Alexandra Ivy
GUARDIANS OF ETERNITY
Erwählte der Schatten
Kurzroman
Aus dem Amerikanischen von Kim Kerry
Erwählte der Schatten
Ein Kurzroman aus der Welt der Guardians of Eternity
Fast zwei Jahrhunderte lang wurde die schöne Kata von einem Magier gefangen gehalten. Doch nun ist es ausgerechnet ein verfeindeter Vampir, Uriel, der ihr bei ihrer wichtigsten Aufgabe beisteht. Denn um sich aus ihrem Gefängnis zu befreien, muss sie ihre Zwillingsschwester Marika besiegen. Warum hilft ihr Uriel? Je näher die beiden ihrem Ziel kommen, desto schwieriger wird es für Kata, sich Uriels Anziehungskraft zu erwehren und ihre Gefühle zu kontrollieren …
»Alexandra Ivy ist ein Geschenk für die Leserinnen
von Vampirromanen.« Romantic Times
Die Autorin
Unter dem Pseudonym Alexandra Ivy veröffentlicht die bekannte Regency-Liebesroman-Autorin Deborah Raleigh ihre Vampir-Romane. Mit ihrer international erfolgreichen Mystery-Serie Guardians of Eternity ist sie regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste vertreten. Alexandra Ivy lebt mit ihrer Familie in Missouri.
www.alexandraivy.com
Die Originalausgabe erschien 2011 in der Anthologie Supernatural
unter dem Titel Darkness Eternal bei Kensington Books, Kensington Publishing Corp., New York
Copyright © 2011 by Debbie Raleigh
Published by arrangement with Kensington Publishing Corp., New York, NY, USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Vera Serafin
Artwork | t.mutzenbach design, München unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock
Satz und Produktion E-Book | Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
978-3-641-13131-9
www.diana-verlag.de
KAPITEL 1
London, England
Uriel hatte ganz spezielle Pläne für den bevorstehenden Abend.
Zuallererst wollte er sein Abendessen im Bett mit einer köstlichen goldhaarigen Elfe zu sich nehmen, die nach Champagner schmeckte und sich des Besitzes von Fähigkeiten rühmen konnte, die imstande waren, einen Vampir wie einen verdammten Werwolf zum Heulen zu bringen. Auch ohne dass Vollmond herrschte.
Das Nächste, was auf der Tagesordnung stand, war eine Sparringsrunde mit der eben erst in London eingetroffenen Findlingsgruppe. Vor einigen Jahren hatte Victor, der Clanchef Großbritanniens, ein Gesetz erlassen, demzufolge alle kürzlich erschaffenen Vampire zumindest das erste Jahrzehnt ihres Lebens in seinem Versteck ausgebildet werden mussten. Und da Uriel stellvertretender Kommandeur und darüber hinaus Victors bester Krieger war, bedeutete dies, dass es seine Pflicht war, ihre Kampfstunden zu beaufsichtigen.
Und wenn bis zum Tagesanbruch noch etwas Zeit übrig blieb, hatte er die Absicht, sich mit den kürzlich von ihrer Jagd in Nordengland zurückgekehrten Soldaten zu treffen.
Seit sich die Gerüchte über die Rückkehr der Sylvermyst in der Dämonenwelt verbreitet hatten, sandte Victor in jeder Nacht Patrouillen aus, um nach den bösen Verwandten des Feenvolkes zu suchen. Es verärgerte Uriel ungemein, dass es ihm nicht gestattet war, an der Verfolgungsjagd teilzunehmen.
Bedauerlicherweise hatte er seinen Platz auf dem Schlachtfeld aufgegeben, als er Victors rechte Hand geworden war. Nun war er gezwungen, Strategien zu entwerfen, Kundschafterwechsel auszuarbeiten und Nachforschungen zur Geschichte der Sylvermyst in der riesigen Bibliothek unter Victors Versteck am Stadtrand von London anzustellen.
Außerdem musste er für seinen Clanchef jederzeit auf Abruf bereitstehen.
Und genau aus diesem Grund durchquerte er das riesige Gängelabyrinth, bekleidet mit einer ausgebleichten Jeanshose und einem Sweatshirt, statt nackt mit einer schönen Elfe in seinem Bett zu liegen, die schlimme, schlimme Dinge mit seinem begierigen Körper anstellte.
