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Über dieses Buch:

Venedig im 18. Jahrhundert. Jan Stolnik führt ein rastloses Leben. Niemand ahnt, welches Geheimnis er hütet: Jan ist ein Drache, gefangen im Körper eines Menschen – dazu verdammt, ewig zu leben, ohne jemals seine Flügel entfalten zu können. Der Besuch der Lagunenstadt soll ihn für einige Zeit von seinem Schicksal ablenken. In den engen Gassen und prachtvollen Palazzi hört er immer wieder einen Namen: La Fiametta. Schon nach ihrer ersten Begegnung weiß Jan, dass die Sängerin mit der verführerischen Stimme und dem kapriziösen Wesen keine gewöhnliche Sterbliche ist. Er verliebt sich unsterblich in das schillernde Geschöpf – und erkennt rasch, dass Gefühle zum Fluch werden können …

Der erste Band einer Serie, die Jahrhunderte überspannt und an die schönsten Orte der Welt entführt: spannend, berührend, faszinierend.

Über die Autorin:

Angelika Monkberg, geboren 1955, lebt in Franken. Sie arbeitet im öffentlichen Dienst. Daneben schreibt sie Kurzgeschichten und Romane – wenn sie nicht zeichnet oder malt. In beiden Bereichen gilt ihr Interesse vor allem dem Phantastischen.

Angelika Monkberg im Internet: www.facebook.com/1AngelikaMonkberg

Die Serie DRACHE UND PHÖNIX umfasst die folgenden Einzelbände:

Erster Roman: Goldene Federn

Zweiter Roman: Goldene Kuppeln

Dritter Roman: Goldene Spuren

Vierter Roman: Goldene Asche

Fünfter Roman: Goldene Jagd

Sechster Roman: Goldene Lichter

Siebter Roman: Goldene Ewigkeit

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Originalausgabe Oktober 2013

Copyright © 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von fotojanis / shutterstock.de

ISBN 978-3-95520-392-4

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Angelika Monkberg

DRACHE UND PHÖNIX:

Goldene Federn

Roman

dotbooks.

Für den Mann, dem ich jeden Tag den Zopf flechte.

Kapitel 1

Vor Mestre auf dem Wasser; Dienstag, 18. Januar 1774; Tag von Sankt Prisca, Faustina und Liberata; später Nachmittag, Nebel

Die feuchte Kälte drang ihnen allen durch Mark und Bein. Jan war sicher, dass sein junger Herr fror, auch wenn der Prinz nach außen keine Regung zeigte. Anton Clemens von Sachsen stand in einen schweren Umhang gehüllt an der Reling der Schaluppe und starrte unverwandt hinaus, ohne im Nebel irgendetwas zu sehen außer Wasser. Wären nicht die leise gegen die Bordwand plätschernden Wellen gewesen sowie das regelmäßige Rauschen, wenn die Männer die Ruder durchzogen, selbst Jan hätte geglaubt, sie trieben im Nichts.

Die trübe Suppe verdross ihn. Das vorausfahrende Boot mit dem Gepäck und das Ziel ihrer Reise nahm er lediglich als Schemen wahr. Dennoch lag Venedig nun, nach mehr als sechs anstrengenden Wochen, endlich zum Greifen nahe. Jan roch die Stadt schon, Tausende von Holzfeuern brannten nicht weit voraus. Dazu trug der Nebel zarten Dunggeruch herüber, von Mensch und Tier, auch den Duft von Leder, Gewürzen und Kaffee.

Eine verführerische Melange, zweifellos, doch sie lenkte ihn leider nur ungenügend von dem Abgrund unter seinen Füßen ab. Die Lagune galt als flach, trotzdem befand er sich noch mehr als einen Klafter über festem Grund. Zu viel für seinen Geschmack, und das beunruhigend klare Wasser neben dem Boot verschlimmerte den Eindruck nur noch. Seine scharfen Augen entdeckten über dem Grund der Lagune eine kleine Schule Medusen, die an Steuerbord vorbeitrieben. Ihre zarten, halb durchsichtigen Schirme pulsierten. Er zählte ihren Takt mit, weil er alles zählte. Doch dann räusperte sich Prinz Anton Clemens von Sachsen und schwenkte seinen Hut. „Lieber? Hättest du wohl die Güte? Mir scheint, es hat sich eine Strähne aus meiner Frisur gelöst.”

