Hanser E-Book
Joachim Radkau
Theodor Heuss
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24446-7
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2013
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von Theodor Heuss am Tag nach seiner Wiederwahl im Juli 1954 in Berlin (Foto © pbk/Hanns Hubmann)
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Die Hintergründigkeit der Heuss-Welt:
Erlebnisse bei einer Wiederbelebung
Heuss-Reize und Heuss-Rätsel: »Regulierte Taktlosigkeit« und »Theos Kleine Nachtmusik« - Wie gewinnen Bundespräsidenten im Kollektivgedächtnis Gestalt? - Wo ist in diesem Leben die Linie? - Charisma und Kairós - Zwischen Historisierung und Aktualisierung: Neue Sichtweisen in einer Geschichte der Möglichkeiten
1 Allotria im Bannkreis Friedrich Naumanns
Zeittafel - Selbstabgrenzung im Anblick einer Überfülle von Optionen: Die Modernität des Heuss’schen Dilemmas - »Mein rundes Bekenntnis zum ›Allotria‹« - Weder Vater-Sohn-Konflikt noch väterliches Vorbild – weder Achtundvierziger noch Bismarck-Deutscher - Konflikt zwischen den Vätern: Friedrich Naumann und Lujo Brentano - Heuss und die Heilbronner Weingärtner: zwischen allen Fronten - Latente Distanz zu Naumanns Flottenbegeisterung - Heuss und die haarsträubenden Naumann-Eskapaden - Naumanns Charisma und seine Schwachstellen: eine lebenslange Lehre für Heuss - Kreise ohne Klüngel - Mütterliche Freundinnen: Lulu, Lis, Lu – und dann Elly - Unschlüssigkeit und Leidenschaft - Selbstprofilierung als Gegenpart zu Elly - Wappnung gegen die nervöse Reizbarkeit der Zeit - Spaltung zwischen Kultur und Politik oder »Konkubinat von Romantik und Realismus«? Der Deutsche Werkbund als Synthese - Zeppelin statt Wagner – und statt »Titanic« - Wo ist die politische Leidenschaft? - Fehlende Feindbilder - »Es gibt in der Politik keine absoluten Wahrheiten, sondern fast nur Relationen« – Das Heuss’sche Vergnügen an der Politik - Eine lebenslange Liebe: Heuss und Wilhelm Busch
2 Kühl und korrekt durch den Krieg: Der Zivilist vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
Zeittafel - Zwei Logiken zur Erklärung des Kriegsausbruchs - Ahnungslosigkeit als Bedingung des Kriegsausbruchs und das Beispiel Heuss - Ernst Jäckh und Paul Rohrbach oder: Der fragwürdige Nutzen von Insider-Kontakten - Heuss, die drei Akte der Fischer-Kontroverse und das Rätselraten um die Tagebücher Kurt Riezlers - Eine Verlockung zu Heuss’scher Selbstbespiegelung: Die doppelbödige Gestalt Bethmann Hollwegs - Der lächelnde Bülow als Proto-Heuss? - Die schwierige Sinngebung des Krieges als Chance für Literaten und Gelehrte: Heuss als Kriegspublizist und als Verächter der »Kriegsliteraten« - Im Gezänk der Kriegsliteraten: Heuss, Hesse und Hodler - In der Gefahr der Banalität, aber nicht aus der Ruhe zu bringen - Zwischen Entsetzen und Entdeckung ungeahnter Fähigkeiten: Elly Heuss-Knapp im Krieg - Gegen Kurt Hiller, den »Famulus des Geistes«: Irritation durch Friedensliteraten - Das größte und abgründigste literarische Kriegsereignis: Naumanns »Mitteleuropa« - Heuss’ Missmut gegenüber der Friedensresolution des Deutschen Reichstags - Heuss und Max Weber: Reale Begegnung und retrospektive Aneignung - Neue »Kreise« in Berlin und Heimkehr zum Werkbund: 1918 als Jahr des Neuanfangs
3 Auf Schlingerkurs, gelassenes Scheitern und geschärftes Profil: Heuss in der Weimarer Republik
