Inhalt
Prolog
Das Ende der großen Ferien
ERSTER TEIL
Tauwetter und Dauerfrost
Die DDR-Gesellschaft in den sechziger Jahren
Erstes Kapitel
Durch die Erde ein Riss
Zweites Kapitel
Wirtschaft als Laborversuch
Drittes Kapitel
Die sozialistische Menschengemeinschaft
ZWEITER TEIL
Der Frühling braucht Zeit
Macht und Ohnmacht der Utopie
Viertes Kapitel
Die Welt in Aufruhr
Fünftes Kapitel
Die Revolte der APO und die DDR
Sechstes Kapitel
Reform und Beharrung
DRITTER TEIL
Sommernachtsträume
Ende und Verklärung des demokratischen Sozialismus
Siebentes Kapitel
Die DDR und der Prager Reformkurs
Achtes Kapitel
Heißer Sommer
Neuntes Kapitel
Die Invasion
VIERTER TEIL
Ein endloser Herbst
Aufbruch in die Stagnation
Zehntes Kapitel
Politik als Normalität des Absurden
Elftes Kapitel
Kafka und Faust
Zwölftes Kapitel
Abschied
Epilog
Von 1968 zur friedlichen Revolution von 1989
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2008)
© Christoph Links Verlag GmbH, 2008
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin
unter Verwendung eines Fotos von Axel Rasenberger
Satz: Nadja Rein, Berlin
ISBN 978-3-86284-229-2
Die Welt des Jahres 1968 war tief gespalten. Begriffe wie bipolare Weltordnung, Blockkonfrontation oder Systemauseinandersetzung sind keineswegs unzutreffend, aber sie vermögen die Schärfe der Auseinandersetzung kaum zu erfassen. Selbst das zum Epochenbegriff gewordene Schlagwort vom Kalten Krieg sagt wenig mehr aus, als dass es zwischen den Großmächten keinen heißen Krieg, also keine direkte militärische Auseinandersetzung, gegeben hat.
Die Zeit war getränkt von Hass, Misstrauen, Verleumdung und Angst. Es standen sich in der globalen Auseinandersetzung nicht allein Staaten oder Machtblöcke gegenüber, sondern Glaubenssätze. Staaten können Kompromisse schließen, Ideologien schließen einander aus. Ihr oberster Grundsatz lautet wie das erste Gebot auf den Gesetzestafeln des Moses: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Zwischen Ost und West herrschte ein solcher ideologisch-moralischer Weltbürgerkrieg, der keine Neutralität zuließ.
Nicht, dass es zwischen den beiden Supermächten keine Verhandlungen und Kompromisse gegeben hätte – die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn durch Sowjettruppen im November 1956 wäre ohne die stillschweigende Duldung des Westens nicht möglich gewesen. Die Errichtung der Berliner Mauer im August 1961 war weltpolitisch ein Kompromiss. Die Kuba-Krise im Oktober 1962 endete mit einem Agreement. Ein Jahr später schlossen die Großmächte das Teststoppabkommen, aufgrund dessen sie die Atombombentests in der Atmosphäre einstellten. Gerade die Ultralinken jener Jahre wurden nicht müde, die beiden Supermächte der Kumpanei anzuklagen. In ihren Augen waren die USA und die UdSSR gleichermaßen hegemoniale Mächte, die es beide zu bekämpfen galt. Dennoch herrschte zwischen Ost und West ein Glaubenskrieg, der an die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts erinnerte. Auch damals vermischten sich machtpolitische Interessen mit dem unversöhnlichen Hass der kämpfenden christlichen Konfessionen. Im aufgeklärten 20. Jahrhundert ging es nicht mehr um den rechten Weg ins Himmelreich, sondern um die Glückseligkeit auf Erden. Zwei unvereinbare Systeme bestritten einander ihre historische Existenzberechtigung. Die »friedliche Koexistenz« gehörte zwar seit 1956 zum propagandistischen Inventar der sowjetischen Außenpolitik. Doch je erfolgreicher auf der weltpolitischen Bühne Entspannungspolitik zelebriert wurde, desto heftiger wurde der Kampf der Weltanschauungen gepredigt.
Das geteilte Deutschland und seine Hauptstadt Berlin befanden sich unmittelbar an der Frontlinie des Krieges. Der »Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen«, wie es im SED-Jargon pathetisch, aber nicht unzutreffend hieß, war ins Zentrum der Ost-West-Auseinandersetzung gerückt. Ununterbrochen griff die Partei nach den ganzen Menschen. Die SED gab sich nicht mit staatsbürgerlicher Loyalität zufrieden. Selbst Gehorsam und Untertanengeist reichten ihr nicht aus. Sie forderte die Liebe der Menschen. Die Liebe zur Partei gelobten die Jungpioniere, die Treue zur Heimat wurde in Liedern besungen, die Hingabe an die Partei, der Glaube an die Sowjetunion wurden in Feierstunden beschworen. Die Bezeichnung »Liebesministerium« für den allgegenwärtigen Terrorapparat in George Orwells Roman 1984 ist keineswegs eine ironische Pointe, sondern trifft das Wesen des Totalitarismus. Die Partei hatte eine Diktatur der Liebe errichtet. Sie liebte ihre Untertanen und wollte wiedergeliebt werden. Unbewusst hat Erich Mielke diese Realität mit äußerster Schärfe getroffen, als er am 13. November 1989 in der Volkskammer seinen Liebesschwur stammelte, der in der Fassung »Ich liebe euch doch alle!« in den ewigen Schatz der geflügelten Worte eingegangen ist.
Neutralität im Klassenkampf war Untreue. Der Vorwurf, »zwischen den Fronten zu stehen«, galt als Verdammungsurteil, ein »Wanderer zwischen den Welten« zu sein oder sich »im ideologischen Niemandsland« zu bewegen, war eine gefährliche politische Denunziation. Wer am Sendeknopf drehte, um beim RIAS die »Schlager der Woche« zu hören, öffnete sich den Argumenten des Feindes. Man wolle nur die Musik hören, galt als die dümmste aller Ausreden. Sie zeigte nur, dass man die perfiden Methoden der psychologischen Kriegsführung nicht durchschaute. Alle diese Floskeln stammen aus dem stets verfügungsbereiten Repertoire der Staatsbürgerkundelehrer, Propagandaredner und Zeitungsschreiber. Im Jahre 1968 machte das gefährliche Wort von der »schleichenden Konterrevolution« die Runde. Jede Kritik galt als vom Gegner inspiriert.
Trotz alledem suchten immer mehr Menschen nach einem dritten Weg zwischen den Blöcken und Systemen, die ihnen gleichermaßen als ablehnenswert erschienen. Die Suche nach einem solchen Weg schien damals durchaus nicht aussichtslos zu sein.
Reformzeit ohne Reform
Die Jahre zwischen dem Mauerbau und dem Prager Frühling waren in der DDR von einer merkwürdigen inneren Widersprüchlichkeit.
