Eine Lebensgeschichte aus dem Walde
Eine Lebensgeschichte aus dem Walde
Er kam mitten im Dickicht zur Welt, in einer jener kleinen, verborgenen Stuben des Waldes, die scheinbar nach allen Seiten offenstehen, die aber doch von allen Seiten umschirmt sind.
Es war denn auch nur wenig Platz da, knapp genug für ihn und seine Mutter.
Hier stand er nun, schwankte bedenklich auf seinen dünnen Beinen, blickte mit trüben Augen, die nichts sahen, blöd vor sich hin, ließ den Kopf hängen, zitterte sehr und war noch ganz betäubt.
„Was für ein schönes Kind!“ rief die Elster.
Sie war herbeigeflogen, angelockt durch das röchelnde Stöhnen, das die Wehen der Mutter entpreßt hatten. Nun saß die Elster auf einem Ast in der Nähe. „Was für ein schönes Kind!“ rief sie jetzt. Sie bekam keine Antwort und sprach eifrig weiter. „Wie erstaunlich, daß es gleich stehen und gehen kann! Wie interessant! Ich habe das noch nie in meinem Leben gesehen. Nun freilich, ich bin ja noch jung, erst seit einem Jahre aus dem Nest, wie Sie vielleicht wissen werden.
Aber ich finde es wunderbar. So ein Kind…kommt in dieser Sekunde zur Welt und kann gleich auf den Beinen stehen. Ich finde es vornehm. Ich finde überhaupt, daß alles bei euch Rehen sehr vornehm ist. Und kann es gleich auch laufen …?“
„Gewiß,“ entgegnete die Mutter leise. „Aber Sie müssen entschuldigen, wenn ich jetzt nicht imstande bin, ein Gespräch zu führen. Ich habe jetzt so sehr viel zu tun… und außerdem fühle ich mich noch ein wenig matt.“
„Lassen Sie sich durch mich nicht stören,“ sagte die Elster, „viel Zeit habe ich ja auch nicht. Aber so etwas sieht man nicht alle Tage. Ich bitte Sie, wie umständlich und wie mühsam geht es bei uns zu in diesen Dingen. Da können sich die Kinder nicht rühren, wenn sie aus dem Ei sind, liegen hilflos im Nest und brauchen eine Pflege, eine Pflege, sage ich Ihnen, von der machen Sie sich natürlich keinen Begriff. Was für eine Arbeit hat man, sie zu füttern, was für eine Angst, sie zu bewachen. Ich bitte Sie, denken Sie einmal darüber nach, wie anstrengend das ist, für die Kinder Futter holen und zugleich aufpassen müssen, daß ihnen nichts geschieht.
Sie können sich ja nicht helfen, wenn man nicht dabei ist. Geben Sie mir nicht recht? Und wie lange muß man warten, bis sie sich rühren können, wie lange dauert das, bis sie Federn kriegen und nach etwas Anständigem aussehen.“
„Verzeihen Sie,“ erwiderte die Mutter, „ich habe nicht zugehört.“
Die Elster flog davon. „Dumme Person,“ dachte sie für sich, „vornehm, aber dumm!“
Die Mutter bemerkte es kaum. Sie fuhr fort, das Neugeborene eifrig zu waschen. Sie wusch es mit ihrer Zunge und das war alles in einem, Körperpflege, wärmende Massage und Liebkosung.
Das Kleine taumelte ein wenig. Unter dem Streicheln und Schubsen, von dem es überall leise berührt wurde, knickte es ein bißchen zusammen und hielt still. Sein rotes Röckchen, das noch ein wenig zerzaust war, hatte feine, weiße Sprenkel, und in seinem duseligen Kindergesicht war noch ein Ausdruck wie von tiefem Schlaf.
