Dein Name ist Jeremiah Cotton. Du bist ein kleiner Cop beim NYPD, ein Rookie, den niemand ernst nimmt. Aber du willst mehr. Denn du hast eine Rechnung mit der Welt offen. Und wehe, dich nennt jemand »Jerry«.
Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. Erleben Sie die Geburt einer digitalen Kultserie: COTTON RELOADED ist das Remake von JERRY COTTON, der erfolgreichsten deutschen Romanserie, und erzählt als E-Book-Reihe eine völlig neue Geschichte.
COTTON RELOADED erscheint monatlich. Die einzelnen Folgen sind in sich abgeschlossen. COTTON RELOADED gibt es als E-Book und als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).
Folge 40.
Harper’s Hill ist eine typische Südstaaten Kleinstadt, in der die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Doch dann erschüttert eine Reihe rätselhafter Selbstmorde die Gemeinde. Nichts, um was sich der Dorf-Sheriff nicht selbst kümmern könnte. Doch Mr High, Chef des G-Teams beim FBI, vermutet mehr dahinter und schickt seine beiden besten Agents nach North Carolina.
Getarnt als Ehepaar, sollen die Special Agents Jeremiah Cotton und Philippa Decker in der Stadt ermitteln. Aber in Harper’s Hill herrscht ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich scheinbar jeder hält: Frag nie nach der Vergangenheit! Und wer gegen dieses Gesetz verstößt, begeht einen tödlichen Fehler …
COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichen Kultserie JERRY COTTON und erscheint monatlich in abgeschlossenen Folgen als E-Book und Audio-Download. Folge 41 erscheint am 11. Februar 2016.
Linda Budinger ist freie Autorin und Übersetzerin. Sie schreibt seit mehr als 20 Jahren Romane und Kurzgeschichten, vor allem im Bereich Fantasy und Phantastik. Mehrfach wurden Geschichten von ihr für den Deutschen Phantastik Preis nominiert. Bekannt wurde sie durch Veröffentlichungen für das Rollenspiel »Das Schwarze Auge« und als Mitautorin der Bastei-Romanreihe »Schattenreich«.
Ein schmutziges Nest
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Originalausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Projektmanagement: Stephan Trinius
Covergestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: DmitryPrudnichenko|Pavel K|Joseph Sohm|Michael Shake
E-Book-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-1608-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Donnerstag, 14. Januar,
Ein Wald bei Harper’s Hill, North Carolina
Die Schlinge zog sich um Janets Kehle zu. Janet brachte nur ein ersticktes Keuchen hervor. Flüssiges Eis sprudelte über sie hinweg, riss ihr die Brille aus dem Gesicht. Ihr Atem stockte, aber ihr Herz raste dagegen an. Janet versuchte verzweifelt, die Finger zwischen den Strick und ihre Haut zu schieben. Nur ein winziges Stück! Bloß noch einen Atemzug. Sie tastete höher, um den Knoten zu lösen. Doch der Knoten saß zu fest.
Panik schnürte ihre Brust ein. Der Little Creek peitschte Janet mal in die eine, mal in die andere Richtung. Wasser drang in Augen, Ohren und den Mund, der vergeblich nach Luft schnappte. Das Leben war plötzlich unendlich kostbar und jede Mühe wert!
Weil das Ende des Stricks nicht mittig, sondern am Ufer befestigt war, bekam Janet einen Linksdrall. Unter ihr brodelte der Kessel des Wildbachs. Sie musste die Schlinge loswerden.
Janet nutzte den Schwung des Wassers, das sie wie ein wütender Riese durchschüttelte, und kämpfte sich zu einer Felsnase vor. Ihr Arm passte knapp herum. Es genügte, um das Genick ein wenig von dem gnadenlosen Zug zu entlasten. Aber die Schlinge hatte sich tief in das Gewebe gegraben und gab nicht nach.
Jetzt schien die verbrauchte Luft Janets Brustkorb zu sprengen. Ihr Herzmuskel pumpte und pumpte im verzweifelten Bemühen, Sauerstoff in ihr Gehirn zu transportieren. Die Atemnot machte Janet wahnsinnig. Sie presste die Finger in die Kehle, ignorierte den Schmerz. Die Muskeln ballten sich zusammen und wurden zu Strängen aus Stacheldraht, die sie von innen aufrieben. Ein Krampf schüttelte sie. Janet verlor den Halt an dem glitschigen Felsen und sackte tiefer.