Keine Periode der 40-jährigen Geschichte der DDR entzieht sich stärker den einfachen Formeln als jene sieben bis acht Jahre, an deren Ende der Prager Frühling stand. Es war eine Zeit des Neubeginns, in der zum Schluss fast alles beim Alten blieb. Seit 1962 / 63 herrschte im Lande ein hektischer Reformeifer und brachte manche Modernisierung auf den Weg. Dabei setzte die Führung unter Walter Ulbricht ganz und gar auf Wissenschaft, Technik und Forschung. Durch großzügige Investitionen sollten Ausbildung und Forschungskapazitäten ausgebaut werden. Dies war bitter nötig, doch scheiterte es oft an der Alltagsrealität. Eine Hochschulreform und eine Akademiereform wirbelten viel Staub auf und vertrieben ohne Zweifel auch manchen »Muff von tausend Jahren«. Doch am Ende der Umbauphase standen noch mehr Bürokratie, Zentralismus und ideologische Gängelei.
Die Wirtschaft wurde umstrukturiert. Statt Planung sollte es mehr Eigenverantwortung geben, statt Tonnenideologie marktgerechte Produkte, statt Kommandowirtschaft eine wirtschaftliche Rechnungsführung, statt zentraler Planvorgaben mehr Eigenverantwortung und ein »System der materiellen Hebel«. Gute Arbeit sollte sich auch für den Einzelnen lohnen. Doch die Reformen bewirkten in der zentralistischen Planwirtschaft mehr Durcheinander als durchgreifende Erfolge. Großartige sozialistische Stadtzentren sollten den Ruhm der neuen Gesellschaft verkünden. Wenn dabei alte Gebäude verschwanden – zumal Gotteshäuser wie die Universitätskirche in Leipzig –, umso besser. Das neue Gebäude der Karl-Marx-Universität ragte als Symbol des Fortschritts hoch in den Himmel, und natürlich sollte es ein Himmel ohne Gott sein. Doch die Großbauten belasteten den Staatshaushalt bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus.
Es herrschte eine unbestreitbare Diskussionsfreude und Offenheit für neue Ideen. Gleichzeitig war es die Blütezeit eines buchstabengläubigen Dogmatismus. Aus der revolutionären Theorie von Marx und Engels war eine staatstragende Scholastik geworden. Kunst und Literatur wurden von der SED-Führung ungeheuer wichtig genommen, mehrfach beschäftigten sich die obersten Gremien der Partei mit Theaterstücken, Filmen und Büchern. Und trotzdem – oder gerade deswegen – wurden spätestens seit dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 die Künstler bis zur Lächerlichkeit bevormundet. In der SED-Presse war ständig von Mitsprache und Teilnahme der Bürger die Rede. Und wie die Volksaussprache zur neuen Verfassung von 1968 zeigte, wünschte sich dies das Regime durchaus. Dennoch wurden die eisernen Schrauben der Repression nur wenig gelockert. Gerade nach dem 21. August 1968 mussten viele DDR-Bürger ihre Kritik an der »Hilfsaktion der Bruderstaaten« mit Haftstrafen und Diskriminierungen bezahlen.
Auch der SED-Führung unter Walter Ulbricht war klar, dass man eine moderne Gesellschaft nicht allein mit den Methoden eines Polizeistaates regieren konnte. Sie brauchte die oft beschworene Schöpferkraft der Jugend und der werktätigen Intelligenz. Sie begann, ihren eigenen Bürgern Angebote zu machen. »Der Sozialismus ist so gut, wie wir ihn machen«, lautete eine der damals üblichen Parolen. Das hörte sich gut an. Es war eine Aufforderung zur Teilhabe, zur Mitverantwortung, zur Gestaltung der Gesellschaft. Wolf Biermann brachte es auf die Formel: »Gegen den Sozialismus gibt es nur ein Mittel, voranzuschreiten zum Kommunismus.« Wer es denn glauben wollte, war aufgefordert, an einer großartigen Menschheitsutopie mitzuwirken. Der Kern dieses Angebotes war die alte kommunistische Heilserwartung, aufpoliert durch den ungebrochenen Technik- und Fortschrittsglauben dieser Jahre.
Dabei waren die sechziger Jahre für die DDR nicht ohne Erfolge gewesen. Die außenpolitische Reputation der DDR war gewachsen, wenn ihr auch die ersehnte diplomatische Anerkennung als souveräner Staat durch die Länder außerhalb des sozialistischen Lagers versagt blieb. Immerhin gehörte die DDR als Sportnation zu den Großmächten. Während der Olympischen Spiele in Mexiko im Jahre 1968 schaffte sie wenigstens auf diesem Gebiet den Durchbruch. Das IOC beschloss, dass die DDR künftig unter ihrer offiziellen Bezeichnung mit eigener Flagge und Hymne antreten konnte.
Langsam, aber stetig stieg in den sechziger Jahren auch der Lebensstandard. Zwar war die DDR vom Konsumniveau des Westens immer noch weit entfernt. Doch hielten auch im Osten Waschmaschinen und Kühlschränke, Fernsehapparate, Stereoradios und andere Geräte der Haushaltstechnik und Heimelektronik Einzug in die Haushalte. Ein privates Auto war trotz langer Wartezeiten und hoher Preise für einen Durchschnittshaushalt kein unerfüllbarer Wunsch mehr.
Diese Entwicklung brachte natürlich auch Konflikte mit sich. In der DDR war eine neue Generation herangewachsen. Jahrgang 45 hieß einer der DEFA-Filme aus der verbotenen Jahresproduktion von 1965. Fast dokumentarisch schildert der Film einige Tage aus dem Leben eines durchschnittlichen jungen Mannes. Das Elend der Kriegs- und Nachkriegszeit kannte er nur noch aus Erzählungen. Das Pathos der Aufbaujahre war ihm fremd geworden, die ständige Forderung nach Verzicht unter Hinweis auf die lichtvolle Zukunft schien ihm verlogen.
