Philip Roth

Amerikanisches
Idyll

Aus dem Amerikanischen
von Werner Schmitz

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

American Pastoral

Houghton Mifflin, Boston, New York

© Philip Roth 1997

ISBN 978-3-446-25125-0

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 1998/2015 Carl Hanser Verlag München Wien

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

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Für J.G.

Träume, wenn der Tag vorbei,

Träume werden manchmal wahr,

Nichts ist so schlimm, wie es scheint,

Also träume, träume, träume.

Johnny Mercer, aus »Dream«,

einem beliebten Song der 40er Jahre

das seltene Eintreten des Erwarteten …

William Carlos Williams,

aus »At Kenneth Burke’s Place«, 1946

I
Erinnerungen an das Paradies

1

Der Schwede. Das war in den Kriegsjahren, als ich noch zur Grundschule ging, in unserem Viertel in Newark ein magischer Name, auch für Erwachsene, die nur eine Generation von dem alten Prince-Street-Ghetto entfernt und noch nicht so lupenrein amerikanisiert waren, daß sie vor den Leistungen eines High-School-Sportlers auf die Knie gefallen wären. Der Name war magisch; ebenso das ungewöhnliche Gesicht. Keiner der wenigen eher hellhäutigen Schüler an unserer vorwiegend von Juden besuchten staatlichen High-School besaß auch nur entfernt so etwas wie die steinerne Wikingermaske dieses blauäugigen Blonden mit dem forschen Kinn, der als Seymour Irving Levov in unseren Stamm geboren war.

Der Schwede glänzte als Außenstürmer im Football, als Center im Basketball und als First Baseman im Baseball. Nur das Basketballteam taugte wirklich etwas – es gewann zweimal die Stadtmeisterschaft, mit ihm als König der Korbschützen –, aber zur Glanzzeit des Schweden interessierte sich kaum jemand aus der Schülerschaft für das Schicksal unserer Sportler, zumal die älteren nicht, die, selbst meist mit wenig Bildung und vielen Bürden befrachtet, wissenschaftliche Leistungen höher schätzten als alles andere. Körperliche Aggressivität, auch wenn sie sich hinter Mannschaftstrikots und offiziellen Regeln versteckte und sich nicht ausgesprochen gegen Juden richtete, war in unserer Gemeinschaft keine traditionelle Quelle des Vergnügens – höhere Schulabschlüsse schon. Gleichwohl, der Schwede versetzte unser Viertel in einen Wahn über sich selbst und die Welt, in den Wahn von Sportfans überall: fast wie die Nichtjuden (wie sie sich Nichtjuden vorstellten) konnten unsere Familien den eigentlichen Gang der Ereignisse vergessen und eine sportliche Leistung zum Stützpunkt ihrer Hoffnungen machen. Vor allem konnten sie den Krieg vergessen.

Die Erhebung des Schweden Levov zum Haushalts-Apollo der Juden von Weequahic läßt sich, denke ich, am besten durch den Krieg gegen die Deutschen und Japaner und die Ängste erklären, die dieser schürte. Solange der Schwede auf dem Spielfeld unschlagbar war, bot die sinnlose Oberfläche des Lebens denen, die in Furcht davor lebten, ihre Söhne, ihre Brüder oder Ehemänner nie mehr wiederzusehen, einen bizarren, trügerischen Halt – freudig gingen sie in schwedischer Unschuld auf.

Und wie berührte ihn das selbst – diese Verherrlichung, dies Lobpreisen jedes Hakenwurfs, den er versenkte, jedes Passes, den er im Sprung erwischte, jedes Line Drives, den er an der Leftfield-Linie abfing und zu einem Double verwandelte? Hat ihn das zu einem so stoischen, kaltblütigen Jungen werden lassen? Oder war seine so reif anmutende Gesetztheit die äußerliche Manifestation eines mühsamen inneren Ringens um Zügelung des Narzißmus, den eine ganze Gemeinschaft ihm mit ihrer Liebe aufdrängte? Die Cheerleader hatten einen eigenen Schlachtruf für den Schweden. Im Gegensatz zu anderen Schlachtrufen, mit denen die gesamte Mannschaft angefeuert oder die Zuschauer aufgepeitscht werden sollten, galt diese zu rhythmischem Stampfen vorgebrachte Huldigung dem Schweden allein, es war unverhohlene und unverfälschte Begeisterung über sein perfektes Spiel. Der Schlachtruf brachte die Basketballhalle jedesmal zum Beben, wenn er sich einen Rebound holte oder einen Punkt erzielte, brauste bei Footballspielen jedesmal durch unsere Kurve des City-Stadions, wenn er ein Yard Raumgewinn schaffte oder einen Paß abfing. Selbst bei den spärlich besuchten Baseballspielen bei uns im Irvington-Park-Stadion, wo es keine Cheerleader gab, die gespannt an den Seitenlinien knieten, hörte man ihn als schwächlichen Chor von der Handvoll Unentwegter aus Weequahic auf der hölzernen Tribüne, und zwar nicht nur, wenn der Schwede das Schlagmal betrat, sondern auch dann, wenn ihm bloß etwas so Alltägliches wie ein Putout am First Base gelang. Der Schlachtruf bestand aus acht Silben, drei davon sein Name, und das Ganze ging Bah bah bah! Bah bah bah … bah-bah! Wobei sich das Tempo, besonders bei Footballspielen, mit jeder Wiederholung steigerte, bis, auf dem Höhepunkt frenetischer Anhimmelung, die zehn stämmigen kleinen Cheerleader ekstatisch röckeschwingend Räder schlugen und mit ihren orangefarbenen Turnschlüpfern vor unseren staunenden Augen ein wahres Feuerwerk entfesselten … und nicht dir oder mir, sondern dem wundervollen Schweden zuliebe. »Schwed Levov! Reimt sich mit … ›The Love‹!… Schwed Levov! Reimt sich mit … ›The Love‹!«

Ja, wohin er auch blickte, die Menschen liebten ihn. Die Bonbonverkäufer, denen wir Jungen auf die Nerven gingen, nannten uns andere »He-ihr-nein!« oder »Laß-das-Kleiner!«; ihn aber nannten sie respektvoll »Schwede«. Eltern lächelten und sagten gütig »Seymour« zu ihm. Die schnatternden Mädchen, denen er auf der Straße begegnete, fielen affektiert in Ohnmacht, und die Mutigsten kreischten ihm nach: »Komm zurück, komm zurück, Levov, mein Geliebter!« Und er ließ es geschehen, schritt im Besitz all dieser Liebe durchs Viertel und gab sich den Anschein, als ließe ihn das alles kalt. Im Gegensatz zu den Tagträumen, denen wir anderen uns über die erhebende Wirkung hingaben, die eine derart absolute, unkritische, abgöttische Glorifizierung auf uns selber hätte, sah es so aus, als ob die Liebe, die man dem Schweden aufdrängte, ihm jedes Empfindungsvermögen rauben würde. Dieser von so vielen Menschen als Symbol der Hoffnung vereinnahmte Junge – als Verkörperung der Kraft, der Entschlossenheit, der heldenmütigen Tapferkeit, mit deren Hilfe unsere High-School-Soldaten unversehrt wieder aus Midway, Salerno, Cherbourg, den Salomoninseln, den Aleuten oder Tarawa nach Hause zurückkehren würden – schien über kein bißchen Geist oder Ironie zu verfügen, das sein goldenes Talent zur Pflichterfüllung hätte beeinträchtigen können.

