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Julia Gerlach

Zwischen Pop und Dschihad

Muslimische Jugendliche in Deutschland

Julia Gerlach

Zwischen Pop
und Dschihad

Muslimische Jugendliche
in Deutschland

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Für K. und R.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2006)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de, mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von © enciktat - Fotolia.com
Satz: Petra Florath, Berlin
Lithos: typegerecht berlin GbR

ISBN: 978-3-86284-227-8


Inhalt

Einleitung

Die internationale Bewegung der Pop-Muslime

I love Islam! – Entstehung einer neuen Bewegung

Generation 11. September

Das Erwachen – Neue Identität und gutes Geschäft

Amr Khaled: Der Superstar unter den islamischen Predigern

Die Ursprünge der Bewegung

Amr Khaled und die Muslime in Europa

Amr Khaled und der Karikaturenstreit

Pop-Muslime in Deutschland

Die Idee wird aufgegriffen

Ich bin Muslim, und das ist hip! – Das neue Selbstbewusstsein

Tief religiös und trendbewusst – Pop-Islam und Mode

Islamfeind Nummer 1: Die westlichen Medien

Hintergrund: Die Landkarte des Islam in Deutschland

Die Lifemakers: Amr Khaleds deutsche Fans

Die Muslimische Jugend

Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs

Die Tür vor der Nase zugeschlagen – Das Gefühl der Ausgrenzung

Schwester Aischa zieht in den Kampf – Die Rolle der Frauen

Moschee ade? – Neue Angebotsvielfalt im Netz

Beim Imam des Vertrauens: Was passiert in den Hinterhöfen?

Mein Bruder, der Selbstmordattentäter – Junge Muslime und der Terror

Fazit: Freund oder Feind – Sind die Pop-Muslime gefährlich?

Dialog mit islamischen Gruppen

Gemeinsam gegen den Terror

Für eine Deeskalation im Kampf der Kulturen

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Glossar

Dank

Abbildungsnachweis

Zur Autorin

Einleitung

London am 7. Juli 2005, morgens um kurz vor sieben. Die Überwachungskamera des Bahnhofes Luton zeigt vier junge Männer. Unauffällig. Sie tragen Jeans, Turnschuhe, Rucksäcke. Sie sprechen kurz miteinander und besteigen dann den Vorortzug nach Kings Cross. Dort trennen sich ihre Wege. Heiter, aber ohne große Geste verabschieden sie sich. Wenig später, um 8.50 Uhr, zünden fast zeitgleich der Sport-Student Shehzad Tanweer, 22, der Lehrer Mohammed Sidique Khan, 30, und der zum Islam konvertierte Jamaikaner Germaine Lindsay, 19, ihre Sprengsätze in voll besetzten U-Bahn-Zügen. Der Jüngste von ihnen, der 18-jährige Hasib Hussein, nimmt einen Doppelstockbus, geht auf das Oberdeck und lässt die Bombe in seinem Rucksack um 9.47 Uhr detonieren. Die vier Attentäter reißen 52 Menschen mit sich in den Tod. Über 700 werden zum Teil schwer verletzt. Erst Madrid, dann London. Der Terror hat Europa erreicht, und Deutschland: Wie können wir uns schützen?

Die Explosionen trafen London nicht unerwartet. Seit den Anschlägen auf New York und Washington 2001 rechneten viele damit, dass auch europäische Großstädte Ziel des Terrors werden könnten. Was Europäer an dem Anschlag von London besonders schockierte, war die Herkunft der Attentäter. Es waren nicht die aus Afghanistan eingeschleusten Al-Qaida-Killer. Die vier Attentäter kamen von nebenan. Es waren junge Männer, im nordenglischen Leeds aufgewachsen, scheinbar gut integriert. Mohammed Sidique Khan engagierte sich für die Jugendlichen seines Stadtteils, versuchte, sie von Drogen und Kriminalität fernzuhalten. Shehzad Tanweer spielte voller Begeisterung Kricket. Er half im Geschäft seines Vaters aus und verkaufte dort Fish and Chips. Mohammed Sidique Khan und Germaine Lindsay waren verheiratet. Ihre Frauen waren schwanger, als die Männer den Zünder ihrer Sprengsätze auslösten. Was brachte sie dazu? Zwei Jahre vor ihrer Tat begannen sich die vier Männer dem Islam zuzuwenden. Dem radikalen Islam. Sie reisten mehrmals nach Pakistan. Immer stärker kehrten sie sich von ihren Familien und der Gesellschaft ab. Vor der Tat verfasste Mohammed Sidique Khan eine Kriegserklärung an seine englischen Mitbürger: »Eure demokratisch gewählten Regierungen begehen fortwährend Grausamkeiten uns gegenüber, und eure Unterstützung dieser Regierungen macht euch direkt verantwortlich! Wir sind im Krieg, und ich bin Soldat!« Das Video, zusammengeschnitten mit einer Ansprache von Bin Ladens rechter Hand, Eiman al Sawahiri, wird Monate nach der Tat vom arabischen Satellitensender Al Dschasira ausgestrahlt. Die vier jungen Männer handelten im Sinne Usama Bin Ladens. Doch sie agierten auf eigene Faust. Das ist der Typ Attentäter, so die Terrorexperten, der Europas Sicherheit am meisten bedroht.

Die Attentäter von London haben eine tiefe Wunde mitten in die Gesellschaft geschlagen. »Eigentlich fahre ich nur noch sehr ungern U-Bahn«, erzählt Mohammed Hamza, ein Student, kurz nach den Attentaten. »Erstens ist mir selbst ein wenig mulmig, wenn ich an die Bomben denke. Zudem starren mich die Menschen an, und ich kann die Angst in ihren Augen sehen.« Auch in Deutschland werden die Blicke auf die Muslime misstrauischer. Könnte so etwas auch bei uns passieren? Die Sicherheitsexperten sagen ja. Deutschland ist trotz seiner Zurückhaltung im Irak-Konflikt mögliches Ziel des Terrors. Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts vom Mai 2006 rechnet knapp die Hälfte der Befragten mit einem größeren Anschlag in der Bundesrepublik. 42 Prozent vermuten unter den in Deutschland lebenden Muslimen Terroristen. Das ist erschreckend. In doppelter Hinsicht. Erstens weil die Angst reale Ursachen hat. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Deutschland Ziel eines Anschlags wird und dass wir dabei Opfer von hausgemachtem Terror werden, dass die Attentäter aus Deutschland kommen. Zum anderen steigert die Angst das Misstrauen – und damit die Ausgrenzung junger Muslime, was wiederum die Terrorgefahr erhöht.