Ringsumher wuchsen Haselstauden, Hartriegel, Schlehdornbüsche und junger Holunder. Hohe Ahornbäume, Buchen und Eichen bauten ein grünes Dach über der Dickung, und dem festen, dunkelbraunen Boden entsprossen Farnwedel, Walderbsen und Salbei. Ganz niedrig schmiegten sich die Blätter von Veilchen, die schon geblüht hatten, und von Erdbeeren, die eben zu blühen begannen, an die Erde. Durch das dichte Laubwerk drang das Licht der Frühsonne als ein goldenes Gespinst. Der ganze Wald erschallte von vielerlei Stimmen, war von ihnen durchdrungen wie von einer fröhlichen Erregung. Der Pirol jauchzte unablässig, die Tauben gurrten ohne Aufhören, die Amseln pfiffen, die Finken schlugen, die Meisen zirpten. Dazwischen riß zänkisch der Schrei, den die Häher ausstießen, lachte das Schäkern der Elstern, brach metallisch das berstende Gocken der Fasanen. Manchmal drang das gellend kurze Aufjubeln eines Spechtes durch alle die Stimmen. Falkenruf schrillte hell und dringend über den Baumwipfeln und andauernd ließ sich der heisere Chor der Krähen vernehmen.
Das Kleine verstand keinen einzigen von den vielen Gesängen und Zurufen, kein Wort von den Gesprächen. Es hörte noch gar nicht darauf. Es nahm auch noch keinen einzigen von all den Gerüchen wahr, die der Wald atmete. Es hörte nur das leise Knistern, das über sein Röckchen hinlief, während es gewaschen, gewärmt und geküßt wurde, und es roch nichts als den nahen Leib der Mutter. Eng schmiegte es sich in diese wohlig dunstende Nähe, suchte hungrig daran herum und fand den Quell des Lebens.
Während es trank, fuhr die Mutter fort, das Kleine zu liebkosen. „Bambi,“ flüsterte sie.
Dabei hob sie jede Weile das Haupt, ließ die Lauscher spielen und sog den Wind ein.
Dann küßte sie wieder ihr Kind, beruhigt und glücklich.
„Bambi,“ wiederholte sie, „mein kleiner Bambi.“
Jetzt im Frühsommer standen die Bäume still unter dem blauen Himmel, hielten die Arme ausgebreitet und empfingen die niederströmende Kraft der Sonne. An den Hecken und Sträuchern im Dickicht gingen Blüten auf, weiße, rote oder gelbe Sterne. An manchen wieder begannen schon die Fruchtknospen sichtbar zu werden, zahllos, saßen an den feinen Spitzen der Äste, zart und fest und entschlossen und sahen aus wie kleine, geballte Fäuste. Aus dem Boden kamen die bunten Sterne vieler und vielfältiger Blumen, so daß die Erde am dämmernden Grunde des Waldes in einer stillen, inbrünstigen Farbenheiterkeit sprühte. Es roch überall nach frischem Laub, nach Blüten, nach feuchter Scholle und nach grünem Holz. Wenn der Morgen anbrach und wenn die Sonne unterging, klang der ganze Wald von tausend Stimmen, und vom Morgen bis zum Abend sangen die Bienen, summten die Wespen, brausten die Hummeln durch die duftende Stille.
Das waren die Tage, in denen Bambi seine erste Kindheit verlebte.
Er ging hinter seiner Mutter auf einem schmalen Streifen, der mitten durch das Gebüsch lief.
Wie angenehm war es, hier zu gehen. Das dichte Laubwerk streichelte ihm sanft die Flanken, bog sich gelind zur Seite. Der Weg schien überall zehnfach versperrt und verrammelt, dennoch kam man in der größten Bequemlichkeit vorwärts. Überall gab es solche Straßen, sie liefen kreuz und quer durch den ganzen Wald. Die Mutter kannte sie alle, und wenn Bambi manchmal vor einem Gestrüpp wie vor einer undurchdringlichen grünen Mauer stand, die Mutter fand immer ohne Zögern und Suchen die Stelle, wo der Weg gebahnt war.
Bambi fragte. Er liebte es, seine Mutter zu fragen. Es war das Schönste für ihn, immerfort zu fragen und dann zu hören, was die Mutter zur Antwort gab. Bambi staunte gar nicht, daß ihm beständig und mühelos Fragen über Fragen einfielen. Er fand das vollkommen natürlich; es entzückte ihn nur sehr. Es entzückte ihn auch, neugierig zu warten, bis die Antwort kam. Mochte sie nun ausfallen, wie sie wollte, er war immer damit zufrieden. Manchmal verstand er sie freilich nicht, aber auch das war schön, weil er immer weiter fragen konnte, wenn er wollte. Manchmal fragte er nicht weiter, und das war wieder schön, weil er dann damit beschäftigt war, sich das, was er nicht verstanden hatte, auf seine eigene Weise auszumalen. Manchmal fühlte er sehr deutlich, daß seine Mutter ihm keine ganze Antwort bot, ihm absichtlich nicht alles sagte, was sie wußte. Und das war erst recht schön. Denn da blieb noch eine so besondere Neugierde in ihm zurück, eine Ahnung, die ihn geheimnisvoll und beglückend durchzuckte, ein Erwarten, bei dem ihm bang und heiter in einem zu Sinne wurde, so sehr, daß er schwieg.
