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Meinem Vater, in dankbarer Erinnerung
Bernhard Hatterscheidt

Vorwort

Dieser Roman beruht auf Tatsachen. Die Ermittlungen und Vernehmungen orientieren sich an der Wirklichkeit.

Keine der genannten Personen existiert jedoch zu 100% so, wie sie hier beschrieben wurde. Namensähnlichkeiten sowie Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher nicht immer rein zufällig. Wer sich erkennen möchte, soll dies gerne tun. Vor allen Dingen aber soll dieser Krimi unterhalten!

Prolog

Nikolaij Boschenko hatte seine Reise zum Kältepol nach Jakutsk fast beendet. Er hatte sein Ziel mit einem Billigflieger in gut zwei Tagen erreicht, auch wenn er die Fliegerei abgrundtief hasste. Nur noch schlappe 10 Kilometer trennten ihn von seinem Ziel Nischni Bestjach, einer so genannten „Siedlung städtischen Typs“. In deren unmittelbarer Nähe stand eine illegale Zigarettenfabrik, die mit der stilvollen Marke LENA de luxe den europäischen Markt überschwemmte. Aber diese Fabrik war nicht sein Ziel. Nein, er wollte lediglich zur Beerdigung seiner Großtante anreisen, die als eine der letzten Russen deutscher Herkunft in dieser gottverlassenen Gegend zurückgeblieben war. Dabei musste er äußerst konspirativ vorgehen, ja, sich regelrecht verstecken. Boschenko musste sich hüten, den Betreibern der Zigarettenfabrik auch nur für einen kurzen Moment zu begegnen. Wenn sie herausfänden, dass er hier war, würde es ihm dreckig gehen – dessen war er sich bewusst...

Die Zigaretten aus der illegalen Fabrik trugen den gleichen Namen wie der Fluss Lena, der jeden Winter als Autobahn dient, um auf die andere Seite zu gelangen, denn für die drei kurzen Sommermonate lohnt es sich nicht, eine teure Brücke zu bauen. Boschenko, der Handlanger von Sascha, dem bisherigen Vertriebsleiter der Region West für diese illegale Zigarettenmarke, kannte sich in der Gegend aus. Er war hier aufgewachsen und erst vor zehn Jahren mit seiner Familie als eine der letzten russlanddeutschen Sippen Jakutiens1 in die Heimat seiner Urahnen ausgewandert.

Als er aus dem angemieteten BMW X5 stieg, stockte ihm bei minus 45 Grad der Atem, aber dank seiner dicken Jacke und Unty, den Luxuswinterstiefeln aus Hirschleder, fror er nicht. Er bewunderte die Eisskulpturen rund um die Kirche und erinnerte sich, wie er als Kind den einheimischen Künstlern dabei zugesehen hatte, wie diese mit dem vereisten Wasser spielten.

Für sein Abendessen kaufte er sich einen Fisch auf dem Markt. Aufgrund der immensen Kälte waren die Stroganina auf den gefrorenen Schwänzen in Reih und Glied aufgestellt. Danach setzte er sich wieder in seinen Wagen und fuhr weiter auf der so genannten „Straße der Knochen“2 nach Magadan. Bei dem Gedanken an den in dünne Streifen geschnittenen und in etwas Salz und Pfeffer getunkten Fisch lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Ein Streifenwagen der örtlichen Polizei überholte ihn und schaltete den blau-rot blinkenden Leuchtbalken an, um ihn zum Anhalten zu bewegen. Aus dem weißen Ford Focus Stufenheck mit blauen Seitenstreifen und schwarzen Folienscheiben stiegen zwei junge Beamte niederer Chargen, die ihre Pelzmützen aufsetzten und ihn grimmig anstarrten. Das Herz rutschte Boschenko in die Hose, als er von einem der Streifenbeamten angesprochen wurde.

„Ihre Papiere!“, befahl der Polizist, dessen Atem kleine Wölkchen in den frostigen Himmel blies, während er nach seiner dienstlichen Makarow-Pistole griff. Im nächsten Augenblick hielt er sie dem zur Salzsäule erstarrten Boschenko hämisch grinsend unter die Nase. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, krümmte sich sein Finger am Abzug.

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„Ihr Befehl wurde ausgeführt, Major!“, sagte der junge Polizist zu seinem uniformierten, ordenbehangenen Vorgesetzten, der nur jovial lächelte und dem hageren Beamten mit einem gemurmelten „Gut, gut, Towarischtsch!“ auf die Schulter klopfte. Niemand hätte vermutet, dass er, der hochrangige Polizeioffizier, der Drahtzieher des Zigarettenschmuggels war. Noch am gleichen Tag verschickte er eine E-Mail an Sascha, seinen ehemaligen Vertriebsleiter – mit einem als Anhang beigefügten Bild des toten Boschenko und den Worten SMERT PREDATEL’!3 Er hoffte, dass das seinem einstigen „Mitarbeiter“ Warnung genug sein würde, sich nicht noch einmal in seine Geschäfte einzumischen.

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Wenige Tage später fanden Einheimische einen von Wölfen zerrissenen menschlichen Körper unweit der illegalen Zigarettenfabrik. Wie die dortige Polizei später mitteilte, handelte es sich um den 27-jährigen Nikolaij Boschenko. Sie gingen offiziell von der Unachtsamkeit eines Touristen aus, der eben dadurch von Wölfen angegriffen und getötet worden war. Was hätte die Polizei auch anderes berichten sollen? Schließlich war einer ihrer hochrangigen Beamten unmittelbar in den Mord verwickelt. Aber sie würden eine gute Erklärung finden: Die beiden Einschusslöcher in der Brust hatte sich wohl ein Wolf schmecken lassen und die Projektile würden nun im ewigen Eis liegen.