Die 20-Jährigen wollten jung sein, sich modisch kleiden, flotte Musik hören, tanzen gehen und nicht dauernd gegängelt und belehrt werden. Manche junge Menschen maßen die Realität an den großen Worten, mit denen sie aufgewachsen waren. Der utopische Zeitgeist, der in der ganzen Welt junge Leute auf die Straße trieb, war als zarter Hauch selbst in dem Land hinter der Mauer zu spüren. Dem trug die neue Jugendpolitik der SED seit 1963 Rechnung. Zum Preis der grundsätzlichen Teilhabe an der neuen Gesellschaft sollte der Jugend etwas geboten werden: eine große Utopie und ein kleines Stück Freiheit. Es waren nicht die Schlechtesten, die meinten, man müsse die Partei beim Worte nehmen. Das bedeutete, die kommunistische Utopie ernst nehmen und sie als Antithese zur Realität zu begreifen. Für die Parteiobrigkeit war diese Haltung von einer gefährlichen Doppeldeutigkeit. So gern sie an den Idealismus der Jugend appellierte, so verdächtig war ihr der utopische Weltentwurf, wenn er das Bestehende in Frage stellte. Sie setzte gegen die Utopie den seltsam resignativen Begriff des »real existierenden Sozialismus«. Er entstand in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem Prager Frühling und westlichen radikalen Linken. Das Schlagwort wirkte wie eine sorgenvolle Mahnung eines vom Leben enttäuschten Vaters an seine unmündigen Kinder. Die revolutionäre Ungeduld der Jugend, die in Propagandareden oft beschworen wurde, drohte sich Ende der sechziger Jahre in den sozialistischen Ländern gegen die Mächtigen zu wenden.
Damals trafen sich in der DDR zwei Zeitströmungen: die Idee vom demokratischen Sozialismus, die im ganzen Ostblock umging, und eine antikapitalistische Revolte, die rund um die Welt einen Teil der Jugend mobilisierte. Teils widersprachen sich die Theorien, teils ergänzten sie einander. Habituell jedoch bildeten sie in der öffentlichen Wahrnehmung eine Einheit. Dass die demonstrierenden Studenten in Warschau und Prag genau jene bürgerliche Freiheit ersehnten, die von den antiautoritären Jungrebellen im Westen als reformistische Verblendung verhöhnt wurde, konnte man dabei leicht übersehen. Die neuen Protestformen und die Lust an der Provokation fielen auch im Osten auf fruchtbaren Boden. Sie verbanden sich zwanglos mit der Forderung nach Freiheit und der Ablehnung der Politbürokraten der SED. Der Generationskonflikt der sechziger Jahre war in der DDR, wie auch in den anderen sozialistischen Ländern, mit gefährlichem ideologischem Sprengstoff aufgeladen.
Tauwetter im Reich von Väterchen Frost
Auch aus dem Sowjetreich gab es hoffnungsvolle Signale. Endgültig und unwiderruflich wurden im November 1961 die Denkmale Stalins gestürzt. Der einbalsamierte Leichnam des Diktators wurde von der Seite Lenins entfernt und aus dem Mausoleum in ein schlichteres Grab an der Kremlmauer umgebettet. In der DDR wurde Stalinstadt in Eisenhüttenstadt umbenannt, die Stalinallee in Berlin wurde zur Karl-Marx-Allee, und das Stalin-Denkmal vor der Sporthalle verschwand spurlos und für immer. Der Parteichef Nikita Sergejewitsch Chruschtschow pflegte einen neuen Stil der Selbstdarstellung. Seine impulsive Art machte ihn zur beliebtesten Figur des politischen Witzes, verhalf ihm aber auch zu einer gewissen Popularität. Das Imperium zeigte menschliche Züge.
1962 lief in den Filmtheatern der DDR der zweiteilige Dokumentarfilm Das russische Wunder von Annelie und Andrew Thorndike. Die beiden Dokumentaristen der DEFA hatten in sowjetischen Archiven beeindruckendes Filmmaterial zusammengetragen. Man sah die Kinder des Zaren Nikolai II. beim Baden und erfuhr nebenbei, dass der Herrscher aller Reußen Hobbyfilmer gewesen war. Andere Filmsequenzen zeigen das russische Dorf vor der Revolution. Es folgen Bilder von den Großbaustellen des Sozialismus, der Alphabetisierungskampagne und der Kollektivierung. Diesen Filmdokumenten wurden aktuelle Aufnahmen aus der Sowjetunion gegenübergestellt. Gezeigt werden sollte der Kontrast zwischen der Rückständigkeit der Zarenzeit und der Anfangsjahre nach 1917 und den Erfolgen der Sowjetgesellschaft auf dem Weg in den Kommunismus.
Der Film wurde durch ein großformatiges und aufwendig gestaltetes Buch ergänzt.3 Der Begleittext ist von suggestiver Simplizität, die Auswahl der Bilder von der deutlichen Absicht diktiert, ein Märchenland vorzuführen. Zwischen die Wirklichkeit und die Bilderwelt schiebt sich ein rosaroter Filter, der jeden dunklen Fleck tilgt. Dennoch sind Buch und Film Ausdruck einer neuen Sicht auf die Sowjetgesellschaft.
»Die Partei wird unablässig dafür sorgen, dass Literatur, Kunst und Kultur zur Blüte gelangen, dass alle Bedingungen für die volle Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten eines jeden, für die ästhetische Erziehung aller Werktätigen geschaffen werden und sich im Volke guter Kunstgeschmack und Kulturempfinden herausbilden«, zitieren die Autoren das Programm der KPdSU.4 Eine versteckte Kamera beobachtet dann die Leser in der Bibliothek des Kulturhauses in Magnitogorsk, wie sie sich, in Büchern und Katalogen blätternd, Lesestoff auswählen. Am Ausgang lassen sich die Autoren von den Lesern zeigen, welche Bücher sie sich mitgenommen haben. Ein Mann »zeigt es uns bereitwillig: Anna Seghers ›Das siebte Kreuz‹, Emile Zola ›Germinal‹. Es war der pensionierte Baubrigadier Jakow Arsenjewitsch Lenkin, 64 Jahre alt. Er sagte lächelnd: ›Ich bin auf meine alten Tage ein Bücherwurm geworden. (…) Leider habe ich nicht viele Jährchen. Meine beiden Töchter und mein Sohn haben es besser. Sie konnten früher anfangen mit dem Lesen. Sie werden im Kommunismus leben.‹«5
Auf den Seiten des Begleitbuches findet sich ein gutes Dutzend lesender Menschen. Alle blicken aufmerksam, fast ehrfürchtig in die Bücher, halten sie in ihren groben Arbeiterhänden wie etwas unendlich Wertvolles.
Es folgen ähnliche Bildsequenzen von Laienkünstlern, Malern, Amateurfilmern. Die Werktätigen erobern die Höhen der Kultur, brechen das Bildungsmonopol der Ausbeuterklasse, und alle sind erfüllt von der großen Aufgabe.
Im Klub der Maschinenfabrik von Omsk findet ein Blumenball statt. Die Säulenhalle im »barocken« Stil der Stalinzeit ist mit Luftballons und Papierschlangen geschmückt. Dazu gibt es – oh Wunder! – recht flotte Jazzmusik. Natürlich handelt es sich um ein Ensemble werktätiger Laienkünstler, genauer gesagt um das Tanzorchester der Arbeiter des Werkes »Oktober« in Omsk. Der Orchesterchef ist Brigadier einer Brigade der kommunistischen Arbeit. Ein »Virtuose an der Drehbank wie am Saxophon« wird kommentierend hinzugefügt. Der Mann am Schlagzeug ist Schlosser. Seine Kollegen sagen, er habe »goldene Hände«. Der Bassist ist Rohrleger und spielt als Zweitinstrument die Ziehharmonika.