„Sehr wohl, Euer Gnaden.”

Sie grinsten beide wie Verschwörer, als Jan sich anschickte, die reklamierte Strähne notdürftig wieder in den Zopf seines jungen Herrn einzuflechten. Die Anrede war nicht die gebührliche, auch nicht, dass Jan für Anton jetzt und hier die Pflichten eines Kammerdieners versah. Doch Bodenschatz fuhr mit dem Gepäck im ersten Boot, und dass Anton Clemens unter dem angenommenen Namen und Titel eines Grafen von Weesenstein reiste und fast ohne Gefolge, hatte seinen Grund. Das Inkognito erlaubte dem Prinzen unterwegs mehr Freiheit, zudem verringerte es den Aufwand. Eine Maßnahme der Ökonomie, die in Antons Fall, dem eines nachgeborenen Prinzen von Sachsen, dringender Erfordernis entsprach. Denn der Staat war ruiniert.

Dagegen hätte Jan aus seinen Landgütern, Erz- und Kohlegruben rund um Freital durchaus die Mittel aufbringen können, um mit einem großen Tross Bediensteter zu reisen, aber er legte für sich selbst keinen Wert auf Umstände, und nicht nur, um seinen Prinzen nicht zu beschämen. Er fand im Gegenteil, dass ihm die geringere Aufmerksamkeit der Welt für einen Kammerherrn und Reisemarschall mehr zusagte als die ihm eigentlich zustehende eines Grafen von Burgk und Herrn von Freital. Seine Gestalt machte ihn schon auffällig genug.

„Fertig, Euer Gnaden.” Er ließ die Hände sinken.

„Ich danke dir. Werden sie uns tatsächlich in Quarantäne stecken?” Der Prinz klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Truhe, auf der er zum Frisieren Platz genommen hatte. „Komm, setz dich doch zu mir!”

„Mit Erlaubnis, Euer Gnaden.” Jan ließ sich mit einer leichten Verneigung neben seinem jungen Herrn nieder.

Auch das war etwas, das die Etikette unter normalen Umständen niemals zugelassen hätte. Monsignore Wilfert, Prinz Antons Beichtvater, der ein Ave-Maria nach dem anderen für eine sichere Überfahrt murmelte, ließ seufzend den Rosenkranz sinken. Aber der gute Monsignore bedachte nicht, dass Jan durch seine Länge jedermann an Bord überragte. Jetzt, da er sich mit Erlaubnis des Prinzen endlich zusammenfalten durfte, wich die Anspannung der Ruderknechte.

Anton von Sachsen lächelte. „Also – werden sie uns in unsere Gemächer bannen, bis wir uns vor Langeweile die Haare ausraufen?”

„Aber Durchlaucht …”, begann der Monsignore.

„Monsignore Wilfert, wir sind hier nicht unter uns.”

Der Beichtvater des Prinzen errötete. „Bitte untertänigst um Verzeihung, Euer … Gnaden. Gestatten darauf hinzuweisen, dass die Einhaltung der Quarantäne seit Erlöschen der Pest nur noch der Form halber … Zudem, Eure Durch–, pardon, Euer Gnaden werden ohnehin im strengsten … Die Maskierung wird verhindern. Wenngleich …”

„… die Mutter Kirche den Karneval missbilligt. Seien Sie versichert, Wilfert, dass ich mich bemühen werde, mich nur der lässlichen Sünde der Täuschung hinzugeben. Alle Welt trägt in Venedig die Maske. Sie ist sogar nötig, sonst wäre unser Gastgeber heute Nacht gezwungen zu bemerken, dass ich mehr bin als der Graf von Weesenstein. Und wir wollen doch den Nobile Farsetti nicht in diese Verlegenheit bringen.” Prinz Anton zwinkerte Jan zu, den Schalk im Gesicht. „Stellt sich nur die Frage, mein Guter, inwieweit du deinen Buckel unter einem Mantel verbergen kannst. Willst du notfalls die Aufdeckung deiner Person für mich riskieren? Sonst”, das Lächeln des Prinzen wurde boshaft, „sonst weiß ich mir nur den Rat, dass mich doch Wilfert zu meinem unheiligen Tun begleitet.”