Jung. Männlich. Muslim. Nicht erst seit den Anschlägen von London haben junge Muslime im Westen keinen guten Ruf. Sie gelten als Problemfälle in Schule und Gesellschaft. Viele sehen in ihnen ein Sicherheitsrisiko. Der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh Ende 2004, der Ehrenmord an der alleinerziehenden Mutter Hatun Sürücü in Berlin im Februar 2005, die randalierende Vorstadt-Jugend in Paris und Umgebung im November des gleichen Jahres, der Karikaturenstreit zu Beginn des Jahres 2006 und die Berichte über die Zustände an der Berliner Rütli-Schule, wo türkisch- und arabischstämmige Jugendliche ihre Lehrer terrorisierten, sind nur einzelne Beispiele. Sie bestätigen das Bild, das viele vom Islam haben. Vom Islam? In Deutschland leben rund 3,5 Millionen Muslime. Einer von ihnen hat Hatun Sürücü im Namen der kurdischen Familienehre erschossen. Ebenso reichen aber für einen verheerenden Anschlag in einer deutschen Großstadt auch einige wenige Einzeltäter. Sie sind es, die das Bild in den Köpfen ihrer Mitbürger prägen. Darüber ärgert sich die große Mehrheit der jungen Muslime, die mit Terror, Gewalt und Ehrenmord nichts zu tun haben wollen, die weder Autos anzünden noch ihre Lehrer terrorisieren.

Um diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen soll es im vorliegenden Buch gehen. Wie leben sie? Was wollen sie und wie sehen sie unsere Gesellschaft? Mehr als 50 Interviews, lange Gespräche, Besuche in Moscheen, Jugendzentren und bei Großveranstaltungen sind die Grundlage für diesen Blick in die Welt der jungen Muslime in Deutschland. Worin sehen sie die Ursache für die Gewalt, die von ihren Alters- und Glaubensgenossen im Namen des Islam verübt wird, und was können wir – gemeinsam – gegen die Bedrohung tun? Wie kann verhindert werden, dass in Deutschland aufgewachsene Muslime unsere Gesellschaft so hassen, dass sie bereit sind, ihre Mitbürger in den Tod zu schicken? Wie sehen andere junge Muslime die Attentäter? Sind es Helden, Märtyrer oder Verbrecher? Die Anschläge von London wurden von der überwiegenden Mehrheit der islamischen Organisationen und Würdenträger verurteilt. Im Internet fanden sich jedoch auch Lobeshymnen, und in manchem Jung-Muslim-Treff in Deutschland wurden die Attentäter ebenfalls bejubelt. Dieses Band der Solidarität zwischen den fanatisierten Kämpfern und einer größeren Masse von mehr oder weniger frommen jungen Muslimen – wie kann es zertrennt werden? Wie kann also verhindert werden, dass Hass und Terror in Deutschland Anhänger und Unterstützer finden?

Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in diesem Buch zum Teil ausführlich zu Wort kommen, haben mehrere Gemeinsamkeiten. Sie sind alle in Deutschland aufgewachsen, sind religiös. Sie sind zugleich religiöser und erfolgreicher als die Mehrheit der jungen Muslime in unserem Land, und: Sie wollen etwas verändern. Im Namen des Islam engagieren sie sich in Jugendprojekten, in der Moscheegemeinde oder in selbstgegründeten Frauenzentren. Sie schmieren Butterbrote und verteilen sie an Obdachlose im Frankfurter Bahnhofsviertel, sie unterrichten Deutsch für türkische Importbräute oder tingeln durch Moscheen und predigen einen moderaten, weltoffenen Islam. Viele von ihnen besuchen das Gymnasium, studieren oder haben zumindest Realschulabschluss und Ausbildungsvertrag in der Tasche. Sie zählen auch insofern zu einer Minderheit. Man könnte sie als Vorhut oder Trendsetter bezeichnen, denn sie alle stehen für eine neue Strömung im Islam: die pop-islamische Bewegung.

Diese neue Variante des Islam ist ursprünglich in der arabischen Welt entstanden. Ende der neunziger Jahre begannen Prediger wie der Ägypter Amr Khaled eine freundlich-erfolgsorientierte Botschaft unter der Kairoer Mittelschicht zu verbreiten. Inzwischen hat er Millionen Anhänger, die seinen TV-Sendungen lauschen und in seinem Sinne aktiv werden. Sie nehmen ihr Leben in die eigene Hand. Statt darauf zu warten, dass der Staat ihnen Jobs gibt, gründen sie selbst Kleinbetriebe. Sie sind jung, tief religiös und trendbewusst – und sie wollen die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, aus dem Sumpf ihrer Probleme ziehen. Sie lesen den Koran nicht als Anleitung zum Bombenbau, sondern suchen darin Belehrung für ein besseres, erfolgreicheres Leben. Sie wollen dem Terror etwas entgegensetzen, weil sie Gewalt für den falschen Weg halten und weil sie sich darüber ärgern, dass seit den Anschlägen des 11. September 2001 Islam und Terror für viele im Westen als Synonyme gelten. Viele von ihnen rieben sich die Augen, als sie die Bilder der Flugzeuge im World Trade Center sahen. Ist das wirklich meine Religion, die so etwas befiehlt? fragten sie sich und schauten im Koran nach. Mit dem Lesen in der Heiligen Schrift kam für viele der Glaube und schnell auch das Engagement. So auch unter jungen Muslimen in Deutschland. Hin- und hergerissen zwischen den traditionellen Vorstellungen ihrer Eltern, die aus dörflichen Verhältnissen der Türkei oder der arabischen Welt eingewandert sind, und den Anforderungen des Daseins als Jugendliche in der westlichen Gesellschaft, sehen viele in der Hinwendung zum Islam einen guten Mittelweg. Sie sind selbstbewusste Muslime. Die Mädchen tragen voller Überzeugung das Kopftuch. Schick muss es sein, denn Mode spielt für die jungen Gläubigen eine wichtige Rolle. Die Jungen gehen am Samstagabend lieber zum Koranstudium in die Moschee als in die Disco. Ihr Islamverständnis ist anders als das ihrer Eltern. Ihr Lebensgefühl unterscheidet sie von ihren Mitschülern. Sie gehen eigene Wege.

Die Bewegung ist ebenso global, ebenso fromm und ebenso aktionsorientiert wie Al Qaida, doch sie hat sehr viel mehr Anhänger. Die Pop-Muslime sind eine Art Avantgarde. Viele ihrer Ideen werden von der breiten Masse der gläubigen Muslime geteilt. Die Pop-Muslime sind aber auch deswegen besonders spannende Gesprächspartner, weil sie alles durcheinander bringen. Ihre Mischung aus Islamismus und westlichem Lifestyle, die Herausbildung einer eigenen islamischen Etikette, die beispielsweise den Umgang der Geschlechter in islamisch korrekter Weise regelt, und zugleich der unbedingte Wille, in der deutschen Gesellschaft erfolgreich zu sein, sprengen die herkömmlichen Raster. Einerseits gehören viele von ihnen zu islamistischen Organisationen, die vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft werden. Andererseits scheinen sie geeignete Ansprechpartner zu sein, wenn es darum geht, Konzepte und Strategien zu entwickeln, wie Muslime in Deutschland besser integriert werden können. Was sind das für junge Menschen? Was wollen sie und wie soll die deutsche Gesellschaft auf sie reagieren?