Uriel erklomm die marmorne Treppe und schlenderte durch den mit einem karmesinroten Teppich ausgelegten Korridor, indem er die prächtigen griechischen Statuen und Gemälde, die die Wände säumten, sowie das Übermaß an Gold, das die Bogenfenster umrahmte, ignorierte.
Er verstand Victors Bedürfnis nach stolzer Zurschaustellung von Reichtum und Macht, aber, zum Teufel, ein Mann konnte von solch einem Übermaß an Flitter einen Hirnkrampf bekommen.
Insbesondere diese idiotischen Fresken, welche die Decke schmückten, wirkten eher protzig als prunkvoll.
Uriel schnitt eine Grimasse. Die Gemälde, die Engel mit Flammenschwertern zeigten, welche eine Menschenschar gegen eine Horde Dämonen verteidigten, mochten ja irgendwelche kostbaren Kunstwerke sein, aber für Uriel bedeuteten sie eine endlose Quelle des Ärgers.
Er war ein brutaler Killer und all denjenigen ein unbarmherziger Feind, die seinen Clan bedrohten. Aber trotz seines gefährlichen Rufes war er mit fein geschnittenen Gesichtszügen und einem Heiligenschein aus Locken gestraft, die perfekt zu seinen hellbraunen Augen passten.
So wunderschön wie ein gefallener Engel …
Diese Worte hatte er in den vergangenen vier Jahrhunderten unzählige Male gehört.
Manchmal als Seufzer auf den Lippen einer Frau. Und manchmal als Spott seiner Brüder.
Und immer weckten sie in ihm den Wunsch, irgendetwas zu schlagen.
Und zwar sehr, sehr hart.
Uriel betrat die riesige Bibliothek, blieb in der Mitte des überaus extravaganten Teppichs stehen und beobachtete, wie Victor sich hinter seinem schweren Schreibtisch aus Walnussholz erhob und durch den Raum auf ein dazu passendes Sideboard zuging.
Er war nicht der ungeschlachte Rohling, mit dem die meisten Leute bei einem Clanchef gerechnet hätten. Eigentlich wirkte der mit einem Seidenhemd und einer schwarzen Hose bekleidete Victor, dessen Gesichtszüge edel und dessen glänzenden schwarze Haare zu einem ordentlichen Zopf zusammengenommen waren, vom Scheitel bis zur Sohle wie ein englischer Aristokrat. Aber bei näherer Betrachtung kamen die harten Muskeln unter der Designerkleidung und das tödliche Funkeln zum Vorschein, das in den hellsilbernen Augen mit dem schwarzen Rand verborgen war.
Victor war ein Raubtier.
Schlicht und einfach.
»Uriel, geselle dich zu mir«, befahl der uralte Vampir und wandte sich von dem Sideboard ab, um ihm ein kleines Glas mit bernsteinfarbenem Alkohol in die Hand zu drücken. »Salud.«
Der abgelagerte Cognac glitt Uriel so weich wie Honig die Kehle hinunter. Flüssiges Feuer.
»Martell«, flüsterte Uriel, indem er eine Augenbraue hob. Er hatte das teure alkoholische Getränk mühelos erkannt. »Ich fürchte mich zu fragen.«
Victor lehnte sich gegen das Sideboard, die Arme vor der Brust verschränkt. »Wie bitte?«
»Du schenkst den guten Stoff nie ohne eine Absicht aus. Normalerweise eine Absicht, die nach Blut, Tod oder Verstümmelung verlangt.«
»Ist das etwa die angemessene Art, mit seinem geliebten Clanchef zu sprechen?«
Uriel stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Wir können uns darauf verständigen, dass du mein Clanchef bist.«
Victor nippte an seinem Cognac, und ein düsterer Ausdruck legte sich auf sein schmales Gesicht.
»Wir haben interessante Zeiten hinter uns, nicht wahr, alter Freund?«
Uriels vages Unbehagen verwandelte sich in ausgesprochene Besorgnis. Trotz seines hohen Alters neigte Victor nicht zu gefühlsduseligen Grübeleien.
Also, was zum Teufel ging hier vor?
»Einige waren interessanter als andere«, gab er langsam zu und stellte das Glas aus Waterford-Crystal-Kristallglas beiseite.
Er befürchtete, dass er lieber nichts so Zerbrechliches in den Händen halten wollte, wenn Victor bei diesem kleinen Gespräch unter vier Augen endlich zum entscheidenden Punkt kam.