„Gott steh mir bei!” Der Monsignore bekreuzigte sich. Sein Aufschrei klang so verzweifelt, dass die Ruderknechte einen Schlag aussetzten.

Der Kapitän stand am Ruder auf. „Siers?”

„Nichts! Fahr Er weiter.” Der Prinz amüsierte sich königlich. „Nun, Monsignore Wilfert, wenn es Ihnen so zuwider ist, dürfen Sie gerne heute die Nacht in unserem Quartier im Gebet verbringen.”

„Durchlau–, Euer Gnaden! Verzeiht einem einfachen Priester. Selbstverständlich werde ich …”

„Nein, bemühen Sie sich nicht. Ich habe soeben beschlossen, doch Jan zu bitten, mir das Opfer zu bringen.”

Kapitel 2

Venedig; Dienstag,  18. Januar 1774; am Tag von Sankt Prisca, Faustina und Liberata; nach Einbruch der Dunkelheit – und schon wieder auf dem Wasser

Das einzig Ärgerliche, wirklich Ärgerliche an der Stadt war, dass man für so gut wie alle Wege ein Boot brauchte. Der Palazzo Balbi besaß zwar wie die meisten Häuser auf seiner Rückseite einen Ausgang, der auf eine Gasse hinausführte. Doch Jans Wege hatten ihn bei früheren Besuchen in Venedig seltsamerweise nie in den Sestiere Polo geführt, und er war etwas unsicher, wie es hinter dem Quartier weiterging, das er dieses Mal für sich und seinen Prinzen gewählt hatte. Er fragte den Majordomo.

„Genau genommen gehört der Palazzo Balbi noch zu Dorsoduro, Messer.” Der alte Mann, der Jans Domänennamen Burgk nicht aussprechen konnte, verbeugte sich. „Wenngleich unser Haus natürlich ganz an der Grenze steht. Wie Ihr vielleicht wisst, fließt an unserer Ostmauer der Rio de la Frescada, der den Sestiere Dorsoduro von Polo trennt. Wenn Ihr dies wünscht, könnt Ihr aber den Rialto von hier auch durch die Gassen erreichen. Es gilt nur den Rio San Tomá, dann den Rio di San Polo, den Madoneta und den di Meloni zu queren. In einer Sänfte vielleicht?”

Bei Jans Länge? Er schüttelte den Kopf.

„Sehr wohl, Messer.” Der Majordomo verneigte sich erneut. „Doch verzeiht, Messer, bei allem Respekt, es wäre Euch vielleicht doch angenehmer, den Traghetto am Rio San Tomá zu nehmen und Euch über den Canal Grande nach dem Sestiere Marco übersetzen zu lassen.”

Jan unterdrückte ein Seufzen. Natürlich, er hätte daran denken sollen. Nur Gesinde und einfache Reisende gingen in Venedig zu Fuß. Für den angeblichen Grafen von Weesenstein kam das keinesfalls in Frage. Es war undenkbar. Im Grunde durfte es sich nicht einmal Jan Stolnik von Burgk erlauben, der Reisemarschall und Freund des besagten Grafen. Und schon gar nicht, wenn er seinen inkognito reisenden Prinzen zu einem Fest begleitete.

Also verließen sie das Haus der Familie Balbi am ersten Knick des Canal Grande aufs höflichste vom Majordomo verabschiedet und den Sitten der Vornehmen gemäß: durch das Hauptportal und mit dem Boot.

Das Wasser stand wie immer im Winter hoch, doch es schwappte Gott sei Dank wenigstens nicht bis in die Häuser hinein. Sie mussten sogar noch die Unbequemlichkeit auf sich nehmen, aus dem Wassergeschoss des Palazzo zwei Stufen bis zum Bootsanleger der Familie Balbi hinabzugehen.