Immerhin hatte Sascha die für ihn bestimmte Warnung erhalten. Er würde sich – so hoffte der Polizeimajor – in Zukunft mehrmals überlegen, ob er auch weiterhin hinter der belgischen Grenze eine illegale Zigarettenfabrik betreiben und seine LENA de luxe zwei Euro günstiger auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollte – wobei er sich dreisterweise der bekannten Wege seines bisherigen „Arbeitgebers“ und neuen Kontrahenten bediente.

Der blutige Krieg der Zigarettenmafia in Westeuropa hatte begonnen.

1Amtlich „Republik Sacha“; flächenmäßig größter Gliedstaat der Russischen Föderation (im Nordosten des asiatischen Teils Russlands)

2Eine von Stalins Zwangsarbeitern, so genannten GULag-Häftlingen, gebaute Trasse

3Russisch für „Tod dem Verräter!“

1

Deutsch-belgischer Grenzübergang Lichtenbusch, Bundesautobahn 44, Mittwoch, 31. Oktober 2012, 21:37 Uhr

Zollbetriebsinspektor (ZBI) Otto Gilles und Zollhauptsekretär (ZHS) Norbert Franzen hatten es sich in ihrem grün-weißen VW Passat Variant so gemütlich wie möglich gemacht. Obwohl es draußen bereits stockdunkel und bitterkalt war, hatten sich die beiden Beamten der KEV4 des Hauptzollamts Aachen mit Kaffee und ihren dicken dunkelgrünen Winteranoraks aufgewärmt. Franzen hatte seine Rückenlehne fast bis in die Waagerechte heruntergedreht und drohte daher immer wieder, einzuschlafen. Seit einigen Stunden hatten sich die beiden Zöllner auf dem Rastplatz Lichtenbusch postiert, der kurz hinter dem Grenzübergang lag. Bislang hatten sie jedoch noch kein verdächtiges Fahrzeug entdeckt.

„Scheint doch noch ’ne ruhige Schicht zu werden, was?“, stellte der beleibte ZBI Gilles kurzatmig fest.

„Ich weeß et nit, Chef“, antwortete ZHS Franzen zögerlich, rappelte sich hoch und trank einen Schluck Kaffee aus seiner Deckeltasse, die er auf dem Armaturenbrett abgestellt hatte. Genau an dieser Stelle war die Windschutzscheibe auf der Innenseite beschlagen.

Plötzlich blendete Scheinwerferlicht auf. Ein weißer Mercedes Sprinter mit Hochdach und belgischer Zulassung, der mit hohem Tempo an dem Rastplatz vorbeirauschte, erhellte den Innenraum des Passats. Sein ausgeprägter Spürsinn riet Gilles, sich den Wagen einmal näher anzuschauen.

„Gib Gas, Jung“, sagte er zu Franzen und deutete auf den belgischen Kleintransporter. In Windeseile drehte dieser seine Rückenlehne ein wenig höher und holte alles aus dem brandneuen VW-Kombi heraus. Da seine Rückenlehne aber immer noch ziemlich schräg stand, musste sich Franzen wie ein Kletteräffchen förmlich an seinem Lenkrad hochziehen. Durch das ruckelnde Schalten des Doppelkupplungsgetriebes verabschiedete sich Franzens noch halbgefüllte Deckeltasse vom Armaturenbrett Richtung Fußraum – jedoch nicht, ohne zuvor seine tannengrüne Cargohose mit einem heißen Schwall Kaffee zu besudeln.

„Verdammte Scheiße!“, schrie Franzen vor Wut und Schmerz auf. „Wir mussten diesem Frittenkopp ja unbedingt ganz dringend hinterherfahren!“, nörgelte er in Gilles’ Richtung, worauf der jedoch gar nicht einging.

Nur kurze Zeit später waren sie auf gleicher Höhe mit dem Transporter, dann hatten sie ihn überholt und den rot blinkenden Anhaltesignalgeber ZOLL – FOLGEN – FOLLOW ME auf dem Dachbalken eingeschaltet. Sie lotsten den Sprinter auf den Rastplatz Königsberg. Gilles und Franzen stiegen aus und gingen auf die Führerkabine zu, die nur mit einer Person besetzt war. Gilles sprach den schmächtigen schwarzafrikanischen Fahrer an:

„Guten Abend. Gilles, Hauptzollamt Aachen. Sprechen Sie Deutsch?“

„Non, non, Monsieur!“, beeilte sich der junge Schwarze zu antworten.

„German customs control“, entgegnete Franzen in Schulenglisch. „Your documents, please!“

Bereitwillig händigte der junge Mann seinen belgischen Führerschein und seine Identitätskarte sowie die Fahrzeugpapiere aus.

Während Franzen mit der Hand an der Waffe die Situation im Blick hatte und auf den Fahrer aufpasste, ging Gilles zurück zu ihrem Streifenwagen und rief über Funk „Pascha 3“, die auch für sie zuständige Leit- und Einsatzzentrale (LEZ) Kleve des Zollfahndungsamts Essen. Aber sowohl der Fahrer, der Kongobelgier Patrice Kabwelulu, als auch der Transporter der Lütticher Mietwagenfirma waren bislang polizeilich noch nicht in Erscheinung getreten.

„Where do you go?“, fragte Franzen, als Gilles zurückgekommen war.