Jetzt fragte er: „Wem gehört diese Straße, Mutter?“
Die Mutter antwortete: „Uns.“
Bambi fragte weiter: „Dir und mir?“
„Ja.“
„Uns beiden?“
„Ja.“
„Uns beiden allein?“
„Nein,“ sagte die Mutter, „uns Rehen...“
„Was sind das, Rehe?“ fragte Bambi und lachte.
Die Mutter sah sich nach ihm um und lachte auch: „Du bist ein Reh, und ich bin ein Reh. Das sind Rehe. Verstehst du das?“
Bambi sprang in die Höhe vor Lachen. „Ja, ich verstehe das. Ich bin ein kleines Reh und du bist ein großes Reh. Nicht wahr?“
Die Mutter nickte ihm zu. „Nun, siehst du.“ Bambi wurde wieder ernst: „Gibt es noch andere Rehe, als dich und mich?“
„Gewiß,“ sagte die Mutter. „Viele.“
„Wo sind sie?“ rief Bambi.
„Hier, überall.“
„Aber… ich sehe sie nicht.“
„Du wirst sie schon sehen.“
„Wann?“ Bambi blieb stehen vor lauter Neugierde.
„Bald.“ Die Mutter ging ruhig weiter.
Bambi folgte ihr. Er schwieg, denn er grübelte darüber nach, was das wohl bedeuten möge: „Bald.“ Er kam zu dem Ergebnis, „bald“ sei gewiß nicht „gleich“. Aber er wurde sich nicht einig darüber, in welcher Zeit dieses „bald“ aufhöre, „bald“ zu sein und anfange, „lange“ zu werden. Plötzlich fragte er: „Wer hat diese Straße gemacht?“
„Wir,“ gab die Mutter zurück.
Bambi tat erstaunt: „Wir? Du und ich?“
Die Mutter sagte: „Nun, wir … wir Rehe.“
Bambi fragte: „Welche?“
„Wir alle,“ fertigte ihn die Mutter ab.
Sie gingen weiter. Bambi war vergnügt und hatte Lust, vom Wege abzuspringen, aber er hielt sich brav bei der Mutter. Vor ihnen raschelte es dicht am Boden. In heftiger Bewegung fuhr etwas daher, das die Farnwedel und Lattichblätter verdeckten. Ein fadendünnes Stimmchen pfiff erbärmlich auf, dann war es still. Nur die Blätter und Grashalme bebten an der Stelle noch ruckweise nach. Ein Iltis hatte eine Maus gejagt. Nun kam er vorbeigehuscht, duckte sich seitwärts und machte sich an seine Mahlzeit.
„Was war das?“ fragte Bambi erregt.
„Nichts,“ beschwichtigte die Mutter.
„Aber…“ Bambi zitterte, „aber … ich hab’s doch gesehen.“
„Nun ja,“ sagte die Mutter, „erschrick nicht. Der Iltis hat die Maus getötet.“
Aber Bambi war furchtbar erschrocken. Ein unbekanntes, großes Entsetzen umklammerte sein Herz. Es dauerte lange, bis er wieder sprechen konnte. Dann fragte er: „Warum hat er die Maus getötet?“
„Weil…“ Die Mutter zögerte. „…gehen wir schneller,“ sagte sie dann, als sei ihr etwas eingefallen und als habe sie die Frage vergessen. Sie begann zu trollen. Bambi hüpfte hinter ihr drein.
Eine lange Pause verstrich; sie schritten wieder ruhig dahin. Endlich fragte Bambi beklommen: „Werden wir auch einmal eine Maus töten?“
„Nein,“ erwiderte die Mutter.
„Nie?“ fragte Bambi.
„Niemals,“ war die Antwort.
„Warum nicht?“ fragte Bambi erleichtert.
„Weil wir niemanden töten,“ sagte die Mutter einfach.
Bambi wurde wieder heiter.
