Hanser E-Book
Robert Louis Stevenson
DIE SCHATZINSEL
Herausgegeben und übersetzt
von Andreas Nohl
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24436-8
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2013
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer historischen Photographie, die Robert Louis Stevenson mit Crewmitgliedern auf dem Schoner ›Equator‹ zeigt
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Inhalt
Die Schatzinsel
Erster Teil Der alte Pirat
Zweiter Teil Der Schiffskoch
Dritter Teil Mein Abenteuer an Land
Vierter Teil Das Fort
Fünfter Teil Mein Seeabenteuer
Sechster Teil Käptn Silver
Anhang
Drei Texte zur Entstehung der »Schatzinsel«
R. L. S.: Eine Fabel.
Die Figuren der Erzählung
Nachwort
Zur Übersetzung
Anmerkungen
Inhaltsverzeichnis
An den zaudernden Käufer
Wenn Seemannsgarn und Seemannslied,
Von Schiffbruch, Kälte, Meuterei,
Vergrabnem Gold und Sumpfgebiet,
Verbannung und Freibeuterei,
Wenn all die Abenteurerei,
Erzählt auf ganz die alte Art,
Noch Interesse findet bei
Der Jugend unsrer Gegenwart:
So greift nur zu, dann soll es sein!
Doch wenn niemandem mehr gefällt,
Was Kingston schrieb und Ballantyne,
Wenn so gelehrt ist diese Welt,
Dass Coopers Wald und Meer und Belt
Nichts bieten kann als Langeweil,
So sei mein Grab dem beigesellt,
Das ihrem Werk schon ward zuteil!
Anmerkungen
Für
S. L. O.,
Einen amerikanischen Gentleman,
Dessen klassischer Geschmack
Der folgenden Erzählung zum Vorbild diente,
Wird diese nun als Dank
Für viele vergnügliche Stunden
Mit den herzlichsten Wünschen
Gewidmet
Von seinem zugetanen Freund,
DEM AUTOR
Anmerkungen
Erster Teil
Der alte Pirat
Kapitel 1
Der alte Seebär im ›Admiral Benbow‹
Gutsherr Trelawney, Doktor Livesey und die anderen Gentlemen haben mich gebeten, alle Einzelheiten über die Schatzinsel vom Anfang bis zum Ende aufzuschreiben und dabei nichts auszulassen als die genaue Lage der Insel – und das nur, weil dort immer noch ein ungehobener Schatz liegt –, also greife ich im Jahre des Herrn 17.. zur Feder und kehre zurück zu der Zeit, als mein Vater Wirt vom ›Admiral Benbow‹ war und der wettergegerbte alte Seemann mit dem Säbelschmiss unter unserem Dach Quartier nahm.
Es kommt mir vor, als sei es erst gestern gewesen, dass er, gefolgt von einem Handkarren mit seiner Seemannskiste, an die Tür des Gasthauses gestapft kam, ein gewaltiger Hüne, braun gebrannt wie eine Haselnuss. Der geteerte Zopf hing ihm hinten über die speckige blaue Jacke, seine Hände waren rissig und vernarbt, die Fingernägel schwarz gerändert und abgebrochen. Und der Säbelschmiss auf seiner Wange schimmerte in einem schmutzig-bläulichen Weiß. Ich erinnere mich noch genau, wie er seinen Blick über die Bucht wandern ließ, vor sich hinpfiff und dann lauthals das alte Matrosenlied anstimmte, das er später noch oft singen sollte:
Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste –
Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum!
mit seiner krächzenden alten Stimme, die klang, als sei sie an den Ankerspills geübt und verschlissen worden. Dann klopfte er mit einem kurzen Stock, ähnlich einer Handspake, gegen die Tür, bis mein Vater erschien, und bestellte barsch ein Glas Rum. Als es ihm gebracht worden war, trank er bedächtig, wie ein Kenner dem Aroma nachschmeckend, und musterte immerfort die Umgebung, die Klippen und unser Gasthausschild.
»Nette Bucht hier«, sagte er nach einer Weile, »und ne hübsch gelegene Pinte. Viele Gäste, Kamerad?«
Mein Vater verneinte, nur sehr wenige Gäste, bedauerlicherweise.
»Na dann«, sagte der Mann, »ist das die richtige Koje für mich. Hej, Freundchen!« rief er dem Mann zu, der den Karren zog: »Dreh mal bei und schaff die Kiste nach oben. Ich bleib ’n Weilchen hier«, fuhr er fort. »Ich bin einfach zu haben. Rum und Speck und Eier, mehr brauch ich nicht, und den Felsen da, um die Schiffe draußen zu begucken. – Wie Sie mich anreden sollen? Einfach Käptn. Ach, ich weiß schon, worauf Sie rauswollen: Hier!« Damit warf er drei oder vier Goldmünzen auf die Türschwelle. »Sie sagen mir Bescheid, wenn das aufgebraucht ist«, kommandierte er mit finsterer Miene.
Und tatsächlich, so heruntergekommen seine Kleidung war und so ungehobelt er redete, wirkte er keineswegs wie jemand, der vor dem Mast gesegelt war; eher wie ein Maat oder Schiffer, der Gehorsam gewohnt war oder andernfalls mit der Faust zuschlug. Der Mann, der die Gepäckkarre gezogen hatte, berichtete uns, die Postkutsche habe den Fremden am vorigen Morgen beim »Royal George« abgesetzt; er habe sich nach den Gasthäusern entlang der Küste erkundigt, und da ihm unseres (nehme ich an) empfohlen und als einsam beschrieben worden war, hatte er es den anderen als Unterkunft vorgezogen. Und mehr konnten wir über unseren Gast nicht in Erfahrung bringen.