Zeittafel - Abschied und doch kein Abschied vom Obrigkeitsstaat oder: Die vergebliche Suche nach der Heuss’schen Staatstheorie - Die Mehrdeutigkeit der Demokratie in der Weimarer Verfassung - »Kronprinz muss warten«, »nach Strich und Faden hereingelegt« und doch: Ein unverdrossener Fehlstarter - Ein Leitmotiv im Lavieren: Gegen die »ekelhafte Monopolisierung der Worte Vaterland und Nation« durch die Rechte! Der Kapp-Putsch als »Verbrechen gegen die Nation« - Von »Mitteleuropa« zum »Anschluss« - Zwischen völkischer Romantik und antichauvinistischer Taktik: Heuss’ Engagement für die Auslandsdeutschen und der »Flaggenstreit« - Eine Freundschaft von politischer Brisanz: Heuss und der Reichswehrminister Otto Gessler - Eine unüberwindliche Aversion: Heuss und der Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster - Völkerbund und Paneuropa-Union: Politische Luftschlösser? - Zonen des Schweigens in der Flut der Worte - Das Dilemma des Anstands in der Wirtschaft oder: Wie dachte Heuss über Inflation und Deflation? - Eine Lebensfreundschaft bei »ganz verschiedenen Temperamenten«: Heuss und Gustav Stolper - Warum wurde die DDP nicht zur Partei der Frauen – und warum ging Heuss nicht dabei voran? Und welche Rolle spielten dabei Elly Heuss-Knapp und Gertrud Bäumer? - Der größte Kampf in der 1920er Jahren: Heuss in vorderster Front für das Gesetz gegen »Schund und Schmutz« - Wo bleibt die Wiedervereinigung der Liberalen? Und warum stattdessen die »Deutsche Staatspartei«? - Heuss und Hindenburg - Ein Proto-Heuss: Willy Hellpach als demokratischer Gegenkandidat Hindenburgs und als politischer Prophet - Die Frage nach den Gründen des NS-Aufstiegs: Erneut zwei Logiken der historischen Kausalität - Eine gewisse Begabung zur Hellsicht gegenüber der NS-Gefahr - »Hitlers Weg« – wohin? - Ironie und historische Analogie im Blick auf die Adressaten von »Hitlers Weg« - Heuss’ Weg zum Ermächtigungsgesetz - Noch zwei historische Analogien: Wartburgfest und Hambacher Fest
4 Unter der NS-Diktatur: Kreativer Rückzug auf sich selbst
Zeittafel - »Das Leben ist ziemlich eingeschrumpft« - Heuss’ Kunst der Balance gewinnt Format - Erfahrung des »Dual State«: Fühler zum NS-Apparat - Heuss’sche Toleranzen und Toleranzgrenzen: Wilhelm Stapel, Paul Schmitthenner und Carl Schmitt - Zum Vergleich: Gertrud Bäumer und der Drang zum Dabeisein - »Den ganzen Kopf voll mit Reklame«: «Ellys große Zeit« als Krisenmanagerin - Vorneweg auch in der Erinnerungspolitik: Elly Heuss-Knapps »Ausblick vom Münsterturm« - Eine elsässische Konnexion mit einem verhinderten Proto-Hitler - Die Heussens und die Stolpers: Eine Freundschaft wird transatlantisch - Das andere Deutschland trifft die anderen USA - Die große Naumann-Biographie: die lange Abarbeitung am geistigen Vater - Konkurrierende Naumann-Erinnerungen: Noch einmal Heuss und Gertrud Bäumer - Im Mittelpunkt der imaginären Naumann-Gemeinde - Wiederbelebung von Werkbund-Erinnerungen: Das »Lebensbild« des Architekten Hans Poelzig - »Unheimlich nahe an die Naturwissenschaften heran«: Die Biographie des Meeresbiologen Anton Dohrn - An der Schwelle zur Ökologie - Heuss und Margret Boveri: Der Beginn einer gereizten Freundschaft - Lob des Mischwalds; Heuss und das Holz - Die Leidenschaft in den Naturwissenschaften: Heuss als Liebig-Biograph - Die Biographie des Bosch-Zünders und die Bestimmung eines deutschen Erfolgspfads in der Technik - Eine gefährliche Beziehung: Bosch, Goerdeler und Heuss - Rehabilitation der Bastelei gegenüber der Theorie in der Technik - Der kritische Punkt: Der Streik von 1913 und das »Bosch-Tempo« - Kriegsaussichten - Zuflucht zur Geschichte: Ein Wohlgefühl als »Allerweltshistoriker« - Ein neues Selbstgefühl als überlebender Zeitzeuge - Ein Fenster in NS-Abgründe: Die Berichte des Sohnes - »Schmale Wege«: Ein erster Versuch der Vergangenheitsbewältigung durch Elly - Das Problem der «anständigen Elemente« im NS-System und der Fall Martin Sandberger
5 Heuss’ historische Stunde: Schwächen verwandeln sich in Stärke