„Don’t understand!“, antwortete Kabwelulu in holprigem Englisch.

Gilles beließ es zunächst dabei und forderte Kabwelulu auf, den Laderaum zu öffnen. In diesem waren Kartons bis zur Decke gestapelt. Während Gilles mit seiner Taschenlampe in den Laderaum leuchtete, öffnete Franzen einen der Kartons.

„Ach du Scheiße! Guck dir das mal an, Otto!“, forderte er seinen Kontrollteamführer auf, einen Blick auf den Kartoninhalt zu werfen. Dutzende längliche, rot-weiße Pappschachteln waren zum Vorschein gekommen. Sie alle trugen die Aufschrift LENA de luxe. Es waren Zigarettenstangen.

„What’s that?“, herrschte Gilles den verdutzt blickenden Fahrer an, während er ihm eine der siebzig Stangen des geöffneten Kartons unter die Nase hielt.

„Je ne sais pas!“5, beteuerte der und hob beschwichtigend die Hände – wobei ihm allmählich klar wurde, dass ihn dieser Russe, der ihn angesprochen und zu der Fahrt überredet hatte, reingelegt haben musste.

Franzen öffnete einen weiteren Karton. Auch dieser war mit insgesamt siebzig LENA-Zigarettenstangen befüllt. Jede Stange beinhaltete zehn Päckchen à zwanzig Zigaretten, so dass sich pro Stange zweihundert und pro Karton vierzehntausend Zigaretten ergaben.

Auch die übrigen von Franzen geöffneten Kartons hatten den gleichen Inhalt: ausschließlich LENA-Zigaretten ohne Steuerbanderole, dafür mit englischsprachigem Warnhinweis.

„Muss ich jetzt alle Kartons öffnen? Dann sind wir ja morgen früh noch dran!“

„Auf jeden Fall müssen wir einen Blick reinwerfen. Ich helf dir ja schon, Jung“, antwortete ZBI Gilles und verfrachtete Kabwelulu auf die Rücksitzbank ihres Streifenwagens.

Nacheinander entluden sie jeden Karton. Obwohl es nur knapp über null Grad war, kamen die beiden Zöllner ins Schwitzen. Aber gut eine Stunde und genau achtzig geöffnete Kartons später hatten sie Gewissheit: Jeder Karton war randvoll mit Zigarettenstangen.

Während ZBI Gilles versuchte, dem Belgier seine vorläufige Festnahme klarzumachen, griff ZHS Franzen nach seinem Smartphone und wählte die Taschenrechner-App.

„Otto, das macht dann 1.120.000 Stück Zigaretten. Ganz schöner Batzen, was?“

„Und vor allen Dingen ein Fall für die Jungs von der Zollfahndung. Ich ruf direkt mal die LEZ an“, sagte Gilles und griff nach seinem Diensthandy.

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Zollamtmann (ZAM) Andreas „Andi“ Theveßen hatte sich gerade auf der Couch an seine Frau Ingrid gekuschelt. Zwar trennte die beiden ein Altersunterschied von knapp fünfzehn Jahren, dennoch hätte sich der vierunddreißigjährige Zollfahnder keine Beziehung mit einer gleichaltrigen oder gar jüngeren Frau vorstellen können. Er schätzte die Reife und Erfahrenheit, die seine hübsche Frau ausstrahlte.

So lagen sie jetzt einträchtig gemeinsam auf der Couch in ihrem gemütlichen Wohnzimmer hoch über den Dächern Kölns und blickten gedankenversunken Richtung Fernseher.

„Ich hoffe nur, dass ich heute Nacht nicht mehr raus muss“, sagte Theveßen zu seiner Frau, die kurz davor war, einzuschlummern. Auch seine Augenlider wurden immer schwerer. Zwar hatte er erst gegen 14:00 Uhr mit dem Präsenzdienst angefangen und folglich morgens ausschlafen können, dennoch fühlte er sich jetzt müde und ausgelaugt. Im Gegensatz zur Kripo verfügte die Zollfahndung nicht über eine rund um die Uhr besetzte Kriminalwache, so dass jeder Sachbearbeiter alle paar Wochen Bereitschaftsdienst versehen musste.

Es war halb zwölf, als ihn das Klingeln seines Diensthandys aus dem ersten Tiefschlaf riss.

„Ja, Theveßen...“

„Dünnebacke, Leitstelle Kleve. Hab ich dich geweckt, Kollege?“

„Ja, schon gut. Was gibt’s denn?“, fragte er barsch.

„Die KEV Aachen hat bei Lichtenbusch ’nen Belgier aufgegriffen.“

Theveßen, der mit einem Mal hellwach war, stand auf, ging zum Wohnzimmertisch, wo er den Bereitschaftsordner und den Notizblock abgelegt hatte. Zwischenzeitlich war auch seine Frau aufgewacht und rieb sich gähnend die Augen.

„Gut. Ich bin schreibbereit. Welcher Stoff und wie viel Gramm?“, fragte Theveßen, da ihnen die Aachener Kollegen normalerweise fast ausschließlich Fälle von Drogenschmuggel aus den Niederlanden bescherten.

„Nä, Mann, ist diesmal kein BtM6-Fall. Es geht ausnahmsweise mal um Kippen. 1.120.000 Stück unversteuerte und unverzollte Zigaretten. Auf ’nem belgischen Kleinlaster. Der Fahrer heißt Kabwelulu. Belgier. Ich geb dir direkt mal die Erreichbarkeit des KEV-Kollegen. Gilles heißt der.“

„Ach, der Otto.“ Theveßen hatte schon des Öfteren mit dem adipösen Kollegen zu tun gehabt.