Aber Geist und Ironie sind einem Jungen wie dem Schweden eher hinderlich, Ironie zumal ist ein menschlicher Trost und fehl am Platz, wenn man als Gott durchs Leben schreitet. Entweder gab es einen ganzen Teil seiner Persönlichkeit, der von ihm unterdrückt wurde oder noch gar nicht erwacht war, oder aber, wahrscheinlicher, es gab gar nichts dergleichen. Seine Reserviertheit, seine scheinbare Passivität als begehrtes Objekt all dieser nichtsexuellen Liebe, ließ ihn, wenn nicht als göttlich, so doch als deutlich aus dem bodenständigeren Menschsein so ziemlich aller anderen an der Schule herausgehoben erscheinen. Er war gefesselt an die Geschichte, ein Werkzeug der Geschichte, verehrt mit einer Leidenschaft, zu der es vielleicht nie gekommen wäre, hätte er – indem er gegen Barringer siebenundzwanzig Punkte machte – den Basketballrekord von Weequahic an irgendeinem anderen Tag als ausgerechnet dem überaus traurigen Tag im Jahre 1943 gebrochen, an dem achtundfünfzig Flying Fortresses von Kampfflugzeugen der deutschen Luftwaffe abgeschossen wurden, zwei der Flak zum Opfer fielen und fünf weitere abstürzten, nachdem sie auf dem Rückweg von der Bombardierung Deutschlands die englische Küste überquert hatten.

Der jüngere Bruder des Schweden, Jerry Levov, war bei mir in der Klasse, ein dünner, ungemein gelenkiger Bursche mit kleinem Kopf und der Figur einer Lakritzstange, dazu ein wahrer Hexenmeister in Mathe und Redner bei der Abschlußfeier im Januar 1950. Jerry hatte zwar niemals einen richtigen Freund, entwickelte aber auf seine gebieterische, reizbare Art im Lauf der Zeit ein gewisses Interesse an mir, und so kam es, daß ich ab dem zehnten Lebensjahr im möblierten Keller des Einfamilienhauses der Levovs an der Kreuzung Wyndmoor und Keer regelmäßig von ihm im Tischtennis geschlagen wurde – das Wort »möbliert« wies darauf hin, daß der Keller mit knorrigem Kiefernholz ausgekleidet und bewohnbar gemacht war, und nicht, wie Jerry zu glauben schien, daß er ein idealer Ort sei, andere Kinder zu vermöbeln.

Jerrys Aggressivität beim Tischtennis übertraf an Sprengkraft die seines sportlichen Bruders bei weitem. Ein Tischtennisball ist in Gewicht und Form sinnigerweise so gestaltet, daß er einem nicht das Auge ausschlagen kann. Sonst hätte ich in Jerry Levovs Keller auch nicht gespielt. Hätte es mir nicht die Möglichkeit verschafft, den anderen zu erzählen, daß ich im Haus des Schweden Levov ein und aus ginge, hätte mich niemand in diesen Keller locken können, wo ich zu meiner Verteidigung bloß einen kleinen Holzschläger hatte. Nichts, das so wenig wiegt wie ein Tischtennisball, kann tödlich sein, doch wenn Jerry nach dem Ding ausholte, konnten Mordgedanken ihm nicht sehr fern liegen. Nie kam es mir in den Sinn, daß diese Demonstration von Gewalt etwas damit zu tun haben könnte, was es für ihn bedeutete, der kleine Bruder des Schweden Levov zu sein. Der Bruder des Schweden zu sein, das war für mich – außer, der Schwede selbst zu sein – das Schönste, was ich mir vorstellen konnte, und deshalb hatte ich keinen Sinn dafür, daß es für Jerry kaum etwas Schlimmeres geben könnte.

Das Schlafzimmer des Schweden – das ich nie zu betreten wagte, in das ich aber gelegentlich einen Blick warf, wenn ich von Jerrys Zimmer mal zur Toilette ging – befand sich unterm Dach an der Rückseite des Hauses. Mit der schrägen Decke und den Gaubenfenstern und den Weequahic-Wimpeln an den Wänden entsprach es genau meinem Bild von einem richtigen Jungenzimmer. Von den zwei Fenstern aus, die auf den Garten gingen, sah man das Dach der Levovschen Garage, wo der Schwede als Grundschüler im Winter seine Schlagtechnik geübt hatte, indem er nach einem Baseball schlug, der an einer Schnur von einem Tragbalken hing – eine Idee, die er womöglich dem Baseballroman The Kid from Tomkinsville von John R. Tunis entnommen hatte. Ich selbst las dieses und andere Baseballbücher von Tunis – Iron Duke, The Duke Decides, Champion’s Choice, Keystone Kids, Rookie of the Year –, nachdem ich sie auf dem Einbauregal neben dem Bett des Schweden erspäht hatte, alphabetisch aufgereiht zwischen zwei Buchstützen aus massiver Bronze, die Rodins »Denker« darstellten und die er zur Bar-Mizwa geschenkt bekommen hatte. Sofort ging ich in die Bücherei, lieh mir alles von Tunis aus, was ich finden konnte, und begann mit The Kid from Tomkinsville, einem harten, spannenden Roman für einen so jungen Leser, schlicht und stellenweise etwas steif geschrieben, aber offen und ehrlich; das Kid ist Roy Tucker, ein anständiger, junger Werfer aus dem Bergland von Connecticut, dessen Vater stirbt, als er vier Jahre alt ist, und dessen Mutter stirbt, als er sechzehn ist, und der seiner Großmutter über die Runden hilft, indem er tagsüber auf der Farm der Familie und abends in der Stadt in »MacKenzie’s Drugstore an der Kreuzung South und Main« arbeitet.