Zeittafel - Vom Rand ins Zentrum des Geschehens: Die schlagartige Expansion der Heuss-Welt und der Ansturm neuer Möglichkeiten - Wie kam es zum großen Sprung? Heuss, die Amerikaner und die Emigranten - Eine zeitgemäße Art von bürgerlicher Lebenskunst - Gegen das Vergessen, und doch: Die ewigen Reizthemen »Entnazifizierung« und Ermächtigungsgesetz; und noch einmal Kurt Hiller - Mitherausgeber der »Rhein-Neckar-Zeitung«: Eine Vorübung in Überparteilichkeit - »Leben wir noch?« Liberale Wiederbelebungsversuche und Heuss’sche Entkrampfungskünste - »Kein Entrinnen aus dem deutschen Gesamtschicksal?« Die Kluft zwischen Ost und West bricht auf – Heuss bricht mit Wilhelm Külz - Verleidung des Liberalismusbegriffs - Heuss’ persönliche Westorientierung: Scharfe »Weltluft« in den Hochalpen und die verworrene »deutsche Wirklichkeit« - 1948–1848: Vom historischen Allotria zur gezielten Geschichtspolitik - »Zünglein an der Waage« im Parlamentarischen Rat: Heuss und die Erfindung der Bundesrepublik Deutschland - 1. Gegen die Betonung des Provisorischen - 2. Für eine starke Bundeskompetenz - 3. Christliche Erziehung ohne konfessionelle Regelschule - 4. Gegen die schwarze Legende vom Proporzwahlrecht - 5. »Cave Canem«: Warnung vor dem Plebiszit – Abschied vom Mythos »Volk« - 6. »Es darf hier in diesem Hause keiner besiegt worden sein«: Konsensorientierter Debattierstil – Kontroverse mit Dolf Sternberger - »Aber wenn in der Welt kein Humor mehr vorhanden ist, dann lohnt sich die Welt nicht mehr.« Heuss und Carlo Schmid: Wilhelm-Busch- und Homer-Humor - Und wieder die Gereiztheit des Zivilisten gegen die Pazifisten - Auf dem Weg ins Präsidentenamt; Heuss und die Debatten über die Kompetenzen des künftigen Bundespräsidenten - Mysterium oder Banalität? Die Genese der Allianz Adenauer – Heuss - Ein Hauch von Charisma: Von »Wie soll ich Dich empfangen?« zu»Großer Gott, wir loben Dich« – und zum »Mut zur Liebe«
6 Entkrampfung der Deutschen – Veralltäglichung des Heuss’schen Charismas
Zeittafel 1950–1963
6.1 Hymnenschöpfer oder »Hüter der Verfassung«? Ein fehlerfreundlicher Bundespräsident auf der Suche nach dem Präsidentenprofil
Die Gefahr präsidialer Langeweile inmitten von Hektik, und: Die Präsidentenmacht als Funktion der Kanzlernerven - Junggesellenwirtschaft mit Bott: Bremsversuche gegenüber einer Bürokratisierung des Präsidialamtes - »Das Mögliche aus dem Amt herausholen«: Aber was? - Der Hymnenstreit, oder: Ein Ironiker verfällt in unfreiwillige Komik - Heuss, Hesse und Hebel, der »Homer aus dem Wiesental«: Eine verhaltene Romantik - Ein Versuch zum Einklang mit der SPD scheitert an Schumachers Schwabenspott - Trotz Koeppens »Treibhaus«: Die Unschlagbarkeit der Heuss’schen Popularität - Hüter der Verfassung, Kanzlermarionette oder zaudernder Zauberlehrling? Heuss’ Gang nach Karlsruhe und zurück - Heuss’ peinlichste politische Beziehungskrise: Der Bruch mit Dehler - »Was ist Qualität?« Der schwer zu fassende »Stil« und das erlösende Wort »Entkrampfung« - Auf vermintem Gelände, aber »mit Selbstironie und begrenzter Bosheit«: Der »geheime Bundeskultusminister« und die Grabenkämpfe um die Moderne in der Kunst - Mit Blick auf das Atomium: Verdrossen in Brüssel – Heuss in der Kontroverse um den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung von 1958 - Ein Kuss für den Kernspalter: Eine Männerliebe besonderer Art in der Ära der Atomeuphorie - Wissenschaftspolitik als Politik der Sparsamkeit - Als Architekt einer neudeutschen Walhalla: Neuerfindung der »großen Deutschen«
6.2 Heuss und Adenauer: Yin und Yang – Ein Stil des Understatement als Gegengewicht zur »Politik der Stärke«