Irgendwo in der Dunkelheit, die sich um sie schloss, blitzten Lichter auf. Janet spürte keinen Schmerz, bloß Kälte, und das Wasser riss die letzten Sekunden ihres Lebens hinweg.
*
»Wir stecken fest. Sind Sie nun zufrieden, Cotton?«
Special Agent Philippa Decker klappte das Handschuhfach des Ford Explorers heftig zu und prüfte die Taschenlampe.
»Denken Sie wirklich, wir brauchen Licht?«, fragte Cotton. »Ist ja nicht mal richtig dunkel.«
»Das ist keine Straße, sondern ein Waldweg!«
»Nichts, mit dem der Wagen nicht fertigwerden würde.«
»Sie meinen der Fahrer!«, bemerkte Decker. »Seien Sie vorsichtig, sonst müssen wir hinterher wieder ein totes Streifenhörnchen aus dem Radkasten ziehen.«
Grummelnd schaltete Cotton die Scheinwerfer ein. Dann wendete er den Mietwagen und planierte dabei großzügig den mit welkem Adlerfarn bewachsenen Randstreifen.
»Ich glaube, der Weg führt zur alten Mine«, sagte Decker. »Es muss einige Wirtschaftswege geben, obwohl Harper’s Gold längst aufgegeben wurde.«
»Das wäre nicht passiert, wenn Harper’s Hill im Navi gespeichert wäre.«
»Es wäre nicht passiert, wenn wir hinter dem Möbelwagen geblieben wären«, widersprach Decker. »Geben Sie schon zu, dass Sie sich verfahren haben, Cotton.«
»Sie können gerne das Steuer übernehmen.«
»Danke für Ihr großzügiges Angebot. Ich werde jetzt erst mal prüfen, ob die Datenbank auf dem Pad hier voll funktionsfähig …« Decker brach ab. »Halten Sie mal an!«
Cotton trat auf die Bremse. Der Wagen rutschte leicht über den unbefestigten Weg. Die kahlen Laubbäume ringsum schirmten das Licht ab, aber auf der Anhöhe gegenüber glänzte noch die letzte Abendsonne.
Dort bot sich etwa hundert Yards entfernt der spektakuläre Anblick eines kleinen Wasserfalls.
»Möchten Sie Gold waschen?«, fragte Cotton ungnädig. Er wollte gerne vor dem Umzugswagen in Harper’s Hill sein.
»Ich dachte, ich hätte da etwas gesehen!«, murmelte Decker. »Zweimal.«
»Vielleicht ein Hirsch!« Cotton ließ den Blick schweifen. Dabei erregte etwas seine Aufmerksamkeit, das sich gleichmäßig in der Strömung bewegte. Klemmte da ein Baumstamm an der Kante der Klippe? »Sehen Sie das Blinken?«
Die Sonne fing sich in einem Stück Glas. Und was da im Wasser hing, war ganz sicher kein Baumstamm!
*
Cotton sprang aus dem Wagen und setzte über den Bach. Sekunden entschieden hier über Leben und Tod. Aber der Weg durch das wilde Terrain auf die Klippe kostete Zeit.
Das Seil an der Ulme war eben lang genug, um den Körper über den Rand des Wasserfalls zu bringen. Haltlos schwang der Schädel der Frau im peitschenden Wasser von einer Seite zur nächsten. Vielleicht war das Opfer nur bewusstlos.
Gerade war Decker noch bei ihm gewesen, aber jetzt sah er sie nicht mehr. Im Bach spürte Cotton den Sog des Wildwassers. Die groben Kiesel unter seinen Schuhsohlen glitten weg, obwohl er das Seil als Sicherung nutzte. Schließlich hakte Cotton die Wade hinter einen Felsbrocken und stemmte den anderen Fuß gegen einen Stein. Er fasste den baumelnden Körper unter den Achseln und zog ihn hoch. Das Gewicht hebelte ihm fast die Schultergelenke aus.