Der Begriff Pop-Islam steht für den Remix der Lebensstile. Die Jugendlichen greifen westliche Mode, Musik und TV-Kultur auf und versehen sie mit islamischem Vorzeichen. Pop steht hier einerseits für das moderne, westliche Element der neuen Jugendbewegung; Pop-Musik gilt seit dem Erfolg des frommen Sängers Sami Yusuf als islamkompatibel, und die Verehrung mancher der Prediger erinnert an die Vergötterung westlicher Pop-Stars. Zugleich steht Pop auch für das Gewöhnliche. Pop-Kultur im Sinne der von der Frankfurter Schule beschriebenen Kulturindustrie bezeichnet eine marktkonforme, nicht sehr subtile, nicht sehr intellektuelle und vor allem wenig emanzipatorische Mainstream-Kultur. Zu eingängiger Pop-Musik wippt fast jedem automatisch der Fuß. Wenn Amr Khaled seine Gebete spricht, dann treten auch gestandenen Männern die Tränen in die Augen. So wie Klassik-Liebhaber einerseits und die Freunde der Independent-Musik andererseits ihre Nase über Madonna-Fans rümpfen, grenzen sich sowohl Islamgelehrte als auch Anhänger radikalpolitischer islamischer Bewegungen vom Pop-Islam ab. Ihnen ist die Botschaft der hippen Prediger zu flach, zu allgemeinverträglich und zu konformistisch. Man könnte die Anhänger der Jugendbewegung als Islamisten bezeichnen. Sie vertreten alle ein ganzheitliches Islamverständnis, sehen Politik und Religion selbstverständlich als eine Einheit. Sie nehmen die Religion als Leitlinie für das politische Handeln. Allerdings wird in manchen Teilen der öffentlichen Diskussion der Begriff des Islamismus weitergehend definiert. Schaut man in den Verfassungsschutzbericht, so zeichnen den Islamisten darüber hinaus seine Intoleranz und eine generelle Demokratie-Unverträglichkeit aus. Dies kann so pauschal den Anhängern des Pop-Islam nicht nachgesagt werden. Zudem haben viele der Jugendlichen ein puzzleartig zusammengesetztes Weltbild und ein ebensolches Islamverständnis. Eine genaue Beschreibung erscheint daher angemessener als das eher pauschale Islamisten-Label.

Ludwig Ammann beschreibt in seinem Buch »Cola und Koran« diese Bewegung und nennt sie »islamisches Erwachen«. Mecca-Cola, die islamisch korrekte Konkurrenz amerikanischer Brause, ist für ihn das perfekte Symbol des neuen Selbstverständnisses junger Muslime. Patrik Haenni nennt den neuen Trend »Konsum-Islam«. Andere, wie Jocelyne Cesari, Ralph Grillo und Benjamin Soares behandeln die Identitätssuche junger Muslime im Westen unter dem größeren Stichwort »transnationaler Islam« und rücken die globalen Verbindungen und die Wechselwirkung zwischen islamischen Gemeinschaften in verschiedenen Teilen der Welt ins Zentrum der Betrachtung.

Ausgangspunkt für das vorliegende Buch war ein Donnerstagabend in einer halbfertigen Riesenmoschee am Rande Kairos. Mehrere tausend Jugendliche versammelten sich, um der Stimme ihres Stars zu lauschen: Amr Khaled. Das war 2002. Interviews mit den anderen Helden der neuen Bewegung wie Sami Yusuf und dem TV-Gelehrten Scheich Qaradawi, Begegnungen mit zahlreichen Aktivisten der verschiedenen islamischen Strömungen von moderat bis militant in arabischen Ländern sowie unzählige Begegnungen mit ganz normalen Jugendlichen und viele Stunden arabische Talkshows, Vorabendserien und Nachrichtensendungen im Fernsehen bilden die Grundlage der vorliegenden Beschreibung. Die Beobachtungen aus der arabischen Welt waren der Anknüpfungspunkt für die Gespräche mit jungen Muslimen in Deutschland. Obwohl der Pop-Islam – ähnlich wie sein Gegenpart, der Dschihad-Islam – seinen Ursprung in der arabischen Welt hat, teilen auch viele türkische Jugendliche in Deutschland die Ideen. Manche greifen die Anschauungen des Predigers Amr Khaled auf und entwickeln sie weiter, ohne dass sie seine Sendung im Fernsehen verfolgen. Selbst die raffinierte Art Kairoer Studentinnen, das Kopftuch zu binden, findet man bei jungen Frauen an der Universität Frankfurt wieder.

Im ersten Teil des Buches werden die Entstehung der pop-islamischen Bewegung, ihre Wurzeln und ihre Anhänger in der arabischen Welt beschrieben. Im Hauptteil kommen die Pop-Muslime in Deutschland zu Wort. Im dritten Teil – als Schlussfolgerung des Vorherigen – soll es um Fragen des gesellschaftlichen Umgangs mit dieser neuen Bewegung gehen. Angesichts der zunehmenden Bedrohung der deutschen Gesellschaft durch Terror und Gewalt im Namen des Islam scheint es dringend an der Zeit, eine gesellschaftliche Anti-Terror-Strategie zu entwickeln – und nicht nur eine militärische. Am Anfang steht die Einsicht, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als zusammenzuleben. Der Karikaturenkonflikt sollte uns eine Lehre sein. Statt uns weiter ins Getümmel zu stürzen, ist es höchste Zeit, die Notbremse zu ziehen. Wir sind alle aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen. Was wir brauchen, ist eine Deeskalation im Kampf der Kulturen.