„Haltung, Jan, Contenance!”, mahnte Anton, derzeit Graf Weesenstein, lachend, als das Einsteigen trotz aller Bemühungen des Gondoliere, das Boot ruhig zu halten, nicht ohne Schaukeln vor sich gehen wollte. Aber auch Jan sah mit heimlichem Vergnügen, dass sein junger Herr verdächtig eilig unter dem Verdeck, der Falze, Platz nahm. Antons frisch rasiertes Kinn und sein Mund – das Einzige, das Maske und Hut von seinem Gesicht preisgaben – wirkten im Schein der Fackeln ziemlich blass.

„Ihr werdet doch nicht unwohl sein, Euer Gnaden?”

Jan bekam für diese Äußerung mit dem Taschentuch eins übergezogen. „Quark! Und wenn, dann nur wegen der unendlichen Konversation, die uns auf dem Ball bevorsteht. Und nun schweige still! Sonst bin ich schon vorher stockheiser.”

Der Prinz gab dem Gondoliere ein Zeichen, und sie legten ab. Jan hätte festen Boden unter den Füßen natürlich vorgezogen, doch das dunkle, kabbelige Wasser machte ihm nicht wirklich etwas aus. Außerdem ruderten die Gondoliere flott durch den regen Verkehr auf dem Canal Grande. Inkognito oder nicht, der Rat der Zehn von Venedig, der natürlich Antons wahre Identität kannte, hatte es sich nicht nehmen lassen, dem jungem Herrn für seine Fahrten in der Stadt Trompeter auf einem vorausfahrenden Boot zu bewilligen. Deren Fanfarenstöße zeigten allen anderen Wasserfahrzeugen an, dass dem Konvoi Prinz Antons von Sachsen die Bahn freizugeben sei. Was meist ohne viel Geschrei der Schiffer vonstattenging.

Jan betrachtete derweil die Fassaden rechts und links. Der Nebel hing zwischen den Häusern nicht ganz so dicht wie über dem freien Wasser der Lagune, außerdem erhellten überall Lichter die Nacht. Fackeln brannten im Bug der Boote, und vor den Stadtpalästen beider Ufer standen Kandelaber. Allerdings waren nur die vor den Häusern der Reichen mit echten Kerzen bestückt, bei den meisten Palazzi brannten Öllampen. Ihr Rauch überlagerte in der feuchtkalten Luft fast gänzlich den Geruch des Brackwassers, das sacht gegen die Marmormauern der Häuser schwappte.

Jans Magen knurrte leise. Der Majordomo hatte nach ihrer Ankunft im Palazzo Balbi einen leichten Willkommensimbiss kredenzt. Palmkohl und Knollenfenchel mit Olivenöl beträufelt, gebratene Sardinen und Würste, weißes Brot und einige Dörrfeigen. Das Abendessen selbst wurde, wie an allen Höfen Europas jetzt die Mode, erst nach dem Ball serviert, also vermutlich weit nach Mitternacht. Zumindest dem Prinzen. Jan hatte im Lauf vieler Reisen die betrübliche Erfahrung gemacht, dass durchaus nicht alle Gastgeber den Reisemarschall eines inkognito reisenden Prinzen an ihren Tisch luden. Er kannte längst keine Skrupel mehr, sich das Wohlwollen des Gesindes fremder Fürsten durch einige Zechinen aus seiner eigenen Schatulle zu sichern.

Darüber hinaus speiste er schon aus Vorsicht gerne in Küchen. Er hielt die Gefahr, dass man seinen jungen Herrn vergiften wollte, zwar für gering, aber es konnte dennoch nie schaden, wenn er dem Koch bei der Zubereitung der Gerichte für Prinz Antons Tafel auf die Finger sah.

Er verlagerte vorsichtig sein Gewicht. Die Sitzbank der Gondel besaß keine Lehne, doch sein Buckel erlaubte ihm ohnehin keine Stütze, wie er auch in einem Bett nie anders als auf der Seite lag. Aber er schlief ohnehin kaum je, außer nach großer Erschöpfung. Jan verbrachte die Nachtstunden in der Regel lesend und schreibend oder auch mit der Reparatur eines Uhrwerks. Prinz Anton liebte Automaten und Spieldosen, durch das häufige Aufziehen nutzten sich die Zahnräder aber leider schnell ab, und Ersatz war auf Reisen nur selten zu bekommen.

