Zsolnay E-Book

 

Gottfried von Einem

 

»Du und ich sind ein Einfall«

Briefe an Andrea

 

Herausgegeben von Andrea von Wiedebach

 

Mit einem Dialog zwischen

Andrea von Wiedebach und Caspar Einem

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

ISBN 978-3-552-05665-7

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

 Zur Herausgabe der Briefe

 

 Auftakt

 

 Erster Teil

 »Du schönes, strenges Ungetier wirst mir nicht entgehen«

 1. Mai 1962 bis 21. Juli 1964

 

 Zweiter Teil

 »Du bist Objekt, Subjekt und Richtung meines Seins«

 27. Juli 1964 bis 25. Juli 1965

 

 Nachklang

 

 Rückblick

 Ein Erinnerungsdialog zwischen Caspar Einem und Andrea von Wiedebach

 

 Namenregister

 Danksagung

Zur Herausgabe der Briefe

Andrea Liebrecht ist das Mädchen, an das diese Briefe gerichtet sind. Ich bin Andrea von Wiedebach, geborene Liebrecht, die ihre Briefkisten geöffnet hat und auf die Begebenheiten schaut. Als Herausgeberin und Zeugin hatte ich die Freiheit, mich in diese ungewöhnliche Liebe wieder ganz hineinzubegeben und auch wieder herauszutreten. Ich fühlte mich noch einmal emotional berührt und blickte doch ein halbes Jahrhundert danach wie ein Zuschauer auf den Briefschreiber und ein Ich, das ich einmal war. Der Komponist Gottfried von Einem und auch die junge Andrea kommen durch ihre Briefe zu Wort. Den Abstand zwischen der damaligen Person und dem heutigen Ich wahrend, wird in den erforderlichen Anmerkungen über die Adressatin in der dritten Person gesprochen.

 

Die Edition umfasst alle Briefe, Karten, Zettel sowie ein Telegramm, die Gottfried von Einem in der Zeit von Mai 1962 bis Juli 1965 an mich geschrieben hat. Auch wenn manche Schreiben sich im Inhalt ähneln, erschien es sinnvoll, sie vollständig aufzunehmen, um einerseits den Verlauf dieser Korrespondenz genau nachvollziehbar zu machen und andererseits keinen Verdacht auf willkürliche Auswahl zu erwecken.

Die wenigen Briefe, die in dem Zeitraum davor geschrieben wurden, sind in der Vorgeschichte zusammengefasst. Ebenso sind Briefe, die ich in den Jahren nach der Trennung erhielt, am Ende kurz erwähnt und teils zitiert.

Die eigenwillige Rechtschreibung und Interpunktion Gottfried von Einems wurden übernommen (ß ist immer durch ss ersetzt, Kleinschreibung vieler Fremdwörter, z.B. »flirt«, »avancen«, latinisierte Schreibweisen wie »componieren«, häufige Verwendung von Auslassungspunkten). An wenigen Stellen wurden offensichtliche Flüchtigkeitsfehler stillschweigend bereinigt.

Randbemerkungen auf den Briefen und Zusätze auf den Umschlägen sind wiedergegeben. Unterstreichungen sind als solche markiert, doppelte Unterstreichungen allerdings nur einfach.

Gottfried von Einem hat seine Briefe immer datiert, manchmal am Anfang, manchmal am Ende des Schreibens. Nicht immer stimmt das Datum mit dem Poststempel auf dem Umschlag überein. Viele Briefe sind in der Nacht entstanden und wurden erst am nächsten, manchmal auch erst übernächsten Tag eingeworfen, das erklärt das spätere Stempeldatum. Zuweilen gerieten ihm jedoch die Daten durcheinander und das Stempeldatum liegt vor der Briefdatierung. In diesen Fällen wurde stillschweigend korrigiert, wenn sich das tatsächliche Datum aus dem Inhalt rekonstruieren ließ. Ansonsten richtet sich die Datierung in der Edition nach dem Datum, das im jeweiligen Brief angeführt ist.

 

Meine Antwortschreiben sind im Einem-Nachlass im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien aufbewahrt. Sie in Ausschnitten hereinzunehmen war notwendig, um die Geschichte lebendig zu machen, sie nicht nur in Einseitigkeit zu begreifen und um die Reaktionen des Briefschreibers zu verstehen. Unter dem Gesichtspunkt der Relevanz und um Redundanzen zu vermeiden, habe ich meine Briefe auf etwa den halben Umfang gekürzt. Oft sind nur einzelne Sätze übernommen, ein paar kurze Briefe sind in Gänze aufgeführt. Es gibt aber immer, wenn ein Schreiben von mir vorlag, etwas dazu zu lesen. Damit wird dem Leser ermöglicht, die Entwicklung der Beziehung dieses ungleichen Paares während der drei Jahre nachzuvollziehen. Um den Lesefluss möglichst wenig zu stören, sind die Auslassungen nicht mit der üblichen eckigen Klammer und drei Punkten gekennzeichnet, sondern mit einem senkrechten Doppelstrich. Freizügig wurden Punkte gesetzt, auch wenn im Original der Satz noch fortgeführt wurde.