Die internationale Bewegung der Pop-Muslime

I love Islam! – Entstehung einer neuen Bewegung

Der Islam hat ein neues Gesicht. Ein ziemlich cooles. Halblange Haare, eine randlose Brille und einen Zweieinhalbtagebart: Sami Yusuf fläzt sich auf einem abgewetzten Ledersofa. Aus den Studioboxen erklingt seine Stimme. Immer wieder die gleichen Akkorde seines neuen Songs. Der Toningenieur schiebt am Regler. Ein bisschen mehr Bass oder den Gesang noch etwas verstärken? Sami Yusuf traktiert ihn mit Albernheiten. Tonstudioatmosphäre. Es fehlen nur der überquellende Aschenbecher und die Flasche Whisky. Doch so was gibt es nicht, wenn Sami Yusuf in seinem Lieblingsstudio in Kairo ein Lied aufnimmt. Er ist frommer Muslim, und das ist ihm wichtig. Er ist das Idol der Pop-Muslime. Sie versehen Musik, Talkshows und Mode mit islamischem Vorzeichen und eignen sie sich dadurch an. Fünf Mal am Tag beten und fasten im Monat Ramadan, das ist nicht mehr nur was für alte Leute und Langbärte. Seit es diese schicken neuen Kopftücher und die Sweatshirts mit Dawa-Aufdruck gibt, kann es sogar richtig cool sein, an Gott zu glauben. Wer Dawa mit Mission übersetzt, bekommt von überzeugten Muslimen gleich einen Rüffel. Dawa bedeutet wörtlich Einladung, und es ist eine Pflicht für jeden Muslim, andere Menschen zum Glauben einzuladen. Und das tun die Pop-Muslime: Sie wollen den Islam verbreiten – ihre Lesart der Religion. Die neue Jugendbewegung nennt sich Sahwa (Erweckung) und stellt sich damit in die Tradition früherer islamischer Jugendbewegungen. Allerdings ist die neue Sahwa ziemlich unpolitisch, spaßorientiert und versteht sich als Gegenbewegung zum engstirnigen Dschihad-Islam von Usama Bin Laden und anderen. Mit den Typen, die im Irak Ausländer entführen und köpfen, die in europäischen Städten Massaker in U-Bahnen anrichten oder in Ägypten Touristen-Cafés in die Luft sprengen und dies im Namen des Islam tun, wollen sie nichts zu tun haben. Sie ärgern sich darüber, dass die Terroristen das Bild des Islam bestimmen, obwohl die Anhänger des Dschihad-Islam nur eine winzige Minderheit ausmachen. In den vergangenen Jahren hat es in der islamischen Welt eine massive Hinwendung zur Religion gegeben, gerade unter jungen Menschen. Die große Mehrheit von diesen neuen jungen Gläubigen hält den Islam für eine friedfertige Religion. Wer will schon Usama Bin Laden zuhören, wenn Sami Yusuf gerade eine neue CD herausgebracht hat?

»Jeden Tag sehe ich dieselben Headlines,

Verbrechen im Namen des Herrn.

Menschen begehen Grausamkeiten in seinem Namen.

Sie morden und entführen, ohne sich zu schämen.

Aber hat er uns Hass, Gewalt und Blutvergießen gelehrt?

Nein ... oh nein!

Er hat uns Brüderlichkeit gelehrt.

Gegen Vorurteile hat er sich gewehrt.

Er hat Kinder geliebt. Ihre Hände hat er gehalten.

Er hat seine Anhänger gelehrt, die Alten zu schützen.

Würde er es also erlauben, ein unschuldiges Kind zu ermorden? Nein ... oh nein ...«

So heißt es in Sami Yusufs Song »Muhammad«. Den Refrain »Muhammad ya rasulallah« (Mohammed, du Prophet Gottes) gibt es auf seiner Homepage zum Herunterladen: als Klingelton fürs Handy. Dass nicht wenige Religionsgelehrte Musik als Teufelszeug verdammen, hält Sami Yusuf für eine neuzeitliche Fehlinterpretation. »Es hat in der islamischen Welt schon immer Musik gegeben. Das Wissen darüber wurde nur verschüttet«, sagt er. Im islamischen Andalusien habe es berühmte Musiker gegeben, die mit einem ganzen Tross von Anhängern durchs Land gezogen seien. Die Musik diente der Religion, brachte die Menschen näher zu Gott. Diese alte Tradition will er wieder beleben – und zwar in großem Stil. Sami Yusuf, Sohn aserbaidschanischer Eltern, ist in Großbritannien aufgewachsen. Er hat an der Royal Academy in London klassische Musik studiert. Sein Vater, selbst Komponist und Poet, hat ihn in die orientalische Musik eingeführt. »Mit sechzehn entdeckte ich meine Religion. Ich habe viel gelesen und gute Lehrer gefunden, Al Hamdulillah« (Gott sei Dank), erzählt er: »Ich habe dann beschlossen, mit meiner Musik dem Islam zu dienen.« Seine CD »Al Muallim« (der Lehrer) hat sich über eine Million Mal verkauft. Der Titelsong war drei Monate lang auf Platz eins der türkischen Charts. Im September 2005 kam »My Ummah« heraus und verkaufte sich noch besser.

»Lass die Umma sich wieder erheben,

lass uns wieder das Licht erblicken, noch einmal.

Lass uns wieder eins werden, wieder stolz,

ich schwöre, wenn wir den starken Glauben in unseren

Herzen haben,

dann können wir den Ruhm der Vergangenheit

wiedererlangen.«

Umma bezeichnet die Gemeinschaft der Muslime. Die pop-islamische Bewegung zielt darauf ab, der muslimischen Jugend aus ihrer Identitätskrise zu helfen. Sie gibt Antworten auf die Frage, was eigentlich richtig ist und was falsch in dieser verwirrenden Welt. Die Bewegung will aber auch bei Nicht-Muslimen Werbung machen für den Islam. Sie will vermitteln, dass der Islam barmherzig ist und nicht brutal, will Vorurteile abbauen und erreichen, dass vielleicht der eine oder andere den Islam als Lösung begreift und konvertiert. Ob man es nun Mission, Überzeugungsarbeit oder Islam-PR nennt, klar ist, dass ihr Sendungsbewusstsein eine wichtige Rolle für die Bewegung spielt.

Sami Yusuf kombiniert die traditionellen Inshad-Gesänge, mit denen seit Jahrhunderten der Prophet gepriesen wird, mit Pop-Elementen. Instrumente werden nur sehr sparsam eingesetzt. Wenn er singt, klingt es nahöstlich, doch seine Worte sind Englisch. Ab und zu lässt er eine arabische Strophe einfließen. Für Westler klingt dies exotisch. Für Araber auch, denn Sami Yusuf spricht Arabisch mit britischem Akzent. Er mischt Rhythmen und Lebensgefühl aus beiden Welten. Er lebt zwischen Manchester und Kairo, und er hat Fans in der ganzen Welt. In Indonesien sind seine Konzerte ausverkauft, und auch aus Deutschland bekommt er Fanpost: »Wer Deine Musik hört, dem schmilzt das Herz. Bitte mach, dass alle Menschen sie hören und so zum Islam finden«, schreibt etwa »Turkishgirl« aus Köln im Chat auf Sami Yusufs Homepage. Im Frühjahr 2006 startet er zu einer Welttournee. 14 000 kamen in die Köln-Arena. Weiter geht’s nach Dschidda in Saudi-Arabien, auch Doha am Persischen Golf steht auf dem Tour-Plan.

»Ich bin kein Missionar und auch kein religiöser Prediger!« betont Sami Yusuf. Für ihn stehe die Musik im Vordergrund. Sein Producer reicht ihm eine Tasse türkischen Mokka. Er nippt daran, stellt das filigrane Tässchen vorsichtig auf die Untertasse und balanciert beides auf die Lehne des Sofas. »Ich singe auch nicht nur direkt über den Islam. Ich singe über das Gute im Menschen, das, was uns alle verbindet. Aus meiner Sicht sind gute Muslime in erster Linie gute Menschen«, sagt er, »ich freue mich, dass ich mit meiner Musik bei diesem Projekt – das Positive zu fördern – mitmachen kann.« Ein Teil seines Erfolgs ist, dass Sami Yusuf religiös ist und dies zeigt. Um die anstößigen Seiten der westlichen Popindustrie, um wilden Sex und Drogen, macht er einen weiten Bogen. Seine Musik ist sauber. Das kommt an.