Das Buch, 1940 erschienen, war mit Schwarzweißzeichnungen illustriert, die auf kluge Weise, mit nur wenig expressionistischer Verzerrung und gerade hinreichendem anatomischen Können, Kids harten Lebensweg in einer Zeit anschaulich machten, in der Baseball noch nicht durch Millionen von Statistiken in grelles Licht getaucht wurde, damals, als das Spiel noch von den Rätseln des irdischen Lebens handelte, als Profispieler noch nicht wie große gesunde Kinder, sondern eher wie halbverhungerte Arbeiter aussahen. Die Zeichnungen stammten offenbar aus den drückenden Notzeiten der Weltwirtschaftskrise. Etwa alle zehn Seiten wird ein dramatisches Geschehnis der Erzählung – »Er konnte immer noch ein wenig zulegen«, »Der Ball flog über den Zaun«, »Razzle humpelte zum Dugout« – prägnant durch die schwärzliche, tintengetränkte Darstellung eines hageren Spielers veranschaulicht, dessen Silhouette sich düster von der leeren Seite abhebt, isoliert von Natur und Menschen wie die einsamste Seele der Welt, falls er nicht auf einer getüpfelten Nachahmung von Spielfeldrasen die dürre Statuette eines wurmartigen Schattens hinter sich herschleift. Auch im Baseballtrikot macht er keinen glanzvollen Eindruck; ist er ein Werfer, sieht seine Hand mit dem Handschuh wie ein Tatze aus; und ein Bild nach dem anderen macht plastisch klar, daß das Spielen in den Major Leagues, so großartig es anmuten mag, auch nur eine Form von zermürbender, undankbarer Arbeit ist.

The Kid from Tomkinsville hätte ebensogut Das Lamm von Tomkinsville oder gar Das Lamm von Tomkinsville wird zur Schlachtbank geführt heißen können. In Kids Karriere als überragender Einsteiger bei den auf dem letzten Platz dümpelnden Brooklyn Dodgers folgt auf jeden Triumph eine herbe Enttäuschung oder ein verheerendes Mißgeschick. Die unerschütterliche Freundschaft, die sich zwischen dem einsamen, heimwehkranken Kid und dem altgedienten Catcher der Dodgers, Dave Leonard, entwickelt, einem Mann, der ihn erfolgreich in die Sitten und Bräuche der Profiliga einweiht und der ihn »mit seinen ruhigen braunen Augen hinter der Home Plate« durch einen No-Hitter bugsiert, wird in der sechsten Saisonwoche brutal auseinandergerissen, als der Veteran über Nacht aus der Mannschaft geworfen wird. »Hier wurde mit einer Schnelligkeit gehandelt, wie sie sonst im Baseball nicht oft vorkommt: die Schnelligkeit, mit der ein Spieler aufsteigt – und wieder untergeht.« Dann, als Kid sein fünfzehntes Spiel in Folge gewinnt – ein Rookie-Rekord, der noch von keinem Werfer keiner Liga übertroffen wurde –, wird er von ausgelassenen Mannschaftskameraden, die nach dem großen Sieg in der Dusche herumalbern, unabsichtlich zu Boden gestoßen und erleidet bei dem Sturz eine Ellbogenverletzung, die es ihm unmöglich macht, jemals wieder als Werfer anzutreten. Den Rest des Jahres verbringt er auf der Bank, wird, weil er auch am Schlagmal einige Fähigkeiten besitzt, gelegentlich als Batter eingewechselt, und im folgenden verschneiten Winter – zu Hause in Connecticut, tagsüber auf der Farm, abends im Drugstore arbeitend, ein berühmter Mann jetzt, im Grunde aber wieder Omas kleiner Junge – macht er sich fleißig daran, Dave Leonards guten Rat, seine Schlagtechnik zu verfeinern, in die Tat umzusetzen (»Die Angewohnheit, die rechte Schulter zu tief zu halten und den Schlag aufwärts zu führen, war sein größter Fehler«), indem er draußen in der Scheune einen Ball an einer Schnur befestigt und an kalten Wintermorgen mit seinem »geliebten Schläger« darauf einprügelt, bis er in Schweiß gebadet ist. »›Klack‹ … das herrlich saubere Geräusch eines Schlägers, der einen Ball genau an der richtigen Stelle trifft.« Zur nächsten Saison kehrt er als laufstarker Rightfielder zu den Dodgers zurück, erreicht als zweiter in der Batting Order eine Trefferquote von .325 und führt sein Team in letzter Minute zur Finalteilnahme. Am letzten Tag der Saison, bei einem Spiel gegen die Giants, die mit nur einem Punkt Vorsprung den ersten Platz belegen, entfacht Kid einen wahren Angriffssturm der Dodgers und bringt in der zweiten Hälfte des vierzehnten Innings – bei zwei Outs, zwei Mann auf Base und einer Führung von einem Run, den Kid mit seinem waghalsigen, typisch kraftvollen Laufstil für die Dodgers herausgeholt hatte – den Sieg unter Dach und Fach, als er den Ball direkt an der Mauer hinter dem rechten Centerfield in vollem Lauf aus der Luft holt. Nach dieser heldenhaften Wahnsinnstat, die den Dodgers zum Einzug in die World Series verhilft, bleibt er »schmerzverkrümmt auf dem grünen Rasen hinten im Centerfield« liegen. Tunis schreibt zum Schluß: »Die Dämmerung senkte sich über den Pulk der Spieler, über die gewaltige, aufs Spielfeld strömende Menge, über zwei Männer, die eine leblose Gestalt auf einer Bahre durch die Massen trugen … Dann kam ein Donnerschlag. Und Regen senkte sich übers Polo-Grounds-Stadion.« Senkte sich, senkte sich, ein Donnerschlag, und damit endet das Buch Hiob des Jungen.

Ich war zehn und hatte so etwas noch nie gelesen. Die Grausamkeit des Lebens. Seine Ungerechtigkeit. Ich konnte es nicht glauben. Wenn einer von den Dodgers Kritik verdient hat, dann ist es Razzle Nugent, ein großartiger Werfer, aber auch ein Trinker und Hitzkopf, ein mieser Rabauke, der von Eifersucht auf Kid zerfressen wird. Und doch wird nicht Razzle »leblos« auf einer Bahre davongetragen, sondern der Beste von ihnen allen, das Kid genannte Waisenkind vom Lande, bescheiden, ernst, unschuldig, treu, naiv, nie unterzukriegen, fleißig, freundlich, couragiert, ein hervorragender Sportler, ein gutaussehender, asketischer Junge. Natürlich waren Kid und der Schwede für mich ein und dieselbe Person, und ich fragte mich, wie der Schwede es hatte ertragen können, dieses Buch zu lesen, das mir Tränen ausgepreßt und schlaflose Nächte bereitet hatte. Hätte ich den Mut gehabt, ihn anzusprechen, würde ich gefragt haben, wie er das Ende verstanden hatte: ob er meine, mit Kid sei es aus, oder ob er die Möglichkeit sehe, daß ihm noch einmal ein Comeback gelingen könnte. Das Wort »leblos« machte mir angst. War Kid beim letzten Fang des Jahres ums Leben gekommen? Wußte der Schwede Genaueres? Interessierte es ihn überhaupt? Plagte ihn der Gedanke, daß ein Unglück wie das, das den Jungen aus Tomkinsville außer Gefecht gesetzt hatte, auch ihm selbst, dem großen Schweden, passieren könnte? Oder war ein Buch, in dem ein tadelloser Held aufs ärgste und ungerechteste geschunden wurde – ein Buch über einen enorm talentierten, naiven jungen Mann, dessen größter Fehler es ist, die rechte Schulter zu tief zu halten und den Schlag aufwärts zu führen, den aber der donnernde Himmel dennoch vernichtet –, für ihn einfach nur irgendein Buch zwischen diesen »Denker«-Buchstützen auf seinem Regal?

