Falsches Spiel im Internat
Kosmos
Umschlagillustration von Römer & Osadtschij GbR/Natascha Römer
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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
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ISBN 978-3-440-14280-6
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Regenwetter und Girls-Talk
»Ich liebe Schoko-Muffins!« Kim biss in ihren Muffin und ließ sich die kleinen Schokoladenstückchen auf der Zunge zergehen. Sie schloss einen Moment genießerisch die Augen. Dann nuschelte sie: »Sag bloß, die hast du selbst gebacken?«
Marie nickte stolz. »Extra für euch. Ich dachte, bei dem Wetter könnten wir eine süße Stärkung gebrauchen.«
Franzi nahm sich ebenfalls einen Muffin. »Und ob. Auf dem Weg hierher bin ich ganz schön nass geworden.«
Draußen fiel schon seit Stunden ein feiner Nieselregen und hüllte das Penthouse in einen Schleier aus Nässe. Für Mai war es viel zu kalt. Darum hatten die drei !!! beschlossen, den Sonntagnachmittag ganz entspannt bei Marie zu verbringen. Sie hatten es sich im Wohnzimmer auf dem weißen Ledersofa bequem gemacht, schlürften dampfenden Früchtetee und futterten Muffins, während im Kamin die Flammen knisterten. Marie hatte überall Kerzen aufgestellt, die warmes Licht verbreiteten.
Kim seufzte zufrieden und wischte sich einen Schokoladenkrümel aus dem Mundwinkel. »Ist das gemütlich! Und so schön ruhig und friedlich. Du weißt gar nicht, wie gut du es hast, Marie. Bei uns war heute schon wieder die Hölle los.«
»Wieso?«, erkundigte sich Marie.
»Ben und Lukas wollen neuerdings unbedingt berühmte Rapper werden«, erzählte Kim. »Sie hören rund um die Uhr irgendwelche Rap-Songs, natürlich in voller Lautstärke. Heute ging es schon um kurz nach acht los. Ich bin fast aus dem Bett gefallen! Und ich musste sie doch tatsächlich mit meiner letzten Tafel Nussschokolade bestechen, damit sie die Musik leiser drehen.«
Franzi grinste. »Typisch! Die kleinen Teufel bekommen doch immer, was sie wollen.«
Kims jüngere Zwillingsbrüder hatten nur Unsinn im Kopf und brachten Kim regelmäßig zur Weißglut. Um so mehr genoss sie die entspannte Stimmung im Penthouse. Marie hatte keine Geschwister und ihre Mutter war vor vielen Jahren gestorben. Darum war sie der Augenstern ihres Vaters, der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas. Helmut Grevenbroich, ein erfolgreicher Schauspieler und Star der Vorabendserie Vorstadtwache, war häufig unterwegs, sodass Marie viele Freiheiten genoss. Doch trotz seines stressigen Berufs stand Marie bei ihrem Vater immer an erster Stelle. Zumindest war das bisher so gewesen.
»So ruhig und friedlich ist es bei uns gar nicht mehr«, sagte Marie düster. »Leider.«
Franzi beugte sich interessiert vor. »Hattest du wieder Stress mit Lina? Erzähl!«
Lina war die Tochter von Tessa, Herrn Grevenbroichs neuer Freundin. Es war das erste Mal seit dem Tod seiner Frau, dass Maries Vater eine Beziehung eingegangen war. Vor drei Monaten waren Tessa und Lina ins Penthouse gezogen, aber Marie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Tessa, die sie anfangs überhaupt nicht hatte leiden können, fand sie inzwischen ganz okay. Aber Lina war einfach nur nervig.
»Die dumme Kuh hat mir gestern meinen Wellnessabend verdorben.« Empört warf Marie ihre langen, blonden Haare über die Schulter. »Erst hat sie den Naturjoghurt aufgefuttert, den ich für meine Joghurt-Honig-Gesichtsmaske gekauft hatte. Ich musste noch mal raus in den Regen und neuen besorgen. Und als ich klitschnass und durchgefroren zurückkam und mir ein heißes Bad einlassen wollte, lag Lina in der Wanne. Sie hatte die halbe Flasche von meinem guten Lavendel-Badeöl ins Wasser gekippt, das mir mein Vater aus Mailand mitgebracht hatte, und auch noch meine Duftkerzen angezündet!«
Kim konnte sich die Szene lebhaft vorstellen. »Und?«, fragte sie gespannt. »Bist du ausgerastet?«
Marie nickte heftig. »Natürlich! Was denkst du denn? Ich hab Lina angebrüllt, dass sie sofort verschwinden soll. Aber sie hat nur frech gegrinst und gesagt, das Badezimmer würde nicht mir allein gehören.«
»Stimmt ja auch«, warf Franzi nicht allzu sensibel ein.