Inshad-Gesänge gab es auch bei den Versammlungen der islamischen Studentenbewegung der 70er und 80er Jahre. Damals waren es Protestsongs. Sie riefen die Jugend zum Kampf auf, zum Dschihad mit Waffen. Sie wollten die ungläubigen Regierungen stürzen und einen islamischen Staat errichten. Auch die neue Bewegung setzt auf Dschihad, allerdings verstehen sie diesen im wörtlichen Sinn: Dschihad, abgeleitet von der Wurzel Dscha-hada, »sich bemühen«. So steht es im Lexikon. Dschihad ist für sie die Anstrengung jedes Einzelnen, Gott noch besser zu dienen: nicht durch Gewalt, sondern durch ein erfolgreiches Leben. Die neue islamische Jugendbewegung will keine Regierungen mehr stürzen. Der islamische Staat ist für sie als Utopie in weite Ferne gerutscht. Sie wollen die Gesellschaft verändern, indem sie bessere Menschen werden. Nicht Askese, sondern Erfolg und Wohlstand sind das Ideal. »Ich bin besonders froh, dass auch viele Nicht-Muslime meine Musik mögen«, sagt Sami Yusuf. Sein Ziel sei, den westlichen Musikmarkt zu erobern und mit europäischen Musikern zusammen Songs aufzunehmen. Die islamischen Ideen sollen im Westen Gehör finden. Aber es geht nicht nur um Dawa – Werbung für den Islam. Es geht auch um Anerkennung. »Ich glaube, meine Fans in der islamischen Welt fänden das toll. Wenn einer von uns Erfolg hat, dann macht das die anderen stolz«, sagt er. Es geht um wirtschaftlichen Aufstieg und die Anerkennung, die daraus folgt. Die islamische Umma will einen Platz auf der Weltbühne haben.

Die Bewegung erfasst nicht so sehr die Desperados in den Vorstädten. Die Mittelschicht-Jugend hat die Religion für sich entdeckt. Satellitenfernsehen und Internetzugang gehören zu ihrer Grundausstattung. Die neuen Frommen kommen genau aus der Schicht, aus der Elite in der islamischen Welt, von der man bisher annahm, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie zu einer identischen Kopie der Jugend im Westen werde. Viele haben westliche Schulen besucht, doch gerade unter den Studenten der Amerikanischen Universitäten in Kairo, Beirut und Sharjah ist das religiöse Erwachen extrem hip. Aber auch die weniger privilegierte Jugend macht mit. Schließlich sind die Studenten der privaten Unis für viele ein Vorbild.


Der Pop-Islam ist global: Egal, ob die jungen Muslime in Kairo, Singapur oder Berlin zu Hause sind, sie fühlen sich zugehörig zu einer großen Gemeinschaft. Sie schauen die gleichen TV-Programme, hören die gleiche Musik und tragen ungefähr die gleiche Mode. Sie verbindet, dass sie im Koran nach dem Sinn des Lebens suchen, die moralische Dekadenz des Westens ablehnen und sich über die Nahostpolitik der USA ärgern. Noch ärgerlicher finden sie jedoch, dass die Menschen im Westen alle frommen Muslime für potentielle Terroristen halten. »Ich glaube, dass Sami Yusuf auch deshalb so erfolgreich ist, weil er schon äußerlich das absolute Gegenteil von Usama Bin Laden darstellt«, erklärt der 21-jährige Computeringenieur Yaqueen, der gerade sein Studium an der Kairo-Universität abgeschlossen hat.

Generation 11. September

Direkt nach den Anschlägen vom 11. September 2001 dachten viele Jugendliche noch, dass die Angriffstrategie von Usama Bin Laden vielleicht etwas bewirken könnte. »Seine Methoden sind falsch, aber er ist einer von uns, und er hat der Welt mitgeteilt, dass die islamische Jugend etwas zu sagen hat. Statt wie Kaninchen vor der Schlange zu sitzen und darüber zu jammern, dass unsere Länder besetzt sind und in Palästina Krieg herrscht, tut er wenigstens etwas«, erklärt Sainab Abul Magd, Journalistin aus Kairo, kurz nach den Anschlägen. Die Frau Anfang dreißig mag modische Handtaschen und spannende Romane. Mit der Idee eines islamischen Staates und den puritanischen Lebensvorstellungen der Al Qaida kann sie hingegen wenig anfangen. Wenn sie an die Stellung der Frauen im Afghanistan der Taliban denkt, muss sie sich schütteln. Als sie jedoch am 11. September 2001 die Bilder der Flugzeuge sah, die in die Zwillingstürme rasten, da habe sie erst einmal gejubelt, gibt sie zu. Kleinlaut, denn nachträglich ist es ihr peinlich – angesichts der Toten und vor allem angesichts des Krieges, den die Angriffe auf New York und Washington ausgelöst haben. Was sie fasziniert, ist das Symbol, das Usama Bin Laden gesetzt hat. »Als ich das Video gesehen habe, da ist mir ganz schwindelig geworden«, beschreibt sie das Fernseherlebnis des 6. Oktober 2001: Usama Bin Ladens erste Videobotschaft wird im Satellitenkanal Al Dschasira ausgestrahlt. »Dieser Blick, diese Stimme. Ich hatte das Gefühl, er spricht direkt zu mir.« Auch die Botschaft kommt an. Zumindest der politische Teil: Endlich zeige jemand den USA, dass sie sich nicht alles erlauben können, zum Beispiel in Palästina.

Sainab Abul Magd ist wie die Mehrheit der Jugend in der arabischen Welt geprägt von dem, was sie täglich in den Nachrichten sieht: Elend, Gewalt und Ungerechtigkeit. 2001 liefern sich israelische Soldaten und palästinensische Jugendliche erbitterte Kämpfe. Über den Demonstranten kreisen Armee-Hubschrauber, und die Kommentatoren arabischer Satellitensender versäumen nicht, darauf hinzuweisen, dass diese aus amerikanischer Produktion stammen. Der Kampf in Palästina nimmt großen Platz in der Berichterstattung ein, und täglich, stündlich, ständig wird den Zuschauern ihre eigene Hilflosigkeit vorgeführt. Sie sitzen mit geballter Faust vor dem Bildschirm und können nichts tun. Selbstmordattentate sind für sie dann nachvollziehbar. Scheinbar haben die Jugendlichen in Palästina nichts zu verlieren und keinen anderen Ausweg. Von der Fernsehgemeinde werden sie als Märtyrer verehrt. Angesichts der vielen blutigen Bilder stumpfen die Zuschauer ab: Das Leben einzelner Menschen scheint wenig zu zählen, zumindest solange man in die TV-Röhre schaut. Als 2003 der Krieg im Irak beginnt, tut sich ein Aktionsfeld für junge Männer aus der arabischen Welt auf. Einige machen sich auf und ziehen in den Kampf gegen die US-Truppen, andere greifen die Idee Usama Bin Ladens auf, planen Anschläge in der arabischen Welt, in Europa und Asien. Endlich können sie etwas tun. Doch die Kämpfer sind wenige, extrem wenige. Die überwältigende Mehrheit der jungen Araber sitzt Abend für Abend auf dem Sofa oder im Kaffeehaus und sieht die Bilder der Kämpfe im Fernsehen. Sie sehen Gewalt und Ungerechtigkeit, und viele sind davon überzeugt, dass der Westen Krieg führt gegen den Islam. Voll Hass und Angst vor der Zukunft schauen sie in Richtung USA und Europa.