Keer Avenue war die Straße, in der die reichen Juden wohnten – reich jedenfalls erschienen sie den Mietern in den Zwei-, Drei- und Vierfamilienhäusern, deren gemauerte Vorderveranden der Schauplatz unserer Freizeitbeschäftigungen nach der Schule waren: Würfeln, Blackjack und Straßenbaseball ohne Ende, bis der billige, gnadenlos an die Treppenstufen geschleuderte Gummiball schließlich aus den Nähten ging und platzte. Hier, auf diesem Netz von Robinien gesäumter Straßen, in die während des Aufschwungs der frühen zwanziger Jahre die Lyons-Farm aufgeteilt worden war, hatte sich die erste Nacheinwanderungs-Generation der Newarker Juden zu einer Gemeinschaft zusammengefunden, die sich eher am amerikanischen Mainstream orientierte als am polnischen Schtetl, das ihre Jiddisch sprechenden Eltern um die Prince Street im verarmten Dritten Bezirk wiederbelebt hatten. Mit ihren möblierten Kellern, ihren abgetrennten Vorderveranden und den mit Steinplatten belegten Eingangstreppen schienen die Juden der Keer Avenue zu den Fortschrittlichen zu zählen und, kühnen Pionieren gleich, den in Amerika um sich greifenden Komfort auch für sich zu beanspruchen. Und an der Spitze der Spitze standen die Levovs, die uns unseren Schweden geschenkt hatten, einen Jungen, der einem Goi so nahe kam wie nur möglich.

Die Levovs selbst, Lou und Sylvia, waren als Vater und Mutter weder mehr noch weniger erkennbar amerikanisch als meine in Jersey geborenen jüdischen Eltern und auch nicht mehr oder weniger gebildet, redegewandt und kultiviert. Und das war für mich eine große Überraschung. Von dem Einfamilienhaus in der Keer Avenue abgesehen, gab es zwischen uns keinerlei Unterschiede wie etwa den zwischen Bauern und Aristokraten, von dem ich in der Schule gehört hatte. Mrs. Levov war wie meine Mutter eine ordnungsliebende Hausfrau mit tadellosen Manieren, eine nett aussehende Frau, die auf jedermanns Gefühle größte Rücksicht nahm und deren ganze Art dazu beitrug, daß ihr Sohn sich wichtig vorkam – eine der vielen Frauen jener Zeit, die nie davon träumten, von den großartigen Pflichten der Haushaltsführung und Kindererziehung befreit zu werden. Beide Söhne der Levovs hatten von ihr die langen Knochen und das blonde Haar geerbt, aber da Sylvias Haar krauser war und ins Rötliche ging und ihre Haut noch immer jugendliche Sommersprossen aufwies, wirkte sie nicht so verblüffend arisch wie die beiden und längst nicht als so eine auffällige genetische Seltsamkeit unter den Gesichtern in unseren Straßen.

Sein Vater war nicht größer als einssiebzig, höchstens einszweiundsiebzig – ein spindeldürrer Mann von noch erregbarerem Wesen als der Vater, dessen Ängste meine eigenen formten. Mr. Levov zählte zu den im Slum aufgewachsenen jüdischen Vätern, deren verschwommener, von Unkenntnis geprägter Blickwinkel eine ganze Generation aufstrebender, am College ausgebildeter jüdischer Söhne anspornte: ein Vater, für den alles unumstößliche Pflicht ist, für den es einen richtigen Weg und einen falschen Weg gibt und dazwischen nichts, ein Vater, der sich in seinen Ambitionen, Vorurteilen und Ansichten so wenig von gründlichem Nachdenken stören läßt, daß ihm keineswegs so leicht zu entkommen ist, wie man meinen könnte. Beschränkte Männer mit unbeschränkter Energie; Männer, die man ebenso rasch zu Freunden wie zu Feinden haben kann; Männer, für die das Wichtigste im Leben ist, trotz allem immer weiterzumachen. Und wir waren ihre Söhne. Es war unsere Aufgabe, sie zu lieben.

Wie es sich ergab, war mein Vater Fußpfleger und betrieb seine Praxis jahrelang in unserem Wohnzimmer, was gerade genug Geld einbrachte, daß unsere Familie damit auskommen konnte, mehr aber auch nicht, während Mr. Levov es mit der Herstellung von Damenhandschuhen zu Reichtum brachte. Sein Vater – der Großvater des Schweden – kam in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus der alten Heimat nach Newark und fand Arbeit als Entfleischer von Schafshäuten, die frisch aus dem Äscher kamen, er war der einzige Jude unter den rauhesten Gesellen von Newark, slawischen, irischen und italienischen Einwanderern in der an der Nuttman Street gelegenen Gerberei des Lackledermagnaten T.P. Howell, seinerzeit der Name im ältesten und größten Gewerbezweig der Stadt, dem Gerben und Herstellen von Lederwaren. Das Wichtigste bei der Lederherstellung ist Wasser – die Häute rotieren in riesigen Wassertrommeln, Schmutzwasser wird abgeschieden, heißes und kaltes Wasser strömt durch Rohrleitungen, Hunderttausende Liter Wasser allenthalben. Ist weiches Wasser, gutes Wasser vorhanden, kann man sowohl Bier als auch Leder machen, und in Newark wurde beides gemacht – es gab große Brauereien, große Gerbereien und, für den Einwanderer, jede Menge nasse, stinkende, zermürbende Arbeit.