Ein klassischer Kontrast, doch mit querschießenden Momenten - Ironie, Krisenstrategie und Ökologie à la Adenauer und Heuss - Der Fall Edgar Alexander: Ärger mit einer Adenauer-Apotheose, und zugleich ein Reizthema in der Beziehung zu Toni Stolper - »Kein Dreck ohne Jäckh«: Der »Weichensteller« wird zum Wolkenschieber - Ein weltläufiger Lehrmeister der politischen Ernüchterung: Moritz Julius Bonn - Verlockende Dritte-Welt-Perspektiven - Nasser, Hitler und die Makkabäer: Historische Assoziationen in der Suezkrise von 1956 - Außenpolitische Schwachstellen als Chance für den Bundespräsidenten: mit Reiserei, dabei nicht ohne Risiko - Die Streitfrage der alten Seilschaften im Auswärtigen Amt - Die Vereinigung mit der Saar: »von Heuss vollzogen«, doch unter Spaltung der FDP - Heuss’ Gelassenheit als Temperaturregler im Kalten Krieg - »Entkrampfung« auch in den Beziehungen zum Ostblock - Der 17. Juni 1953: »Tag der Deutschen Einheit« oder wilder Streik? - Von der »Entkrampfung« zur »Entspannung«? Die Kontroverse um Kennan zwischen Adenauer und Heuss - »Vertriebene« in Anführungszeichen; ökologische Umfunktionierung der »Heimat« - Koketterie mit dem »Anti-Adenauer-Komplex«: Heuss, Margret Boveri und der Fall Otto John - Ein erstes Göttinger Manifest gegen einen »deutschen McCarthy«: Heuss, Toni Stolper und das Anti-Schlüter-Netzwerk
6.3 Die große Liebe, der doppelte Krach und die unvermeidliche Banalisierung
Mai 1955: »Im Jubel des Blütenregens« - Liebe, Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung - Und die Männerliebe? - Gesellschaftsgeschichte des Präsidentenkörpers: Ein Pendeln zwischen Wirtschaftswunderbürger und »grazilem Intellektuellen« - »Im Briefeschreiben der Genusssucht frönender Routinier«: In der »Produktivität des Behagens« - Dokumente der Bedeutung oder der Bedeutungslosigkeit? Zwiespältige Reaktionen auf die »Tagebuchbriefe« - Heuss als Testfall für Grenzfragen des Politischen - Von der Freundin aus New York: Internationales Insider-Wissen in die »deutsche Klause« des Präsidenten - »Mut zur Liebe« ganz persönlich – doch auch Grauzonen der Lieblosigkeit - Heuss als »gefundenes Fressen« für Adenauer und: »Papa Heuss« als politischer Vatermörder - »Bemerkungen zur Bundespräsidenten-Frage«: Heuss als Mentor der Staatsräson - Schwankende Kurse an der »Bundespräsidenten-Börse« - Zwei konträre Kräche - Missverständnis und Bekenntnis zur »Metapolitik« - Wer ist schon für den Atomtod? Heuss gegen die »Pharisäer« - »Christlich eingekleidete Demagogie« kontra »Hohe Schule für Berufsverbrecher« - Hinter Niemöller die »rabiaten Barthianer« - Das Dilemma der Kontroverse um die Atomwaffen - Die Zweideutigkeit des »Nun siegt mal schön«; Heuss als Netzwerker zwischen den Fronten - In der Spaßgesellschaft: Die Entkrampfung wird banal - »Ich habe ja von so vielen Dingen renommiert«: Koketterie mit der Koketterie - Von der Inklusion zur Exklusion: Das Dilemma der Suche nach der Mensch-zu-Mensch-Kommunikation - Abwimmeln und Kampf gegen Verkitschung als Präsidenten-Alltag - »Emigrantenrede« und neue Horizonte – von Willy Brandt bis Tagore - Der letzte Triumph über Adenauer: Gelassenheit im Loslassen
Egeria, Sarastro und der Sputnik: Die weibliche Seite der Toni-Theodor-Tagebuchbriefe
Anhang
Dank
Anmerkungen
Personenregister
Bildnachweis
»Mein wesenhafter Ehrgeiz ist der, mit mir selber im Reinen zu bleiben. … Und den Deutschen als Gesamterscheinung gegenüber habe ich bei der sachlichen Begrenzung der konkreten Zuständigkeiten als wesenhafte Aufgabe dies unternommen: sie zu ›entkrampfen‹. Einigermaßen ist mir das geglückt, wenn auch freilich für die Parteigrenzkämpfe nur in bedingtem Maße.«
Theodor Heuss am 29. Juni 1951 an Friedrich Dessauer
»Als bei dem Neujahrsempfang 1950 Adenauer eine Ansprache an mich hielt und mir freundlich Elogen machte, wies ich sie zurück und sagte, mein ›Programm‹ für die nächsten Jahre sei mit einem Wort umfasst, nämlich ›Entkrampfung‹. Zum Teil ist mir diese Therapie gelungen, aber ich sehe, dass bei vielen Menschen, wie auch bei Gruppen, eine Verliebtheit in ihre Komplexe besteht, so dass sie sich nach Lockerungen doch wieder in das so interessante Gespaltensein flüchten.«