Mit Religion und Kultur hat dies erst einmal wenig zu tun. Hier geht es um Politik, Macht und Krieg. Die Kultur wird von den Kriegsführern nur benötigt, um den Menschen zu verdeutlichen, dass sie anders sind als der Feind. Die Religion setzen Bin Laden und andere ein, um die Menschen zum Äußersten zu motivieren. Mit dem Koran haben die Selbstmordattentate so wenig zu tun, wie Bushs Kreuzzug gegen den Terror mit der Bibel. Aber es sind noch weitere Interessen im Spiel. Die arabischen Medien nehmen die Konflikte in Palästina und dem Irak in den Fokus. Natürlich, es ist Krieg, aber das, was dort im TV zu sehen ist, geht über Berichterstattung weit hinaus. Man könnte die Idee dahinter als Frustumlenkung bezeichnen. Sie dient den Interessen der Machthaber in der Region. Solange die Menschen voller Zorn auf die Israelis blicken, kommen sie nicht auf die Idee, gegen ihre eigene Regierung zu protestieren und bessere Zukunftschancen zu fordern. Dabei hätten sie allen Grund dazu1: Gut die Hälfte der Menschen in der arabischen Welt ist unter 18 Jahre, 70 Prozent sind jünger als 35. Sie brauchen Ausbildung und Jobs. Die Arbeitslosenquote kann nur geschätzt werden. Sie soll für die ganze arabische Welt bei mindestens 15 bis 20 Prozent liegen.


Sainab Abul Magd hat nach ihrem Studium zunächst als Lehrerin gearbeitet. Umgerechnet 45 Euro im Monat verdiente sie. Das ist zu wenig, um davon zu leben, und zu wenig, um einen guten Unterricht zu machen. Sie wurde Journalistin und arbeitet – wie viele Ägypter – in mehreren Jobs. Vormittags bei einer Illustrierten, nachmittags bei einem privaten TV-Sender, und nebenbei schreibt sie Artikel für eine Tageszeitung. So kann sie über die Runden kommen, aber nur knapp. Für eine Familiengründung reicht es nicht. Das gilt auch für viele ihrer männlichen Kollegen. Für Sainab ist kein passender Kandidat in Sicht, keiner, der es sich leisten könnte. So ist das Hochzeitsalter im vergangenen Jahrzehnt drastisch gestiegen. Früher war eine 30-jährige Single-Frau etwas Anormales, heute ist es das absehbare Schicksal vieler. In einer Gesellschaft, wo Sex vor der Ehe ein echtes Tabu ist, bringt das lange Warten auf den großen Tag enorme Probleme. Zur wirtschaftlichen Misere kommt der Mangel an Freiheit, Bildung und Frauenrechten. Das hat der viel zitierte arabische »Bericht zur Menschlichen Entwicklung« von 2003 festgestellt. Das Team arabischer Autoren zeichnet ein schauriges Bild und reiht die Region ganz hinten in die Erfolgsliste der Weltgemeinschaft ein. Als Looser. Natürlich, über diesen Bericht wurde im arabischen Fernsehen viel debattiert und gestritten. Er wurde gelobt und zerpflückt, wie fast alles. Talkshows sind, seit Al Dschasira 1996 auf Sendung ging und den Satellitenhimmel für die Meinung und die Gegenmeinung öffnete, sehr beliebt. Je kontroverser und radikaler, desto besser – echte Polit-Unterhaltung. Allerdings sind journalistisch recherchierte Nachrichten-Stücke über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Alltagsmisere beispielsweise der ägyptischen Jugend vergleichsweise selten. Stattdessen: Breaking News aus Palästina. Viele bekommen den Eindruck, dass ihre konkreten Alltagsprobleme sich nur lösen lassen, wenn der Konflikt in Palästina beendet wird. Dass sie erst dann zu ihren Rechten kommen, wenn das palästinensische Volk zu seinem Recht kommt. Wenn dann ein Usama Bin Laden im Namen des Islam und der islamischen Umma dem Westen, dem Feind, der vermeintlich für das Übel ursächlich verantwortlich ist, eins auswischt, dann kann man schon einmal kurz daran glauben und in seiner Verwirrung jubeln. Die Welt aus arabischer Sicht sieht eben anders aus, als wenn man sie vom nördlichen Ufer des Mittelmeers aus betrachtet. Dies gilt ganz besonders, da die meisten die Realität vornehmlich aus dem Fernsehen kennen. So haben viele Jugendliche in der arabischen Welt in ihrem Herzen eine kleine Nische eingerichtet und eine Heldenstatue hineingestellt: Sie trägt Fusselbart und Turban und sieht genau so aus wie Usama Bin Laden.

Allerdings verändert sich die Stimmung schnell, besonders im Bezug auf den Kampf im Irak. Die Kämpfer gegen die US-Armee können sich der Sympathie der jungen TV-Zuschauer sicher sein, es sei denn, sie wenden zu brutale Methoden an. Bomben gegen Zivilisten, Entführung und Hinrichtung von Geiseln, das geht den meisten Menschen zu weit. Sie wenden sich ab. Aber nur kurz, denn es geht weiter. Die Veröffentlichung der Folterbilder aus dem Gefängnis Abu Ghraib bei Bagdad im Sommer 2004 führt dazu, dass viele in der Region ihren Glauben an den Westen verlieren. Wie kann man in ein Land einmarschieren, angeblich, um es von der Diktatur zu befreien, und dann solche Verbrechen begehen? Die Bilder von misshandelten und erniedrigten Gefangenen haben sich tief in das Hirn eingefressen. Vielleicht ist der bewaffnete Kampf doch der richtige Weg? Gegenüber Menschen, die andere Menschen so quälen, braucht man keine Skrupel zu haben. Die kennen 2004 die Kampftruppen des Al-Qaida-getreuen Kommandanten Abu Musab al Sarkawi2 im Irak auch nicht. Die Enthauptung der britischen Entwicklungshelferin Magaret Hassan geht den Sympathisanten an den Fernsehgeräten dann aber doch zu weit. Die Terrortruppe sinkt in ihrer Gunst. Auch wenn man den Westen verabscheut und durch zuviel Krieg im TV abgestumpft ist für menschliches Leid, gibt es eine Grenze. Ahmed Husny, Moderator einer sehr beliebten Anrufsendung auf dem Satellitensender Al Arabiya, datiert einen massiven Stimmungsumschwung unter der arabischen Jugend auf den Herbst 2004. In seiner wöchentlichen Sendung greift er jeweils ein aktuelles, kontroverses Thema auf und lässt seine Zuschauer live ihre Meinung sagen. Zunächst habe er unter seinen irakischen Zuschauern festgestellt, dass diese die Methoden der militanten Kämpfer im Zweistromland zunehmend distanziert betrachten. Nach und nach zweifelten dann jedoch auch die Anrufer aus anderen Ländern daran, dass die Gruppe von Abu Musab als Sakarwi tatsächlich im Interesse der islamischen Umma handele.