Jan war deshalb inzwischen dazu übergegangen, notfalls selbst die nötigen Teile zu schmieden und zu feilen. Darüber hinaus ging er zwischen Mitternacht und Morgen auch gerne einfach an die frische Luft. Er wanderte nachts oft durch stille Straßen. Man lernte eine Stadt auf diese Weise manchmal besser kennen als bei Tag.

„Betrachtest du den Besuch hier als Zeitverschwendung? Nachdem du schon so oft hier warst?”, fragte auf einmal der Prinz.

„Nein, Euer Gnaden.”

Jan genoss vielmehr wie bei jedem seiner Besuche die Eindrücke des nächtlichen Venedig. Zum Beispiel war es trotz des geschäftigen Treibens auf dem Canal Grande viel stiller als in den Städten auf dem Festland. Natürlich gab es auch hier in den Gassen Verkehr, doch Venedig war die Hauptstadt der Lastenträger. Wo andernorts zu jeder Tages- und Nachtzeit Karren rumpelten, Hufgetrappel ertönte und Esel schrien, plätscherten hier nur sacht die Wellen.

Außerdem sang alle Welt.

Jan liebte Musik beinahe so sehr wie sein junger Herr, und die Gondolieri der kleinen Flotte des Prinzen hatten eine Barcarole angestimmt. Nicht alle Männer trafen den Ton genau, aber ihr Lied klang im Ganzen doch harmonisch. Dazu wehten von einem Palazzo Takte eines Violinkonzerts in die Nacht, und horch: Irgendwo sang hoch und süß eine Nachtigall.

Jan drehte den Kopf. Es erstaunte ihn, dass der Vogel schon jetzt von seiner Reise nach Afrika zurückgekehrt war. Kristallklare Töne schwebten vom Palazzo Tiepolo her über den Canal und webten einen ganz eigenen Zauber in die kalte Nacht. Es war auf einmal nicht mehr Januar. Jan fühlte sich wie weit im Süden, auf einer Insel der Seligen, wo die Luft warm war und der Sommer unendlich. Er atmete tief ein, sein ganzer Rücken kribbelte, und er spürte einen seltsamen Drang, seine Schultern zu recken. Alles hinter sich zu lassen, sich hoch in die Lüfte zu erheben, furchtlos.

Aber seine Flügel trugen ihn nicht, und die Sängerin – unmöglich ein Vogel, vielmehr eine Primadonna Assoluta der Venezianischen Oper – beendete ihr Lied schließlich doch, mit einer von Trillern und Prallern durchsetzten, betörend kunstvollen Koloratur. Nur für Jan, der viel bessere Ohren als alle Menschen seiner Umgebung besaß, folgte leise eine allerletzte, noch süßere. Sie stieg in schier unglaubliche Höhen, weit über das dreigestrichene Si hinaus, bis in das Zwitschern der Fledermäuse, die freilich auch in Venedig noch kopfüber in dunklen Nischen hingen und Winterschlaf hielten; es war immer noch Januar. Die überirdische Stimme der Sängerin verhauchte schließlich als Sphärenklang über dem Canal. Ein Lustschauer durchrieselte Jan.

Als er aus seiner Verzückung erwachte, war es rings um ihn totenstill. Die Trompeter hatten ihre Instrumente abgesetzt, die Gondoliere ruderten nicht mehr. Aus dem Palazzo, den sie gerade passiert hatten, ertönte Applaus.

„Hast du das gehört?”, fragte der Prinz aufgeräumt. „Welche Fülle, welche Kraft! Das muss ein Kastrat sein. Keine Frau besitzt einen derart langen Atem. Finde heraus, wem der Sänger gehört. Wenn er ein Sklave ist, kaufe ich ihn für meinen Bruder und Herrn, Kurfürst Friedrich August. Wir müssen diese Stimme für die Oper in Dresden gewinnen.”