Von einer jungen Esche, die nahe an ihrem Wege stand, drang ein lautes Kreischen nieder. Die Mutter ging ihres Weges, ohne darauf zu achten. Bambi aber blieb neugierig stehen. Zwei Häher zankten sich da oben in den Zweigen um ein Nest, das sie geplündert hatten.
„Machen Sie, daß Sie weiterkommen, Sie Halunke!“ rief der eine.
„Regen Sie sich doch nicht auf, Sie Narr,“ antwortete der andere, „ich habe keine Angst vor Ihnen.“
Der erste tobte: „Suchen Sie sich Ihre Nester selber, Sie Dieb! Ich schlage Ihnen den Schädel ein.“ Er war außer sich. „So eine Gemeinheit!“ keifte er, „so eine Gemeinheit!“
Der andere hatte Bambi bemerkt, flatterte ein paar Zweige herunter und schnarrte ihn an: „Was hast du hier zu gaffen, du Fratz! Pack’ dich!“
Eingeschüchtert sprang Bambi davon, erreichte seine Mutter, ging wieder hinter ihr drein, sittsam und verschreckt und glaubte, daß sie sein Zurückbleiben nicht bemerkt habe.
Nach einer Weile fragte er: „Mutter… was ist das, eine Gemeinheit?“
Die Mutter sagte: „Ich weiß es nicht.“
Bambi überlegte. Dann fing er wieder an: „Mutter, warum sind die beiden so böse zueinander gewesen?“
Die Mutter antwortete: „Sie haben sich wegen des Essens gezankt.“
Bambi fragte: „Werden wir uns auch einmal wegen des Essens zanken?“
„Nein,“ sagte die Mutter.
Bambi fragte: „Warum nicht?“
Die Mutter entgegnete: „Es ist genug da für uns alle.“
Bambi wollte noch etwas wissen: „Mutter…?“
„Was denn?“
„Werden wir auch einmal böse zueinander sein?“
„Nein, mein Kind,“ sagte die Mutter, „bei uns gibt es das nicht.“
Sie gingen weiter. Mit einem Male wurde es ganz hell vor ihnen, strahlend hell. Das grüne Gewirr von Büschen und Sträuchern war zu Ende, die Straße war zu Ende. Nur ein paar Schritte noch und sie kamen hinaus in die lichte Freiheit, die sich vor ihnen öffnete. Bambi wollte vorwärtsspringen, doch die Mutter blieb stehen.
„Was ist das?“ rief er ungeduldig und schon ganz bezaubert.
„Die Wiese,“ antwortete die Mutter.
„Was ist das, die Wiese?“ drängte Bambi.
Die Mutter schnitt ihm das Wort ab. „Das wirst du schon selber sehen.“ Sie war ernst geworden und aufmerksam. Regungslos stand sie, hielt das Haupt hoch, lauschte angespannt, prüfte mit tiefen Atemzügen den Wind und sah ganz streng aus.
„Es ist gut,“ sagte sie endlich, „wir können hinaus.“ Bambi sprang los, aber sie sperrte ihm den Weg. „Du wartest, bis ich dich rufe.“ Im Augenblick stand Bambi gehorsam still. „So ist es recht,“ lobte die Mutter. „Und nun merke genau, was ich dir sage.“ Bambi hörte, wie erregt die Mutter sprach, und geriet in große Spannung. „Es ist nicht so einfach, auf die Wiese zu gehen,“ fuhr die Mutter fort, „es ist eine schwere und gefährliche Sache. Frag nicht, warum. Du wirst das schon später noch lernen. Für jetzt befolge genau, was ich dir sage. Willst du?“
„Ja,“ versprach Bambi.
„Nun gut. Ich gehe also vorerst allein hinaus. Bleibe hier stehen und warte. Und schau’ immer auf mich. Behalte mich unaufhörlich im Auge. Wenn du siehst, daß ich wieder zurücklaufe, hier herein, dann machst du kehrt und rennst davon, so schnell du kannst. Ich hole dich schon ein.“ Sie schwieg, schien zu überlegen und fuhr dann eindringlich fort: „Jedenfalls laufe, laufe, was du kannst. Laufe… auch wenn etwas geschehen sollte … auch wenn du siehst, daß ich… daß ich zu Boden stürze… achte nicht auf mich, verstehst du?… Was immer du siehst oder hörst… nur fort, augenblicklich und so schnell als möglich…! Versprichst du mir das?“
„Ja,“ sagte Bambi leise.
