelang es, rechtzeitig nach Rom zurückzukehren. Sie verschanzten sich mit einigen Bürgern auf dem Kapitol, dem von einem dicken Mauergürtel umgebenen Burgberg. Die Festung beherbergte nicht nur Tempel, vornehme Wohnhäuser und zahlreiche Amtsgebäude, dort lagerten auch die Schätze der Stadt.
Als die Gallier Rom erreichten, standen die Tore offen. Die Mauern waren unbewacht. Einen Hinterhalt fürchtend betraten sie zögerlich die leeren Straßen. Auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Forum Romanum, bot sich den Eindringlingen ein merkwürdiges Bild. Still, wie lebende Säulen, standen dort in ihren Gewändern die alten Senatoren. Unbewaffnet erwarteten sie den Feind und den Tod. Die Gallier erschlugen sie ohne Ausnahme. Dann zogen sie plündernd und brandschatzend durch die Stadt. Es war ihr letzter Triumph. Nun begann sich über sie der Fluch jenes Siegers zu senken, der es nicht vermocht hatte, vollkommen zu siegen. Denn es gelang ihnen nicht, das Kapitol zu erstürmen, das sich auf drei Seiten über unzugänglichen Fels erhob. Die letzten Verteidiger Roms waren nicht zur Aufgabe zu zwingen.
Die Gallier nahmen die Belagerung auf. Sie dauerte Tage, Wochen, schließlich Monate. Bitter büßten sie nun für die Zerstörung der Stadt. Die Krieger hatten keine ausreichende Verpflegung und darbten wie die Belagerten. Schließlich brach der Winter ein. In den Ruinen der Stadt fanden die Gallier keinen Schutz vor Sturm und Regen. Krankheiten brachen aus.
Auch bei den Belagerten auf dem Kapitol neigten sich die Vorräte in den Speichern dem Ende zu. In der Not beschloss man, mit dem verbannten Camillus Kontakt aufzunehmen. Sollte er die Gallier vertreiben, wollte man ihm die Alleinherrschaft über die Stadt anbieten, ihm also das gewähren, was zuvor noch Grund für seine Verbannung gewesen war. Im Schutz der Nacht sandte man einen Boten aus. Über geheime Wege kletterte er ins Tal.
Der Bote kam durch, doch die Gallier entdeckten seine Fußspuren und so den geheimen Pfad hinauf auf das Kapitol. In der folgenden Nacht, die Belagerten warteten noch auf Antwort von Camillus, machte sich ein gallisches Kommando auf den Weg und schlich hinauf zur Burgmauer. Unbemerkt erreichten sie den Durchschlupf, den der Bote tags zuvor genommen hatte. Kein Wachposten war zu sehen. Die Gallier waren fast am Ziel, sie setzten bereits an, in die Festung zu schleichen und die Belagerten im Schlaf zu überraschen, da durchbrach plötzlich Lärm die Stille. Seltsame weiße Wesen erschienen zwischen den Mauern und liefen schreiend umher. Nach dem Schreck kam das Erkennen. Es waren die Gänse, die ein Bürger der Stadt gestiftet hatte und die im Tempel zu Ehren der Göttin Juno gehalten wurden. Sie hatten die Gefahr gewittert. Die schlafenden Mauerwächter wachten von dem lauten Schnattern ebenso auf wie der Kommandant Marcus Manlius. Der stieß laut Legende den vordersten gallischen Angreifer von der Burgmauer, der mehrere seiner Kampfgenossen mit sich in die Tiefe riss.
Die Gänse auf dem Kapitol hatten Rom fürs Erste gerettet. Erneut begann eine Zeit des Wartens. Von Camillus war nichts zu erfahren und bei den Eingeschlossenen schwand die Hoffnung auf seine Hilfe. Da griffen sie zu einer List. Sie warfen die letzten Brote, die ihnen geblieben waren, über die Burgmauer auf die Belagerer. Der Bluff gelang. Die Gallier glaubten, die Belagerten lebten noch immer im Überfluss.
Brennus, der Führer der Gallier und Häuptling des Stammes der Senonen, erklärte sich nun bereit, über einen Abzug zu verhandeln. So berichtet es der römische Geschichtsschreiber Livius. Ob dieser Brennus tatsächlich gelebt hat, ist historisch nicht gesichert. Laut Livius einigte man sich nach einigem Hin und Her auf einen Abzug der Gallier. Bedingung war allerdings, dass die Römer tausend Pfund in Gold als Lösegeld zahlten. Das war eine stattliche Summe. Die Eingeschlossenen trugen sie, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, zusammen. Für Brennus war es dennoch eine Niederlage. Wie viele Schätze hatte er sich vor Monaten erwartet, als er wie der vollkommene Sieger aussah? Wie viel hatte er seitdem ertragen müssen? Wie viele Männer hatte er seitdem verloren, ohne etwas zu gewinnen?