Er war ein sehr schweigsamer Mensch. Den ganzen Tag trieb er sich mit einem Messingfernrohr an der Bucht oder auf den Klippen herum, und am Abend saß er in einer Ecke der Gaststube beim Feuer und trank steifen Grog. Wenn er angesprochen wurde, antwortete er meistens nicht, sondern blickte nur kurz und grimmig auf und schnaubte durch die Nase wie ein Nebelhorn. Wir und unsere Stammgäste begriffen bald, dass man ihn am besten in Ruhe ließ. Jeden Tag nach seinem Rundgang fragte er, ob irgendwelche Seeleute vorbeigekommen waren. Zuerst dachten wir, er frage, weil er sich nach Gesellschaft mit seinesgleichen sehnte, aber schließlich wurde uns klar, dass er ihnen vielmehr aus dem Weg gehen wollte. Wenn ein Seemann im ›Admiral Benbow‹ eingekehrt war (wie es manchmal geschah, wenn einer auf der Küstenstraße nach Bristol unterwegs war), musterte er ihn eingehend durch einen Spalt im Türvorhang und betrat dann erst die Gaststube und verhielt sich immer mucksmäuschenstill. Für mich wenigstens war das nicht weiter rätselhaft, denn in gewisser Weise war ich von seiner Besorgnis angesteckt. Eines Tages hatte er mich beiseite genommen und mir für jeden Monatsersten einen Silbergroschen versprochen, wenn ich »wachsam nach einem einbeinigen Seemann Ausschau« hielte und ihm sofort Bescheid gäbe, sollte er auftauchen. Oft genug, wenn der Erste des Monats kam und ich ihn um meinen Lohn bat, schnaubte er mich nur an und warf mir einen vernichtenden Blick zu. Aber bevor die Woche vorbei war, besann er sich eines Besseren, brachte mir den Groschen und schärfte mir noch einmal ein, unbedingt nach »dem einbeinigen Seemann« Ausschau zu halten.
Wie diese Figur meine Träume heimsuchte, brauche ich wohl kaum zu sagen. In stürmischen Nächten, wenn der Wind an allen vier Ecken des Hauses rüttelte und die Brandung die Bucht entlang und die Klippen hinauf brüllte, erschien er mir in tausenderlei Gestalt und mit tausend teuflischen Fratzen. Mal fehlte das Bein ab dem Knie, mal ab der Hüfte; mal war er ein monströses Geschöpf, das nie mehr als ein Bein gehabt hatte, und zwar in der Mitte seines Körpers. Es gab keine grässlicheren Albträume als die, in denen er mich springend und rennend über Stock und Stein verfolgte. Alles in allem war mein monatlicher Silbergroschen mit diesen abscheulichen Hirngespinsten ziemlich teuer bezahlt.
Aber obgleich mir vor dem einbeinigen Seefahrer so graute, hatte ich vor dem Käptn selbst weniger Angst als die anderen. Es gab Abende, an denen er deutlich mehr Rum und Wasser zu sich nahm, als ihm gut tat, und dann blieb er sitzen und sang seine gottlosen alten Seemannslieder und scherte sich um niemanden. Manchmal schmiss er auch eine Runde für alle und nötigte die ganze verschüchterte Gesellschaft, seine Geschichten anzuhören oder den Refrain seiner Lieder im Chor mitzusingen. Oft erdröhnte das Haus von »Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum«, wenn die Nachbarn in Todesschrecken um ihr liebes Leben sangen, einer lauter als der andere, um möglichst nicht seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Denn während dieser Anfälle war er der größte Tyrann, den man sich vorstellen kann. Er schlug mit der Hand auf den Tisch, um alle zum Schweigen zu bringen. Über eine bloße Frage konnte er in rasende Wut ausbrechen oder manchmal auch, weil keine gestellt wurde und er das Gefühl hatte, keiner würde seiner Geschichte zuhören. Auch duldete er nicht, dass irgendjemand die Schenke verließ, ehe er sich schläfrig getrunken hatte und ins Bett torkelte.
Gerade seine Geschichten jagten den Leuten die meiste Angst ein. Grauenvolle Geschichten waren es, über Aufknüpfen und Plankengehen und Stürme auf See und die Dry Tortugas, über wilde Untaten und Schauplätze in der Karibik. Nach seinen Erzählungen musste er sein Leben unter einigen der verruchtesten Menschen zugebracht haben, die Gott je aufs Meer gelassen hat. Und die Sprache, in der er diese Geschichten zum Besten gab, entsetzte unsere einfachen Landleute fast ebenso wie die Verbrechen, die er beschrieb. Mein Vater sagte immer, wir würden ruiniert, denn die Leute hätten es sicher bald leid, ins Gasthaus zu kommen, um sich anpöbeln und runterputzen zu lassen und dann verschreckt in ihre Betten geschickt zu werden. Aber ich glaube eher, dass seine Anwesenheit sich für uns auszahlte. Die Leute waren zwar im Moment entsetzt, aber rückblickend gefiel es ihnen doch ganz gut. Es bot eine willkommene Abwechslung im sonst so ruhigen Landleben, und ein paar junge Männer gaben sogar vor, ihn zu bewundern. Sie nannten ihn einen »waschechten Seebären« und eine »alte Teerjacke« und dergleichen und sagten, genau solche Männer hätten England auf See so gefürchtet gemacht.
In einer Hinsicht drohte er uns allerdings zugrunde zu richten, denn er blieb Woche um Woche und schließlich Monat um Monat, so dass das ganze Geld längst aufgebraucht war, und dennoch fasste sich mein Vater nie ein Herz, mehr zu verlangen. Wenn er je davon sprach, schnaub-te der Käptn so laut durch die Nase, dass man es fast brüllen nennen konnte, und scheuchte ihn mit seinen Blicken aus dem Raum. Ich habe gesehen, wie mein Vater nach einer solchen Abfuhr die Hände rang, und ich bin mir sicher, dass der Verdruss und die Angst, die er ständig auszuhalten hatte, seinen frühen und unglückseligen Tod deutlich beschleunigten.