Er hatte die junge Frau eben ans Ufer gebracht und die Schlinge gelockert, als auch Decker eintraf. Sie maß den Puls der Frau und begann mit einer Herzdruckmassage.
Cottons Zähne klapperten. Er joggte auf der Stelle und ballte hilflos die Fäuste. Die Chancen, dass sie noch lebte, waren verschwindend gering. Sie hatte sich mit einem orangefarbenen, groben Kunststoffseil erhängt. Ein Strick ohne fachgerechten Henkersknoten verursachte immense Quetschungen. Gewebeschäden an Adern und Kehle verschwanden nicht einfach, wenn der Druck nachließ. Das hatte schon viele reuige Selbstmörder ins Verderben gerissen.
»Ich löse Sie ab!«, bot Cotton an, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. Decker stoppte die Wiederbelebungsversuche, schüttelte aber den Kopf. Der Kiefer der jungen Frau war schlaff und die Gesichtshaut purpurn verfärbt. Das Opfer war vermutlich längst erstickt.
»Ich rufe Sheriff Small an!«, sagte Cotton, den Geschmack des Versagens auf der Zunge. Er war tropfnass, und die Kälte kroch ihm in die Knochen. »Wo waren Sie eigentlich gerade? Angst, sich die Füße schmutzig zu machen?«
Decker zog die Augenbrauen zusammen und wandte sich ab.
Cotton wusste, dass sie genauso frustriert war. Kein Grund, seinen Unmut an ihr auszulassen.
Er entschuldigte sich und tippte auf die eingespeicherte Kurzwahlnummer des Sheriffs.
»Ein Stück weiter habe ich einen Fotoapparat gefunden«, erklärte Decker danach. »Vielleicht gehört er der Frau. Und ich könnte schwören, da war noch jemand, aber …« Sie brach ab und strich sich über die Stirn.
»Ja?«, wollte Cotton wissen.
»Nichts.« Decker winkte ab. »Was für ein Empfang!«
»Willkommen in Murderer’s Hill«, sagte Cotton.
Wären sie nur fünf Minuten schneller gewesen! Er schob die Selbstvorwürfe zur Seite und hüstelte. Das würde jetzt heikel werden. »Wir sollten uns langsam mal beim Vornamen nennen«, meinte er. »Philippa.«
Sie machte große Augen, dann nickte sie knapp. Ein ironisches Lächeln löste ihre angespannten Züge. »In Ordnung, Jeremiah …«
*
Decker und Cotton blieben vor Ort, bis Sheriff Small mit dem Coroner eintraf. Er hatte ein Spurensicherungs-Kit dabei. Die Leiche würde später in die nächste größere Stadt geschickt werden. Harper’s Hill besaß keine Gerichtsmedizin.
Small nickte ihnen zu. Ein breiter Hut überschattete sein Gesicht. »Sie müssen die Chaplins sein, nicht wahr? Sie sind ja richtige Glückspilze. Ich meine, direkt am ersten Tag in so eine Geschichte zu stolpern.« Er sah sich unbehaglich um. »Das ist Lou Greenstein. Viel zu tun für sie in letzter Zeit.«
Die Leichenbeschauerin trug eine dicke Kapuzenjacke. Sie hob grüßend die behandschuhte Rechte, als sie ihren Namen hörte. »Nun mach den beiden keine Angst, Mike. Harper’s Hill ist ein wunderbarer Ort, um eine Familie zu gründen.«
Cotton senkte die Stimme, damit nur Sheriff Small die Worte verstand. »Hab gehört, seit ein paar Wochen liegt hier etwas im Argen.«
Der Sheriff nickte leidgeprüft. »Vielleicht liegt es an der Jahreszeit, Mr Chaplin. Aber haben Sie keine Sorge. In meiner Stadt sind Sie sicher.«
»Sehen Sie, Mr Small …« Decker nahm den Sheriff zur Seite. Während Cotton zu Lou Greenstein trat, hörte er irgendetwas über einen Fingernagel. Er blockierte die Sicht auf Decker und Small. Cotton musste Greenstein ablenken, solange Decker und der Sheriff über ermittlungstechnische Details redeten. Außer Small kannte keiner in Harper’s Hill ihre wahre Identität, und das sollte auch so bleiben. Und auch Small kannte nur die halbe Wahrheit.