Victor nickte. »Das ist wahr.«
»Was hast du auf dem Herzen, Victor?«
»Ich spüre, dass bedeutsame Zeiten auf uns zukommen.«
Uriel hätte vielleicht gelacht, wenn ihn nicht das gleiche verdammte Gefühl beschlichen hätte.
Es hatte klein angefangen.
Die wachsende Unruhe in der Dämonenwelt. Die Anhäufung von Opfern in letzter Zeit, welche von den Anhängerinnen und Anhängern des Fürsten der Finsternis gebracht wurden, um ihn aus seinem Exil in diese Welt zurückzuholen. Die Gerüchte darüber, dass die Werwölfe ihre uralten Kräfte zurückgewonnen hätten, und die Entdeckung eines neuen Orakels, das der Kommission, dem mächtigen Rat, der über die Dämonenwelt herrschte, angehören würde.
Aber noch beunruhigender als all diese Dinge zusammen waren die abstoßenden Wesen, die in einer beängstigend großen Menge aus den Schatten hervorgekrochen kamen.
Es waren Dämonen, von denen alle angenommen hatten, sie seien ausgestorben oder gemeinsam mit dem Fürsten der Finsternis verbannt worden.
Einschließlich der Sylvermyst.
»Ist das die höfliche Art, auszudrücken, dass die Dinge im Begriff sind, den Bach hinunterzugehen?«, wollte Uriel von seinem Clanchef wissen.
Victor grimassierte. »Du sagst es.«
»Was kann ich tun, um die bevorstehende Apokalypse abzuwenden?«
»Vorerst benötige ich dich, um die verschwundene Roma aufzuspüren.«
Uriel stieß einen heftigen Fluch aus.
Er hätte eigentlich damit rechnen sollen. Trotz seiner intensiven Proteste hatte Victor vier Nächte zuvor ihren Mitvampir Tane eingeladen, in seinem Versteck zu übernachten, zusammen mit seiner Begleiterin, einem Dschinnmischling namens Laylah. Während ihres kurzen Aufenthaltes hatten sie herausgefunden, dass sie eine menschliche Mutter hatte, die von einer Vampirin und ihrem Schoßzauberer gefangen gehalten wurde.
Dies war Uriel eigentlich herzlich gleichgültig, doch Tane war es gelungen, Victor davon zu überzeugen, dass seine schöne Dschinn auf irgendeine Weise von Bedeutung für die Zukunft der Welt sei und dass ihre in Gefangenschaft befindliche Mutter beschützt werden müsse.
»Die Frau aus der Vision, die der Zauberer heraufbeschworen hat?«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, obgleich er wusste, dass dies eine dumme Frage war.
Um welche andere Roma sollte es sich schon handeln?
Victors Lippen zuckten, als stimme er ihm zu, dass diese Frage überflüssig war.
»Wenn es der Wahrheit entspricht, dass sie Laylahs Mutter ist, dann müssen wir sie vor Marika und ihrem abscheulichen Zauberer retten«, erklärte er, wobei sein Tonfall offenbarte, dass er nicht zu Verhandlungen bereit war. »Tane befürchtet, dass sie die Frau benutzen werden, Laylah dazu zu zwingen, ihnen das Kind zu übergeben.«
Uriel schnaubte. Das Einzige, was er über den mysteriösen Säugling wusste, den Laylah verbarg, war, dass dieser auf irgendeine Art mit der Rückkehr des Fürsten der Finsternis verknüpft war und dass die Vampirin Marika ihn unbedingt in ihre gierigen Klauen bekommen wollte.
»Du weißt ebenso gut wie ich, dass die ganze Angelegenheit nach einer Falle stinkt«, knurrte er.
Victor zuckte mit den Schultern. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«
»Weshalb begibt sich die Dschinn nicht selbst auf die Suche nach der Frau?«, wollte Uriel wissen. »Es soll sich bei ihr doch schließlich um ihre Mutter handeln, nicht um meine.«
»Sie ist ein Dschinnmischling«, korrigierte Victor ihn unnötigerweise und kniff die Augen zusammen angesichts Uriels seltsamen Verhaltens. Das war nur zu leicht verständlich. Uriel war noch niemals ein Jasager gewesen. Victor brachte keine Geduld für Speichellecker auf. Aber normalerweise fing er wegen einer dermaßen kleinen Bitte keinen Streit an. Das Problem war nur, dass Uriel ihm den Grund für sein Widerstreben, in die Angelegenheit verwickelt zu werden, nicht mitteilen wollte. »Tane und Laylah müssen nach Chicago zurückkehren und das Baby beschützen.« Es folgte eine Kunstpause. »Abgesehen davon habe ich ihnen deine Dienste angeboten, was mein Recht als dein Clanchef ist.«
»Da gibt es andere, die geeigneter sind, die Rolle des Ritters in glänzender Rüstung zu spielen.«
Victor regte sich nicht im Geringsten. Das war auch überhaupt nicht notwendig. Seine Macht wirbelte durch die Luft und traf Uriel mit solch einer Wucht, dass dieser vor Schmerz aufstöhnte.