„Gut. Ich meld mich dann später wieder bei dir“, sagte er zum Abschluss des Gesprächs, legte auf, zog sich an und verabschiedete sich von seiner Frau, der er anriet, nicht mehr auf ihn zu warten. Er unterrichtete seinen Bereitschaftspartner, der sich ebenfalls verschlafen anhörte.

Fünf Minuten später war er mit dem Aufzug in der Tiefgarage des Colonia-Hauses angekommen und startete seinen alten Passat Variant. Er wohnte gern in einem der höchsten Wohnhochhäuser Europas. Zehn Minuten später stand er vor den verschlossenen Toren der alten belgischen Kaserne Moorslede im Stadtteil Dellbrück, die neben dem Dienstsitz Köln des Zollfahndungsamts Essen auch das Zollkriminalamt und eine Dependance der Bundespolizei beherbergte. Theveßen stellte den betagten VW auf dem Parkplatz ab und betrat das hufeisenförmige Gebäude 10, in dem die Zollfahndung untergebracht war.

Etwa fünf Minuten später erschien sein Bürokollege, Zollinspektor (ZI) Alessandro Di Marco, ein gutaussehender Mittzwanziger, im Büro.

„Ich hab noch unseren Frischling informiert“, sagte er mit einem Blick auf den schmächtigen Mann mit dunkelblonden Haaren und verlegenem Lächeln, der jetzt ebenfalls ihr Dreierbüro betrat.

Zollobersekretär Stefan Täschner, ebenfalls Mitte zwanzig, war vor gut einem Monat von der KEFR7 beim Zollamt Flughafen Köln/Bonn zu ihnen abgeordnet worden und seitdem der dritte Mann in ihrem ohnehin beengten Büro. Obwohl Bereitschaften normalerweise nur von zwei Beamten wahrgenommen wurden, kam es immer wieder vor, dass man die Neuen als dritten Mann mitnahm, damit sie sich schon mal an diese Facette ihrer neuen Tätigkeit gewöhnen konnten.

Täschner nickte nur verlegen und sah seine beiden Vorgesetzten bewundernd an, während Theveßen seine Kollegen in den Fall einwies. Sie holten ihre Dienstwaffen vom Typ Heckler & Koch P30 und die Papiere für den alten dunkelgrauen Honda Accord Tourer, einen Kombi, der dank seines kastenförmigen Äußeren und seiner schwarzen Folienscheiben von allen nur „Leichenwagen“ genannt wurde, und den außer Theveßen und Di Marco keiner der örtlichen Sachbearbeiter gerne fuhr.

Zu dritt machten sie sich auf den Weg nach Aachen. Theveßen hatte sich zwischenzeitlich bei Gilles gemeldet, der ihm mitteilte, dass sie mit dem Beschuldigten und dem sichergestellten Kleintransporter zum Grenzübergang (GÜG) Vetschau in die alte Grenzbaracke gefahren waren.

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Eine gute Stunde später waren sie am deutsch-niederländischen GÜG Vetschau angekommen und stellten den „Leichenwagen“ auf dem Parkplatz der alten, baufälligen Baracke, die dem Bundespolizeirevier Aachen Nord immer noch als Amtssitz diente, ab. Sie begrüßten den wachhabenden Bundespolizisten, der nur gelangweilt die Hand hob und sich dann wieder auf die Folge von „Two and a half Men“ konzentrierte, die in dem flackernden alten Fernseher lief.

Sie betraten den linken Flur, der für den Zoll reserviert war. Am Ende des Ganges brannte Licht, das laute Lachen mehrerer Männer war zu hören. Theveßen schritt auf den Lichtschein zu und betrat das kleine Büro der KEV, in dem sich Gilles, Franzen und zwei weitere uniformierte Zöllner, die augenscheinlich um einiges jünger waren, breitgemacht hatten.

„Ach, die Herren von der Fahndung sind ja auch mal endlich da. Haben wir euch geweckt?“, sagte ZBI Gilles, stand auf und klopfte Theveßen auf die Schulterpolster seines alten grauen Lederblousons, das in den Achtzigern mal topmodern gewesen sein musste.

„Halt bloß den Mund, Otto“, entgegnete Theveßen lächelnd und deutete einen Boxhieb in Gilles’ Magengrube an. Die beiden hatten schon einige gemeinsame Einsätze gemeistert.

„Also: Was könnt ihr uns denn jetzt sagen?“, fragte ZI Di Marco und wurde sofort dienstlich.

„Na, wir haben den Heini kontrolliert und die Kippen gefunden. Dann hab ich den Mike und den Kevin informiert, um uns zu unterstützen“, antwortete Gilles mit einem Blick auf die beiden jungen KEVler. „Wir haben diesen Kabwelulu festgenommen und hierher gebracht.“

„Gut. Können die Kippen über Nacht bei euch in der Dienststelle lagern?“

„Kein Problem. ’Nen Sichersteller wirste heute Nacht ja eh nicht mehr so ohne Weiteres erreichen. Tatbericht, Festnahmeanzeige und Sicherstellungsprotokoll haben wir gerade eben fertig geschrieben“, sagte Gilles mit einem Blick auf den Papierstapel, der vor ihm auf dem Tisch lag. „Unter den sichergestellten Gegenständen war sein Handy. Und dieser Zettel hier.“ Gilles deutete auf die Klarsichtfolie, in der sich ein in krakeliger Handschrift beschriebener Zettel befand:

REAL Markt
Auerbachstr. 10
52249 Eschweiler

Sascha 01520-7985345

„Könnte auf jeden Fall wichtig sein.“

Theveßen nickte. „Diese Nummer, die unter der Adresse steht, ist auf jeden Fall ’ne Mobilfunknummer.“

„Hat dieser Kabwelulu denn irgendwas gesagt?“

„Keinen Ton. Der Typ spricht nur Französisch und ganz schlechtes Englisch. Aber der sagt eh nix.“

„Schade eigentlich. Wir werden ihn trotzdem vernehmen. Stefan, du fährst mit der KEV nach Lichtenbusch, um die Kippen da über Nacht bei den Jungs einzulagern. Alessandro, wir holen uns diesen Kabwelulu zur Vernehmung.“

Di Marco ging zurück zum Trakt der Bundespolizei und ließ sich von dem Wachhabenden den Schlüssel für den kleinen Gewahrsamsraum geben. Patrice Kabwelulu schlummerte auf der unbequemen Pritsche. Seine Beine hatte er übereinander geschlagen. Di Marco forderte ihn auf, aufzustehen, und ging mit ihm wieder zurück in das kleine Büro der Zollfahndung, in dem Theveßen bereits den Rechner hochgefahren hatte. Sie händigten ihm ein französischsprachiges Exemplar der Belehrung vorläufig festgenommener Personen aus, das Kabwelulu durchlas und kommentarlos unterschrieb.

„Do you want a doctor?“

„No!“

„Do you want us to inform the Belgian consulate?“

„No. Did nothing wrong. No need.“

„Okay. But we have to interrogate you now. So it is necessary that we call a translator.“

„No! Don’t say anything! Don’t know anything about these cigarettes!“8

Di Marco hatte zwischenzeitlich die Personalien des jungen Belgiers aufgenommen und im Vernehmungsvordruck angekreuzt, dass Kabwelulu keine Angaben machen wollte. Theveßen übersetzte, was sie zu Protokoll genommen hatten, und ließ das Formular von Kabwelulu unterschreiben. Dann legten sie ihm Handschellen an und gingen mit ihm zum Auto. Die KEV-Kollegen waren bereits abgerückt.

In dieser Nacht hatten sie einiges zu tun. Nicht nur, dass sie Kabwelulu zum Polizeigewahrsamsdienst (PGD) des Polizeipräsidiums Aachen brachten, nein, sie (bzw. ZOS Täschner) halfen den KEV-Kollegen noch beim Ausladen und Einlagern der Zigarettenkartons in deren Dienststelle, fertigten die Ermittlungsakte und schrieben einen Einsatzvermerk. Gegen vier Uhr morgens waren sie wieder in ihrer Dienststelle in Köln-Dellbrück. Theveßen wollte einfach nur ins Bett, um seinen freien Tag, den 1. November, zu genießen. Zuvor hatte er aber seiner Arbeitsbereichsleiterin, Zollamtsrätin (ZARin) Birgitt Angler, die an jenem Feiertag Bereitschaft hatte und sich dementsprechend um Kabwelulus Haftvorführung kümmern musste, eine SMS geschrieben.

Birgitt Angler traf sich gegen halb neun mit ihrem Bereitschaftspartner Uli auf der Dienststelle in Dellbrück und machte sich mit ihm in ihrem alten E-Klasse-Zivilwagen auf den Weg nach Aachen. Sie holten Kabwelulu aus dem PGD und fuhren mit ihm zum Justizzentrum am Adalbertsteinweg, nicht allzu weit vom altehrwürdigen Aachener Dom entfernt.

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Amtsgericht Aachen, Justizzentrum, Adalbertsteinweg 92, 52070 Aachen, Donnerstag, 1. November 2012, 10:15 Uhr

ZARin Angler hatte mit dem Haftstaatsanwalt noch kurz den Sachverhalt erörtert, während dieser sich demotiviert durch die Ermittlungsakte blätterte. Im Büro des Haftrichters war auch eine allgemein beeidigte Dolmetscherin für Französisch zugegen, die leise gähnte und sich ihre Kleidung zurecht zupfte.

Der Haftrichter begann mit der Belehrung, die Madame Dupont simultan für Kabwelulu übersetzte, welcher zustimmend nickte. Danach befragte er den jungen, 1983 geborenen Mann zu seinem Werdegang. Seine Eltern waren aus dem damaligen Zaïre Mitte der Siebziger Jahre nach Lüttich gekommen. Sein Vater hatte sich mehr schlecht als recht als Stahlarbeiter im großen Lütticher Werk der Firma Cockerill-Sambre verdingt, bevor er in den Neunzigern endgültig arbeitslos wurde. Der Strukturwandel in dieser von Kohle und Stahl geprägten Region hatte ihren erbarmungslosen Tribut gefordert. Seitdem lebte die gesamte Familie von Sozialhilfe. Auch Patrice Kabwelulu stand nie auf der Sonnenseite des Lebens. Mit sechzehn hatte er die Schule abgebrochen und sich danach immer wieder als Laufbursche, Handlanger und Gelegenheitsarbeiter beschäftigt.

„Ihnen wird zur Last gelegt, insgesamt 1.120.000 Stück unversteuerte und unverzollte Zigaretten der Marke LENA de luxe in das Bundesgebiet eingeschmuggelt zu haben, was den Tatbestand einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 Absatz 1 Nummer 2 der Abgabenordnung darstellt. Was sagen Sie zu diesem Tatvorwurf?“

„Rien! Je ne sais rien!“, schoss es aus Kabwelulu heraus, was Madame Dupont leicht zeitverzögert mit „Nichts! Ich weiß nichts!“ übersetzte.