Theodor Heuss am 18. Mai 1954 an Margret Boveri
»Man darf keinen ›Heuss-Kult‹ etablieren – die Demokratie ist nebenher ein Erziehungs- und Gesinnungsprozess. Ich weiß, dass ich einige angenehme Talente besitze, darunter das für mich wichtigste, dass ich mich nie mit mir gelangweilt habe.«
Theodor Heuss am 3. Januar 1959 an Ludwig Erhard
»Aber Ihre Auffassung, dass ich keine Feinde habe, ist doch zu harmlos. Zum leisen Schrecken meiner nächsten Mitarbeiter führe ich von Zeit zu Zeit gegen rechts oder links eine journalistische Polemik durch, was die Herren des Bundespräsidialamtes eigentlich ›unter meiner Würde‹ finden; aber als alter Journalist lasse ich mir nichts, und vor allem keine Fälschungen gefallen.«
Theodor Heuss am 12. Februar 1959 an Karl Loewenstein
HEUSS-REIZE UND HEUSS-RÄTSEL: »REGULIERTE TAKTLOSIGKEIT« UND »THEOS KLEINE NACHTMUSIK«. Als Zehnjähriger bekam ich mit, wie Theodor Heuss als spitzbübischer Bundespräsident zum Star unserer Familiensaga wurde. Das kam so: An der Universität Frankfurt, wo mein Onkel Helmut Koch frischgebackener Professor für Betriebswirtschaftslehre war, wurde ein internationales Studentenheim eingeweiht, und Heuss hatte zugesagt, auf dem Festakt zu reden. Sonst pflegte er Einladungen von lediglich lokaler Bedeutung abzuwimmeln, aber der Bau eines solchen Studentenheims besaß für ihn damals Signalwirkung. Denn es war eines seiner Lieblingsziele als Präsident, das Studentenwesen aus dem Dunstkreis der Korporationshäuser und ihrer Prügel-Ehre heraus ins Freie zu befördern.
Schon dies ein Grund, Heuss nicht ewig in der Schublade »Restauration« zu verstauen! Dieser Bundespräsident, der historische Anekdoten wie Kaninchen aus dem Zylinder zauberte, war ein neuer Typ in der deutschen Politik. Doch zurück nach Frankfurt 1953. Die Ergüsse der Heuss’schen Vorredner, der Honoratioren der Universität, wurden lang und länger. Schließlich verlor er die Geduld, verließ das Podium, setzte sich in eine Ecke zu den jungen Dozenten neben meine Tante, eine Schönheit der 1950er Jahre, ließ ihr und sich einen Schoppen Wein kommen, zündete sich eine seiner geliebten Zigarren an – all das zur Begeisterung seiner Umgebung und der Presseleute – und begann zu plaudern, wobei sich seine Augen lustvoll zu Schlitzen verengten, wie überhaupt die präsidiale Heuss-Ikone eine gewisse Ähnlichkeit mit der späteren Mao-Ikone aufweist. Natürlich hielt er am Ende doch noch eine anständige Rede, die im Regierungsbulletin den Titel bekam: »Die Freiheit kann auch eine konservative Aufgabe sein.«1
Nicht ohne Grund trumpfte Heuss 1960 gegenüber seiner Altersliebe Toni Stolper auf: »Ich rühme mich ja, der Erfinder der ›regulierten Taktlosigkeit‹ zu sein.«2 1955 hatte er ihr über eine gerade an der Universität München gehaltene Rede über Stilfragen der Demokratie geschrieben: »Die jokose Art des Anfangs war dazu bestimmt, das Pathos wegzuschwemmen, das der Rektor und der Dekan produziert hatten.«3 Statt Demokratie neu zu definieren, führte er vor, was für ihn demokratischer Stil im Alltag bedeutet.
Kein Wunder, dass meine Tante Heuss fortan liebte – in jenem weiten Sinne, den das Wort »Liebe« im Heuss’schen Freundschaftsvokabular besaß. Und doch hatte sie sich vorher wie so viele deutsche Zeitgenossen ausgeschüttet vor Lachen über »Theos Kleine Nachtmusik«: jene von Rudolf Alexander Schröder ausgedachte »Hymne an Deutschland«, die Heuss in seinen ersten Präsidentenjahren verbissen und unbelehrbar als neue Nationalhymne durchzusetzen versuchte. Neben dem Engagement des Weimarer Reichstagsabgeordneten Heuss für das »Schund-und-Schmutz«-Gesetz, mit dem Heuss sich viele Freunde verdarb, ist für Heuss-Bewunderer bis heute nichts so rätselhaft geblieben wie sein gereizter Kampf für die neue Nationalhymne.