Die ganze Zeit über, die der Käptn bei uns wohnte, wechselte er nie die Kleidung, nur einmal kaufte er von einem Hausierer ein paar Strümpfe. Nachdem eine seiner Hutfedern abgeknickt war, ließ er sie einfach herunterhängen, obwohl sie sehr lästig sein konnte, wenn der Wind blies. Ich erinnere mich noch, wie sein Mantel aussah, den er oben in seinem Zimmer eigenhändig flickte, bis er am Ende nur noch aus Flicken bestand. Nie schrieb oder erhielt er einen Brief, und nie sprach er mit irgendjemandem außer den Nachbarn, und mit denen meistens nur, wenn er genug Rum getrunken hatte. Keiner von uns hatte die große Seemannskiste je offen gesehen.
Nur einmal wurde er in seine Schranken verwiesen, und das war gegen Ende, als es meinem Vater schon so schlecht ging, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Doktor Livesey kam spät eines Nachmittags, um nach dem Patienten zu sehen. Er nahm eine kleine Mahlzeit zu sich, die meine Mutter ihm brachte, und ging dann ins Gastzimmer, um eine Pfeife zu rauchen, bis sein Pferd aus dem Dorf heruntergebracht wurde, denn wir hatten keinen Stall beim alten ›Benbow‹. Ich begleitete ihn hinein, und ich erinnere mich, wie der reinliche, gescheite Doktor mit seiner schneeweiß gepuderten Perücke und seinen strahlenden, schwarzen Augen und feinen Manieren gegen das ungehobelte Landvolk abstach – und vor allem gegen unsere schmierige, plumpe, triefäugige Vogelscheuche von einem Piraten, der schon tief ins Rumglas geblickt hatte und mit aufgestützten Armen am Tisch saß. Plötzlich begann er – der Käptn, meine ich – sein ewiges Lied anzustimmen:
Fünfzehn Mann auf des Toten Mannes Kiste –
Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum!
Den Rest radiert der Teufel von der Liste –
Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum!
Zuerst hatte ich mir unter »des toten Mannes Kiste« immer die große Seemannskiste oben im Dachzimmer vorgestellt, und in meinen Albträumen hatte sich dieses Bild mit dem des einbeinigen Seemanns vermischt. Aber mittlerweile hatten wir längst aufgehört, dem Lied irgendwelche Beachtung zu schenken. An diesem Abend war es nur für Doktor Livesey neu, und ich beobachtete, dass es auf ihn keinen angenehmen Eindruck machte, denn er blickte einen Moment lang ziemlich verärgert auf, bevor er sein Gespräch mit dem alten Gärtner Taylor über eine neue Behandlung von Rheumatismus fortsetzte. Unterdessen kam der Käptn durch seine eigene Musik immer mehr in Fahrt, und schließlich schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, was, wie wir alle wussten, nur eines zu bedeuten hatte – Ruhe. Die Stimmen verstummten sofort, nur die von Doktor Livesey nicht. Er sprach unverändert weiter, in klarem, freundlichem Ton, und sog zwischen den Worten lebhaft an seiner Pfeife. Der Käptn starrte ihn eine Weile an, schlug erneut mit seiner Hand auf den Tisch, starrte noch ungehaltener und brach schließlich mit einem niederträchtigen Fluch in die Worte aus: »Still da aufm Zwischendeck!«
»Meinen Sie mich, Sir?« fragte der Doktor. Und als der alte Rüpel ihm dies mit einem weiteren Fluch bestätigt hatte, antwortete der Doktor: »Ich habe Ihnen nur eines zu sagen, Sir: Wenn Sie weiter Rum trinken, wird die Welt bald um einen schmutzigen Halunken ärmer sein.«
Die Wut des Alten war entsetzlich. Er sprang auf, zog ein Klappmesser hervor, balancierte es mit offener Klinge auf der Handfläche und drohte, den Doktor damit an die Wand zu nageln.
Der Doktor blieb ungerührt. Er sprach nach wie vor nur über die Schulter zu ihm, mit unverändertem Ton und recht lauter Stimme, so dass jeder im Raum ihn hören konnte, aber vollkommen gelassen:
»Wenn dieses Messer nicht sofort in Ihrer Tasche verschwindet, dann verspreche ich bei meiner Ehre, dass Sie beim nächsten Gerichtstag aufgehängt werden.«
Dann maßen sie sich mit ihren Blicken, aber bald kuschte der Käptn, klappte das Messer zusammen und setzte sich wieder auf seinen Platz und grummelte wie ein geschlagener Hund.
»Und jetzt, Sir«, fuhr der Doktor fort, »da ich weiß, dass so ein Strolch in meinem Distrikt lebt, können Sie sich darauf verlassen, dass ich ein Auge auf Sie haben werde, tags und nachts. Ich bin nicht nur Arzt, sondern auch Friedensrichter, und wenn mir die leiseste Klage über Sie zu Ohren kommt, sei es auch nur wegen einer Grobheit wie heute Abend, werde ich dafür sorgen, dass man Sie aufgreift und von hier fortjagt. Lassen Sie sich das gesagt sein.«
Bald darauf wurde Doktor Liveseys Pferd an die Tür geführt, und er ritt davon. Doch der Käptn blieb friedlich an diesem und noch an vielen weiteren Abenden.
Anmerkungen
Kapitel 2
Der Schwarze Hund taucht auf
und verschwindet wieder
Nicht lange danach ereignete sich der erste der mysteriösen Vorfälle, die uns schließlich vom Käptn befreiten, wenn auch nicht, wie man sehen wird, von seinen Angelegenheiten. Der Winter war bitterkalt mit langen strengen Frostperioden und heftigen Stürmen. Von Anfang an war klar, dass mein armer Vater den Frühling wohl nicht mehr erleben würde. Er wurde täglich schwächer, und meine Mutter und ich mussten das Gasthaus alleine führen und hatten alle Hände voll zu tun, auch ohne uns sonderlich um unseren unliebsamen Gast zu kümmern.