„Aber Sie haben den Kleintransporter gelenkt?“

„Oui.“ – „Ja.“

„Wie ist es denn dann dazu gekommen?“

Kabwelulu hörte Madame Dupont konzentriert zu, ließ sich für die Antwort Zeit. Nach einer gefühlten Schweigeminute erzählte er, unterstützt durch die Übersetzerin:

„Vor ein paar Tagen kam ein Mann in die Kneipe, in der ich immer rumhänge. Das ist die Taverne ‘Le Vieux Sabot’ am Boulevard de la Constitution bei uns in Lüttich. Ich hab keinen Job und muss ja irgendwie die Zeit totschlagen, wissen Sie? Der Typ stand neben mir an der Theke. Wir sind ins Gespräch gekommen. Er hat sehr schlechtes Französisch gesprochen. ‘Alles Scheiße, oder?’, hat er zu mir gesagt und mir ein Glas Jupiler ausgegeben. ‘Ich hab ’nen Job für dich’, hat er weiter gesagt. ‘Da springen dreihundert Euro für dich raus.’ Ich war natürlich interessiert und hab ihn gefragt, was ich tun sollte. Dann wollte er meine Handynummer und sagte mir, dass er mich kurzfristig anrufen würde. So war das dann auch. Gestern Nachmittag rief er mich an und hat mich gebeten, zur Rue des Ecoliers zu kommen. Das war so gegen fünf Uhr. Da hat er mir dann die Schlüssel für den Sprinter in die Hand gedrückt, der in der Seitenstraße stand. Und den Zettel mit der Adresse vom REAL Markt in Eschweiler. Ich sollte abends losfahren, um so gegen zehn Uhr auf dem Parkplatz des REAL Markts zu sein. Wenn ich da eingetroffen wäre, hätte ich mich bei einem anderen Typen namens Sascha melden sollen, dessen Handynummer er mir auch auf den Zettel geschrieben hat.“

„Wussten Sie denn, wo der Real Markt in Eschweiler war?“

„Nein, aber er hatte mir den Weg beschrieben. War einfach zu finden.“

„Wer war der Mann, der Sie für die Fahrt angeworben hat?“

„Er hat sich Eugen genannt und gesagt, er sei aus Deutschland. Aber er sah irgendwie aus wie ein Osteuropäer. Ich glaube, der war Russe oder so.“

„Und was hat er zu der Fracht gesagt, die an Bord war?“

„Nichts. Ich hab auch nicht nachgefragt. Mir ging es nur um das schnell verdiente Geld.“

„Und die Summe von dreihundert Euro kam Ihnen nicht seltsam vor?“

„Doch. Schon. Aber in meiner Situation stellt man keine Fragen. Dreihundert Euro – das ist für mich ein kleines Vermögen. Hätte ich aber gewusst, auf was ich mich da einlasse, hätte ich die Finger davon gelassen“, beeilte er sich zu ergänzen.

Nach dem Aussehen des Kontaktmannes und seinem Auto gefragt, entgegnete Kabwelulu, dass er sich daran nicht mehr allzu gut erinnern könne. Der „Russe“ sei durchtrainiert gewesen und habe einen kahlrasierten Schädel gehabt. Außerdem habe der Russe gesagt, dass er ihn nicht zu lange angucken solle. Das würde ihn total aggressiv machen.

Kurze Zeit später verkündete der Haftrichter, dass gegen Kabwelulu Haftbefehl erlassen werde. Kopfschüttelnd wurde er von dem Justizwachtmeister abgeführt. Birgitt Angler informierte Andi Theveßen, der sich verschlafen meldete.

„Hallo Andi. War ja ein richtig großer Aufgriff heute Nacht! Glückwunsch! Können wir für unsere Statistik verdammt gut brauchen!“

Aber Andi Theveßen hörte gar nicht richtig hin. Dafür war er viel zu müde. Und außerdem hasste er dieses Gefasel über Statistiken, Personalbedarfsberechung und den ganzen anderen Quatsch, den sich die „hohen Herren“ im BMF9 und beim ZKA10, ihrer vorgesetzten Dienststelle, mit denen sie sich die Liegenschaft teilten, ausdachten.

„Ich wollte dir eigentlich auch nur Bescheid sagen, dass Kabwelulu eingefahren ist. So, Jung, jetzt ruh dich mal so richtig aus. Wir sehen uns morgen früh! Ciao!“, sagte ZARin Angler und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf.

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Parkplatz REAL Markt, Auerbachstr. 10, 52249 Eschweiler, Mittwoch, 31. Oktober 2012, 23:00 Uhr

Der Deutschkasache, den alle nur „Sascha“11 nannten, wurde immer nervöser. Keine Nachricht von diesem Schwarzafrikaner. Eigentlich war Sascha die neue „Königskobra“ in der Region. Trotz allem ließ er es sich nicht nehmen, gerade die Touren zu seinem Zwischenhändler nach Köln selbst zu begleiten. Andere hätten das sicherlich als zu riskant empfunden, dessen ungeachtet liebte er das Risiko. Außerdem wäre es ihm sonst in seiner Luxuswohnung viel zu langweilig geworden. Aber jetzt war ihm plötzlich gar nicht mehr so wohl zumute. Was, wenn der Kerl sie reingelegt und sich mit der wertvollen Fracht aus dem Staub gemacht hatte? Wieder einmal hätte sich Sascha für seine und Jewgenis (oder besser gesagt Eugens) Vertrauensseligkeit am liebsten selbst in den Hintern gebissen. Sicher, er hatte viele Verteilernetze. Wenn diese Ladung in Verlust geraten sein sollte, wäre es – aus wirtschaftlicher Sicht – für ihn auch ohne Weiteres zu verkraften gewesen. Aber gerade der Vertrieb in Köln lag ihm am Herzen. Schließlich wohnte er dort seit Jahren. Also zermarterte er sich den Kopf über den Verbleib der Lieferung. Vielleicht hatten ihn aber auch die Schergen des Polizeimajors aus Jakutsk erwischt. Dass der es ernst meinte, hatte ihm die E-Mail mit dem Bild von Boschenkos Leichnam gezeigt, der er bislang aber offensichtlich viel zu wenig Beachtung geschenkt hatte.