»Wenn ich glauben würde, dass man solche Grausamkeiten mit dem Islam begründen darf, dann wäre ich kein Muslim mehr«, fasst Moez Massoud dieses Gefühl in Worte. Der Ägypter ist Talk-Master einer islamischen Show und erfolgreicher Computer-Unternehmer. Er zählt sich zum Mainstream des neuen islamischen Bewusstseins. »Man betrachtet Usama Bin Laden als jemand, der es geschafft hat, dem Westen zu zeigen, dass wir es können. Und das ist der Punkt, über den sich arabische Menschen freuen«, beschreibt Mohammed Ali die Einstellung zu den Anschlägen des 11. September 2001. Der blitzschnell redende und noch schneller denkende Ägypter Mitte 20 arbeitet als Marketingexperte in Dubai: »Dabei sind unschuldige Zivilisten umgekommen. Das stimmt. Aber dieser Vorwurf verfängt in diesem Teil der Welt nicht, denn hier werden ständig unschuldige Zivilisten getötet. Es gibt kaum eine Familie, die keinen Toten zu beklagen hat, der von einem westlichen Soldaten umgebracht wurde.« Allerdings würde er Usama Bin Laden nicht als Held der arabischen Jugend bezeichnen. Denn er macht ihnen das Leben schwer. Extrem schwer: »Es macht im Moment keinen Spaß, als Araber durch die Straßen von London oder New York zu laufen«, sagt er. Egal wo er hinkomme, er habe das Gefühl, der Schatten von Usama Bin Laden verfolge ihn. Er ist nach Dubai gegangen, weil dort auch etwas entsteht, was Symbolcharakter hat. Die Boom-Metropole am Persischen Golf mit Wachstumszahlen von 17 Prozent und mehr beweist, dass Erfolg trotz allem auch in der arabischen Welt möglich ist.3 Davon lässt sich die Welt dann vielleicht auch beeindrucken. Vielleicht sogar mehr als durch Gewalt und Zerstörung. So hofft er.

Die Medien haben Usama Bin Laden zum Star der muslimischen Jugend gemacht. Wer würde den graubärtigen Mann in den Bergen des Hindukush kennen, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit per Videobotschaft melden könnte? Wer würde ihn unterstützen, wenn nicht die TV-Zuschauer das Gefühl hätten, dass Israel und die USA die eigentlichen Verursacher ihrer Misere sind und deswegen bekämpft werden müssen? Usama Bin Laden ist ein Produkt der Medien. Doch ohne die Medien gäbe es auch keine Gegenbewegung.

Das Erwachen – Neue Identität und gutes Geschäft

Die pop-islamische Bewegung hat keine Zentrale und kein Manifest. Dafür gibt es Stars, Internetseiten, TV-Sender und Modeproduzenten, die sich der Idee verschrieben haben. Sie glauben, dass eine bessere Welt möglich ist, wenn sich alle an den Islam halten. Den richtigen Islam natürlich. Die Bewegung ist älter als der Krieg gegen den Terror. Doch der 11. September 2001 hat dem Pop-Islam enormen Zulauf gebracht. »Der 11. September war eine Katastrophe«, sagt Mohammed Hamdan. Der 30-Jährige ist stellvertretender Manager des Satellitensenders Iqra-TV und leitet das Studio in Kairo. »Aber man kann sagen, dass dieses Verbrechen auch eine gute Seite hatte: Die Menschen haben angefangen, sich für den Islam zu interessieren«, sagt er und wippt kurz mit seinem Lederchefsessel nach hinten. Mit seinem Streifen-Hemd und dem Jungengesicht erinnert er an einen Jung-Unternehmer des europäischen New-Economy-Traums. Sehr lässig. »Unsere Länder werden von fremden Einflüssen überspült, und wir wissen gar nicht mehr, wer wir eigentlich sind. Die Jugend braucht in dieser Krise Leitfiguren. Iqra versucht, ihnen einen Weg zu weisen, der mit Extremismus und Gewalt nichts zu tun hat«, sagt Mohammed Hamdan. Iqra! bedeutet »Lies!« oder »Rezitiere!«. Dies war das erste Wort, das dem Propheten Mohammed offenbart wurde. Iqra-TV sendet 24 Stunden am Tag, denn Muslime gibt es auf der ganzen Welt, und irgendwo ist immer jemand wach, dem die Botschaft des richtigen Islam verkündet werden soll.

Iqra-TV war der erste von inzwischen einem knappen Dutzend Islam-only-Satellitensendern. Der Sender wurde 1998 gegründet und gehört zur saudisch finanzierten ART-Gruppe. ART steht für Arab Radio and Television. Die Gruppe gibt es seit Anfang der 90er Jahre. Besitzer ist der saudische Medien-Mogul Scheich Salah Kamel4. Die Unterhaltungsprogramme sollen der arabischen Familie eine Alternative zu den unanständigen westlichen Satellitenprogrammen bieten. Vorabendserien über Saladin statt polnischer Soft-Pornos. Mohammed Hamdan sieht seinen Sender als Sprachrohr der neuen Jugendbewegung. Es sei schön, dass die Jugend sich wieder verstärkt der Religion zuwende. Wenn er sich umschaue, greifen überall junge Mädchen zum Kopftuch. Unter den Shibab (den Jugendlichen) gilt es als schick, wieder zum Gebet in die Moschee zu gehen. »Al Hamdulillah!« (Gott sei Dank), sagt Mohammed Hamdan. Dennoch könne er sich noch nicht zurücklehnen: »Wir müssen weiter an uns arbeiten. Wir müssen ehrlicher werden und noch mehr Menschen erreichen. Die Sahwa (das Erwachen) ist noch unreif, weil wir noch unreif sind. Noch gibt es Menschen, die glauben, dass Tod und Gewalt mit dem Islam in Einklang stehen. Solange dies so ist, haben wir unser Ziel noch nicht erreicht«, sagt er. »Wir wollen Frieden, Produktivität und Freundschaft für die Muslime und für die ganze Welt.« Der Islam, den Jugendliche bei Iqra zu sehen bekommen, sieht modern aus, seine Ausrichtung ist jedoch zumeist eher konservativ: Islamische Etikette, Geschlechtertrennung, Enthaltsamkeit vor der Ehe und die Mädchen möglichst mit Kopftuch. An diesen Eckpunkten führt kaum ein Weg vorbei. Die Prediger ziehen Parallelen zwischen dem Vorbild des Propheten Mohammed und dem Leben normaler Jugendlicher heute, sie passen die Botschaft an den heutigen Alltag an, aber nur vorsichtig. Interpretiert wird nicht. Schließlich sind die Prediger keine Gelehrten, und nur die dürfen den Koran neu auslegen. Der Typ des Predigers ist nicht neu, auch in früheren Zeiten traten Menschen auf, die sich als Da’iyas, als Dawa – Machende, als Einladende bezeichneten. Neu ist, dass es so viele sind, die sich in diesem Bereich engagieren. Es ist ein neues Berufsfeld für talentierte Jugendliche entstanden, die nach ihrem religiösen Erwachen ein Betätigungsfeld außerhalb des normalen Show-Business suchen. Damit beim Transport der religiösen Botschaft keine Pannen passieren, sendet Iqra-TV niemals live, und jeder Satz wird vor der Ausstrahlung von einem Religionsgelehrten kontrolliert. Geprüft wird, ob die Koranzitate stimmen, die Lebenstipps islamkonform sind und die Botschaft zur Linie passt.