Es war an einem Januarmorgen, sehr früh – ein beißend frostiger Morgen –, die Bucht war mit Rauhreif überzogen, die kleinen Wellen plätscherten sanft gegen die Steine, die Sonne stand noch tief, berührte nur die Bergkuppen und schien weit aufs Meer hinaus. Der Käptn war früher aufgestanden als sonst und Richtung Strand aufgebrochen, das Entermesser baumelte unter den weiten Schößen seines alten blauen Mantels, das Messingfernrohr trug er unterm Arm, den Hut hatte er in den Nacken geschoben. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er losmarschierte, gefolgt von der Rauchfahne seines Atems, und das letzte Geräusch, das ich von ihm hörte, als er hinter dem großen Felsen verschwand, war ein lautes entrüstetes Schnauben, als kreisten seine Gedanken immer noch um Doktor Livesey.
Nun, Mutter war oben bei Vater, und ich deckte den Frühstückstisch für die Rückkehr des Käptns, als die Tür zur Wirtsstube aufging und ein Mann hereintrat, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er war bleich, geradezu wächsern, und an der linken Hand fehlten ihm zwei Finger. Obwohl er ein Entermesser trug, sah er nicht besonders kampflustig aus. Ich hielt ständig nach Seeleuten Ausschau, mit einem oder zwei Beinen, und ich erinnere mich, dass dieser hier meinen Argwohn erregte. Er wirkte nicht seemännisch, und doch umgab ihn ein Hauch Seeluft.
Ich fragte, womit ich ihm dienen könne, und er sagte, er wolle Rum. Aber als ich den Raum verlassen wollte, um welchen zu holen, setzte er sich auf eine Tischkante und winkte mich zu sich heran. Ich blieb stehen, wo ich war, mit meiner Serviette in der Hand.
»Komm her, Kleiner«, sagte er. »Komm mal etwas näher ran zu mir.«
Ich trat einen Schritt näher.
»Ist das hier der Tisch für meinen Kumpel Bill?« fragte er mit boshaftem Grinsen.
Ich erklärte ihm, dass ich seinen Freund Bill nicht kenne, und hier sei für einen Logiergast gedeckt, den wir ›Käptn‹ nennen.
»Naja«, sagte er, »das sähe meinem Freund Bill ähnlich, sich als Käptn auszugeben. Er hat ne Narbe auf einer Backe, und ne verdammt nette Art hat mein Freund Bill, besonders wenn er trinkt. Wir nehmen mal an, dass dein Käptn ne Narbe auf der Backe hat, und wir nehmen an, wenn du willst, dass das die rechte Backe ist. Aha! Siehst du? Na, ist mein Freund Bill denn jetzt hier im Haus?«
Ich sagte, er mache gerade einen Spaziergang.
»Welchen Weg denn, Kleiner? Welchen Weg ist er gegangen?«
Und als ich ihm den Felsen gezeigt und erklärt hatte, der Käptn werde sicher zurückkehren und zwar bald, und dann noch ein paar andere Fragen beantwortet hatte, sagte er: »Ach, das wird meinem Freund Bill gut tun wie ’n tüchtiger Schluck.«
Sein Gesichtsausdruck bei diesen Worten war alles andere als gewinnend, und ich hatte meine Gründe, anzunehmen, dass er sich in diesem Punkt irrte, selbst wenn er meinen sollte, was er sagte. Aber das ging mich nichts an, fand ich, und außerdem: was sollte ich tun? Der Fremde hockte im Schankraum in der Nähe der Tür und spähte um die Ecke wie eine Katze, die auf eine Maus wartet. Einmal trat ich hinaus auf die Straße, aber sofort rief er mich zurück, und da ich in seinen Augen nicht schnell genug gehorchte, vollzog sich in seinem talgweißen Gesicht eine höchst abstoßende Verwandlung. Er befahl mir hereinzukommen und stieß dabei einen solchen Fluch aus, dass ich zusammenfuhr. Sowie ich aber zurück war, verhielt er sich wieder wie zuvor, klopfte mir halb gönnerhaft, halb spöttisch auf die Schulter, sagte, ich sei ein guter Junge, und er halte große Stücke auf mich. »Ich hab selbst nen Sohn«, sagte er, »der sieht dir so ähnlich wie ein Ei dem andern und ist mein ganzer Stolz. Aber das Wichtigste für Jungs ist Disziplin, Kleiner. Disziplin! Wenn du zum Beispiel mit Bill gesegelt wärst, hättest du nicht da gestanden, bis man’s dir zweimal sagt – nee, nee, so was gab’s nicht bei Bill oder denen, die mit ihm gesegelt sind. Und da kommt doch wahrhaftig mein Freund Bill, mit nem Fernrohr unterm Arm, Gott segne sein altes Herz. Du und ich, wir gehen einfach zurück in die Wirtsstube, Kleiner, und stellen uns hinter die Tür, um Bill ne Überraschung zu bereiten – Gott segne ihn, ich sag’s noch mal.«
Mit diesen Worten zog mich der Fremde in die Stube zurück und schob mich hinter sich in die Ecke, so dass uns die offenstehende Tür verbarg. Man kann sich vorstellen, wie unbehaglich und mulmig mir zumute war, und meine Furcht wurde noch größer, als ich sah, dass der Fremde sich offenbar selber fürchtete. Er holte nämlich den Griff seines Entermessers unter den Rockschößen hervor und lockerte die Klinge in der Scheide. Und die ganze Zeit, während wir dort standen, schluckte er, als hätte er einen Kloß im Hals.
Schließlich trat der Käptn ein, schlug die Tür hinter sich zu und schritt, ohne nach rechts oder links zu blicken, quer durch den Raum auf den Tisch zu, wo sein Frühstück auf ihn wartete.
»Bill«, sagte der Fremde mit einer Stimme, die wohl fest und kräftig klingen sollte.
Der Käptn fuhr auf dem Absatz herum und starrte uns an. Die Bräune war aus seinem Gesicht gewichen, und er war ganz weiß um die Nase. Er wirkte wie ein Mann, der ein Gespenst sieht oder den Leibhaftigen oder womöglich noch Schlimmeres. Und, ich schwör’s, es tat mir richtig leid, mit anzusehen, wie er in einem einzigen Augenblick so alt und schwach wurde.