Cotton zwang sich, noch einmal zu der Toten zu schauen. Sie war jung, schlank. So weit man das bei dem aufgedunsenen Gesicht sagen konnte, ähnelte sie der Schauspielerin Halle Berry. Warum warf man so ein Leben weg?
»Es ist hoffentlich kein Problem, dass ich die Ärmste rausgezogen habe! Ich wollte nur helfen«, meinte er zum Coroner. »Meine Frau ist ganz durcheinander. Sie hat jetzt Angst, wir könnten in etwas verwickelt werden. Kein toller Start in der neuen Heimat.« Er verschränkte frierend die Arme vor der Brust. Seine Jacke war im Wagen geblieben.
»Ich bin Bestatterin und, wenn Sie den flachen Witz entschuldigen, ich kann schweigen wie ein Grab«, versprach Lou Greenstein. »Über Berufliches würde ich ohnehin nicht reden.«
»Was können Sie mir denn sagen?«
Greenstein lachte trocken. »Ich glaube, eine autoerotische Komponente können wir ausschließen.«
Cotton nickte unbewusst. Mitte Januar lag die Temperatur auf dem Piedmont Plateau nur wenig oberhalb des Gefrierpunkts. Die Tote war vollständig bekleidet, inklusive Stiefel. Eine Manipulation zur Steigerung der Lust war tatsächlich sehr unwahrscheinlich.
Die Brille der Frau hatte sich an ihrer Jacke verfangen, also hatte sie die vermutlich getragen. Es juckte Cotton in den Fingern, die Kamera zu untersuchen, von der Decker gesprochen hatte. Aber das musste er dem Sheriff überlassen.
Lou Greenstein stand auf. »Ich bin hier fertig.«
»Kennen Sie die Frau eigentlich?«, fragte Cotton und musste seine Neugier nicht einmal vortäuschen.
»Harper’s Hill ist klein, aber nicht so klein, Mr …«
»Chaplin.« Cotton fischte eine durchweichte Visitenkarte aus der Hemdtasche.
»Jeremiah Chaplin, Cyberedge«, las die Leichenbeschauerin vor.
»Philippa und ich entwickeln Software. Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt …« Immer nah an der Wahrheit bleiben, das war sein Grundsatz bei verdeckten Einsätzen.
»Aus New York! Ein weiter Weg.«
»Tja, dank ständig schneller werdender Datennetze müssen wir nicht im Büro anwesend sein. Wir machen einen Neuanfang, Mrs Greenstein.«
»Nennen Sie mich Lou, und lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben!« Sie zog resolut ihre Latex-Handschuhe aus. Der schnappende Laut hatte etwas zutiefst Abstoßendes. »Harper’s Hill ist stolz auf seine Vergangenheit. Die Mine, aufrechte Bergleute aus Cornwall, Gold. Aber das ist lange vorbei, und wir leben in der Gegenwart! Wundern Sie sich nicht, wenn die Menschen hier ein bisschen zugeknöpft sind.«
»Danke!«, sagte Cotton.
Wer warst du, Lou Greenstein?, überlegte er. Wer bist du früher einmal gewesen?
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich denke, ich habe die Frau in den letzten Wochen einige Male gesehen, kann sie aber nicht einordnen. Wahrscheinlich wohnt sie noch nicht lange in Harper’s Hill.«
*
»Immer muss ich den Sitz nach hinten verstellen, weil Sie so am Lenkrad kleben, Cotton.« Decker sortierte ihre langen Beine, die in einer rehbraunen Cordhose steckten, und schaltete die Sitzheizung ein.
Cotton schluckte den Tadel und rutschte tiefer in den Beifahrersitz. So viel zum Thema Vorname.
Dabei sah Decker in der legeren Freizeitkleidung zugänglicher aus als sonst. Ihre eleganten Hosenanzüge, die sie gewöhnlich im Dienst trug, waren eine Art Uniform.