Allzu leicht wird man durch vieles, was von und über Heuss geschrieben wurde, zur Identifikation mit ihm verführt, schon gar, wenn man sich durch seine charmant-unterhaltsamen Memoiren in die Heuss-Welt locken lässt; da ist das Nationalhymnen-Intermezzo ein Warnsignal. Es führt vor Augen: Auch Heuss hätte zur lächerlichen Figur werden können, wie es seinem Nachfolger Lübke widerfuhr. Man wird noch sehen, wie er sich als Bundespräsident manchen politischen Eigensinn von Adenauer austreiben ließ; das blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen und hat dem bundesdeutschen Präsidentenamt bis heute etwas Unsicheres gegeben.
WIE GEWINNEN BUNDESPRÄSIDENTEN IM KOLLEKTIVGEDÄCHTNIS GESTALT? Ende 2008 erhielt ich Gelegenheit zu einem Heuss-Gespräch mit dem damals amtierenden Bundespräsidenten Horst Köhler, dem Genius loci zuliebe in der Bonner Villa Hammerschmidt. Ich begann das Gespräch mit der Bemerkung, dass ich gerade aus dem Haus der Geschichte käme und mir nur schwer erklären könne, dass ich im dortigen Buchladen keinen einzigen Titel über Heuss gefunden hatte, den populärsten deutschen Politiker seiner Zeit. Köhler erwiderte nicht ohne Resignation, das sei wohl das Schicksal der Bundespräsidenten, dass von ihnen nur Punktuelles, nur losgelöste Fetzen mit bestimmten Effekten im Gedächtnis haften blieben – »Meine Damen und Herren, liebe Neger« von Lübke, Weizsäckers Berliner Rede.
Das wirft ein Licht auf ein Grundproblem: Mit konventionellen Kategorien der Politikgeschichte ist die Bedeutung von Bundespräsidenten nicht zu fassen. Da gerät man in Verlegenheit durch die Frage, was Heuss eigentlich konkret getan habe, außer der Wiedereinführung von Orden und diesem und jenem Klimbim. Bislang haftete die Heuss-Erinnerung noch am ehesten an einzelnen Sätzen: die ernsthafte Erinnerung an die Ersetzung der »Kollektivschuld« durch die »Kollektivscham« – bei geschickten Wortschöpfungen war Heuss in der Tat ganz in seinem Element – oder die humoristische an den Heuss’schen Ausrutscher gegenüber den bei Boppard ins Manöver ziehenden Rekruten »Nun siegt mal schön!« Die wirkliche Bedeutung dieses Bundespräsidenten für die deutsche Geschichte ist am wenigsten aus seinen verfassungsrechtlichen Kompetenzen herzuleiten.
Den unmittelbaren Anstoß zu dem Heuss-Vorhaben gab meine Arbeit an der Biographie Max Webers. Als das Register des Buches vorlag, staunte ich, Heuss dort nicht weniger als 20 Mal zitiert zu haben. Als ich das Umfeld Max Webers erkundete, war ich über die dürftige Literaturlage zu Heuss überrascht; da reizte mich die Idee, mich von jenem leidenschaftlichen Denker bei dem – wie es scheint – Mann ohne Leidenschaften zu erholen.
Wenn ich Bekannten von meiner Heuss-Liebhaberei erzählte, kam reflexartig der Hinweis auf dessen Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz. Die hat freilich nicht der Biograph zu verantworten, und Heuss war nicht der Einzige, der den mörderischen Kern der nationalsozialistischen Ideologie nicht erkennen konnte oder wollte.
Aber warum wollte ausgerechnet er – der als Zivilist an keinem Krieg teilgenommen hatte und den man sich nicht mit angelegtem Gewehr vorstellen kann – nahezu als Einziger im Parlamentarischen Rat verhindern, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ins Grundgesetz aufgenommen wurde? Glaubte er nach zwei Weltkriegen wirklich noch, dass der Militärdienst die Basis von »Demokratie als Lebensform« ist? Damit Heuss Denkanstöße gibt, muss man ihn selber stoßen. Man darf sich nicht gar zu sehr daran gewöhnen, sich verständnisinnig in ihn einzufühlen, sondern er verträgt es auch, wenn man an ihn mit zupackenden Fragen herangeht.