Jetzt langte er nach der Packung (versteuerter) deutscher Marlboro-Zigaretten, die in der Mittelkonsole seines getunten, mit mattschwarzer Folie beklebten Audi A5 lag. Sascha griff nach dem Zippo-Feuerzeug mit der Gravur Einsatzbereit – jederzeit – weltweit, dem Wahlspruch der Luftlandebrigade 26 „Saarland“. Gerne dachte der Mann aus Semipalatinsk am Ufer des kasachischen Flusses Irtysch an seine sechs Jahre bei der Luftlandepionierkompanie 260, die diesem Spezialverband der Bundeswehr unterstellt war, zurück. Zusammen mit den Fallschirmjägern aus ihren schweren Transportmaschinen abspringen, für sie Hindernisse beseitigen, Sabotageakte durchführen und die Feindesbewegungen hemmen. Sie mussten sich hinter anderen militärischen Spezialkommandos nun wahrlich nicht verstecken. Sascha erfüllte es mit Stolz, in dieser altehrwürdigen Bundeswehreinheit gedient zu haben. Zum ersten Mal hatte sich der Sohn deutschkasachischer Spätaussiedler in seiner neuen Heimat integriert und nützlich gefühlt. Endlich hatte er seinen Beitrag für das Land seiner Ahnen leisten dürfen, das ihn und seine Familie (wenn auch nicht gerade sonderlich gastfreundlich) aufgenommen hatte. Zu den Höhepunkten seiner Militärkarriere zählten die Afghanistan-Einsätze, die ihm und seinen Kameraden alles abverlangt hatten. Sie hatten sich im Krieg befunden, genauso wie ein gutes Vierteljahrhundert zuvor sein Vater als Wehrpflichtiger der Sowjetarmee. Auch sie hatten vergeblich versucht, das wilde Land am Hindukusch zu zähmen – und hatten sich an den Taliban und Mudschaheddin genauso die Zähne ausgebissen wie die ISAF-Truppen heutzutage.

Aber das alles war für Sascha nicht mehr von Bedeutung. Er hatte einen Vorgesetzten im Streit krankenhausreif geprügelt, war unehrenhaft entlassen worden – trotz all der Verdienste um sein neues Vaterland. Seitdem schlug er sich als Türsteher sowie Zigarettenschmuggler und -händler für die Organisation aus Jakutsk durch. Bis, ja, bis er vor einigen Monaten zusammen mit seinem Exkameraden Jewgeni alias Eugen, der ebenfalls aus Kasachstan stammte, diese neue Geschäftsidee hatte, die noch um einiges einträglicher war...

Gereizt griff er nach seinem Handy und wählte Eugens Nummer. Er rutschte auf dem Sitz hin und her und versuchte, eine bequemere Position zu finden. Automatisch tastete er dabei mit seiner rechten Hand in seinen Schritt und erinnerte sich schaudernd an die unerträgliche Situation im Krankenhaus. Nachdem er vor einiger Zeit zusammengeschlagen und bewusstlos aufgefunden worden war, wurde er schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert, wo ihm in einer Notoperation ein Hoden entfernt werden musste. Seitdem fühlte er sich nur noch als halber Mann und mehr als einmal fluchte er hasserfüllte Tiraden im Beisein seiner Freundin Irina Müller. Seit dem Vorfall wollte Sascha keinen Sex mehr, sondern Rache. Und die würde bald beginnen. Ein guter Freund hatte ihm bei einem Saufgelage kürzlich einen Namen zugeflüstert, den Namen eines Russen, der dabei gewesen sein sollte. Sascha würde aus dem schon rauskriegen, ob das stimmte. Seine Methoden waren effektiv und schmerzhaft. Er versuchte sich nun wieder auf das Telefonat zu konzentrieren.

„Glück ab, Towarischtsch!“, meldete sich Eugen mit dem Gruß ihrer saarländischen Luftlandebrigade.

„Glück ab! Wo bleibt diese schwarze Kröte, Mann?“ Noch immer rutschte Sascha auf seinem Sitz hin und her.

„Die roten Kleider sind noch nicht bei dir eingetroffen?!“

„Nein, mein Freund! Und das Volk verlangt neue rote Kleider!“

Saschas Stimme klang in Eugens Ohren ziemlich bedrohlich. Er versuchte aber, seine Furcht zu überspielen. Auf keinen Fall wollte er mit Sascha anecken. Er hatte schon oft genug stämmige Kerle gesehen, die nach einer „Meinungsverschiedenheit“ mit Sascha winselnd am Boden lagen.