Cotton als ehemaliger Cop kannte die Macht einer Uniform. Dienstkleidung schützte und verlieh Autorität. Sie bildete eine Barriere zwischen dem Ich und den schrecklichen Dingen, denen man als Polizist täglich ausgesetzt war. Aber irgendwann musste man sie wieder ausziehen …
Cotton hatte gelernt, die Welt an sich heranzulassen. Näher, als es vielleicht gesund war. Genau das half ihm, seinen Instinkt wachzuhalten und jedem Opfer auf einer persönlichen Ebene zu begegnen.
Die Heizung im Ford lief inzwischen auf vollen Touren. Cotton hatte eine trockene Hose und ein Holzfällerhemd aus seiner Reisetasche angezogen. Trotzdem fror er. Sein Nacken war verspannt von der langen Fahrt. Er freute sich auf einen informellen Abend vor dem Kamin und ein Glas Whisky, um den Tag abzuschütteln. Auf den Fotos hatte das Haus sehr gemütlich ausgesehen.
Doch ehe sie zurück auf die Straße gelangten, brachte Decker den Wagen erneut zum Stehen.
Cotton sah alarmiert auf.
»Der Sheriff meinte, man hätte Preston, eines der vorherigen Opfer, nicht weit von hier gefunden«, erläuterte sie. »Ich würde mir die Stelle gerne ansehen, ehe es zu dunkel für alles ist …«
»Sie meinen den Journalisten. Marcus Preston?«
Decker nickte. »Genau. Opfer Nummer zwei.«
Sie verließen den Wagen und folgten einige Hundert Yards dem Auf und Ab der Hügel. Cottons nasse Schuhe hingen wie Eisklumpen an seinen Beinen. Die Appalachen bewahrten das Plateau vor allzu rauem Wetter, aber an manchen Stellen der Laubdecke lag verharschter Schnee. Beim Marsch durch den winterlich kahlen Wald gelang es Cotton schließlich, das Bild der erhängten Frau aus dem Kopf zu bekommen. Jetzt musste er sich auf den neuen Tatort konzentrieren. Und wie aufs Stichwort nahm Decker an einem Steilhang die Notizen auf ihrem Pad zur Hilfe.
Cotton leuchtete mit seiner Taschenlampe den Fuß der Schlucht aus. Einige vergessene Markierungsfähnchen zeigten, dass sie den richtigen Ort gefunden hatten.
»Hier wurde vor vier Tagen die zerschmetterte Leiche von Marcus Preston entdeckt«, berichtete Decker. »Wie es aussah, war er bereits seit Wochen tot. Aufgrund der kühlen Witterung war die Leiche recht gut erhalten.«
»Wurde er eindeutig identifiziert?«, fragte Cotton.
Decker wischte weiter. »Anhand von Führerschein und zahnärztlichen Befund. Man fand auf der Klippe seinen Laptop mit einem Abschiedsbrief, datiert auf den 27. Dezember. Die Blutprobe war sauber. Niemand wusste, wieso Preston sich in Harper’s Hill aufgehalten hat. Er war ein Geheimniskrämer, der dann und wann mit einer Story bei einer Zeitschrift auftauchte. Man entdeckte auf dem Laptop auch einen angefangenen Artikel zu Serienmörder-Pärchen.«
»Wie romantisch«, murmelte Cotton.
Aber Decker war noch nicht fertig. »Doch Preston hatte sich auf Enthüllungsstorys über Politiker spezialisiert.«
»Na bitte, da liegt die Verbindung. Prestons Auftauchen hat die Verantwortlichen von Harper’s Hill ordentlich aufgeschreckt. Die haben Angst, dass ihnen ihr schönes Experiment so richtig um die Ohren fliegt, wenn die Öffentlichkeit Wind davon bekommt. Wenn da nicht mal einer der Verantwortlichen selbst Hand angelegt hat, um den unbequemen Schnüffler loszuwerden.«
Decker nahm den Köder nicht an. Sie hob nur spöttisch die Mundwinkel. »Cotton, wenn Sie die Vorbesprechung mit Mr High nicht geschwänzt hätten, wüssten Sie …«
»Sie wissen genau, dass ich mit Grippe im Bett gelegen habe«, verteidigte sich Cotton.
»Mit Grippe oder einer Ihrer Freundinnen?«, fragte Decker herausfordernd, bevor sie mit ihrer Erklärung fortfuhr.