„Sehr wohl, mein Prinz.”

Niemand bemerkte Jans Fauxpas mit der Anrede. Plötzlich erwachten die Gondolieri, die Trompeter, die Ehrenwachen im dritten Boot. Scherze gingen zwischen den Männern in der ersten Barke und den Bediensteten an den Stufen des Palazzo Dandolo-Farsetti hin und her, wo sie gerade anlegten. Jan hörte, wie sie von „La Fiametta!” sprachen. Die Flamme der Musik?

Gelächter brandete auf. Er saß in dem fröhlichen Lärm wie betäubt, nicht völlig überzeugt, dass er tatsächlich einer Menschenstimme gelauscht hatte. Schon gar nicht einem Kastraten. Obwohl gerade die Fülle und Kraft des Soprans dafür sprach. Das hohe, süße Nachklingen der letzten Kadenz war allerdings seltsam, überaus seltsam.

Auf alle Fälle besaß die Stimme Macht, mehr als je ein Sänger oder eine Sängerin über Jan gewonnen hatte. Er half seinem Herrn aus der Gondel und hörte sich, in ehrerbietigem Abstand zwei Stufen tiefer hinter dem Prinzen stehend, die ebenso kunstvollen wie langatmigen Komplimente des Hausherrn Daniele Farsetti an, der seine Suada bis an die Grenze des Erträglichen mit Zitaten aus dem Werk Dantes und Petrarcas würzte.

Ja, die selige Beatrice … und dabei entwichen Farsettis Mund unablässig knoblauchduftende Dampfwolken. Jan bekam Kopfschmerzen davon. Es war eigentlich seine Absicht gewesen, während des Balls Urlaub von Prinz Anton zu nehmen und sich die neuesten Gipsabgüsse antiker Statuen und die anderen Kunstschätze zeigen zu lassen, die Farsetti unermüdlich in seinem Haus zusammentrug. Doch nach dem göttlichen Gesang gerade eben klangen ihm die Stimmen der Damen auf der Gesandtenstiege schrill in den Ohren.

Das Fest war ihm verleidet, bevor es noch begann.

Kapitel 3

Venedig; Mittwoch 19. Januar 1774; am Tag von Sankt Marius und Martha, Agritius und Heinrich von Uppsala; erste Morgenstunde; an der Tafel des Nobile Farsetti in dessen Palazzo

Der Prinz, eine weit freundlichere Seele als seine älteren Brüder und Onkel, hatte während des Tanzens offenbar bemerkt, dass die vornehme Gesellschaft in Venedig Jan nicht seiner Stellung gemäß aufnahm. Stolnik, das war eigentlich ein alter polnischer Adelsrang, der Mundschenk bedeutete. Eine Vertrauensstellung in unmittelbarer Nähe des Fürsten, die von Jan beim festlichen Mahl im Palazzo Farsetti aber nicht mehr verlangte, als hinter Prinz Antons Stuhl zu stehen und diesem aufzuwarten. Die Freundschaft seines jungen Herrn sorgte jedoch dafür, dass er sich an dessen Seite an Farsettis Tafel wiederfand. Sehr zum Ärger einiger anderer Gäste, die nach der sorgsam ausgeklügelten Sitzordnung bei Tisch nun nach unten auf nicht ganz so bedeutende Plätze für minder wichtige Nobili weichen mussten. Und diese wieder, die bedauernswertesten Opfer der Rochade, natürlich ganz vom Herrentisch.

„Ich frage mich, wo die Welle endet, noch im Palazzo oder vielleicht sogar mit einem Plumps, und ziemlich nass.” Prinz Anton lachte sehr. Selbst einen so ernsthaften jungen Herrn wie ihn löste der Wein. Er hob sein Glas. „Prosit, Jan, Lieber.”

Jan verbeugte sich und erwiderte Antons Kompliment. „Auf allzeit beste Gesundheit, Euer Gnaden. Ich danke, aber Ihr hättet vielleicht nicht darauf bestehen sollen, mich an Eure Seite zu holen.”