Insgesamt finden sich in der Buchausgabe drei verschiedene Orthographien: die Einem’sche Schreibweise in seinen Briefen, die Rechtschreibung vor der Reform in den Textstellen der jungen Andrea und die aktuelle Rechtschreibung in den Kommentaren.

 

Wie bei jedem Briefwechsel gibt es zeitliche Verschiebungen und Überschneidungen. In dieser Korrespondenz sind sie jedoch besonders auffallend, einerseits wegen des Ungleichgewichts in der Anzahl der Schreiben; nicht selten erhielt ich an einem Tag mehrere Briefe und schrieb meist erst mit mehreren Tagen Abstand zurück. Andererseits kam es besonders in der Anfangszeit häufig zu Ungereimtheiten und Missverständnissen, da Briefe postlagernd geschickt wurden und erst spät die Adressaten erreichten.

Die Kommentare wurden bewusst möglichst knapp gehalten und beschränken sich auf Erklärungen zu den für beide Briefschreiber relevanten, oft familiären Vorgängen. Präzise Angaben waren zu den vielen Literaturempfehlungen und Buchgeschenken möglich, da sich viele der Werke heute noch in meiner Bibliothek befinden. Dies habe ich genutzt. Manches konnte zusätzlich recherchiert werden.

Besonders wurde das überwiegend künstlerisch-musikalische Personal, das zum Umfeld Gottfried von Einems gehörte, in den Erläuterungen bedacht. Viele Fakten konnten durch die Lektüre der von Friedrich Saathen verfassten »Einem-Chronik« (Wien–Köln–Graz 1982) und durch Gottfried von Einems Autobiographie, »Ich hab’ unendlich viel erlebt« (aufgezeichnet von Manfred A. Schmid, Wien 1995), verifiziert werden.

Mehrfach ließ sich der Hintergrund bestimmter Formulierungen und Redewendungen in der Musikgeschichte oder Literatur festmachen; auch darauf wird in den Anmerkungen hingewiesen; sie mögen die geistige Welt des Komponisten, der ebenso ein Mann des Wortes wie des Klanges war, weiter erhellen.

Andrea von Wiedebach

März 2013

Auftakt

Ende April 1962 erklärt Gottfried von Einem der jungen Andrea Liebrecht seine Liebe. Davor sind sie sich nur ein paar Mal begegnet. Gottfried ist der Onkel von Andrea. Seine kürzlich verstorbene Frau Lianne von Bismarck, in der Familie Anne genannt, war die Schwester von Andreas Mutter.

Am Anfang stand ein kleines Geschenk: ein Batist-Taschentuch mit Unterschriften namhafter Musiker versehen, das anlässlich der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper herausgebracht worden war; auch die Unterschrift des Komponisten Gottfried von Einem ist darauf zu finden. Dies gibt er seiner Schwiegermutter, Andreas Großmutter, mit. Das Foto von Andrea, das ihm die Großmutter beim Besuch in Wien gezeigt hat, hat ihm offensichtlich gefallen. Andrea bedankt sich in einem Brieflein für dieses Mitbringsel. Der Onkel schreibt zurück und lädt Andrea ein, nach Wien zu kommen. Es folgt die erste Begegnung.

Über die Osterfeiertage 1960 fährt die damals 15-jährige Schülerin nach Wien. Alles ist neu für diesen Teenager, die Großstadt, das Österreichische, das künstlerische Milieu und der bedeutende Hausherr. Dem streng bestimmenden und auch schnell heftig werdenden Mann traut sich das junge Mädchen weniger mit Worten als mit Blicken entgegenzutreten.

 

 

 

Ein Jahr später sehen sie sich ein weiteres Mal in Wien anlässlich der Uraufführung von Gottfried von Einems Opus 30 »Von der Liebe – Lyrische Phantasie für Gesang und Orchester«, ein Sonderkonzert im Rahmen der Wiener Festwochen am 18. Juni 1961. Gottfried spendiert Andrea die Fahrkarte. Er schreibt ihr in das Programm eine liebevolle Widmung, und sie genießt seine Zuwendung. Im gleichen Jahr lädt er sie für die Herbstferien wieder zu sich ein. Auf ihr Dankschreiben erhält sie Post zurück mit der Aufforderung, wieder zu schreiben. Im Oktober des gleichen Jahres reist die Schülerin erneut nach Wien, wo sie der herzkranken Tante bei der Hausarbeit hilft und Botengänge erledigt. Den Onkel trifft sie nicht an, da er sich in Zürich zum Komponieren aufhält. Sie verehrt die Tante, schwärmt für den abwesenden Gottfried und liebt den Aufenthalt in deren Räumen und in der Weltstadt.