Wieder setzen die Filmemacher eine unsichtbare Kamera ein. Sie filmen durch den Spiegel im Foyer, wie die Mädchen sich die Lippen nachmalen, die Frisuren zurechtrücken und einen letzten prüfenden Blick auf ihr Äußeres werfen, ehe sie in den Ballsaal gehen. »So entstanden diese Zeugnisse weiblicher Anmut und Eitelkeit in Sibirien.«6
Solche Filmszenen waren so banal wie sensationell. Komsomolzinnen greifen zum Lippenstift und zur Puderquaste! Das wäre einige Jahre zuvor undenkbar gewesen, oder wenigstens wäre darüber nicht berichtet worden.
Doch auch im Sowjetreich stand die Geschichte nicht still. Dort tat sich Erstaunliches, ohne dessen Kenntnis die Vorgänge Ende der sechziger Jahre unverständlich wären. Es kündigten sich große Dinge an. Am 31. Juli 1961 veröffentlichte das Neue Deutschland das neue Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Auf der ersten Seite stand die Schlagzeile: »Kommunismus bringt der Welt Frieden, Arbeit, Freiheit, Gleichheit und Glück.« Vom 17. bis 31. Oktober 1961 tagte in Moskau der XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Im neu erbauten Kongresspalast wurden ein neues Parteiprogramm und ein neues Parteistatut angenommen.
Die Schritte auf dem Weg in den Kommunismus hat dieser Parteitag genau festgelegt. Innerhalb von 20 Jahren sollte der Kommunismus errichtet werden. »Die Produktion der Industrie wächst bis 1980 auf das sechsfache, die der Landwirtschaft auf das 3,5-fache«, verkündete der Parteitag in Moskau. »Die UdSSR erreicht die höchste Produktion in Industrie und Landwirtschaft in der Welt und übertrifft damit die fortgeschrittensten kapitalistischen Länder. (…) Es wird das Prinzip gelten: Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Zuerst würde es die Grundnahrungsmittel umsonst geben, dann würde man Miete und Strompreise und schließlich das Geld überhaupt abschaffen. Jeder könnte sich dann im Laden aus der Überfülle des Angebots so viel mitnehmen, wie er brauche. Damit gehörten auch Verbrechen, Gerichte, Gefängnisse der Vergangenheit an. Der Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Arbeit würde verschwinden. Die Arbeit sei dann nur noch Lebensund Glückserfüllung. »Der Traum, ›100 Jahre zu leben, ohne zu altern‹, wird Wirklichkeit«, erfuhren die erstaunten Leserinnen und Leser auf der Titelseite des SED-Organs. All dies sollte bereits 1980 Realität werden. Der Beginn von Utopia war im Kalender angekreuzt.
Neonazis, Revanchisten, Bonner Ultras
Die Märchenwelt der kommunistischen Propaganda war säuberlich in Gut und Böse geteilt. Auf den Plakaten und in den täglich erscheinenden Karikaturen trugen die Imperialisten Zylinderhüte und gestreifte Hosen. Sie saßen mit langen Hakennasen auf Geldsäcken mit dem Dollarzeichen oder wateten im Blut der unterdrückten Völker. Die Bonner Ultras als besonders verabscheuungswürdige Spezies trugen Stahlhelme der Naziwehrmacht und waren durch Hakenkreuze und SS-Runen kenntlich gemacht. Sie dürsteten nach Revanche für den verlorenen Krieg und streckten ihre spinnenartig dürren Finger gen Osten aus. In der Sprache der Agitation ausgedrückt, gab es zwischen der nationalsozialistischen Diktatur und der scheindemokratischen Spielart des staatsmonopolistischen Imperialismus nur einen taktischen Unterschied. Die politische Macht lag in den Händen des gleichen Monopolkapitals, das Hitler in den Sattel gehoben hatte und nun mit Unterstützung der verräterischen »SP« regierte. Eine der vergessenen Kuriositäten der deutsch-deutschen Propagandaschlacht bestand darin, dass man der Sozialdemokratie aufgrund ihres »nationalen Verrates« das »D« in ihrem Parteinamen aberkannt hatte. Immerhin wurde eingeräumt, dass die westdeutsche Arbeiterklasse teilweise der Sozialdemagogie erlegen sei und die siegreichen Schlachten zur Befreiung des Proletariats auf sich warten ließen. Eine theoretische Reflexion über den Wandel der westlichen Gesellschaft fand jedoch nicht statt. So geriet die SED-Propaganda seit Mitte der sechziger Jahre in eine tiefgreifende Erklärungsnot angesichts der beginnenden Entspannungspolitik.
Die DDR legitimierte sich durch die Geschichte. Der erste deutsche Friedensstaat war das Ergebnis eines langen Kampfes der fortschrittlichen Klassen gegen die Reaktion. Die DDR war der End- und vorläufige Höhepunkt dieser Geschichte. Dazu bedurfte es keiner Legitimation durch formale Mehrheiten und keiner Freiheit im bürgerlichen Sinne. Wozu sollte man etwa Neonazis und Kriegstreibern Pressefreiheit geben, hieß es oft demagogisch.
Umgekehrt wischte die SED die demokratische Legitimation der Bundesrepublik als manipuliert vom Tisch und versuchte, den Bonner Staat als Fortsetzung des Nazireichs darzustellen. Dort seien die gleichen Konzernherren und Industriebarone an der Macht, so lautete die Botschaft der SED-Propaganda, die Hitler 1933 in den Sattel gehoben hatten. Nach dem verlorenen Krieg dürsteten sie nach Revanche, nach Wiedergewinnung der Ostgebiete, sie hätten sich seit 1945 nur unwesentlich geändert. Nach der nationalsozialistischen Variante bevorzuge man nun das parlamentarische Kasperletheater. Für die Verdummung der Wähler sorgen die vom Monopolkapital beherrschten Massenmedien, insbesondere diejenigen des Springer-Konzerns. Dessen vorgebliche oder tatsächliche Meinungsmanipulation nahm eine zentrale Stellung im Argumentationsmuster der SED ein. Die Macht der Pressekonzerne zeigte in den Augen der SED, wie manipuliert und illusionär die bürgerliche Freiheit sei. Jeder Forderung nach Zugang zu westlichen Printmedien wurde demagogisch entgegengehalten, damit sei dem Gift des Revanchismus und Neonazismus sowie der Volksverdummung der Bild-Zeitung Tür und Tor geöffnet.