»Zweifelst du meine Fähigkeit an, Entscheidungen zu treffen, Uriel?«, fragte er mit ungemein sanfter Stimme.
Uriel verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich bin nicht selbstmörderisch veranlagt.«
»Ich beginne mich allmählich zu fragen, ob das nicht vielleicht doch der Fall ist.«
»Ich weiß nur nicht, weshalb du mich für diese unangenehme Aufgabe ausgewählt hast.«
»Seit wann ist die Suche nach einer außerordentlich schönen Frau eine unangenehme Aufgabe?«
»Seit sie …« Uriel verkniff sich seine aufschlussreichen Worte.
Aber es war zu spät.
»Was?«, verlangte Victor zu wissen.
»Nichts.«
Victor stieß sich von dem Sideboard ab und baute sich direkt vor Uriel auf.
»Uriel, liegt es daran, dass sie anscheinend die Mutter eines Dschinnmischlings ist?«
Uriel ballte seine Hände zu Fäusten. Hatte Victor sich in einen Gedankenleser verwandelt?
Verdammt.
»Rein logisch begreife ich, dass sie höchstwahrscheinlich ein Opfer war«, antwortete er steif. »Ein Dschinn würde nicht zögern, eine hilflose Frau zu vergewaltigen und zu schwängern.« Unwillkürlich hob er die Hand, um sich die Narbe zu reiben, die sich direkt über seinem nicht schlagenden Herzen befand. »Diese Mistkerle.«
»Aber?«, drängte Victor.
Mit einer unruhigen Bewegung drehte Uriel auf dem Absatz um und schritt auf das Fenster zu, von dem aus man die makellose Parklandschaft überblicken konnte. Er war mühelos imstande, das Dutzend Vampire wahrzunehmen, das seine Runden über das Gelände drehte, ebenso wie die ungeheure Menge an Tunneln, die unter dem Grundstück verliefen. Etwas näher gewahrte er Juliet, Victors Gefährtin, und in den Privatquartieren die Elfen, die mit Freuden für das Abendessen vieler Krieger sorgten – und für alles, was sonst womöglich noch gewünscht war.
Einschließlich der exquisiten Elfe, die eigentlich auf seiner Speisekarte stehen sollte.
»Ich würde aber lieber zu unserer Suche nach den Sylvermyst zurückkehren«, brachte er mühsam hervor.
Victor schwieg eine ganze Weile. Dann setzte er sich in Bewegung und trat zu Uriel. Sein Blick bohrte sich mit beinahe greifbarer Gewalt in dessen Profil.
»Ich habe dich noch niemals gedrängt, mir zu erzählen, was während deines Kampfes mit dem Dschinn geschah, selbst wenn ich schließlich begriff, dass du durch diese Begegnung – verändert worden warst«, sagte er, was eine höfliche Umschreibung für Uriels deutlichen Machtanstieg war. Ein Vampir erlangte seine vollständige Stärke innerhalb der ersten Jahrzehnte seiner Umwandlung. Es war ein beispielloses Vorkommnis, dass ein Vampir noch nach Jahrhunderten seines Lebens ein meisterliches Niveau erlangt hatte. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du es mir erzählst.«
»Und wenn ich es vorzöge, das nicht zu tun?«
»Ich werde dich nicht dazu zwingen.«
Uriel lockerte seine Kiefermuskeln und ergab sich dem Unvermeidlichen.
Von dem Moment an, in dem Tane mit seinem Dschinnmischling in London eingetroffen war, hatte er gewusst, dass die Wahrheit ans Licht käme.
Das Schicksal war eine zu große Nervensäge, um sich nicht einzumischen … Schon wieder.