Marie schnaufte empört. »Von wegen! Die Wohnung gehört Papa und mir. Tessa und Lina sind hier nur zu Gast. Aber Lina führt sich auf, als würde sie schon immer hier wohnen. Sie schmeißt überall ihre Klamotten hin, belegt stundenlang das Bad und hängt ständig vor dem Fernseher im Wohnzimmer herum. Neulich hab ich sogar die Live-Übertragung vom Boyzzzz-Konzert verpasst, weil Lina unbedingt ihre Lieblingsserie sehen wollte.«
»Du Ärmste, dabei war das Konzert so super!«, schwärmte Kim. »Der Höhepunkt war natürlich das Love-Duett von Nick und Eva.«
Franzi nickte. »Ich hab’s auch gesehen. Die Leute sind total ausgerastet, als Eva überraschend auf die Bühne kam. Sie und Nick haben sich beim Singen die ganze Zeit in die Augen geschaut. Die beiden scheinen immer noch total verliebt zu sein.«
Die drei !!! kannten den berühmten Sänger Nick Voss und seine Frau Eva von früheren Ermittlungen. Sie waren sogar bei ihrer Hochzeit eingeladen gewesen, einem rauschenden Fest. Außerdem waren alle drei große Fans von Nicks Band Boyzzzz.
Kim warf einen Blick zu Marie hinüber, deren Miene immer düsterer geworden war, je begeisterter sie und Franzi erzählten. »So toll war’s auch wieder nicht«, behauptete Kim schnell.
»Warum bist du nicht einfach in dein Zimmer gegangen, als das Konzert lief?«, fragte Franzi. »Da hast du schließlich auch einen Fernseher.«
»Ach, der ist doch viel zu klein.« Marie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Da bekomme ich nach fünf Minuten Augenschmerzen.«
»Ich wäre froh, wenn ich überhaupt einen eigenen Fernseher hätte.« Kim seufzte. »Dann müsste ich mich nicht immer mit den Zwillingen um die Fernbedienung streiten. Aber Mama meint, ein Fernseher im Haus reicht völlig.«
Frau Jülich hielt Fernsehen für reine Zeitverschwendung. Sie predigte ihren Kindern ständig, sie sollten lieber etwas Sinnvolles tun, zum Beispiel für die Schule lernen oder ihr Zimmer aufräumen. Natürlich sahen Kim und ihre Brüder das völlig anders. In diesem Punkt waren sie ausnahmsweise einer Meinung.
»Na ja, zumindest lässt Lina uns heute in Ruhe«, sagte Franzi versöhnlich. »Wo steckt sie denn? Hast du sie in ihrem Zimmer eingesperrt?«
Marie ging nicht auf den Scherz ein. »Sie ist mit Papa und Tessa ins Freizeitbad gegangen«, erklärte sie mit versteinerter Miene.
»Und du wolltest nicht mit?«, fragte Kim erstaunt.
Marie schüttelte heftig den Kopf. »Auf sonntägliche Familienausflüge mit Tessa und Lina kann ich wirklich verzichten. Wahrscheinlich quatscht Lina die ganze Zeit ohne Punkt und Komma und versucht, Papa mit ihren Schwimmkünsten zu beeindrucken. Neuerdings weicht sie nicht von seiner Seite und will ständig zu allem seine Meinung wissen.«
»Vielleicht hat sie sich ja in ihn verliebt.« Franzi kicherte.