WO IST IN DIESEM LEBEN DIE LINIE? Schon Heuss selbst fiel es schwer genug – sofern ihm das überhaupt wichtig war –, in seinem Leben irgendeine Kohärenz und Entwicklungslogik zu erkennen. Aber gibt es vielleicht in Heuss’ Leben bis kurz vor 1949 gar Linie zu erkennen? Der Biograph muss der Versuchung widerstehen, die Bedeutung des Bundespräsidenten in den Heuss der Weimarer Republik zurückzuprojizieren: Merkwürdig ist eben, dass Heuss, obwohl in jungen Jahren ein Schnellstarter und zeitlebens ein Schnellschreiber, vielseitig begabt, von gewinnendem Wesen, physisch-psychisch robust, ungeheuer fleißig und – um im heutigen Jargon zu reden – »voll vernetzt«, die längste Zeit seines Lebens nie so recht vorankam – weder als Politiker noch als Publizist. Um 1919 konnte man ihn für den kommenden Mann der Demokraten halten, aber nüchtern besehen bestand seine politische Laufbahn während der gesamten Weimarer Zeit aus einem Fehlstart nach dem anderen, bis sie 1933 scheinbar an ihr Ende kam. Nach 1949 überschlugen sich mehr und mehr Publizisten in Huldigungen an den Bundespräsidenten, wobei sie sein unverwechselbares Wesen genau zu kennen glaubten. Aber man suche in der Literatur vor 1949 nach markanten Schilderungen der Heuss’schen Persönlichkeit: Da erlebt man eine Fehlanzeige nach der anderen. Müsste Heuss nicht wenigstens in den 1924 veröffentlichten Briefen und Aufzeichnungen seines schwäbischen Parteifreundes Conrad Haußmann ausgiebig vorkommen, mit dem er eng zusammenarbeitete? Nichts davon!4 Oder in den umfangreichen, 1931 publizierten Memoiren seines akademischen Lehrers Lujo Brentano, mit dem Heuss dazu über Naumann und über die Familie seiner Frau verbunden war? Nicht ein einziges Mal wird er dort erwähnt.5 Nicht besser steht es mit den Memoiren der ihm bestens bekannten Gertrud Bäumer, die 1933 erschienen6: zu einem Zeitpunkt, als sie und Heuss allen Grund hatten zusammenzuhalten. Als er jedoch zum Bundespräsidenten gewählt worden war, wollte diese Frau seine Biographie schreiben: eine für ihn »geradezu erschreckende Vorstellung«!7
CHARISMA UND KAIRÓS. Vor diesem Hintergrund scheint der Kern der Heuss-Historie darin zu bestehen, dass sich jene zersplitterte Vielseitigkeit und Schwerentschiedenheit, die bis dahin Heuss’ ewiges Handicap gewesen war, nach der Wahl zum Bundespräsidenten mit einem Schlage in einen Trumpf verwandelte: in weise Überparteilichkeit, die Verbissenheiten zu entkrampfen half. So verstanden besitzt die gloriose Pointe, die das Heuss’sche Leben schließlich doch fand, etwas Tröstliches: Man soll die Hoffnung nie aufgeben, dass sich eigene Schwächen durch überraschende Konstellationen in Stärken verwandeln! Und es mag als Memento dienen, dass auch eine gewisse Unentschiedenheit eine Tugend sein kann – in der Politik wie im Leben –, zumindest in unübersichtlichen Situationen und über eine gewisse Strecke hinweg.
Nicht so sehr als prima causa der Geschehnisse, sondern mehr noch als Medium seiner Zeit ist Heuss von historischem Interesse. Seine Briefe und Essays bieten ein wahres Kaleidoskop deutscher Geschichte von der wilhelminischen Ära bis zur Ära Adenauer, das von der Politik einschließlich sozialer und ökonomischer Fragen bis zur Kunst, Literatur, Architektur, ja selbst zur Technik reicht. Von seinem Mentor Friedrich Naumann, dem er seine »wichtigste literarische Arbeit« widmete, bemerkte Heuss, dass »alle Zeitprobleme durch den Mann hindurchgehen«8: Auch dadurch, nicht nur als großer Akteur, gewinnt man Bedeutung; an einem solchen Punkt erkennt man, wie Heuss sich selbst in seinem einstigen Vorbild spiegelt und von ihm Selbstbewusstsein bezieht. Wie kaum ein anderer Politiker filterte Heuss unablässig eine Fülle von Zeitströmungen.