»Komm, Bill, du kennst mich doch. Du wirst doch einen alten Kameraden erkennen, Bill!« sagte der Fremde.
Der Käptn schnappte nach Luft.
»Schwarzer Hund!« sagte er.
»Wer denn sonst?« gab der andere zurück, nun etwas entspannter. »Der Schwarze Hund, wie er leibt und lebt, kommt seinen alten Kameraden Bill im Gasthaus ›Admiral Benbow‹ besuchen. Ach, Bill, Bill! Was haben wir für Zeiten erlebt, wir zwei, seit ich die beiden Klauen verlor«, und er hielt seine verstümmelte Hand hoch.
»Jetzt hör mal zu«, sagte der Käptn. »Du hast mich gefunden, und hier bin ich. Also raus mit der Sprache: Worum geht’s?«
»Das ist typisch Bill«, entgegnete der Schwarze Hund, »und du hast völlig Recht, Billy. Ich lass mir jetzt von dem netten Jungen hier, auf den ich große Stücke halte, ein Glas Rum bringen. Und dann setzen wir uns hin, wenn’s dir recht ist, und reden ganz offen wie alte Kameraden.«
Als ich mit dem Rum zurückkehrte, saßen sie sich bereits am Frühstückstisch des Käptns gegenüber – der Schwarze Hund nah an der Tür und seitlich, so dass er seinen alten Kumpel im Auge hatte und zugleich, wie mir schien, seinen Fluchtweg.
Er bat mich, zu gehen und die Tür weit offen zu lassen. »Und bei mir nichts mit Schlüssellöchern, Kleiner«, sagte er. Ich ließ sie allein und zog mich in den Schankraum zurück.
Obwohl ich meine Ohren spitzte, hörte ich lange Zeit nichts als leises Gemurmel. Aber schließlich wurden die Stimmen lauter, und ich konnte das ein oder andere Wort aufschnappen, meistens Flüche vom Käptn.
»Nein, nein, nein, nein, und Schluss damit!« schrie er einmal. Und dann wieder: »Wenn es zum Baumeln kommt, dann baumeln alle, sag ich dir.«
Dann brach plötzlich ein gewaltiger Tumult von Flüchen und anderem Lärm los – Stuhl und Tisch flogen zu Boden, Stahl klirrte aufeinander, dann ein Schmerzensschrei, und als Nächstes sah ich den Schwarzen Hund in wilder Flucht und den Käptn hitzig hinter ihm her rennen, beide mit gezogenen Entermessern, und Ersterem lief Blut aus der linken Schulter. Kurz vor der Tür holte der Käptn zu einem letzten fürchterlichen Streich aus, der dem Fliehenden sicher den Schädel gespalten hätte, wenn er nicht von unserem großen Admiral-Benbow-Wirtshausschild abgefangen worden wäre. Man kann die Kerbe unten am Rahmen bis heute sehen.
Dieser Hieb war der letzte des Kampfs. Sobald der Schwarze Hund auf der Straße war, gab er Fersengeld und war trotz seiner Verwundung schon nach einer halben Minute hinter dem Hügel verschwunden. Der Käptn seinerseits stand nur da und starrte fassungslos auf das Wirtshausschild. Dann fuhr er sich mehrere Male mit der Hand über die Augen und kehrte schließlich ins Haus zurück.
»Jim«, sagte er, »Rum.« Und dabei taumelte er ein bisschen und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab.
»Sind Sie verletzt?« rief ich.
»Rum«, wiederholte er. »Ich muss hier weg. Rum! Rum!«
Ich eilte los, welchen holen. Aber ich war ziemlich zittrig nach allem, was passiert war, und zerbrach ein Glas und besudelte den Zapfhahn. Und während ich mich noch zu beruhigen versuchte, hörte ich einen Sturz in der Gaststube. Ich rannte hinüber und fand den Käptn der Länge nach auf dem Boden liegen. Im gleichen Moment kam meine Mutter, alarmiert vom Geschrei und Kampfgetümmel, die Treppe heruntergeeilt, um mir zu helfen. Wir hoben seinen Kopf an. Er atmete laut und schwer, aber seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht hatte eine entsetzliche Farbe.
»Guter Gott«, rief meine Mutter, »was für eine Schande für unser Haus! Und dein armer Vater krank!«
Wir wussten nicht, wie wir dem Käptn helfen sollten, denn wir waren überzeugt, dass er in dem Kampf mit dem Fremden tödlich verwundet worden war. Ich holte jedenfalls den Rum und versuchte, ihm davon etwas einzuflößen, aber seine Zähne waren fest zusammengebissen und seine Kiefermuskeln stark wie Eisen. Es war eine große Erleichterung für uns, als die Tür aufging und Doktor Livesey eintrat, um nach meinem Vater zu sehen.
»Ach, Doktor«, riefen wir, »was sollen wir tun? Wo ist er verwundet?«
»Verwundet? Keine Spur!« sagte der Doktor. »Nicht mehr verwundet als Sie oder ich. Der Mann hat einen Schlaganfall erlitten, wie ich es ihm vorausgesagt habe. Nun, Mrs. Hawkins, Sie laufen hoch zu Ihrem Mann und sagen ihm möglichst nichts davon. Ich selbst muss mein Bestes tun, um das dreimal wertlose Leben dieses Burschen zu retten. Und Jim, du holst mir eine Waschschüssel.«
Als ich mit der Schüssel zurückkam, hatte der Doktor bereits einen Ärmel des Käptns hochgeschoben und seinen großen, sehnigen Arm freigelegt. Er war an mehreren Stellen tätowiert. »Aufs Glück!«, »Steife Brise« und »Billy Bones sien Deern« war klar und deutlich auf seinen Unterarm geritzt, und oben nahe der Schulter befand sich das Bild eines Galgens, an dem ein Mann hing – mit großem Geschick ausgeführt, wie ich fand.