»Ich denke eher, sie sieht in ihm eine Art Vaterfigur«, sagte Kim, bevor Marie in die Luft gehen konnte. »Darum versucht sie, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.«
Aber diese Vorstellung schien Marie erst recht nicht zu gefallen. »So weit kommt’s noch! Papa ist mein Vater, nicht Linas! Sie soll ihn bloß in Ruhe lassen!«
Kim beschloss, das Thema zu wechseln. Wenn es um ihren geliebten Vater ging, war Marie sehr empfindlich. Sie konnte es nur schwer ertragen, ihn jetzt mit Tessa und Lina teilen zu müssen. Kein Wunder, schließlich war sie seit vierzehn Jahren seine »Prinzessin«. Und jetzt hatte sie Angst, von ihrem Prinzessinnenthron gestoßen zu werden – ausgerechnet von Lina! Kim konnte gut verstehen, dass Marie die neue Situation zu schaffen machte.
»Gibt es eigentlich Neuigkeiten von Holger?«, fragte Kim. »Ihr wolltet euch doch treffen, oder?«
Holger war Maries Ex-Freund aus Billershausen, einem kleinen Dorf, das ungefähr 25 Kilometer weit weg lag. Sie hatten sich getrennt, weil Marie eine Fernbeziehung irgendwann nicht mehr gereicht hatte. Aber bei ihrem letzten Fall, der die drei !!! in den neuen Freizeitpark Sugarland in der Nähe von Billershausen geführt hatte, war Holger Marie wieder über den Weg gelaufen und es hatte heftig zwischen den beiden geknistert. Holger war nach ihrem zufälligen Treffen erst einmal in Urlaub gefahren, hatte für Marie aber vorher noch eine Traube Luftballons im Café Lomo abgegeben!
Maries Wangen verfärbten sich augenblicklich rosa. »Wir haben uns tatsächlich vor ein paar Tagen gesehen.«
»Und?«, fragte Franzi neugierig. »Wie war’s?«
Ein seliges Lächeln breitete sich auf Maries Gesicht aus. »Super! Wir waren in der Fußgängerzone bummeln, Eis essen und abends im Kino. Es war fast wie früher – total entspannt, witzig und kein bisschen langweilig. Holger und ich sind einfach auf einer Wellenlänge.«
Kim und Franzi wechselten einen vielsagenden Blick und grinsten.
»Du schwärmst ja richtig«, stellte Kim fest. »Klingt fast so, als würdest du euch beiden noch eine Chance geben.«
Der selige Ausdruck verschwand von Maries Gesicht. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre …«
»Warum denn nicht?«, fragte Franzi. »Ich hab ja immer gesagt, dass ihr super zusammenpasst. Vielleicht war eure Trennung ein riesengroßer Fehler.«
»Ja, vielleicht.« Marie seufzte. »Aber es ist nun mal, wie es ist. Holger wohnt einfach zu weit weg. Das hat schon einmal nicht geklappt, warum sollte es jetzt klappen? Außerdem habe ich ewig gebraucht, um über unsere Trennung hinwegzukommen. Das will ich nicht noch einmal mitmachen.«
»Kann ich gut verstehen.« Kim drückte mitfühlend Maries Arm. »Trotzdem solltest du auf dein Herz hören. Gefühle lassen sich auf Dauer nicht verleugnen.«
»Musst du gerade sagen.« Marie lächelte schief. »Wer ist denn der Kopfmensch von uns dreien? Das bist doch wohl du!«
Kim hatte einen äußerst scharfen Verstand, der ihr bei den Ermittlungen schon oft geholfen hatte. Nicht zuletzt wegen Kims Kombinationsgabe hatte der Detektivclub Die drei !!! schon so viele Fälle gelöst. Doch in der Liebe brachte sie das leider nur selten weiter. Gefühle waren eben nicht vorhersehbar und schon gar nicht logisch.
»Übrigens haben Holger und ich Michi gesehen«, erzählte Marie. »Wir waren in Giovannis Eisdiele und Michi hat uns bedient.«
»Ehrlich?« Kim runzelte die Stirn. »Davon hat er mir gar nichts gesagt.«
Kim und Michi waren schon seit einer Ewigkeit ein Paar. Und fast genauso lange jobbte Michi als Aushilfskellner in Giovannis Eisdiele.