„Wenn ich dich aber rufe,“ sprach die Mutter weiter, „kannst du kommen. Draußen auf der Wiese darfst du spielen. Es ist schön draußen und es wird dir gefallen. Nur… du mußt mir auch das versprechen… beim ersten Ruf von mir mußt du an meiner Seite sein. Unbedingt! Hörst du?“
„Ja,“ sagte Bambi noch leiser. Die Mutter sprach so ernst.
Sie redete weiter: „Da draußen… wenn ich rufe… da darf es kein Umhergaffen geben und kein Fragen, sondern wie der Wind hinter mir drein! Merk dir das. Ohne Besinnen, ohne Zögern… sofort, wenn ich zu laufen anfange, heißt es auf und davon und nicht stillstehen, bis wir wieder hier drinnen sind. Wirst du das nicht vergessen?“
„Nein,“ sagte Bambi beklommen.
„So will ich jetzt gehen,“ meinte die Mutter und schien nun etwas ruhiger.
Sie trat hinaus. Bambi, der kein Auge von ihr ließ, sah, wie sie mit langsam hohen Schritten vorwärts ging. Voll Erwartung, voll Furcht und Neugierde stand er da. Er sah, wie die Mutter nach allen Seiten lauschte, er sah sie zusammenfahren und fuhr selbst zusammen, bereit, ins Dickicht zurück zu springen. Da wurde die Mutter wieder ruhig, und als eine Minute verging, wurde sie fröhlich. Sie duckte den Hals, streckte ihn lange vor, schaute vergnügt herüber und rief: „Komm!“
Bambi sprang hinaus. Eine ungeheuere Freude ergriff ihn so zauberhaft stark, daß er sein Bangen im Nu vergaß. Er hatte im Dickicht nur die grünen Baumwipfel über sich gesehen, und darüber nur manchmal, nur in kleinen Durchblicken, verstreute blaue Sprenkel. Jetzt sah er das ganze Himmelsblau hoch und weit und das beglückte ihn, ohne daß er wußte, weshalb. Von der Sonne hatte er im Walde nur einzelne, breite Strahlen gekannt oder das zarte Gerinnsel von Licht, das golden durch die Zweige spielte. Jetzt stand er plötzlich in der heißen, blendenden Macht, deren unbedingtes Herrschen auf ihn eindrang, stand mitten in dem Glutsegen, der ihm die Augen schloß und ihm das Herz öffnete. Bambi war berauscht; er war vollständig außer sich, er war einfach toll. Unbeholfen sprang er in die Höhe, dreimal, viermal, fünfmal auf dem Fleck, auf dem er stand. Er konnte nicht anders; er mußte.
Es riß ihn, in die Höhe zu springen. Seine jungen Glieder spannten sich so kräftig, sein Atem ging so tief und leicht und er trank mit dem Atem, trank mit allem Duft der Wiese so viel übermütige Heiterkeit, daß er eben springen mußte. Bambi war ein Kind. Wäre er ein Menschenkind gewesen, so hätte er gejauchzt. Aber er war ein junges Reh und Rehe können nicht jauchzen, wenigstens nicht auf diese Art, in der die Menschenkinder es tun. Er jauchzte also auf seine Weise. Mit den Beinen, mit dem ganzen Körper, der sich in die Luft schleuderte. Seine Mutter stand dabei und freute sich. Sie sah, daß Bambi toll war. Sie sah, daß er sich in die Höhe warf, unbeholfen wieder auf demselben Fleck niederfiel, verdutzt und berauscht vor sich hinstarrte und sich im nächsten Moment wieder in die Höhe warf, wieder und wieder. Sie begriff, daß Bambi nur die schmalen Rehstraßen des Waldes kannte, in den kurzen Tagen seines Daseins nur an die Beengtheit des Dickichts gewöhnt war und daß er sich deshalb nicht vom Fleck rührte, weil er es noch nicht verstand, auf der offenen Wiese frei umher zu laufen. Sie duckte sich in die ausgestreckten Vorderläufe, lachte Bambi eine Sekunde an, war mit einem Schneller weg und sauste im Kreise umher, daß die hohen Grashalme nur so rauschten. Bambi erschrak und blieb regungslos. War das nun ein Zeichen, daß er zurück ins Dickicht sollte? Kümmere dich nicht um mich, hatte die Mutter gesagt, was du auch siehst und hörst; nur fort, so schnell wie möglich! Er wollte kehrtmachen und flüchten, wie es befohlen war. Da kam die Mutter plötzlich angaloppiert; in einem wunderbaren Rauschen fuhr sie daher, ruckte zwei Schritte vor ihm zusammen, duckte sich wie das erstemal, lachte ihn an und rief: „Fang mich doch!