Sohn Lou – der Vater des Schweden – ging mit vierzehn von der Schule ab, um durch Arbeit in der Gerberei zum Lebensunterhalt der neunköpfigen Familie beizutragen; bald war er nicht nur geschickt im Färben von Wildleder, das er mit einem flachen steifen Pinsel mit Lehmfarbe bestrich, sondern auch im Sortieren und Bewerten von Häuten. Die Gerberei, in der es nach Schlachthof und Chemiefabrik gleichzeitig stank, in der Fleisch eingeweicht und Fleisch gekocht und Häute enthaart und gebeizt und entfettet wurden, wo im Sommer die Gebläse rund um die Uhr die tausend und abertausend hängenden Häute trockneten und die Temperatur in dem niedrigen Trockenraum auf fünfzig Grad Celsius trieben, wo die riesigen Bottichräume finster wie Höhlen waren und überschwemmt mit Schmutzwasser, wo rohe Arbeiter in schweren Schürzen, bewaffnet mit Haken und Stangen, überladene Karren zogen und schoben, triefende Häute auswrangen und aufhängten und wie Tiere durch den zermürbenden Sturm ihrer Zwölfstundenschicht getrieben wurden – ein schmutziger, stinkender Ort, der Boden überflutet mit rot und schwarz und blau und grün gefärbtem Wasser, überall nichts als Häute und Fettgruben und Salzhaufen und Fässer mit Lösungsmitteln –, das also war Lou Levovs High-School und College. Erstaunlich dabei war nicht, als wie hart im Nehmen er sich erwies. Erstaunlich war vielmehr, wie zivilisiert er trotz alledem gelegentlich noch sein konnte.

Als er die Zwanzig überschritten hatte, stieg er bei Howell & Co. aus und gründete mit zwei seiner Brüder eine kleine Handtaschenmanufaktur; sie verarbeiteten hauptsächlich Krokodilleder, das ihnen R.G. Salomon lieferte, Newarks Korduanlederkönig und führender Mann auf dem Gebiet der Krokogerberei; eine Zeitlang sah es so aus, als könnte aus dem Geschäft etwas werden, aber nach dem Börsenkrach ging die Firma ein und stürzte die drei arbeitsamen, wagemutigen Levovs in den Ruin. Ein paar Jahre später gründete Lou Levov, diesmal allein, die Firma Newark Maid Leatherware; er kaufte Lederwaren zweiter Wahl auf – Handtaschen, Handschuhe und Gürtel mit kleinen Fehlern – und ging damit abends und an Wochenenden hausieren. Im Neck – der Quasihalbinsel im äußersten Osten von Newark, wo jede neue Welle von Einwanderern sich erst einmal niederließ, einem flachen Gelände, das im Norden und Osten vom Passaic River und im Süden von Salzsümpfen begrenzt wurde – lebten Italiener, die in der alten Heimat Handschuhmacher gewesen waren und die nun für ihn im Akkord zu Hause arbeiteten. Aus den Häuten, die er ihnen lieferte, schnitten und nähten sie Damenhandschuhe, die er im Bundesstaat von Tür zu Tür verkaufte. Als der Krieg ausbrach, besaß er ein kleines Loft an der West Market Street, in der eine Gruppe italienischer Familien für ihn Kinderhandschuhe herstellte. Der Betrieb war wenig rentabel, brachte kein richtiges Geld ein, bis er 1942, als das Women’s Army Corps bei ihm einen schwarzen, gefütterten Galahandschuh aus Schafsleder in Auftrag gab, auf eine Goldader stieß. Er pachtete die alte Schirmfabrik, einen fünfzig Jahre alten und vier Stockwerke hohen rauchgeschwärzten Steinhaufen an der Kreuzung Central Avenue und 2. Straße, und schon nach sehr kurzer Zeit erwarb er das ganze Gebäude und konnte die obere Etage an eine Reißverschlußfirma vermieten. Newark Maid ging in Massenproduktion: alle zwei, drei Tage fuhr der Lastwagen vor und holte die Handschuhe ab.

Noch größeren Grund zum Jubeln als der Regierungsauftrag bot der Bamberger-Coup. Newark Maid kam mit Bamberger ins Geschäft und wurde zum bedeutendsten Hersteller von Damenhandschuhen, nachdem es zu einer unverhofften Begegnung zwischen Lou Levov und Louis Bamberger gekommen war. Bei einem Festessen für Meyer Ellenstein, seit 1933 Stadtverordneter und der einzige Jude, der es jemals zum Bürgermeister von Newark gebracht hat, trat irgendein Bam-Manager, der mitbekommen hatte, daß der Vater des Schweden Levov anwesend war, an ihn heran und gratulierte ihm dazu, daß sein Sohn von den Newark News zu einem der besten Basketballcenter im ganzen Land gewählt worden sei. Lou Levov, nicht faul, ergriff die Chance seines Lebens – die Chance, alle Hindernisse mit einem Sprung zu überwinden und direkt an die Spitze zu gelangen – und nutzte dreist die Gelegenheit, sich an Ort und Stelle, noch während des Festessens, dem legendären L. Bamberger persönlich vorstellen zu lassen; Bamberger war der Gründer von Newarks renommiertestem Kaufhaus, ein Philanthrop, der der Stadt ein Museum gestiftet hatte, ein einflußreicher Mann, der für die Newarker Juden etwa soviel bedeutete wie Bernard Baruch wegen seiner engen Beziehung zu Franklin Delano Roosevelt für die Juden im ganzen Land. Gerüchten zufolge, die im Viertel umliefen, hatte Lou Levov, obwohl Bamberger kaum mehr getan hatte, als ihm die Hand zu schütteln und ihn höchstens zwei Minuten lang (über den Schweden) auszufragen, es gewagt, ihm ins Gesicht zu sagen: »Mr. Bamberger, wir liefern Qualitätsware, wir liefern zu günstigen Preisen – warum können wir Ihnen keine Handschuhe verkaufen?« Und noch im selben Monat hatte Bamberger die erste Lieferung bei Newark Maid bestellt: fünfhundert Dutzend Paar.

Am Ende des Kriegs war Newark Maid – nicht zuletzt dank der sportlichen Leistungen des Schweden – einer der angesehensten Namen im Damenhandschuhgewerbe südlich von Gloversville, New York, dem Zentrum der Handschuhherstellung, wohin Lou Levov seine Häute per Bahn – über Fultonville – verfrachtete, um sie dort von der besten Gerberei der Branche gerben zu lassen. Etwas mehr als ein Jahrzehnt später, 1958, wurde der Schwede anläßlich der Eröffnung einer Fabrik in Puerto Rico zum jungen Chef der Firma und mußte allmorgendlich von seinem Haus in die Central Avenue fahren – er lebte nämlich jetzt als Pionier des Kurzstreckenpendelns auf einer Vierzig-Hektar-Farm an einer abgelegenen Straße in den dünn besiedelten Bergen jenseits von Morristown im wohlhabenden, ländlichen Old Rimrock, New Jersey, weit weg von der Gerberei, in der Großvater Levov in Amerika angefangen hatte, damals, als er das zähe Fleisch von den Häuten schabte, das in den riesigen Äschern gespenstisch zur doppelten Stärke aufgedunsen war.