Aufgrund einer Weisung direkt aus dem Politbüro der SED und ausgestattet mit reichem Material aus dem Ministerium für Staatssicherheit produzierten Karl Georg Egel und Harri Czepuck den fünfteiligen Fernsehfilm Ich, Axel Cäsar Springer, dessen erster Teil im Frühjahr und dessen weitere vier Teile im November und Dezember 1968 vom Deutschen Fernsehfunk ausgestrahlt wurden. Springer wurde von Horst Drinda verkörpert, der diabolische Verführer Horst-Herbert Alsen von Fernsehliebling Otto Mellies. Der Kunstgriff bestand darin, dass Springer im Film ein im Grunde gutmütiger und bequemer Schwächling ist, der sich aus Ehrgeiz und Eitelkeit von den wirklich Mächtigen missbrauchen lässt.
Nachdem Axel Cäsar Springer auf Druck der sozialdemokratischen Hamburger Stadtregierung zehn ehemalige Nazis aus seinem Verlag entlassen hat, wird er in die Villa der Industriellenfamilie Alsen einbestellt. Dort treffen sich in gepflegte Atmosphäre ehemalige SS-Chargen mit Unternehmern und britischen Besatzungsoffizieren. Auch ein alter Bekannter Springers taucht dort auf, Horst-Herbert Alsen, ein ehemaliger SS-Adjutant, frisch entlassen aus der Kriegsgefangenschaft, nun Teilhaber seines Vaters, übrigens stockschwul und mit einer gewissen Neigung zu dem charmanten und gut aussehenden Axel Cäsar Springer, den er ständig »mein Cäsar« nennt.
In einem luxuriösen Marmorbad, gehüllt in altrömische Badegewänder und bedient von einem schweigsamen Leibdiener erklärt der ehemalige SS-Mann dem Jungverleger die politische Strategie der Herrschenden.
»Nationalsozialismus?«, fragt er ironisch. »Begriffe kommen und gehen, wie Parlamentarismus, wie Königtum von Gottes Gnaden, wie das kaiserliche Rom oder das alte Rom des Senats. Wechselnde Bezeichnungen für Nuancen eines bleibenden Prinzips: Plebs arbeitet und stirbt, damit die Elite Überfluss erhält und Zeit. Zeit zum Denken und Regieren.«
»Sehr souverän und sehr simpel«, wendet Springer zaghaft ein.
»Unser Faschismus war die effektvollste Herrschaftsform seinerzeit …«, referiert der Philosoph mit dem Gestus eines Lehrers der platonischen Akademie.
»Sehr effektvoll, den Krieg so zu verlieren« meinte Springer, um dann weitgehend zu schweigen.
»… wurde dann starr und fehlerhaft. Leider. Ein neuer Begriff wird gebraucht und eine veränderte Methode. Noch wirksamer und noch moderner. Das ist alles. (…) Was das Dritte Reich geschaffen hat, gilt es den neuen Umständen anzupassen. Statt Volksgemeinschaft christlich-soziale Klassenharmonie. Aber nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine. Statt Führerprinzip in der Wirtschaft soziale Marktwirtschaft (…) Abendland plus Antikommunismus. (…) vom Dritten Reich ins Vierte.«
Springer beugt sich der Gewalt der historischen Argumente. Er unterschreibt zehn Briefe, in denen die Kündigung der Nazi-Journalisten zurückgenommen wird. Auf einem Schaukelstuhl sitzend, still vor sich hinlächelnd, begreift er seine Mission, das Vermächtnis des Nationalsozialismus den neuen Umständen anzupassen.
Suggestiv in Szene gesetzt und von hervorragenden Schauspielern dargestellt, erhielt der Fernsehzuschauer eine in sich stimmige Interpretation der jüngsten deutschen Geschichte.
Zynisch, arrogant und moralisch verworfen. So sind die Reichen, mag sich der Fernsehzuschauer gedacht haben. Sie schwimmen immer oben, das heißt im konkreten Fall im Planschbecken der Kellersauna. So garniert wird auch die historische These glaubhaft, Hitler sei der geistige Vater der NATO gewesen. Gemeinsam mit den Westmächten gegen den Bolschewismus zu ziehen, war das Vermächtnis des toten Führers. Der Europagedanke, die soziale Marktwirtschaft, die christlich-soziale Partei – all das sei in Hitlers Testament angelegt und würde exekutiert von einer Verschwörung homosexueller SS-Männer, finanziert aus dem verschwundenen SS-Schatz und gutgeheißen von teils ähnlich denkenden, teils bestochenen Vertretern der westlichen Besatzungsmächte.
Doch nicht allein die vermeintliche oder tatsächliche Nazivergangenheit der Repräsentanten des BRD-Systems stand am Pranger der Ostpropaganda. 1966 gelang dem Filmteam Walter Heynowski und Gerhard Scheumann ein erster großer Coup. Sie schafften es, »Kongo-Müller«, den aus Deutschland stammenden Söldnerführer Siegfried Müller, vor die Kamera zu bringen. Der ehemalige Wehrmachtsoffizier, der sich 1964 im Kongo bei dem Mordfeldzug gegen die Anhänger des ermordeten Präsidenten Patrice Lumumba hervorgetan hatte, saß in Fallschirmjägeruniform vor der Kamera und schwadronierte ungeniert über seine Untaten in Afrika. Der Film Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders zeigt über 60 Minuten in Großaufnahmen das an sich harmlos wirkende rundliche Gesicht des Mörders, seine Hände, Stiefel, das Eiserne Kreuz mit dem eingefügten Hakenkreuz, die Flasche Pernod, das Schnapsglas in der Hand. Durch geschickte Fragen gelang es den unsichtbar agierenden Interviewern, den Kongo-Söldner als einen typischen Repräsentanten der »neofaschistischen« Bundesrepublik darzustellen.
Über seinen Feldzug in Zentralafrika plauderte Müller grinsend und ungeniert: »Nie weiß man ganz genau, ob es ein Gegner ist oder ob es nur ein Flüchtling ist (…) Das war unklar. Auf jeden Fall, wir haben ihn dann ganz klar umgelegt. (…) Man macht normalerweise keine Gefangenen, und wenn es doch vorkommt, dann wird also stückchenweise abgeschnitten. Erst das rechte Bein und dann das linke Bein.«
Nachdem Kongo-Müller sich bereits reichlich aus der Schnapsflasche bedient hat, fragte ihn der unsichtbare Reporter Heynowski: »Ich könnte mir einen Fall vorstellen, wo Sie möglicherweise Ihre Erfahrungen des verdeckten Kampfes vielleicht zur Verfügung stellen müssten, für die Befreiung dieses deutschen Bevölkerungsteils außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik?«
»Ja leider – leider«, antwortete Müller.
Darauf Heynowski: »Könnten Sie sich vorstellen, dass in Ihrer Tätigkeit (…) auch Namen wie Magdeburg oder Leipzig oder Dresden usw. eine Rolle spielen könnten?«
»Richtig«, antwortete der Söldner mit bereits schwerer Zunge.