»Michi hat uns von seinen beruflichen Plänen erzählt«, berichtete Marie, offenbar heilfroh, das heikle Thema Holger vorerst abgehakt zu haben. »Seine Ausbildung zum Chemisch-technischen Assistenten beginnt doch im Sommer, oder? Er scheint sich ja schon sehr darauf zu freuen.«
Kim verdrehte die Augen. »Das ist noch untertrieben. Er redet von nichts anderem mehr. Seit er in den Osterferien am Azubi-Camp teilgenommen hat, ist es noch schlimmer geworden.«
Marie nickte. »Stimmt, er hat ganz schön von dem Camp und seinen netten zukünftigen Azubi-Kollegen geschwärmt. Er hatte richtig leuchtende Augen dabei.«
»Ist dir das auch aufgefallen?« Kim seufzte. »Ich wäre froh, wenn seine Augen bei meinem Anblick auch mal wieder so leuchten würden. Manchmal habe ich das Gefühl, wir entfernen uns immer weiter voneinander.«
»Ach was, das ist bestimmt nur eine Phase«, beruhigte Franzi ihre Freundin. »Ist doch schön, wenn er sich auf seine Ausbildung freut. Und sobald die erste Aufregung verflogen ist, hat er sicher auch wieder mehr Zeit für dich. Ihr habt schließlich schon ganz andere Krisen gemeistert.« Franzis Handy piepte. Sie zog es hervor und warf einen Blick auf das Display. Augenblicklich begann sie, über das ganze Gesicht zu strahlen. »Eine SMS von Felipe! Schöne Grüße an alle.«
Kim war froh über die Ablenkung. Es deprimierte sie, über Michi nachzudenken. Jedes Mal überkam sie das Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Seit einiger Zeit konnte sie die Kette, die Michi ihr einmal geschenkt hatte, und die für Kim immer ein Symbol ihrer Liebe gewesen war, nicht mehr finden. Als auch noch die Linde in Franzis Garten gefällt werden musste, in die sie beide in einer romantischen Aktion ihre Anfangsbuchstaben eingeritzt hatten, begann die sonst so rational denkende Kim ernsthaft zu zweifeln. Waren das Zeichen dafür, dass etwas in ihrer Beziehung mit Michi nicht stimmte? Und in ihrem Kopf kreiste eine Frage, die so beängstigend war, dass sie sie bisher nicht einmal ihren Freundinnen gegenüber erwähnt hatte.
Waren sie und Michi am Ende ihres gemeinsamen Weges angekommen?
»Wie geht’s Felipe denn so?«, erkundigte sich Marie. »Ist er immer noch in Mexiko?«
Franzi nickte, während sie eine kurze Antwort ins Handy tippte. »Er macht mit seiner Mutter noch ein paar Verwandtenbesuche, bevor sie nach Deutschland zurückfliegen.«
Franzi hatte Felipe bei ihrem letzten Fall kennengelernt. Seine Mutter Juana war Mexikanerin und betrieb im Freizeitpark Sugarland ein Restaurant. Sein Vater Andreas, ein Deutscher, war vor einiger Zeit gestorben. Franzi hatte sich sofort in den hübschen und einfühlsamen Halb-Mexikaner verliebt. Während der Ermittlungen hatten sie viel Zeit miteinander verbracht – und sich während einer romantischen Fahrt auf einem alten Springpferdkarussell sogar geküsst!
»Wann kommt er denn zurück?«, fragte Kim. Sie zwinkerte Franzi zu. »Du kannst es doch bestimmt kaum erwarten, ihn wiederzusehen, oder?«
Franzi spielte verlegen mit einer roten Haarsträhne herum, die sich aus einem ihrer Zöpfe gelöst hatte. »Felipe fehlt mir schon ziemlich«, gab sie zu. »Ich finde es total süß von ihm, dass er mir jeden Tag eine SMS schreibt. Andererseits …« Sie zögerte.
»Andererseits was?«, hakte Kim nach.