»Prophetisch«, sagte der Doktor und tippte mit dem Finger auf das Bild. »Und jetzt, Master Billy Bones, wenn das Ihr Name ist, werden wir uns mal Ihre Blutfarbe ansehen. Jim«, sagte er, »fürchtest du dich vor Blut?«
»Nein, Sir«, sagte ich.
»Gut«, sagte er, »dann halte mal die Schüssel.« Und damit nahm er seine Lanzette und öffnete eine Vene.
Dem Käptn wurde eine Menge Blut abgenommen, bevor er die Augen aufmachte und sich benebelt umschaute. Zuerst nahm er mit unmissverständlichem Stirnrunzeln den Doktor wahr, dann fiel sein Blick auf mich, und er schien erleichtert. Doch plötzlich änderte sich seine Gesichtsfarbe, er versuchte hochzukommen und rief:
»Wo ist der Schwarze Hund?«
»Hier ist kein schwarzer Hund«, sagte der Doktor, »es sei denn, Sie haben einen auf dem Rücken. Sie haben Rum getrunken, Sie hatten einen Schlaganfall, genau, wie ich es Ihnen vorausgesagt habe. Und ich habe Sie soeben, sehr entgegen meinem eigenen Willen, mit dem Kopf voraus aus dem Grab gezogen. Nun, Mr. Bones …«
»So heiß ich nicht«, unterbrach er.
»Das tut nichts zur Sache«, entgegnete der Doktor. »Es ist der Name eines Piraten, den ich kenne, und ich nenne Sie der Einfachheit halber so, und was ich Ihnen zu sagen habe, ist Folgendes: ein Glas Rum bringt Sie nicht um, aber wenn Sie eins trinken, dann trinken Sie noch eins und noch eins, und wenn Sie nicht ganz damit aufhören, dann – da verwette ich meine Perücke – werden Sie sterben. Haben Sie das verstanden? Sie werden sterben – und an den Ort gehen, wo Sie hingehören, wie der Mann in der Bibel. Kommen Sie, reißen Sie sich zusammen. Ich helfe Ihnen ins Bett, dieses eine Mal.«
Mit gemeinsamer Anstrengung schafften wir es schließlich, ihn die Treppe hochzubugsieren und aufs Bett zu legen, wo sein Kopf auf das Kissen sackte, als ob er ohnmächtig würde.
»Also merken Sie sich das«, sagte der Doktor, »ich entlaste hiermit mein Gewissen – Rum ist für Sie der Tod.«
Und damit ging er, um nach meinem Vater zu sehen, und zog mich am Arm mit hinaus.
»Das hier ist nicht schlimm«, sagte er, sowie er die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ich habe genug Blut abgenommen, um ihn für eine ganze Weile ruhigzustellen. Er sollte eine Woche dort liegen bleiben – das ist das Beste für ihn und für euch. Aber noch ein Schlaganfall würde ihm den Rest geben.«
Anmerkungen
Kapitel 3
Der schwarze Fleck
Um die Mittagszeit stand ich mit Erfrischungsgetränken und Arznei vor der Zimmertür des Käptns. Er lag noch fast so wie wir ihn verlassen hatten, nur ein bisschen höher, und er wirkte schwach und aufgeregt zugleich.
»Jim«, sagte er, »du bist der Einzige hier, der was taugt. Und du weißt, dass ich immer gut zu dir war. Jeden Monat hab ich dir nen Silbergroschen gegeben. Und jetzt, mein Freund, siehst du, dass ich ziemlich übel dran bin, von allen verlassen. Nicht wahr, Jim, du bringst mir ’n schönes Glas Rum, das machst du doch, oder Kamerad?«
»Der Doktor …« begann ich.
Er brach in Verwünschungen über den Doktor aus, mit schwacher Stimme, aber heftig. »Ärzte sind doch alles Schwabber«, sagte er, »und dieser Doktor da, was weiß der schon von Seeleuten? Ich war an Orten, heiß wie Pech, und ringsum krepierten die Kameraden am Gelbfieber, und das verflixte Land schlug bei Erdbeben Wellen wie’s Meer – was weiß der Doktor von solchen Ländern? – und ich hab vom Rum gelebt, das kann ich dir sagen. Er war Fleisch und Trank für mich und Mann und Frau. Und wenn ich jetzt keinen Rum kriege, dann bin ich ’n armes gestrandetes Wrack, mein Blut kommt über dich, Jim, und über diesen Doktor Schwabber.« Dann fluchte er wieder eine Weile. »Guck doch, Jim, wie meine Finger zittern«, fuhr er in flehendem Ton fort, »ich kann sie nicht stillhalten, im Ernst. Ich hab an diesem ganzen verfluchten Tag noch keinen Tropfen gehabt. Der Doktor ist ’n Dösbaddel, das sag ich dir. Wenn ich nicht nen Schluck Rum kriege, Jim, dann kommen die Gespenster. Ein paar hab ich schon gesehen. Da in der Ecke hinter dir hab ich den alten Flint gesehen, so scharf wie gestochen hab ich ihn gesehen. Und wenn die Gespenster kommen – ich hatte ’n verflucht rauhes Leben –, dann schlag ich Krach. Euer Doktor hat selbst gesagt, ein Glas bringt mich nicht um. Ich geb dir ne Goldguinee für ’n Gläschen, Jim.«
Er wurde immer erregter, und das machte mir Sorgen wegen meinem Vater, dem es sehr schlecht ging an diesem Tag und der Ruhe brauchte. Außerdem bestärkten mich die Worte des Doktors, von denen er sprach, und es beleidigte mich, dass er mich bestechen wollte.
»Ich will Ihr Geld nicht«, sagte ich, »nur das, was Sie meinem Vater schulden. Ich hole Ihnen ein Glas, aber nicht mehr.«
Als ich es ihm brachte, nahm er es gierig und trank es in einem Zug aus.
»Aye-aye«, sagte er, »das ist schon besser, wahrhaftig. Und jetzt, Kamerad: Hat der Doktor gesagt, wie lang ich hier in dieser alten Koje liegen bleiben soll?«
»Mindestens eine Woche«, sagte ich.