„Schnickschnack, du bist mein Stolnik.” Der Prinz setzte sein Glas hart auf dem Damasttischtuch ab. Die Augen des angeblichen Grafen von Weesenstein glitzerten im Kerzenschein von dem süffigen Valpolicella, der zu den Speisen serviert wurde. „Wer dich für gering achtet, beleidigt mich!” Anton wischte sich mit dem Taschentuch die Wangen, die sich unter dem Puder allmählich röteten, und auch den Nacken. „Puh, ich gestehe, mir wird hier allmählich warm.”

Jan schwitzte in dem gefütterten Galarock ebenfalls. Sie hatten zwar für das Mahl den Mantel abgelegt, den weiten venezianischen Tabarro, den Herren im Karneval zum Tanz und auch ganz allgemein untertags über der Gesellschaftskleidung trugen. Aber die vielen Menschen im Bankettsaal, die mehr als hundert Kerzen – hundertzweiunddreißig, um genau zu sein, Jan hatte sie gezählt, sie steckten immer zu drei und sechs Stück in den Kandelabern auf der Tafel –, alles zusammen erwärmte den Raum in der Tat. Mehr, als sie es während ihrer winterlichen Reise in Kutschen und Gasthäusern erlebt hatten. Und der schwere Wein, die gut gewürzten Speisen, die rauschenden Röcke der Damen taten noch das Ihre dazu. Sie erhitzten Jan. Er streckte eine Hand nach dem Kandelaber vor seinem Teller aus und spielte mit der Kerzenflamme.

„Lass das!”, zischte der Prinz.

Jan traf ein strenger Blick. Schade, er hatte gerade angefangen, den Schmerz zu genießen. Er zog die Hand zurück.

„Zeige mir deine Finger.” Prinz Anton ergriff Jans Linke und zwang ihn, sie zu öffnen. „Keine Brandblasen. Dein Glück!”

„Verzeihung, Euer Gnaden”, murmelte Jan.

Sein junger Herr hatte natürlich recht, aber er konnte sich kaum noch beherrschen. Die Musik, die vielen Frauenstimmen und -gerüche im Raum, einige verlockend, andere für seinen Geschmack entschieden zu aufdringlich, dazu vorher die himmlische Stimme der Fiametta, all das juckte ihn, heizte ihn auf. Er brauchte etwas, das seine Lust befriedigte.

Entweder Feuer oder eine Frau. Und wenn er noch lange wartete, half ihm nicht einmal mehr, wenn er in Prinz Antons Appartement den Arm in die Glut eines offenen Kamins steckte. Jan merkte, dass ihm sein junger Herr die Unrast ansah.

Anton von Sachsen drückte unauffällig seine Hand. „Ich denke, dass wir aufbrechen sollten, mein Lieber!”

„Wie – wollt Ihr uns in der Tat schon jetzt verlassen, Durchlaucht? Bevor noch an den Tischen das Spiel beginnt?” Daniele Farsetti verbeugte sich vor dem Prinzen. „Da Euch vorhin bei Eurer Ankunft La Fiamettas Gesang so gut gefiel, haben wir nach ihr schicken lassen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass sie uns eine Serenade singt.”

„Was, eine Serenade? Ein Morgenlied meint Ihr wohl”, warf ein Höfling in karmesinrotem Gewand ein, von dem Jan bisher nur die Stimme kannte, nicht aber Rang und Namen. Ein weiterer Nobile lachte.

„La Fiametta? Die wird Euch die kalte Schulter zeigen. Wisst Ihr nicht, Farsetti, dass sie niemals mehr als ein Lied pro Nacht singt?”

„Warum eigentlich?”

Der zweite Nobile zuckte mit den Schultern. „Launen! So sind die Frauen.”

„Nein, wir hatten seit gestern Mittag Nebel. Das erschöpft sie schlimmer als der wildeste Ritt”, sagte ein dritter.

„Welcher Unsinn, Ruzzini! Wer hätte je gehört, dass ein bisschen Reiten eine Dame …”

„Ha! Ihr habt sie nicht erlebt!”