„Ich weiß, ich weiß. Ich habe dem schwarzen Mann genau aufgetragen, was er zu tun hat. Rote Kleider auf achtzig Kleiderbügeln. Wie ausgemacht.“

„Wenn der nicht bald hier auftaucht, müssen wir das wohl abschreiben. Dann musst du neue Kleider für Köln nähen.“

„Wenn ich diesen Vogel in meine Hände bekomme, spuckt er nur Zähne, Towarischtsch!“ Sascha formte seine Hand zu einer Faust und schlug damit blitzartig zweimal hintereinander in die Luft.

„Sehr gut! Aber das hilft uns jetzt auch nicht. Vielleicht haben ihn ja auch die grünen Kobolde getroffen und zum Kaffee eingeladen, wer weiß. Wir müssen sehr vorsichtig sein! Lass uns nachher per Bildschirm sprechen!“

„Gut! Ich werde mich auf die Suche nach dem Buschmann begeben!“

„Dawai, Towarischtsch!“

Sascha legte auf, entnahm dem Billighandy die SIM-Karte, knickte sie zwischen Zeigefinger und Daumen und schmiss sie auf den kalten Asphalt, bevor er den PS-starken Motor seines protzig aufgemotzten Audi-Coupés startete und sich mit quietschenden Reifen auf den Rückweg nach Köln machte.

4Abk. für Kontrolleinheit Verkehrswege (Einheit uniformierter Zollbeamter, die im Binnenland [oft aber in Grenznähe] Zollkontrollen durchführt)

5Französisch für „Ich weiß nicht!“

6Abk. für Betäubungsmittel

7Abk. für Kontrolleinheit Flughafen Reiseverkehr

8„Möchten Sie einen Arzt?“
„Nein!“
„Möchten Sie, dass wir das belgische Konsulat informieren?“
„Nein. Habe nichts falsch gemacht. Nicht nötig.“
„Okay. Aber wir müssen Sie jetzt befragen. Also ist es nötig, dass wir einen Übersetzer holen.“
„Nein! Sage nichts! Weiß nichts über diese Zigaretten!“

9Abk. für Bundesministerium der Finanzen

10Abk. für Zollkriminalamt

11Kosename für Alexej

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Car Cosmetic Müller, Bahndamm an der Heliosstr., 50825 Köln-Ehrenfeld, Montag, 5. November 2012, 10:00 Uhr

Andi Theveßen und Alessandro Di Marco hatten es sich in ihrem „Leichenwagen“ bequem gemacht. Mit drei weiteren Teams hatten sie den Bahndamm an der Ehrenfelder Heliosstraße verpostet, in dessen unzähligen, maroden Rundbögen diverse ebenso heruntergekommen wirkende Handwerksbetriebe untergebracht waren. Darunter auch die kleine Kfz-Werkstatt „Car Cosmetic Müller“, die dem Deutschkasachen Gennadi Müller gehörte.

Polizeihauptkommissar (PHK) Alfred Gymnich, der für dieses Veedel zuständige Bezirksbeamte der Kölner Polizeiinspektion (PI) 3 (West), hatte die Dellbrücker Zollfahnder vor einigen Wochen kontaktiert. Ihm war seitens der Bevölkerung zu Ohren gekommen, dass Müller aus seiner Werkstatt heraus mit unversteuerten Zigaretten handeln sollte. Grund genug, bei der zuständigen Strafsachen- und Bußgeldstelle des Hauptzollamts Aachen die Beantragung von Observationsbeschlüssen anzuregen. Gemäß den Vorschriften des § 386 Abgabenordnung (AO) nahmen die Finanzbehörden (in diesem Fall das Aachener HZA) bis zu einer gewissen Schadenssumme hinsichtlich der von ihnen verfolgten Steuerdelikte in eigener Zuständigkeit die Aufgaben einer Staatsanwaltschaft wahr.

Wenige Tage nach der Anregung hatte das Amtsgericht Aachen entsprechende Observationsbeschlüsse nach Köln geschickt. Die daraufhin um Unterstützung ersuchte OEZ12 hatte bislang noch keine Zeit gefunden, die Beschlüsse umzusetzen, so dass Theveßen und seine Kollegen von der Sachbearbeitung wieder mal selbst ran mussten. Da die Beschlüsse bereits seit zwei Wochen unbearbeitet auf Theveßens Schreibtisch lagen, wurde es höchste Zeit, sie endlich zu vollstrecken.

„Was hat eigentlich die Abklärung dieser Handynummer ergeben, die auf Kabwelulus Notizzettel stand?“, wollte Theveßen von seinem Bürokollegen wissen. Da jeder von ihnen mehrere Verfahren gleichzeitig bearbeitete, konnte man leicht durcheinander kommen und den Informationsaustausch vernachlässigen. Und Di Marco war von Birgitt Angler offiziell als Sachbearbeiter im Verfahren gegen Kabwelulu in ihrer Arbeitsliste eingetragen worden. Schließlich sollte der junge Kollege lernen, selbstständig Verfahren zu führen.

„Nichts. Das hätte ich mir auch sparen können. Die Nummer ist registriert auf einen Osman Yildiz. Genau wie die deutsche Prepaidnummer, von der aus dieser Eugen unseren armen Belgier kontaktiert hat. Yildiz soll angeblich in der Büdericher Straße 11 in Nippes wohnen. Aber der Typ ist da laut EMA13-Auskunft völlig unbekannt. Wieder mal ein Phantasiename.“

„Ist ja lustig! Die Kante kenn ich wie meine Westentasche. Ich bin direkt in der Nebenstraße aufgewachsen, der Eisenachstraße. – Aber zurück zu Yildiz: Alles andere hätte mich auch gewundert. Oh Mann, das kann man doch echt alles vergessen!“