Im Juni 45, einen Tag nachdem er in Weequahic die Schule abgeschlossen hatte, bewarb sich der Schwede beim Marine Corps, um an den Kämpfen teilzunehmen, die den Krieg beenden sollten. Man munkelte, daß seine Eltern außer sich waren und alles daransetzten, ihm die Marines auszureden und ihn zum Eintritt in die Navy zu bewegen. Selbst wenn es ihm gelänge, den notorischen Antisemitismus der Marines zu überwinden – glaubte er denn im Ernst, daß er die Invasion Japans überleben würde? Aber der Schwede war angesichts der männlichen, patriotischen Herausforderung nicht davon abzubringen – schon unmittelbar nach Pearl Harbor hatte er sich insgeheim vorgenommen, als einer der Härtesten der Harten in den Kampf zu ziehen, sollte das Land sich noch im Krieg befinden, wenn er mit der High-School fertig war. Seine Grundausbildung auf Parris Island, South Carolina – wo das Gerücht umging, daß die Marines am 1. März 1946 auf den Stränden Japans landen sollten –, ging gerade zu Ende, als über Hiroshima die Atombombe abgeworfen wurde. Die Folge war, daß der Schwede den Rest seiner Militärzeit als »Sportspezialist« auf Parris Island verbrachte. Er leitete jeden Morgen vor dem Frühstück den halbstündigen gymnastischen Drill seines Bataillons, organisierte zur Unterhaltung der Rekruten an zwei Abenden die Woche Boxveranstaltungen und verbrachte den Großteil seiner Zeit bei der Stützpunktmannschaft, die im ganzen Süden gegen andere Militärmannschaften spielte – Basketball im Winter, Baseball im Sommer. Nach einem Jahr in South Carolina verlobte er sich mit einer irischen Katholikin, deren Vater, ein Major der Marines und ehemaliger Footballtrainer der Purdue-Mannschaft, ihm den behaglichen Job als Ausbilder besorgt hatte, damit er zum Ballspielen auf Parris Island bleiben konnte. Der Vater des Schweden wiederum machte, einige Monate vor dessen Entlassung, eine Reise nach Parris Island, blieb eine volle Woche im Hotel in Beaufort in der Nähe des Stützpunkts und reiste erst ab, als die Verlobung mit Miss Dunleavy wieder gelöst war. 1947 kehrte der Schwede nach Hause zurück und schrieb sich am Upsala College in East Orange ein; er war zwanzig, hatte keine nichtjüdische Frau am Hals und erschien um so mehr als strahlender Held, weil er sich als Jude bei den Marines ausgezeichnet hatte – Ausbilder, das war doch was, zumal in einem der brutalsten militärischen Ausbildungslager der ganzen Welt. In solchen Lagern werden Marines gemacht, und Seymour Irving Levov hatte dabei mitgewirkt.

Wir wußten das alles, weil die Aura des Schweden in den Fluren und Klassenzimmern der High-School weiterlebte, die ich inzwischen besuchte. Ich erinnere mich, wie ich an zwei oder drei Samstagen im Frühjahr mit Freunden zum Viking-Field-Stadion in East Orange pilgerte, um ein Heimspiel der Baseballmannschaft von Upsala zu sehen. Ihr bester Cleanup-Batter und First Baseman war der Schwede. Einmal gegen Muhlenberg schaffte er drei Homeruns an einem Tag. Wann immer wir auf den Tribünen einen Mann in Hut und Anzug erspähten, flüsterten wir uns zu: »Ein Talentsucher! Ein Talentsucher!« Auf dem College erfuhr ich von einem Schulfreund, der noch im Viertel lebte, daß man dem Schweden einen Vertrag bei einer Nachwuchsmannschaft der Giants angeboten, er ihn aber ausgeschlagen habe und statt dessen in die Firma seines Vaters eingestiegen sei. Später erzählten meine Eltern, der Schwede habe die Miss New Jersey geheiratet. Bevor sie 1949 in Atlantic City an den Wahlen zur Miss America teilnahm, war sie Miss Union County gewesen, und davor Frühjahrskönigin in Upsala. Aus Elizabeth. Eine Schickse. Dawn Dwyer. Er hatte es geschafft.

An einem Abend im Sommer 1985, als ich in New York zu Besuch war, fuhr ich mit ein paar Freunden los, um ein Spiel der Mets gegen die Astros zu sehen; als wir um das Stadion gingen und nach dem Eingang zu unseren Plätzen suchten, sah ich den Schweden, sechsunddreißig Jahre älter als damals, als ich ihn für Upsala hatte spielen sehen. Er trug ein weißes Hemd, eine gestreifte Krawatte und einen schwarzgrauen Sommeranzug und sah immer noch phantastisch gut aus. Sein goldblondes Haar war ein wenig gedunkelt, aber noch kein bißchen dünner; es war nicht mehr kurzgeschnitten, sondern hing ihm ziemlich füllig über die Ohren und auf den Kragen. In dem Anzug, der ihm ganz ausgezeichnet stand, wirkte er noch größer und schlanker, als ich ihn von früher in seinen diversen Sportlertrikots in Erinnerung hatte. Die Frau, die uns begleitete, bemerkte ihn zuerst. »Wer ist das? Ist das – ist das etwa … John Lindsay?« fragte sie. »Nein«, sagte ich. »Mein Gott. Weißt du, wer das ist? Das ist Levov, der Schwede.« Ich sagte zu meinen Freunden: »Das ist der Schwede!«

Neben dem Schweden ging ein dünner, blonder Junge, sieben oder acht Jahre alt; er trug eine Mets-Kappe und schlug immer wieder in einen Baseballhandschuh, der ihm, wie damals dem Schweden, an der linken Hand baumelte. Die beiden, offenbar Vater und Sohn, lachten über irgend etwas, als ich herantrat und mich vorstellte. »Ich habe Ihren Bruder in Weequahic gekannt.«

»Sie sind Zuckerman?« erwiderte er und schüttelte mir kräftig die Hand. »Der Schriftsteller?«

»Ich bin Zuckerman, der Schriftsteller.«

»Klar, Sie waren doch ein guter Freund von Jerry.«

»Ich glaube nicht, daß Jerry gute Freunde hatte. Für Freunde war er einfach zu perfekt. Beim Tischtennis unten bei Ihnen im Keller hat er mich jedesmal fertiggemacht. Das war für Jerry sehr wichtig, mich im Tischtennis zu schlagen.«

»Ach, Sie sind das also. Meine Mutter sagt immer: ›Er war immer so ein nettes, ruhiges Kind, wenn er bei uns im Haus war.‹ Weißt du, wer das ist?« fragte der Schwede den Jungen. »Der Mann, der diese Bücher geschrieben hat. Nathan Zuckerman.«

Der Junge zuckte verwirrt die Schultern und murmelte: »Hi.«

»Das ist mein Sohn Chris.«

»Das hier sind Freunde von mir«, stellte ich mit einer pauschalen Armbewegung meine drei Begleiter vor. »Und dieser Mann«, sagte ich zu ihnen, »ist der größte Sportler in der Geschichte der High-School von Weequahic. Ein echter Künstler in drei Sportarten. Ein First Baseman wie Hernandez – mit Köpfchen. Hat seine Line Drives oft zu Doubles gemacht. Hast du das gewußt?« fragte ich seinen Sohn. »Dein Dad war unser Hernandez.«

»Hernandez ist Linkshänder«, antwortete er.