Die lange Gewohnheit des Höflings und die Halbmaske verbargen Ruzzinis inneren Schauder. Mund und Kinn verrieten nichts. Aber Jan las seine Gedanken, und die erstaunten ihn.

Krallen ziehen blutige Striemen über Ruzzinis Rücken. Eine wilde Paarung, bis zur völligen Verausgabung. Die üppigen Brüste einer Frau wippen vor seinen Augen. Sie locken ihn, an den Nippeln zu saugen, während sie ihn reitet.

Jans Schwanz schwoll an. Doch bevor die fremde Lust ihn noch ganz gefangen nehmen konnte, verdrängte sie ein anderes Gefühl: Angst. Ruzzini hatte Angst, Todesangst. Neue Gedankenfetzen teilten sich Jan mit.

Das laute Kreischen einer Harpyie. Eine wutverzerrte Fratze, kaum noch menschlich zu nennen. Ein kaltes Frauenantlitz und eine Dritte, Schwester der Furie und der Hochmütigen, ein holdes, blondes Kind. Ihr Gesicht leuchtet beim Anblick eines Geschenks. Goldschimmerndes Haar fällt über eine weiche, nackte Schulter.

Jans Neugier wuchs. Er hätte sich gerne weiter in Ruzzinis Erinnerungen vertieft, das Rätsel entschlüsselt, doch sein Prinz war inzwischen zum Aufbruch bereit. Anton von Sachsen ließ sich trotz aller Bitten Daniele Farsettis nicht zum Bleiben überreden.

„Ein andermal gerne. Doch für jetzt gebt mir bitte Urlaub. Wir sind erst am späten Nachmittag in der Stadt eingetroffen. Ich bin noch erschöpft von der Reise.”

In Wirklichkeit war es Vorsicht, die Anton von Sachsen zum Rückzug trieb. Die ihm vom Geheimen Rat zugebilligte Schatulle vertrug keine Spielschulden. Sie waren unter Fürsten nur allzu üblich. Jan hatte über die Jahre mehr als einen Prinzen aus dem Hause Wettin als Reisemarschall begleitet und dabei oft die undankbaren Rolle des Warners und Mahners übernehmen müssen. Und sehr oft vergeblich. Anton Clemens folgte als Erster dem klügeren Kurs der Mäßigung.

„Nenn mich einen Narren”, sagte sein junger Herr, während sie die Gesandtentreppe hinunterstiegen. „Doch ich finde, dem Volk Sachsens, das unter dem letzten Krieg schwer gelitten hat, darf nicht wegen des Vergnügens eines seiner Fürsten noch mehr aufgebürdet werden.”

„Eine noble Einstellung.” Farsetti verabschiedete sie mit Verbeugung und Kratzfuß. „Meine Verehrung, Durchlaucht. Wünsche eine gute Rückkehr in den Palazzo Balbi und eine erholsame Nachtruhe.”

Sie stiegen in das wartende Boot, und der Gondoliere legte ab. Nach einer kleinen Weile Schweigen fragte der Prinz: „Geht es dir auch gut, Jan?”

„Ja, ich danke, Euer Gnaden.”

Selten war einem Fürstensohn ein passenderer zweiter Name gegeben worden wie Anton: Clemens, der Milde. Jans junger Herr stand erst im neunzehnten Jahr, aber er sorgte sich um jedermann. Um Jans Feuersucht und auch um das Gesinde.

„Jan, wenn wir ankommen, schicke bitte alle zu Bett. Es ist genug, wenn mir Bodenschatz hilft.”

„Außerdem liegt es nicht in Eurer Macht, ihn vom Versehen dieser Pflicht abzuhalten, Euer Gnaden.”

„Wohl wahr!”

Sie verfielen in Schweigen, bis sie am Palazzo Balbi landeten, wo sie der Majordomo und die beiden Diener Nanni und Fano bei einem Nachtlicht im Wassergeschoss des Palasts erwarteten. Fano schnarchte. Der Majordomo wirkte vor Müdigkeit alt und grau und war doch in Wirklichkeit gerade vierzig, zehn Jahre jünger als Jan.

„Komm, Lieber, ich möchte nun wirklich zu Bett.”