“ Und im Hui stob sie davon. Bambi war verblüfft. Was sollte das heißen? Was war denn auf einmal mit der Mutter? Aber da kam sie schon wieder, so rasend schnell, daß man schwindlig werden konnte, stieß ihn mit der Nase in die Flanke, sagte eilig: „Fang mich doch!“ und fegte davon. Bambi stürzte ihr nach. Ein paar Schritte. Aber gleich wurden die Schritte zu leichten Sprüngen. Es trug ihn, er glaubte zu fliegen; es trug ihn von selbst. Raum war da unter seinen Schritten, Raum unter seinen Sprüngen, Raum, Raum. Bambi geriet außer sich. Das Gras rauschte ihm herrlich in die Ohren. Es war köstlich weich, seidig zart, wie es an ihm vorbeistrich. Er jagte im Bogen, warf sich herum und pfeilte in einem neuen Kreis, warf sich wieder herum und flitzte weiter. Die Mutter stand schon eine Weile still, holte Atem und wendete sich nur immer nach der Seite, wo Bambi vorüberflog. Bambi raste.
Plötzlich ging’s nicht mehr. Er hielt inne, kam mit zierlich gehobenen Läufen zur Mutter und sah sie glückselig an. Dann spazierten sie wohlgelaunt nebeneinander. Seit er hier draußen war, hatte Bambi den Himmel, die Sonne und die grüne Weite nur mit dem Körper gesehen, nur mit einem geblendeten, trunkenen Blick den Himmel; mit dem wohlig durchwärmten Rücken und mit den stärkenden Atemzügen die Sonne. Nun erst genoß er mit Augen, die Schritt vor Schritt von neuen Wundern überrumpelt wurden, die Pracht der Wiese. Da war kein Fleckchen Boden sichtbar, wie drinnen im Walde. Da drängte sich Halm bei Halm um jedes Pünktchen Platz, schmiegte sich und schwoll in üppiger Pracht, bog sich unter jedem Tritt sanft zur Seite und richtete sich gleich wieder versöhnt empor. Der weite grüne Plan war besternt mit weißen Margueriten, mit den violetten und rot angelaufenen dicken Köpfen des blühenden Klees und mit den prunkvoll leuchtenden Goldknäufen, die der Löwenzahn in die Höhe hielt.
„Sieh nur, Mutter,“ rief Bambi, „da fliegt eine Blume davon.“
„Das ist keine Blume,“ sagte die Mutter, „das ist ein Schmetterling.“
Bambi sah entzückt dem Falter nach, der sich unendlich zart von einem Halm gelöst hatte und in taumelndem Flug dahinschwebte. Jetzt sah Bambi, daß viele solche Schmetterlinge in der Luft über die Wiese hinflogen, scheinbar eilig und doch langsam, auf und nieder taumelnd, ein Spiel, das ihn begeisterte. Es sah wirklich aus, als ob es wandernde Blumen wären, lustige Blumen, die auf ihrem Stengel nicht stillhalten wollten und sich aufgemacht hatten, um ein wenig zu tanzen. Oder Blumen, die mit der Sonne herniederkamen, noch keinen Platz hatten und wählerisch umhersuchten, sich herabsenkten, verschwanden, als seien sie schon irgendwo untergekommen, aber gleich wieder emporstiegen, bald nur ein wenig, bald höher, um weiter zu suchen, immer weiter, weil die besten Plätze eben schon besetzt waren.
Bambi blickte ihnen allen nach. Er hätte so gerne einen von ihnen in der Nähe gesehen, hätte so gerne einen einzelnen genauer ins Auge gefaßt, aber das gelang ihm nicht. Sie glitten unaufhörlich ineinander. Er wurde ganz wirr davon.