Franzi seufzte. »Ich weiß nicht, ob die Sache eine Zukunft hat. Zum einen sitzt mir die Enttäuschung mit Robin noch in den Knochen. Außerdem wohnt Felipe doch auch in Billershausen, wie Holger. Und ich will nicht die gleichen schlechten Erfahrungen mit einer Fernbeziehung machen wie Marie.«
Marie warf Franzi einen empörten Blick zu. »Na, hör mal! Mir rätst du, es noch einmal mit Holger zu versuchen, aber selber traust du dich nicht, was? Das ist ja wohl die Höhe!«
Franzi musste grinsen. »Stimmt, so hab ich es noch gar nicht gesehen.«
Ehe die drei !!! das Thema vertiefen konnten, hörten sie, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Kurz darauf ertönten Stimmen und das Lachen von Herrn Grevenbroich im Flur.
Maries Miene verdüsterte sich. »Jetzt ist es vorbei mit der Ruhe.«
Ihre Prophezeiung ging augenblicklich in Erfüllung. Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und Lina stürmte ins Wohnzimmer. Ihre rotblonden schulterlangen Haare waren noch feucht und leichter Chlorgeruch breitete sich im Raum aus. »Da sind wir wieder!«, trompetete sie und warf ihren Rucksack schwungvoll auf den im Feuerschein des Kamins matt schimmernden Parkettboden.
»Das ist nicht zu überhören.« Marie rümpfte die Nase. Sie versuchte nicht einmal, den genervten Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.
Doch Lina ließ sich davon keineswegs abschrecken. »Super, Muffins!«, rief sie begeistert und schnappte sich den letzten Muffin aus der silbernen Schale. »Hast du die gebacken?«
»Ja, aber nicht für dich.« Jetzt war Marie richtig sauer.
Lina überhörte den Einwand und ließ sich vor dem Kamin auf einen von Herrn Grevenbroichs dicken Orientteppichen fallen. Während sie den Muffin auffutterte, erzählte sie munter vom Ausflug ins Freizeitbad. »Es war richtig toll«, schwärmte sie mit vollem Mund. »Wir haben jede Menge Spaß gehabt. Du hättest mitkommen sollen, Marie.«
»Nein, danke«, sagte Marie eisig.
Lina zuckte mit den Schultern. »Du hast echt was verpasst. Helmut ist ja so witzig! Wir haben ein Wettspringen vom Dreimeterbrett veranstaltet und sind mindestens zehnmal hintereinander gerutscht. Einmal hat Helmut fast seine Badehose verloren. Es war wirklich zum Schreien!«
»Papa war auf der Wasserrutsche?«, fragte Marie ungläubig.
Herr Grevenbroich betrat das Wohnzimmer. Auch seine Haare waren noch nicht ganz trocken und kringelten sich leicht im Nacken. Er wirkte so entspannt wie schon lange nicht mehr. »Da staunst du, was, Prinzessin? Gib’s zu, das hättest du deinem alten Vater nicht zugetraut.«
»Nein, wirklich nicht«, murmelte Marie schwach. »Ich dachte, du hasst diese engen Röhren.«
Herr Grevenbroich grinste. »Wenn man sich einmal überwunden hat, ist es gar nicht mehr so schlimm.«
»Er war super«, behauptete Lina. »Viel schneller als alle anderen.« Sie sah bewundernd zu ihm auf.
Jetzt reichte es Marie. Sie gab Franzi und Kim ein Zeichen. »Kommt, wir gehen in mein Zimmer.«
Doch da kam Tessa herein. Sie war wie immer ungeschminkt und ihre dunklen Haare standen strubbelig vom Kopf ab. Trotzdem, oder gerade deshalb, wirkte sie so frisch und schön wie eine wilde Blume. Sie trug eins ihrer selbst entworfenen Think-nature-T-Shirts, die ihr inzwischen förmlich aus den Händen gerissen wurden. In ihrem Internet-Shop gingen jeden Tag mehr Bestellungen ein und sie kam mit Produktion und Versand kaum nach. Zumal sie das Modegeschäft ja nur als Nebenerwerb betrieb, hauptberuflich war sie Kamerafrau am Set der Vorstadtwache. Dort hatte sie Herrn Grevenbroich auch kennen- und lieben gelernt.