»Das ist aber auch der einzige Unterschied«, sagte ich zu dem kleinen Besserwisser und streckte seinem Vater noch einmal die Hand hin. »War nett, Sie kennenzulernen, Schwede.«

»Ganz meinerseits. Machen Sie’s gut, Skip.«

»Grüßen Sie Ihren Bruder von mir«, sagte ich.

Er lachte, wir gingen auseinander, und jemand sagte zu mir: »Also wirklich, der größte Sportler in der Geschichte der High-School von Weequahic, und nennt dich ›Skip‹.«

»Ja. Ich kann es selbst kaum glauben.« Und ich fühlte mich fast so wunderbar herausgehoben wie einmal als Zehnjähriger, als der Schwede so freundlich gewesen war, mich an dem Spitznamen zu erkennen, der mir anhing, seit ich an der Grundschule zwei Klassen übersprungen hatte.

Irgendwann im ersten Inning drehte sich unsere Begleiterin zu mir um und sagte: »Du hättest dich mal sehen sollen – du hast ein Gesicht gemacht, als ob du uns Zeus persönlich vorgestellt hättest. Genau so mußt du als kleiner Junge ausgesehen haben.«

Der folgende Brief wurde zwei Wochen vor dem Memorial Day 1995 von meinem Verlag an mich weitergeleitet.

Lieber Skip Zuckerman,

ich bitte um Verzeihung, falls dieser Brief Sie in irgendeiner Weise belästigen sollte. Vielleicht haben Sie unsere Begegnung im Shea-Stadion längst vergessen. Ich war dort mit meinem ältesten Sohn (der jetzt im ersten Jahr aufs College geht), und Sie wollten sich mit ein paar Freunden ein Spiel der Mets ansehen. Das war vor zehn Jahren, die Ära Carter-Gooden-Hernandez, die Zeit, als man sich die Mets noch ansehen konnte. Heute kann man da nicht mehr hingehen.

Ich möchte Sie fragen, ob wir uns nicht mal treffen könnten. Ich würde Sie, wenn Sie gestatten, sehr gern einmal in New York zum Essen einladen.

Ich erlaube mir diese Einladung, weil ich nach dem Tod meines Vaters vor einem Jahr über einiges nachgedacht habe. Er war sechsundneunzig. Er war bis zum Schluß so lebhaft und streitlustig wie eh und je. Und das hat mir, trotz seines fortgeschrittenen Alters, sein Ableben noch schmerzlicher gemacht.

Ich würde gern über ihn und sein Leben reden. Ich habe versucht, einen Nachruf auf ihn zu schreiben, der privat gedruckt werden sollte, für Freunde, Verwandte und Geschäftspartner. Fast alle haben meinen Vater für unverwüstlich gehalten, für einen dickhäutigen, ziemlich reizbaren Menschen. Aber das war er ganz und gar nicht. Nur wenige wußten, wie sehr er unter den Erschütterungen gelitten hat, von denen seine Lieben heimgesucht wurden.

Bitte seien Sie versichert, daß ich Verständnis habe, wenn Ihnen die Zeit fehlt, mir zu antworten.

Herzlich, Ihr

Seymour »der Schwede« Levov, WHS 1945

Hätte jemand anders mich gefragt, ob er mit mir über einen Nachruf reden könne, den er für seinen Vater schreibe, hätte ich ihm viel Glück gewünscht und mich da rausgehalten. Aber es gab zwingende Gründe, dem Schweden noch in derselben Stunde meine Bereitschaft mitzuteilen. Der erste Grund lautete: Der Schwede Levov will sich mit mir treffen. Es mag bei einem fast schon alten Mann wie mir lächerlich klingen, aber kaum sah ich seine Unterschrift auf dem Brief, überschwemmten mich Erinnerungen an ihn, auf dem Spielfeld und außerhalb, Erinnerungen, die fünfzig Jahre alt waren und mich trotzdem immer noch bezauberten. Ich dachte daran, wie ich in dem Jahr, in dem der Schwede eingewilligt hatte, für die Footballmannschaft zu spielen, täglich zum Sportplatz gegangen war, um ihm beim Training zuzusehen. Im Basketball war er bereits ein meisterlicher Korbschütze, aber niemand wußte, daß er im Football nicht minder zauberhaft agieren konnte, bis der Trainer ihn als Außenstürmer aufstellte und unsere bis dahin sieglose Mannschaft, zwar immer noch ganz unten in der Liga, plötzlich einen, zwei oder gar drei Touchdowns in einem Spiel erzielte – alle nach Pässen zu dem Schweden. Fünfzig, sechzig Jungen drängten sich an den Seitenlinien, um ihn beim Training zu beobachten; er trug einen zerschlissenen Lederschutzhelm und das braune Trikot mit der orangefarbenen Nummer 11 und trainierte mit der Unimannschaft gegen die Junioren. Der Uni-Quarterback, Lefty Leventhal, warf einen Paß nach dem anderen (»Le-ven-thal zu Le-vov! Le-ven-thal zu Le-vov!« war ein Anapäst, der uns damals, in der Blütezeit des Schweden, immer aus dem Häuschen geraten ließ), und den Junioren kam als Verteidigern die Aufgabe zu, den Schweden Levov daran zu hindern, jedesmal einen Punkt zu machen. Ich bin jetzt über sechzig und nicht unbedingt jemand, der zum Leben noch dieselbe Einstellung hat wie als kleiner Junge, und dennoch hat sich die Verzauberung, die ich als Junge empfunden habe, nie ganz gelegt; denn bis zum heutigen Tag habe ich nicht vergessen, wie der Schwede unter einem Berg von Verteidigern hervorkroch, langsam wieder aufstand, sich schüttelte, einen protestierenden Blick zum dämmernden Herbsthimmel hob und dann mit einem wehmütigen Seufzer unversehrt zu seinen Leuten zurücktrabte. Wenn er einen Punkt machte, war das nicht weniger ein Triumph, als wenn er niedergerissen und von einer Spielertraube begraben wurde und dann einfach aufstand und das abschüttelte.