Es ergötzte ihn, wie er dann wieder vor sich zu Boden sah, all das tausendfache, behende Leben, das da unter seinen Schritten aufstob. Das sprang und sprühte nach allen Seiten, kam als ein Tumult und Gewimmel zum Vorschein und versank in der nächsten Sekunde wieder in den grünen Grund, aus dem es aufgestiegen war.
„Was ist das, Mutter?“ fragte er.
„Das sind die Kleinen,“ antwortete die Mutter.
„Sieh nur,“ rief Bambi, „hier springt ein Stückchen Gras. Nein… wie hoch es springt!“ „Das ist kein Gras,“ erklärte die Mutter, „das ist ein gutes Heupferdchen.“
„Warum springt es so?“ fragte Bambi.
„Weil wir da gehen,“ antwortete die Mutter, „… es fürchtet sich.“
„O!“ Bambi wandte sich zu dem Heupferdchen, das mitten auf dem weißen Teller einer Marguerite saß. „O,“ sagte Bambi höflich, „Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wir tun Ihnen gewiß nichts.“
„Ich fürchte mich nicht,“ erwiderte das Heupferdchen mit einer rasselnden Stimme. „Ich bin nur im ersten Moment erschrocken, denn ich sprach gerade mit meiner Frau.“
„Entschuldigen Sie, bitte,“ sagte Bambi bescheiden. „Wir haben Sie gestört.“
„Das macht nichts,“ rasselte das Heupferdchen. „Weil Sie es sind, macht es nichts. Aber man weiß ja nie, wer es ist, der kommt, und man muß sich in acht nehmen.“ „Ich bin nämlich heute zum erstenmal in meinem Leben auf der Wiese,“ erzählte Bambi. „Die Mutter hat mir…“
Das Heupferdchen stand mit bockig vorgeducktem Kopf da, machte ein ernstes Gesicht und murrte: „Das interessiert mich nicht. Ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu schwatzen, ich muß jetzt meine Frau suchen. Hopp!“ Und weg war es.
„Hopp,“ sagte Bambi verdutzt und bestaunte den hohen Sprung, mit dem es verschwand.
Bambi lief zur Mutter: „Du… ich habe mit ihm gesprochen!“
„Mit wem?“ fragte die Mutter.
„Nun, mit dem Heupferdchen,“ erzählte Bambi, „ich habe mit ihm gesprochen. Es war so freundlich zu mir. Und es gefällt mir so gut. Es ist so wunderbar grün, und am Ende ist es so durchsichtig, wie kein Blatt es sein kann, auch das feinste nicht.“
„Das sind die Flügel.“
„So?“ Bambi sprach weiter. „Und es hat solch ein ernstes Gesicht, voll Nachdenken. Aber trotzdem ist es freundlich zu mir gewesen. Und wie es springen kann! Das muß fabelhaft schwer sein. Hopp! sagt es und springt so hoch, daß du es nicht mehr sehen kannst.“
Sie gingen weiter. Die Unterredung mit dem Heupferdchen hatte Bambi erregt und ein wenig ermüdet, denn es war doch das erstemal, daß er mit jemandem Fremden sprach. Er fühlte Hunger und drängte sich an seine Mutter, um sich zu erfrischen.
Als er dann wieder ruhig dastand und eine kurze Weile vor sich hinträumte, in der kleinen, süßen Trunkenheit, die ihn jedesmal umfing, nachdem er sich von seiner Mutter gesättigt hatte, gewahrte er in dem Gewirr der Grashalme eine helle Blume, die sich bewegte. Bambi sah schärfer hin. Nein, das war keine Blume, das war ja ein Schmetterling. Bambi schlich näher.
Der Schmetterling hing träge an einem Halme und bewegte leise seine Flügel.
„Bitte, bleiben Sie sitzen!“ rief ihn Bambi an.
„Warum soll ich denn sitzen bleiben? Ich bin doch ein Schmetterling,“ antwortete der Falter erstaunt.
„Ach, bleiben Sie nur ein ganz kleines bißchen sitzen,“ bat Bambi, „ich habe mir schon lange gewünscht, Sie in der Nähe zu sehen. Seien Sie doch so gut.“
„Meinetwegen,“ sagte der Weißling, „aber nicht lange.“
Bambi stand vor ihm. „Wie schön Sie sind,“ rief er entzückt, „wie wunderschön! Wie eine Blume!“