»Donnerschlag!« rief er. »Eine Woche! Das kann ich nicht. Bis dahin haben sie mir den schwarzen Fleck gebracht. Die Dösbaddel sind jetzt schon, in diesem verfluchten Augenblick, dabei, mir den Wind aus den Segeln zu nehmen; Dösbaddel, die nicht festhalten konnten, was sie gekriegt haben, und sich untern Nagel reißen wollen, was nem anderen gehört. Benimmt sich so vielleicht ’n Seemann? Ich dagegen bin ’n sparsamer Mensch. Ich hab mein gutes Geld nie auf’n Kopp gehauen und auch nie verloren. Und ich werd sie wieder reinlegen. Vor denen hab ich keine Angst. Ich werd ’n neues Segel setzen, Kumpel, und dann krieg ich sie noch mal dran.«
Während er redete, richtete er sich mit größter Mühe auf. Dabei packte er meine Schulter so fest, dass ich fast aufheulte, und bewegte seine Beine wie zwei große tote Gewichte. Seine Worte, so viel Mut sie verrieten, standen in traurigem Gegensatz zu der schwachen Stimme, mit der sie geäußert wurden. Als er endlich auf der Bettkante saß, hielt er inne.
»Dieser Doktor hat mich fertig gemacht«, murmelte er. »Es singt mir in den Ohren. Leg mich wieder hin.«
Bevor ich ihm groß helfen konnte, war er wieder an seinen alten Platz zurückgesunken, wo er eine Weile still lag.
»Jim«, sagte er schließlich, »hast du den Seemann heute gesehen?«
»Den Schwarzen Hund?« fragte ich.
»Ach, der Schwarze Hund«, sagte er. »Das ist ’n übler Bursche. Aber es gibt noch Schlimmere, die hinter ihm stecken. Also, wenn ich jetzt nicht wegkomme und sie mir den schwarzen Fleck bringen, dann merk dir, es ist die alte Seemannskiste, hinter der sie her sind. Du steigst auf ’n Pferd – das kannst du doch, oder? Gut, dann steigst du auf ’n Pferd und reitest – ja, doch, das will ich! – zum ewigen Doktor Schwabber und sagst ihm, er soll alle Männer zusammentrommeln – Beamte und so – und soll alle aus der Crew vom alten Flint, die im ›Admiral Benbow‹ sind, hops nehmen – Mann und Maus, alle, die noch übrig sind. Ich war erster Steuermann, der erste Steuermann vom alten Flint und bin der Einzige, der weiß, wo’s ist. Er hat mir die Karte in Savannah gegeben, wie er im Sterben lag, so wie ich jetzt, verstehst du. Aber du verrätst nichts, außer sie hängen mir den schwarzen Fleck an oder du siehst den Schwarzen Hund noch mal oder nen einbeinigen Seemann, Jim – den vor allem.«
»Aber was ist denn der schwarze Fleck, Käptn?« fragte ich.
»Das ist ne Vorladung, Kamerad. Ich werd’s dir erklären, wenn ich sie kriege. Aber du hältst die Augen offen, Jim, und ich mach mit dir halbe halbe, auf meine Ehre.«
So schwatzte er noch eine Weile weiter, dabei wurde seine Stimme immer schwächer. Und kurz nachdem ich ihm seine Arznei gegeben hatte, die er folgsam wie ein kleines Kind einnahm – mit der Bemerkung: »Wenn je ’n Seemann Medizin gebraucht hat, dann ich« –, fiel er in einen tiefen, ohnmachtähnlichen Schlaf, worauf ich ihn verließ. Was ich getan hätte, wenn alles gut gelaufen wäre, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich die ganze Geschichte dem Doktor erzählt. Denn ich hatte ungeheure Angst, der Käptn könnte seine Bekenntnisse bereuen und mir den Garaus machen. Aber wie es das Schicksal wollte, starb mein Vater an diesem Abend ganz plötzlich, und alle anderen Dinge wurden dadurch in den Hintergrund gedrängt. Unser natürlicher Schmerz, die Besuche der Nachbarn, das Organisieren der Beerdigung und die ganze Arbeit im Gasthaus, die auch noch erledigt werden musste, hielten mich so beschäftigt, dass ich kaum Zeit hatte, an den Käptn zu denken, geschweige denn, mich vor ihm zu fürchten.
Am nächsten Morgen kam er allerdings herunter und nahm wie üblich seine Mahlzeiten ein, auch wenn er wenig aß und, wie ich fürchte, mehr als sein gewohntes Quantum Rum trank, denn er bediente sich selbst aus dem Schankraum, blickte dabei so finster und schnaubte durch die Nase, dass ihm jeder aus dem Weg ging. Am Abend vor der Beerdigung war er betrunken wie immer, und es war schrecklich mit anzuhören, wie er in diesem Haus der Trauer sein scheußliches altes Seemannslied sang. Doch schwach wie er war, rechneten wir alle mit seinem Tod, und der Doktor war unversehens mit einem Fall viele Meilen weit weg beschäftigt und nach meines Vaters Tod nicht mehr bei uns gewesen. Wie gesagt, der Käptn war schwach, und in der Tat schien er, statt seine Kraft wiederzugewinnen, immer schwächer zu werden. Er kletterte mühsam die Stiegen rauf und runter und taperte von der Gaststube ins Schankzimmer und zurück. Manchmal steckte er die Nase zur Tür hinaus, um die See zu riechen, und dabei stützte er sich gegen die Wand und atmete schwer wie jemand, der einen steilen Berg erklimmt. Er sprach mich nie direkt an, und ich glaube fest, dass er seine Vertraulichkeiten so gut wie vergessen hatte. Aber seine Stimmung war schwankender und, soweit sein körperliches Elend es zuließ, aufbrausender denn je. Er hatte, wenn er jetzt betrunken war, eine bedrohliche Art, sein Entermesser blank zu ziehen und es vor sich auf den Tisch zu legen. Bei alledem kümmerte er sich wenig um die Leute, eher schien er in sich versunken seinen Gedanken nachzuhängen. Einmal zum Beispiel stimmte er zu unserem größten Erstaunen ein anderes Lied an, eine Art ländliches Liebeslied, das er in seiner Jugend gelernt haben musste, bevor er zur See ging.