Iqra-TV ging auf Sendung, weil die Nachfrage nach Religion gerade bei den Jugendlichen stieg. Das Programm wird zum großen Teil in Dubai und Kairo produziert und kann weltweit empfangen werden. Auch in Deutschland hat der Sender viele Zuschauer. Iqra bietet seinen konservativen Islam in verschiedenen Darreichungsformen an: Religionsgelehrte vom Golf in traditionellem Gewand warnen vor den Höllenqualen, die schlechte Muslime im Jenseits erwarten. Die Talkmasterin Abeer Sabri hingegen plaudert mit Jugendlichen über das Leben. Bis vor kurzem war sie in eher schlüpfrigen Rollen im Kino zu sehen. Jetzt ist sie einer der Stars von Iqra. Ihre Art, das Kopftuch besonders bauschig um den Kopf zu stecken und das Kinn mit einer extra Stoffschicht zu betonen, wird von Teenies tausendfach kopiert.

Auch Mohammed Hamid war schon bekannt, bevor er seine Koran-lern-Show bekam. Vor fünf Jahren gründete der gelernte Buchhalter Anfang dreißig sein »Haus des Korans«. Es liegt im vierten Stock eines Bürohauses im Kairoer Gute-Leute-Viertel Mohandessin: Marmorboden, eine freundliche Angestellte hinter der Empfangstheke. Mohammed Hamids Zentrum erinnert eher an ein Fitnesscenter als an eine Religionsschule. »Wir haben neue didaktische Methoden entwickelt, mit denen die jungen Leute hier den Koran lernen«, erklärt Mohammed Hamid. Auf dem flauschigen Teppichboden des Gebetsraumes sitzen Frauen in Zweiergruppen. Die eine hört die andere ab. Wenn der Vers sitzt, macht sie ein Häkchen auf dem Trainingsplan. »Das Auswendiglernen des Korans verändert den Menschen. Die Religion erklärt den Sinn unserer Existenz. Vielleicht kann man es vergleichen mit Sozialisten. Sie haben ein Gefühl, aber erst wenn sie das ›Kapital‹ von Marx studiert haben, bekommt dieses Gefühl ein solides Fundament«, erklärt er. Koranschulen gelten als archaische Bildungseinrichtungen – Auswendiglernen statt Nachdenken. Mohammed Hamid hat ihnen mit seinem »Haus des Korans« eine neue Form und damit neues Ansehen gegeben. Er hat moderne Methoden eingeführt, und die freundlich gestalteten Räume haben mit den kargen Moscheeschulen, in denen in armen Gegenden der arabischen Welt Kindern bis heute von autoritären Gelehrten Sure für Sure eingepaukt wird, nichts gemein. Der Inhalt ist der gleiche, doch die Form wurde – passend zur trendbewussten Klientel – modernisiert. Koransuren herunterschnurren ist plötzlich wieder angesagt. 7000 Studenten sind bei ihm eingeschrieben. Sein Zentrum hat inzwischen schon fünf Filialen, und seit Frühjahr 2005 leitet Mohammed Hamid via Iqra Jugendliche sogar weltweit an.

Mit Moez Massoud erreicht die Dawa – das Werben für den Islam – eine neue Stufe. Er war einer der ersten Moderatoren bei Iqra, die ihre Show ganz auf Englisch geben. »Treppe ins Paradies« heißt die neueste Produktion, und die Kombination aus Moez’ warmem Blick, seiner entspannten Körperhaltung und den Geschichten aus dem Leben eines frommen Muslim ist bei den Zuschauern – jungen Muslimen in Europa und Amerika – ein Hit. Aber auch die frommen Teenies in der arabischen Welt schwärmen für ihn. Es ist beliebt, in der Clique zwischen Englisch und Arabisch hin- und her zu switchen. Viele Mittelstandskinder besuchen ausländische Privatschulen. Moez Massoud erzählt gerne, dass er früher ein typisch amerikanisiertes »Party-Kid« gewesen sei. Drogen, Mädchen, Alkohol. Dann entdeckte man einen Tumor in seinem Kopf und er den Islam. Äußerlich sieht man ihm seinen Wandel nicht an: grau gestrickter Kapuzenpulli, weite Jeans, Sneakers. Er gründete nach seinem Abschluss an der Amerikanischen Universität in Kairo ein IT-Unternehmen, mit großem Erfolg. Zeitgleich wurde er von ART entdeckt und bekam seine erste Islam-Talk-Show. »Du kannst beides haben«, sagt Moez Massoud, »es ist genau diese Dualität, welche die islamische Welt braucht, damit sie vorankommt und vor allem auch ihr schlechtes Image los wird. Religiös zu sein bedeutet nicht, dass man sich von der Welt abschottet. Ich finde es großartig, wenn Menschen abends in einer Koranrezitation in der Moschee sitzen und am nächsten Morgen eine Vorstandssitzung leiten und dort eine Powerpoint-Präsentation geben.«5 Moez Massoud zitiert den Koran ebenso flüssig wie die Texte neuer Hollywoodproduktionen. Er greift Botschaften aus dem Koran auf, lädt Jungen und Mädchen ins Studio ein und diskutiert mit ihnen darüber.


Der größte Star des Pop-Islam ist jedoch der Ägypter Amr Khaled. Während des Ramadan 2005 war er täglich zu Gast in zig Millionen Wohnzimmern in der ganzen islamischen Welt. »Auf dem Weg zum Geliebten« gilt als eine der erfolgreichsten Produktionen des arabischen Fernsehens. Amr Khaled saß in einem topmodernen Studio und zugleich auf heiligem Boden: 300 Meter entfernt von der Moschee des Propheten Mohammed in Medina.

Er erzählte aus der Sira, der Biographie des Propheten – von dessen Geburt bis zum Tod. Amr Khaled predigt einen Mitmach-Islam: Er will, dass die Menschen bessere Muslime werden, frommer und bewusster. Zugleich sollen sie ihr Leben in die Hand nehmen. Amr Khaled will die Renaissance, die Wiederbelebung der Umma