»Das ist keine großartige Geschichte«, entgegnete Uriel. Es widerstrebte ihm, mit dem Erzählen zu beginnen. Nicht nur, weil er sein Bestes getan hatte, um die schmerzlichen Erinnerungen zu verdrängen, sondern auch, weil Victor über das, was er zu erzählen hatte, nicht erfreut sein würde.
Seine Lippen zuckten.
Verdammt, das war die Untertreibung des Jahres.
»Dann sollte sie ja nicht allzu schwierig zu erzählen sein«, betonte Victor. »Du kannst an der Stelle beginnen zu erzählen, als wir uns zu den Hafenanlagen begaben, um gegen den Dschinn zu kämpfen.«
Uriel starrte weiterhin aus dem Fenster und betrachtete forschend die vom Mond beleuchteten Gartenanlagen, aber in Gedanken kehrte er zu einem Zeitpunkt vor zweihundert Jahren zurück, als Victor seinen Clan, zusammen mit seiner störrischen Gefährtin, in die Tunnel unter die Londoner Hafenanlagen geführt hatte, entschlossen, den reinblütigen Dschinn zu vertreiben, der dort seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte.
Er hatte nicht gewusst, was sie dort erwarten würde. Niemand hatte das gewusst. Die Orakel hatten Dschinnen untersagt, sich in dieser Dimension niederzulassen. Sie waren zu mächtig, zu gewalttätig und zu talentiert darin, andere Dämonen zu umgarnen, sodass sie sich in ihre geistlosen Sklavinnen und Sklaven verwandelten. Ganz zu schweigen davon, dass sie unmoralische Mistkerle waren.
Uriel jedoch war dummerweise davon überzeugt gewesen, dass ein ganzer Vampirclan mit vereinten Anstrengungen imstande sein würde, den verbotenen Dämon dazu zu bringen, an einen weniger gefährlichen Ort weiterzuziehen.
»Nachdem wir uns in den Tunneln aufgeteilt hatten, steuerten Johan und ich auf die Themse zu, in der Hoffnung, die Bestie in die Enge zu treiben«, sagte er mit kalter Stimme.
»Eine solide Strategie.«
»Wir waren noch nicht weit gekommen, als wir eine Höhle betraten.« Uriel konnte sich noch immer an den klammen, moderigen Gestank der kahlen Höhle erinnern, der von dem unerwarteten Geruch eines sich nähernden Gewitters überflutet worden war. »Johan bog nach links ab, während ich nach rechts abbog. Ich spürte, dass sich irgendetwas in meiner Nähe befand, aber es war …« Er zuckte die Achseln und wandte den Kopf, um Victors forschenden Blick zu erwidern. »Schwer bestimmbar. Wie bei einer schlechten Telefonverbindung, die immer wieder unterbrochen wird.«
Victor nickte mit grimmiger Miene. Uriel wusste, dass die Erinnerungen des älteren Vampirs an den Kampf mit dem Dschinn nicht gerade sonderlich angenehm waren, obgleich es seinem Kameraden schließlich gelungen war, den Bastard zu töten.
»Ein reinblütiger Dschinn ist nicht von dieser Welt. Aus diesem Grund sind Dschinnen auch so schwer zu jagen und noch schwieriger zu töten.«
»Das fand auch Johan heraus«, stimmte Uriel ihm trocken zu. »Erst stand er in der Nähe des Höhleneinganges, im nächsten Augenblick wurde er von einem Blitz durchbohrt.« Uriel erschauderte. Johan war zwei Jahrhunderte lang sein Bruder gewesen. Er hätte ein besseres Ende verdient. »Völlig ohne Vorwarnung. Er hatte keine Chance.«
Victor legte Uriel eine Hand auf die Schulter. »Johan war ein Krieger. Er verstand, welche Gefahren seine Position mit sich brachte, ebenso wie du. Du trägst nicht die Schuld an seinem Tod.«
»Du glaubst, ich gäbe mir selbst die Schuld?«
»Ist das etwa nicht der Fall?«
Uriel schüttelte heftig den Kopf. »Nein.«
Victor war nicht überzeugt. »Uriel …«
»Ich gebe mir nicht die Schuld an seinem Tod«, versicherte Uriel seinem Gegenüber, nicht imstande, die Bitterkeit, die in seinen Worten zum Ausdruck kam, zu verbergen. »Ich verübele es dem Dschinn, dass er mich am Leben ließ.«