Und eines Tages bekam auch ich etwas von diesem Triumph ab. Ich war zehn, ich war mit Größe noch nie in Berührung gekommen und wäre, hätte ich nicht Jerry Levov gekannt, für den Schweden genauso Luft geblieben wie jeder andere an den Seitenlinien. Aber Jerry hatte mich vor kurzem als Freund an Bord genommen; und obwohl ich es kaum glauben konnte, mußte mich der Schwede bei sich im Haus bemerkt haben. Und als er dann also eines späten Herbstnachmittags im Jahre 1943, nachdem er einen harten Kurzpaß von Leventhal gefangen hatte, von der kompletten Juniorenmannschaft zu Boden gerissen wurde und der Trainer unmittelbar darauf durch einen Pfiff das Ende des Trainings signalisierte, kam er halb laufend, halb humpelnd vom Platz, wobei er vorsichtig einen Ellbogen beugte, und plötzlich sah er mich unter den anderen Jungen und rief zu mir rüber: »Basketball ist doch was ganz anderes, Skip.«

Der Gott (mit seinen gerade mal sechzehn Jahren) hatte mich in den Sportlerhimmel gehoben. Der Angebetete hatte den Anbetenden zur Kenntnis genommen. Bei Sportlern nicht anders als bei Filmstars, wähnt natürlich jeder Verehrer eine besondere, geheime Beziehung zu seinem Idol zu haben, aber diese hier war, vor einer schweigenden Versammlung wetteifernder Kinder, von dem sonst so zurückhaltenden Star selbst und öffentlich gestiftet worden – ein umwerfendes Erlebnis, und ich war selig. Ich wurde rot, ich war selig, und wahrscheinlich habe ich den Rest der Woche an nichts anderes mehr gedacht. Das gespielte Selbstmitleid, die männliche Großmut, die fürstliche Herablassung, das Selbstgefühl des Sportlers, das so reichlich vorhanden war, daß er ein Teil davon freigebig an die Menge austeilen konnte – diese Großzügigkeit überwältigte und durchrieselte mich nicht nur, weil er sie in meinen Spitznamen verpackt hatte, sondern setzte sich auch als Verkörperung von etwas in mir fest, das gar noch imposanter war als seine sportlichen Talente: das Talent, »man selbst zu sein«, die Fähigkeit, so gebieterischen Eindruck zu machen und doch eine Stimme und ein Lächeln zu besitzen, von denen nicht einmal eine Spur von Überheblichkeit ausging – die natürliche Bescheidenheit eines Menschen, für den es keine Hindernisse gab, der offenbar niemals Mühe hatte, sich Raum für sich selbst zu verschaffen. Ich bin bestimmt nicht der einzige Erwachsene, der als jüdisches Kind in den patriotischen Kriegsjahren – als die Kriegshoffnungen unseres ganzen Viertels sich in dem prächtigen Körper des Schweden zusammenzufinden schienen – davon geträumt hat, ein richtiger amerikanischer Junge zu sein, und der die unübertreffliche Art dieses begabten jungen Mannes sein Leben lang nicht vergessen hat.

Das Judentum, das er als einer der großen blonden sportlichen Siegertypen so unbekümmert getragen hat, muß auch uns angesprochen haben – ich nehme an, unsere Vergötterung des Schweden und seines unbewußten Einsseins mit Amerika war nicht ganz frei von Schamgefühl und Selbstverleugnung. Unvereinbare jüdische Sehnsüchte, die sein Anblick weckte, wurden gleichzeitig von ihm gestillt; der Widerspruch der Juden, die sich einerseits anpassen, andererseits abheben wollen, die beteuern, daß sie anders sind, und ebenso beteuern, daß sie nicht anders sind, löste sich im grandiosen Anblick dieses Schweden, der ja tatsächlich auch nur einer von den Seymours in unserem Viertel war, deren Vorfahren Solomon oder Saul geheißen und die dann Stephens gezeugt hatten, die wiederum Shawns zeugen würden. Wo war der Jude in ihm? Man konnte ihn nicht finden, und doch wußte man, daß er da war. Wo war das Irrationale in ihm? Wo war die Heulsuse in ihm? Wo die Launen und Versuchungen? Keine List. Keine Tücke. Kein Unfug. Das alles hatte er ausgemerzt, um zur Perfektion zu gelangen. Nichts Streberhaftes, nichts Zwiespältiges, nichts Doppelzüngiges – nur er selbst, die natürliche sinnliche Eleganz eines Stars.

Nur … wie stand es um sein Ich? Worin bestand das Ich des Schweden? Es mußte ein Fundament haben, aber dessen Zusammensetzung war nicht zu ergründen.

Das war der zweite Grund, warum ich auf den Brief geantwortet habe – das Fundament. Wie hatte seine geistige Existenz ausgesehen? Was, falls überhaupt etwas, hatte den Schweden aus der Bahn zu werfen gedroht? Niemand geht unversehrt von Grübeleien, Kümmernissen, Wirrsalen und Verlusten durchs Leben. Selbst diejenigen, die als Kinder alles hatten, bekommen früher oder später ihr Maß an Unglück zugeteilt, und manchmal reichlich. Bewußtsein, schlimme Phasen – so etwas muß er doch gehabt haben. Aber ich konnte mir weder das eine noch das andere richtig vorstellen, konnte ihn auch jetzt nicht anders als monolithisch sehen: mit den Resten meiner pubertären Phantasie war ich immer noch überzeugt, daß der Schwede ein rundum schmerzfreies Leben gehabt hatte.

Aber worauf hatte er in diesem behutsamen, höflichen Brief angespielt, als er, von seinem verstorbenen Vater erzählend, einem Mann, der nicht so dickhäutig gewesen sei, wie die Leute dachten, schrieb: »Nur wenige wußten, wie sehr er unter den Erschütterungen gelitten hat, von denen seine Lieben heimgesucht wurden«? Nein, der Schwede selbst hatte eine Erschütterung erlitten. Und genau das war es, worüber er mit mir reden wollte. Nicht über das Leben seines Vaters, sondern über sein eigenes wollte er Klarheit erlangen.

Ich hatte mich getäuscht.

Wir trafen uns in einem italienischen Restaurant in den West Forties, wohin der Schwede seit Jahren seine Verwandten ausführte, wenn sie nach New York kamen, um sich eine Broadway-Show oder ein Spiel der Knicks im Garden anzusehen, und ich erkannte sofort, daß ich auch jetzt nicht an das Fundament herankommen würde. Jeder bei Vincent’s kannte ihn mit Namen – Vincent selbst, Vincents Frau, Louie der Oberkellner, Carlo der Barkeeper, unser Kellner Billy, jeder kannte Mr. Levov, und jeder fragte nach Mrs. Levov und den Söhnen. Wie sich herausstellte, hatte er zu Lebzeiten seiner Eltern manchen Hochzeitstag oder Geburtstag ebenfalls bei Vincent’s gefeiert. Nein, dachte ich, er hat mich nur hierher eingeladen, um mir zu zeigen, daß er in der West 49th Street genauso bewundert wird wie damals in der Chancellor Avenue.