»Hallo allerseits«, begrüßte sie die drei !!!. »Bleibt ruhig sitzen. Lasst euch von uns nicht stören, wir sind sowieso gleich wieder weg. Lina, du musst noch Hausaufgaben machen.«
»Jetzt sofort?«, maulte Lina, die sich den Rücken vom Kaminfeuer wärmen ließ. »Es ist doch gerade so gemütlich.«
»Nichts da!« Tessa warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu. »Nachher bist du zu müde. Außerdem wollen die Mädchen bestimmt ihre Ruhe haben. Und ich werde mich jetzt an meinen Vortrag setzen. Helmut, du wolltest mir doch helfen, oder?«
Herr Grevenbroich runzelte die Stirn. »Was denn für ein Vortrag?«
Tessas Blick wurde weich und liebevoll, als sie Maries Vater ansah. »Du bist wirklich ein Schussel, mein Schatz.« Sie strich ihm zärtlich durch die Haare. »Der Vortrag über meinen Job als Kamerafrau natürlich. Für die Berufsfindungstage im Internat Hohenstein. Ich hab dir doch erzählt, dass der Direktor mich angerufen und eingeladen hat. Und du hast versprochen, mir bei den Vorbereitungen zu helfen. Ich brauche noch ein paar Tipps für die Präsentation.«
Marie horchte auf. »Schloss Hohenstein? Das ist doch dieses Nobelinternat, auf das nur Kinder aus superreichen Familien gehen. Ich habe darüber vor Kurzem einen Artikel in einer Zeitschrift gelesen. Da muss es echt toll sein: Die Schüler leben in einem richtigen Schloss, der Speisesaal sieht aus wie im Märchen und es gibt tausend verschiedene Freizeitangebote.«
Kim seufzte sehnsüchtig. »Früher wollte ich auch immer auf ein Internat gehen. Ich habe sämtliche Internatsbücher verschlungen, die ich in der Bücherei finden konnte. Das war vor meiner Krimiphase.«
Kim war eine leidenschaftliche Leseratte. Als Kopf der drei !!! las sie natürlich am liebsten Kriminalgeschichten. Die Krimis für Kinder und Jugendliche kannte sie schon alle, inzwischen war sie bei den Büchern für Erwachsene gelandet. Ab und zu schrieb sie sogar eigene Kriminalgeschichten, aber meistens fehlte ihr die Zeit dazu, weil der Detektivclub sie voll und ganz in Anspruch nahm.
»Wollt ihr vielleicht mitkommen?«, bot Tessa spontan an. »Während ich meinen Vortrag halte, könnt ihr ein bisschen Internatsluft schnuppern.«
Kim hätte am liebsten sofort Ja gerufen, aber sie warf erst einen fragenden Blick zu Marie. Vielleicht hatte sie ja keine Lust, mit der neuen Freundin ihres Vaters etwas zu unternehmen.
Marie schien kurz mit sich zu ringen, dann siegte offensichtlich ihre Neugier und sie nickte. »Warum nicht? Könnte ja ganz interessant werden.«
»Ich wollte schon immer mal ein echtes Internat von innen sehen«, freute sich Kim.
»Und ein neuer Fall ist sowieso gerade nicht in Sicht«, fügte Franzi hinzu.
»Dann ist es beschlossene Sache«, sagte Tessa. »Morgen machen wir einen Ausflug zum Internat Hohenstein.«
Wie im Märchen
»Wahnsinn!«, hauchte Marie.
Franzi nickte stumm. Auch Kim war sprachlos. Es war Montagnachmittag und sie standen neben Tessas Auto auf dem Besucherparkplatz des Internats. Zwischen ein paar schlanken Birken ragte Schloss Hohenstein empor. Es war wunderschön mit seinen vielen Türmchen und Erkern, der von Säulen gesäumten Freitreppe und den großen Sprossenfenstern. Der Regen hatte in der Nacht endlich nachgelassen und jetzt herrschte herrliches Frühlingswetter.
Sie waren gleich nach Schulschluss losgefahren. Leider hatte Lina darauf bestanden, ebenfalls mitzukommen. Sie hatte zwischen Kim und Franzi auf der Rückbank von Tessas Auto gesessen und die ganze Zeit uninteressantes Zeug erzählt. Erst hatte Kim noch höfliche Kommentare abgegeben, doch irgendwann hatte sie einfach auf Durchzug geschaltet. Wenn Lina zu Hause auch so viel quatschte, konnte Kim sehr gut verstehen, dass Marie genervt war.