»Könnten Sie sich vorstellen«, hakte Heynowski nach, »dass Sie gegebenenfalls einem Ruf folgen würden, um Ihre Erfahrungen, die Sie im Kongo gesammelt haben, auch eines Tages in Deutschland zur Verfügung zu stellen?«
»Jedem Land, das dem Westen zugewandt ist«, antwortete der Berufsmörder bereitwillig.
Das war es, was die DDR-Reporter hören wollten. Kongo-Müller war ein Geschenk für die SED-Propaganda. Der rundliche Biedermann mit dem Hakenkreuz an der NATO-Uniform, der in einem Zeitungsinterview bekannt hatte: »Ich liebe Mozart und das leichte Maschinengewehr«, der über seine Kontakte zu US-Stellen plauderte, im Dienste des Neokolonialismus als Söldner in Afrika mordete, nun eine deutsche Legion in Vietnam erstrebte und von der Befreiung von Magdeburg, Leipzig und Dresden träumte – das alles hätte man in der Hexenküche der SED-Propaganda nicht besser zusammenbrauen können.
Der Interviewtext erschien als Broschüre im Verlag Neues Leben und entfaltete eine breite Wirkung innerhalb und außerhalb der DDR.7 Der Gegner hatte nun ein Gesicht, und dieses Gesicht war die Fratze des Unmenschen. Wer im Osten Freiheit, Demokratie und Pluralismus einforderte, dem wurde von den Agitatoren der Partei und der FDJ entgegengehalten: »Freiheit für Kongo-Müller? Demokratie für Neonazis? Pluralismus für Kriegstreiber?«
Angesichts dieser Polarisierung schien es nur noch einen einzigen vernünftigen Weg zu geben: Eben jenen dritten Weg, von dem alle behaupteten es gäbe ihn nicht.
Vietnam
Es brannte damals an vielen Ecken der Welt. Die Balance zwischen den Atommächten – das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens – garantierte den Großmächten und ihrem strategischen Vorfeld in Europa einen labilen Waffenstillstand im Weltbürgerkrieg der Ideologien. Doch überall, wo sie das Feuer unter Kontrolle zu halten glaubten, riskierten beide Seiten den »begrenzten Konflikt«. Sie pumpten Staaten der Dritten Welt mit Kriegsmaterial voll und schickten sie in sogenannte Stellvertreterkriege. So war es im Kongo, den permanenten Krisenherd im Inneren Afrikas, so war es in Biafra, der abtrünnigen Erdölprovinz von Nigeria, so geschah es im Nahen Osten und vor allem in Vietnam, das zum Trauma der zivilisierten Welt werden sollte.
Das 20. Jahrhundert präsentiert sich in der Rückschau wie ein Siegeslauf der parlamentarischen Demokratie und der Marktwirtschaft. Es hat jedoch auch Momente gegeben, in denen ein nur sehr enger Spielraum zwischen Faschismus und Kommunismus bestand. Die westlichen Demokratien erschienen als schwach und unentschlossen, heftige Krisen schüttelten ihre Wirtschaft, ihre liberale Ordnung hielten viele Zeitgenossen lediglich für eine Tarnung der Herrschaft der Reichen und ihr politisches System für kaum mehr als ein Marionettenspiel. Auch in den Jahren des Kalten Krieges war das Erscheinungsbild des Westens selbst für jene, die nicht gedankenlos alle Parteilosungen nachplapperten, häufig mehr als angekratzt. Die Konfliktherde wechselten, das Anschauungsmaterial blieb das gleiche: brennende Hütten, weinende Kinder, ermordete Freiheitskämpfer. Die Älteren erinnerten sich an die Kolonialkriege in Indochina und Algerien, das englisch-französische Suez-Abenteuer im Jahre 1956, die Konflikte im Kongo, die Schweinebucht-Invasion und manches andere. In den Schulklassen der DDR hingen Weltkarten mit vielen kleinen Flämmchen, die Aggressionen des Imperialismus gegen »fortschrittliche Befreiungsbewegungen« bezeichneten.
Wer sich über die Widrigkeiten des Alltags beklagte, erhielt zur Antwort, dass angesichts der »sich ständig weiter verschärfenden weltpolitischen Situation und des dadurch notwendigen Friedenskampfes« Konsumwünsche eben zurückstehen müssten. Wer gar größere Freiheiten einforderte, den fragte man mit drohendem Unterton und deutlichem Hinweis auf den Abwurf amerikanischer Napalmbomben auf »friedliche vietnamesische Dörfer«, ob dies die erstrebte Freiheit sei. Natürlich gab es auch in der DDR jene »schweigende Mehrheit« der politisch Indifferenten. Sie schwieg nicht nur, weil ihr der Staat keine Artikulationsmöglichkeiten einräumte und in ihrem Namen sprach, sondern auch, weil sie sich wohl dabei befand. Doch gerade junge Menschen, Intellektuelle, Studenten und andere dem Tagesgeschehen gegenüber aufgeschlossene Kreise gerieten zwischen die Fronten der internationalen Konflikte. Gut und Böse schienen auf der Erde keineswegs so eindeutig verteilt, wie es die Retrospektive suggeriert.
Das seit dem – 1956 formell beendeten – Indochinakrieg geteilte Vietnam wurde zum Schauplatz eines langen mörderischen Krieges: Der kommunistische Norden versuchte, mit chinesischer und sowjetischer Unterstützung im amerikanisch dominierten Süden des Landes einen Volkskrieg zu entfesseln. Die USA schickten zunächst Militärberater, dann kleinere Truppenkontingente und schließlich regelrechte Kampfverbände. Während des Höhepunktes des Krieges waren 550 000 US-Soldaten in Vietnam. 58 000 von ihnen fanden den Tod. Im Jahre 1964 begannen die fürchterlichen und militärisch erfolglosen Bombardements Nordvietnams. Trotz der gewaltigen technischen Überlegenheit gelang es den USA weder, Nordvietnam in die Knie zu zwingen, noch den Partisanenkrieg im Süden zugunsten der proamerikanischen Kräfte zu entscheiden. Amerika geriet immer tiefer in den Sumpf von Gewalt und Gegengewalt.
Die Nachrichtenagentur AP verbreitete im November 1967 eines jener Bilder, die später zu Ikonen des Zeitalters werden sollten. Auf dem Foto drückt ein amerikanischer Soldat die Mündung seines M16-Gewehres einer vietnamesischen Bäuerin an die Schläfe. Zu sehen sind allein der Lauf der automatischen Waffe und das von Leid und Angst verzerrte Gesicht der Frau.