So liefen die Dinge, bis ich am Tag nach dem Begräbnis gegen drei Uhr – es war ein bitterkalter, nebliger Nachmittag – eine Weile voll trauriger Gedanken an meinen Vater in der Tür stand und auf der Straße jemanden langsam näher kommen sah. Offenbar war er blind, denn er tastete sich mit einem Stock vorwärts und hatte eine große grüne Gesichtsklappe über Augen und Nase. Er bewegte sich, als wäre er alt oder gebrechlich, und trug einen riesigen zerschlissenen Kapuzenmantel, der ihn völlig entstellt aussehen ließ. Nie in meinem Leben hatte ich eine abstoßendere Gestalt gesehen. Er blieb ein paar Schritte vor dem Gasthaus stehen und sprach in einem seltsamen Singsang in die leere Luft:
»Wer ist denn wohl so freundlich und sagt einem armen Blinden, der sein kostbares Augenlicht im tapferen Dienst für sein englisches Vaterland – Gott schütze König George! – verloren hat, wo oder in welchem Teil dieses Landes er sich befindet?«
»Sie sind beim ›Admiral Benbow‹ in Black Hill Cove, guter Mann«, sagte ich.
»Ich höre eine Stimme«, sagte er, »eine junge Stimme. Willst du mir deine Hand geben, mein lieber junger Freund, und mich hineinführen?«
Ich reichte ihm meine Hand, und das grässliche, säuselnde, augenlose Geschöpf ergriff sie im Nu mit der Gewalt eines Schraubstocks. Ich erschrak so, dass ich mich losreißen wollte, aber der Blinde zog mich mit einer einzigen Armbewegung nah an sich heran.
»So, Freundchen«, sagte er, »bring mich jetzt rein zum Käptn.«
»Sir«, sagte ich, »auf mein Wort, das trau ich mich nicht.«
»Ach weh«, höhnte er, »so ist das also! Bring mich sofort rein, oder ich brech dir den Arm.«
Und dabei verdrehte er mir den Arm so, dass ich aufschrie.
»Sir«, sagte ich, »es ist zu Ihrem eigenen Besten, meine ich. Der Käptn ist nicht mehr das, was er mal war. Er sitzt da mit gezogenem Entermesser. Ein anderer Gentleman …«
»Los jetzt, Marsch«, unterbrach er mich. Ich hatte noch nie eine so grausame, kalte, abstoßende Stimme gehört wie die des Blinden. Sie schüchterte mich mehr ein als der Schmerz, und ich gehorchte prompt, ging gleich mit ihm zur Tür hinein und zur Gaststube, wo unser kranker alter Pirat saß, vom Rum benebelt. Der Blinde klammerte sich mit eiserner Faust an mich und drückte mit solchem Gewicht auf meine Schultern, dass ich darunter fast zusammenbrach. »Führ mich direkt zu ihm, und wenn ich zu sehen bin, rufst du: ›Hier ist ein Freund von Ihnen, Bill.‹ Wenn nicht, dann mache ich das«, und damit kniff er mich, dass mir vor Schmerz fast die Sinne schwanden. All das erfüllte mich mit solchem Grauen vor dem blinden Bettler, dass ich meine Furcht vor dem Käptn vergaß, und als ich die Tür zur Gaststube öffnete, rief ich mit zitternder Stimme die Worte, die er befohlen hatte.
Der arme Käptn hob den Kopf. Im Nu war der Rum verflogen, und er starrte mit ungläubigem Blick. Sein Gesicht drückte nicht so sehr Entsetzen aus als tödliche Schwäche. Er machte Anstalten aufzustehen, aber ich glaube nicht, dass er dazu noch die Kraft hatte.
»Na, Bill, bleib nur sitzen, wo du bist«, sagte der Bettler. »Wenn ich auch nichts sehe, so höre ich doch die geringste Bewegung. Geschäft ist Geschäft. Streck die linke Hand vor. Junge, nimm seine linke Hand am Gelenk und führ sie zu meiner rechten.«
Beide folgten wir ihm aufs Wort, und ich sah, wie er etwas aus der Hand, mit der er den Stock hielt, in die Hand des Käptns gleiten ließ, die sich rasch darum schloss.
»Das wäre also erledigt«, sagte der Blinde. Bei diesen Worten ließ er mich plötzlich los, und mit unglaublicher Wendigkeit tänzelte er aus der Gaststube hinaus und auf die Straße. Ich stand regungslos und hörte nur, wie sich das Tap-tap-tap seines Stockes entfernte.
Es dauerte eine Weile, bevor ich oder der Käptn uns wieder gesammelt hatten; aber schließlich ließ ich sein Handgelenk, das ich immer noch festhielt, los, und fast gleichzeitig zog er seine Hand zurück und sah rasch nach, was darin steckte.
»Zehn Uhr!« rief er. »Sechs Stunden. Jetzt zeigen wir’s ihnen.« Und er sprang auf.
Und dabei begann er zu wanken, er griff sich an den Hals, taumelte einen Augenblick und stürzte dann mit einem eigentümlichen Laut der Länge nach bäuchlings auf den Boden.
Ich eilte sofort zu ihm und rief meine Mutter. Doch alle Eile war vergebens. Der Käptn war von einem Schlaganfall niedergestreckt worden. Es ist seltsam und kaum zu verstehen, denn ich hatte den Mann wahrhaftig nie gemocht, auch wenn ich in letzter Zeit Mitleid mit ihm bekommen hatte – aber sowie ich sah, dass er tot war, brach ich in eine Flut von Tränen aus. Es war der zweite Tod, den ich miterlebte, und der Gram über den ersten war noch frisch in meinem Herzen.
Anmerkungen