Eine weitere Einladung des Onkels für die Weihnachtsferien folgt, die jedoch kurze Zeit später wieder zurückgenommenen wird, da er sich entschließt, mit Lianne – von ihm »Schweif« genannt – zum Jahresende nach Paris zu fahren. Der Absage ist gleich die Frage nach der nächsten Gelegenheit, nach Wien zu kommen, hinzugefügt. »Du weißt es wohl, dass ich Dich immer gerne bei uns habe. Schreib’ mir ein passendes Datum und ich sende Dir die Bahnfahrkarte.«

Am 5. Januar 1962 stirbt Gottfrieds Frau, Andreas geliebte Tante Anne, überraschend auf der Reise in einem Pariser Hotel. Ihr angeborener Herzfehler hat zu ihrem frühen Tod geführt. Sie wird am 10. Januar 1962 in Wien auf dem Hietzinger Friedhof begraben. Gottfried und Andreas Vater, Werner Liebrecht, ein bescheidener, lebenskluger, oft schwermütiger und warmherziger Mann – 16 Jahre älter als der Witwer –, finden trotz all dem Begräbnistrubel beim anschließenden Zusammensein im Restaurant »Drei Husaren« Zugang im Gespräch. Sie vereinbaren, sich bald wieder zu sehen; eine Gelegenheit dazu könnte sich ergeben, wenn Gottfried in der Nähe von Düsseldorf auf dem Hahnerhof sein wird. Andrea ist beim Begräbnis nicht dabei. Sie schickt dem Onkel ein Telegramm und einen Brief; sie bietet Hilfe an, wenn er sie brauche.

Gottfried bittet Andrea, ihm weiterhin zu schreiben. Er dankt für ihre Zeilen, die ihn »immer wieder aus der dunklen Schlucht der Gedanken und Erinnerungen reissen«. Ihre Briefe und Gedanken sind ihm »immer eine grosse Freude, weil sie lebendige Menschlichkeit ausathmen«. Er wird diese Schriftstücke mit allen noch folgenden in einer dafür angefertigten, schön mit Papier überzogenen Schachtel aufbewahren und sie schließlich im Einem-Archiv im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien sicherstellen lassen.

 

 

Gottfried und Lianne von Einem: © IMAGNO/Barbara Pflaum

 

Er, ein erfolgreicher, international bekannter Komponist, ist zu dem Zeitpunkt 44 Jahre alt, lebt seit mehreren Jahren in Wien und hat einen fast 14-jährigen Sohn, Caspar. Nach dem Tod seiner Frau führt Gertrud von Bismarck, Gottfrieds Schwiegermutter und Andreas Großmutter, den Haushalt und ist für ihren Enkel Caspar da. Andrea ist 17 Jahre alt und besucht das Gymnasium. Sie wohnt mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder Bernd in Montabaur. In diese Kleinstadt im Westerwald hat es die Familie nach der Flucht aus Pommern verschlagen, auch die Großmutter lebte hier, bevor sie nach Wien übersiedelte. Die beiden älteren Schwestern Johanna und Cornelia sind bereits außer Haus.

Ende April 1962 fährt Andrea mit ihrem Vater zum Hahnerhof, um Gottfried zu besuchen. Die Besitzerin des Anwesens ist Elsa Carp, eine mütterliche Freundin, Bewunderin und Förderin des Komponisten, die ihrem Schützling ihr Haus immer wieder für ungestörte Kompositionsarbeit zur Verfügung stellt. Am Abend essen Gottfried, Andrea und der Vater gemeinsam in einem nahen Landgasthaus. Bei Dunkelheit geht es zu Fuß zurück, ein kurzes Stück eine stark befahrene Landstraße entlang und dann durch eine Allee mit schönen alten Kastanienbäumen, die zu der eindrucksvollen Villa Carp führt.

Gottfried hakt sich bei Andrea ein, der Vater geht auf der Landstraße voran, man muss den Autos ausweichen. Gottfrieds Worte zu Andrea: »Ich liebe dich, hörst du, ich liebe dich«, sind bei dem Autolärm nur für das junge Mädchen an seiner Seite zu vernehmen. »Du musst entscheiden, was wir daraus machen.« Ob und was Andrea geantwortet hat, ist ihr nicht im Gedächtnis geblieben; nur das Frieren auf diesem kurzen, ewig lang erinnerten Gang. Zittern vor Kälte oder Angst oder Erregung? Es folgt für Andrea eine fast schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen – nach einem gemeinsamen Frühstück mit Frau Carp und dem Vater – erklärt Gottfried, dass er nun Andrea entführen müsse, um mit ihr durch den großen Park hinunter zu dem Teich zu gehen. Der Vater und die Gastgeberin bleiben zurück. Der gemeinsame Weg durch die hügelige Landschaft hinunter zum Wasser zeichnet sich wiederum vorwiegend durch Frieren und Schweigen aus. Das Bestaunen der großen alten Bäume prägt sich dem Mädchen ein, die Begegnung der Hände in Gottfrieds Manteltasche und anhaltende tiefe Blicke.

Bald danach trifft ein Brief von Gottfried für Andrea in Montabaur ein. Es werden noch sehr viele folgen.

 

   Erster Teil

 

»Du schönes, strenges Ungetier

  wirst mir nicht entgehen«

 

1. Mai 1962 bis 21. Juli 1964