In dem Text von AP heißt es dazu: »Der Zwischenfall ereignete sich während eines Auftrages der 101. Luftlandebrigade, die Dörfer nahe Tam Ky in der Küstenebene von Südvietnam (310 Meilen nordöstlich von Saigon) nach Verdächtigen zu durchsuchen.«8
Das Bild zeigt den Zusammenstoß von brutaler Gewalt und Machtlosigkeit. Die Gewalt ist technisch überlegen, aber gesichtslos. Das Opfer dagegen hat das Gesicht einer älteren vietnamesischen Frau. Am 12. November 1967 veröffentlicht das Neue Deutschland das Bild und setzte die Unterschrift hinzu: »Wie die USA-Barbaren die ›Befriedung‹ Südvietnams betreiben: Verhör einer südvietnamesischen Mutter. Die Finger des amerikanischen GI liegen am Abzug, die Waffe presst er an die Schläfe der Patriotin, um die Aussage zu erzwingen. Sekunden später wird sich der Finger krümmen – ein neuer Mord kommt auf das Schuldkonto der Aggressoren.«9
Was auch immer tatsächlich an diesem Tag in der Tiefebene nordöstlich von Saigon geschah – die USA begannen, den Krieg der Bilder zu verlieren, lange bevor sie auf dem Schlachtfeld geschlagen worden waren.
Die Kenntnis von der Wirkungsmacht des Bildes im Kampf der Meinungen war damals keineswegs mehr neu. Aber sie erreichte in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine neue Dimension. Der Vietnamkrieg war einer der Umschlagpunkte auf dem Weg zur Visualisierung der politischen Information. Die Bilder machten jeden zum Zeugen des Geschehens und damit zum Betroffenen. Hinzu kam die immer perfekter werdende Informationstechnik. Alle diese Bilder wurden auch in der DDR verbreitet. So unwirksam die stumpfsinnigen Parolen und die schwerfälligen Wortungetüme der SED-Propaganda waren, so wirksam waren die Bilder. Natürlich hat jeder gewusst, der es wissen wollte, dass diese Bilder westlicher Agenturen auch ein Ausdruck von Freiheit waren. Offenbar war die Zensur der Militärbehörden weitgehend unwirksam. Doch was nützte die Freiheit, wenn sie machtlos war gegen den Widersinn eines Krieges, den auch in den USA viele nicht mehr wollten.
In den Rundfunksendern, wohlgemerkt den westlichen, hämmerte die deutsche Version von Barry Sadlers »The Ballad Of The Green Berets«. Unter der Hand wurde aus der Ballade der US-Spezialeinheit ein Antikriegslied, als Freddy Quinn, der König des deutschen Seemannsliedes, schmetterte:
Irgendwo im fremden Land
Ziehen wir durch Stein und Sand
Fern von Zuhaus und vogelfrei
Hundert Mann, und ich bin dabei
Hundert Mann und ein Befehl
Und ein Weg, den keiner will
Tagein, tagaus, wer weiß wohin
Verbranntes Land, und was ist der Sinn?
Die Landserromantik war im Gegensatz zu den sanften Songs von Joan Baez und Bob Dylan für jedermann klar und verständlich.
In dem 1968 ausgestrahlten Vierteiler Piloten im Pyjama gelang es den Dokumentaristen Heynowski und Scheumann, durch einen Film von großer Suggestionskraft der antiimperialistischen Propaganda der SED jenes Leben einzuhauchen, das ihr in der Regel fehlte. Sie präsentierten keine abstrakten Feindbilder, sondern Menschen – in diesem Falle über Nordvietnam abgeschossene Bomberpiloten, die in Gefangenschaft geraten waren. Der Film stellte die Frage: Was sind das für Männer, die ihre tödliche Bombenlast über dem fremden Land abladen? Was geht in ihren Köpfen vor, wenn sich unter ihnen die Welt in ein Inferno verwandelt? Das Drehteam aus der DDR bekam tatsächlich die Erlaubnis, die gefangenen US-Piloten zu interviewen. Kühl und emotionslos schilderten diese ihre Beweggründe dafür, den Job bei der Air Force auszuüben, beschrieben ihren Abschuss, die Gefangennahme und ihre Motive – entgegen dem ausdrücklichen Befehl, vor der Kamera Auskünfte zu geben. Jahre später haben die ehemaligen Gefangenen bestätigt, dass sie in ihren Antworten frei gewesen seien, also keinem Druck ausgesetzt waren. Die Wirkung des Filmes wurde von den Verantwortlichen des Deutschen Fernsehfunks differenziert eingeschätzt. Die Piloten wirkten keineswegs brutal oder primitiv, vielleicht waren sie zu intelligent und zu sympathisch für ein funktionierendes Feindbild. Die Interviewpassagen wurden nur sparsam kommentiert, der Film wirkte dadurch unterkühlt und sehr sachlich. Übrigens war auch die Einschaltquote enttäuschend. So erfüllte der Film gerade wegen seiner Qualitäten die Erwartungen der SED nicht vollständig.
Überall in der Welt entwickelte sich eine Antikriegsbewegung. Es mag wohl richtig sein, dass viele Menschen den Krieg nur über seine Symbole wahrnahmen und sich eigentlich nicht mit der Situation in Vietnam auseinandersetzten. Doch die Aussagekraft der Symbole war eindeutig. Und sie sprach gegen Amerika. Die Anti-Vietnam-Krieg-Bewegung wurde zum Katalysator der antiautoritären Jugendbewegung.
Die Napalmbomben auf vietnamesische Dörfer waren in jeder politischen Diskussion das erste und das letzte Argument, bewies der »schmutzige Krieg« der USA doch auch die Notwendigkeit, den Frieden mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Das Feindbild des US-Imperialismus war in der DDR täglich präsent. Es bot die Begründung dafür, dass sich die Partei- und Staatsführung politisch einigelte und sich in den Schützengräben des Kalten Krieges offenbar für alle Zeiten einrichtete. Es ging das Wort von der »Globalstrategie« um. Gegenüber den sozialistischen Staaten habe der Imperialismus die weiche Platte aufgelegt. Hier propagiert er heuchlerisch die Verbesserungen des Systems, verbirgt sein wahres Antlitz hinter pseudosozialistischen Parolen, säuselt die Lügenmärchen von Meinungsfreiheit, lockt mit falschem Glanz des Wohlstandes und den zweifelhaften Produkten seiner perversen und dekadenten Kultur – in Südostasien aber zeigt der Imperialismus sein wahres Gesicht. Imperialismus heißt unverändert Aggression gegen friedliche Völker, Weltherrschaft der Monopole, Napalmbomben auf vietnamesische Dörfer, Entlaubung des Regenwaldes durch hochtoxische Chemikalien, Terror gegen die Zivilbevölkerung. Wer es nicht glaubt, der solle die Bilder anschauen, die doch für sich sprechen.
Unter der Losung »Für Dich, kämpfendes Vietnam, unser Herz und unsere Hand« wurde in Berlin im April 1968 eine Vietnam-Ausstellung veranstaltet. Außer dem Herz und der Hand begehrte der Staat vom Bürger einen finanziellen Beitrag. Der permanente Griff ins Portemonnaie der Untertanen wurde damals allgemeiner Brauch, so auch während der Vietnam-Ausstellung. Es entstand ein »Mosaik der Solidarität« aus 50 000 bunten Steinchen. Jedes Mosaiksteinchen kostete eine Mark. Dafür konnte der Spender selbst bestimmen, welche Partie des Kunstwerkes vervollständigt werden sollte. »Von einem Steinchen, das ein Schulkind von seinem Taschengeld erwarb, bis zu tausend Steinchen einer Wohnparteiorganisation reichen die Spenden für das tapfere vietnamesische Volk, mit dem uns seit Jahren brüderliche Solidarität verbindet«, hieß es dazu in der SED-Presse.10
Permanent wurde zu Soli-Spenden aufgerufen. Betriebskollektive verpflichteten sich, ein Prozent ihres Gehaltes zu spenden. Gern wurden offene Listen herumgereicht, in denen jedermann seine Treue zum proletarischen Internationalismus unter Beweis stellen konnte. Oft stiegen die Mitglieder der Parteileitung mit einem Zehner oder Zwanziger ein, so dass es für die anderen Genossen schwer war, wesentlich dahinter zurückzubleiben. Von Haustür zu Haustür zogen Sammeltrupps, verlangten Unterschriften für den Weltfrieden oder Geld. Auch Soli-Schichten waren beliebt. So zogen die Studenten am Wochenende in Betriebe und spendeten den Lohn ganz oder teilweise für das heldenhaft kämpfende Volk von Vietnam.
Militärisch wurde so getan, als stünden die Soldaten der NVA an vorderster Front in der Schlacht gegen den US-Imperialismus. In den Kasernen tauchten öffentliche Tafeln auf, die täglich die Abschüsse der Terrorbomber in Vietnam meldeten. Tag für Tag erhöhten sich die Zahlen, erreichten schnell den drei- und schließlich sogar den vierstelligen Bereich. Mit Maschinenpistolen der Marke Kalaschnikow holten die tapferen Vietnamesen angeblich die schweren US- Bomber vom Himmel. Immerhin, es waren sowjetische Waffen, die hier ihre Überlegenheit über die NATO-Technik unter Beweis stellten. Das ließ die Herzen der NVA-Offiziere höher schlagen und das traurige Fiasko vergessen, das die sowjetische Waffentechnik im Juni 1967 auf der Halbinsel Sinai und den Golanhöhen erlitten hatte.
Doch auch der Anti-Vietnam-Protest hatte in der DDR eine seltsame Ambivalenz. Volker Braun veröffentlichte noch ganz im Gestus des zornigen jungen Mannes einen KriegsErklärung betitelten Band mit Fotos und Gedichten über den Krieg in Südostasien. Ein Bild zeigt die betriebsame New Yorker Börse. Dazu heißt es: »Seht hier die höhern Mächte schweben. / Sie tragen euer Urteil unterm Latz. / Hier steigt und fällt die Chance zu überleben. / Sehts schaudernd an: das ist ein Kriegsschauplatz.« Keiner der Börsianer trägt einen Latz, doch irgendwie musste es sich reimen. Es folgen die Bilder vom Kriegsgeschehen aus Vietnam. US-Soldaten zünden Strohhütten an, Zivilisten fliehen, Vietcongs werden verhört. Gern flüchteten sich die Junglyriker in den wohlfeilen Protest gegen den Imperialismus. Es war wohl ein kleines bisschen Rechtfertigung vor dem eigenen künstlerischen Gewissen, ein bisschen Legitimation vor den Instanzen der SED-Kulturpolitik, die man ja irgendwie zum Leben brauchte. Doch die Protesthaltung richtete sich auf diffuse Art auch gegen die eigene Elterngeneration und deren vorgebliche Gleichgültigkeit. Eines der »Fotogramme« von Volker Braun bezieht sich auf das eigene Land. Es zeigt eine junge Dame auf der Pritsche einer Blutabnahmestation des Deutschen Roten Kreuzes. Offenbar spendet sie Blut für Vietnam, eine viel propagierte Geste der Solidarität. Die Bildunterschrift in bemüht falscher Rechtschreibung lautet: »Hundert leipziger Studenten spenden am 4.8.1966 Blut«. Dazu gibt es einen holprigen Sinnspruch: »Ich kenne ihr Gesicht. Ich sah es oft. / Hab ich es hier erwartet? Doch erhofft. / Noch ihre Eltern sah ich hier nicht so. / Dies Blutvergießen macht mich endlich froh.«11
Seit 1962 diskutierten die Führungsgremien der SED eine grundlegende Wirtschaftsreform. Es war offensichtlich, dass die DDR ohne eine Erhöhung der Effizienz ihres Wirtschaftssystems immer weiter hinter dem Westen zurückzubleiben drohte. Die sozialistische Volkswirtschaft war dabei, die sogenannte »Wissenschaftlich-technische Revolution« zu verschlafen. Die Anhänger einer Reformpolitik erhielten durch ähnliche Diskussionen unter sowjetischen Ökonomen Ende 1962 den entscheidenden Auftrieb.
In den Jahren 1962 / 63 wurden in den Ministerien Arbeitsgruppen gebildet, in denen die Wirtschaftsreformen vorbereitet werden sollten. Ende Juni 1963 fand eine Wirtschaftskonferenz statt, auf der die Grundzüge des »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL) vorgestellt wurden. Theoretisch ausgedrückt bestand das Ziel der Reformen in einer Kombination von zentraler Leitung der Wirtschaft und indirekter Steuerung der Betriebe durch ein »System der ökonomischen Hebel«. Es ging dabei um mehr Eigenverantwortlichkeit für die Betriebe, um die Verbesserung des Kosten-Nutzen-Denkens, größere Flexibilität in der Planung, vorsichtige Einführung von Marktmechanismen und schnelle Überführung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis. Das übergreifende Ziel war die Steigerung der Arbeitsproduktivität und damit die Verbesserung des Lebensniveaus der Menschen in der DDR. Die Vorzüge des Sozialismus sollten in Ost und West sichtbar gemacht und die SED schließlich aus der historischen Defensive herausgeführt werden.
Anfang 1964 begann die Parteiführung, die Reformideen in die Praxis zu überführen. Das Kernstück der Umgestaltung war die Industriepreisreform. Endlich sollte ein realistisches Verhältnis zwischen Rohstoffen, Halbfabrikaten und Endprodukten hergestellt werden. Dies sollte die Grundlage für einen sozialistischen Markt bilden. Nach Jahren der Kommandowirtschaft erwies sich die Einführung realer Preise als unendlich schwierig. Es war nicht möglich, das gewachsene System heimlicher und offener Subventionen abzuschaffen, ohne die Lebenshaltungskosten erheblich zu steigern. Dies aber hätte die politische Stabilität der DDR gefährdet. Faktisch bedeutete die Steigerung der Industriepreise also ein Wachstum der Subventionen für Verbrauchsgüter.