ZWISCHEN HISTORISIERUNG UND AKTUALISIERUNG: NEUE SICHTWEISEN IN EINER GESCHICHTE DER MÖGLICHKEITEN. Man kann es nicht leugnen: Heuss-Studien verführen zur Nostalgie und zu einer Sehnsucht nach einem bundesdeutschen back to the roots. Dieses Heuss’sche In-sich-Ruhen, diese vielfältige und feine Bildung, dieses Stilgefühl, diese Zurückhaltung mit großen Worten und knalligen Effekten, diese lässige Nüchternheit, versetzt mit einem zarten Hauch von Romantik! Obwohl von Hause aus ebenso sehr Journalist wie Politiker, legte er als Bundespräsident sein öffentliches Auftreten nur in sehr verhaltener (dafür umso wirksamerer) Weise auf Medieneffekte an; eher verkörperte er jene Kultur des Understatement, die zur Klugheit der frühen Bundesrepublik gehört. Dazu dieser unermüdliche Fleiß bis in seine letzten Jahre; die schwäbische Sparsamkeit und Korrektheit noch als Bundespräsident eines »Wirtschaftswunder«-Landes; die Zurückhaltung mit Protektion trotz seiner weit verzweigten Freundeskreise; dieses Festhalten an eigener Authentizität, indem er noch als Präsident seine vielen Reden selber verfasste! Obwohl sich die Medienleute um diesen Präsidenten rissen, suchte er doch stets den Kontakt von Mensch zu Mensch; nicht zuletzt aus diesem Grund noch als Präsident diese Briefeschreiberei von früh bis spät.
Das Beste von dem, was Heuss zeitlebens vorlebte, ist vielleicht seine Fähigkeit, Politik nicht als »schmutziges Geschäft«, sondern als stets anregende, ja vergnügliche Angelegenheit zu erfahren, selbst in den Jahren der Weimarer Republik, die ihm immer neue Enttäuschungen bescherte. Wie es scheint, ertrug er seine Niederlagen mit einer gewissen Gelassenheit (wenn wohl auch nicht ganz so, wie er nach außen zeigte); er verachtete Leute, die sich vom »Ressentiment« beherrschen ließen und einen Dauerzustand der Gekränktheit und Gereiztheit kultivierten. Die Manier, mit viel zu hohen Erwartungen in die Politik zu gehen und sich hernach wehleidig in bitterer Enttäuschung zu ergehen, lag ihm ganz fern.
Beim Herumlesen in der Heuss-Literatur muss man Distanz halten zu jener subtil höfischen Atmosphäre, die um die Villa Hammerschmidt den Stil bestimmte. Eine frühe Biographin schwärmt über Heuss: Es sei, »als habe ein unsichtbarer Gott ihn uns geschickt, um Verzeihung zu erbitten, dass er Deutschland in den Jahren davor von einem Teufel habe regieren und unterdrücken lassen«.9 Heuss selbst hätte sich über eine derartige Apotheose geschüttelt; aber sie erinnert daran, welche Blüten der Heuss-Kult treiben konnte – und wie den Nachfolgenden auf solche Art die Erinnerung an ihn verleidet werden konnte. Wenn man sich intensiv mit Heuss’ Umfeld beschäftigt und immer wieder auf die vielen Arabesken und Floskeln in dem Wust der Briefe stößt, droht die Laune zu kippen. Merkwürdig: Kaum je in letzter Zeit konnte ich mich so lebhaft wie bei den Heuss-Recherchen wieder in jene Stimmung zurückversetzen, die meine Intellektuellengeneration in die Rebellion von 1968 führte.
Jene Revolte hat sich mit Vorliebe als Vater-Sohn-Konflikt inszeniert: Das war ein klassisches Muster, das in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Aber genau besehen existierten die autoritären Nazi-Väter oftmals gar nicht (so auch bei mir nicht). Nicht so sehr unbelehrbare Altnazis waren, wie es scheint, in vielen Fällen der Grund des Aufbegehrens, sondern eher Tanten oder Großtanten, die auf ihre eigene Art den NS-Horror bewältigt hatten – mit Goethe, Kultur, Dezenz und gemütlich ausstaffierter Privatwelt. Keine harte Autorität war oftmals die Herausforderung, sondern eher das, was Herbert Marcuse »repressive Toleranz« nannte: ein herablassender Humor, an dem Unpassendes abglitt und der keine Angriffsfläche bot, an der sich Jugendliche kräftig hätten reiben können. Da gab es nicht »richtig« und »falsch«, sondern »reif« und »unreif«, »seriös« und »unseriös«, »anständig« und »albern«, guten und schlechten Stil. Es kam mehr auf einen gewissen gepflegten Bildungshabitus an als auf die geistige Substanz: Auch das gehört zur Breitenwirkung der Heuss-Welt in jener Zeit!
Die Heuss-Generation, soweit sie nach 1945 noch bei Kräften und nicht offenkundig durch Mittäterschaft bei NS-Verbrechen diskreditiert war, erlangte eine Chance wie kaum eine andere ältere Generation vor ihr: In einem Lebensalter, wo man normalerweise durch die nachrückende Generation aufs Altenteil abgedrängt wird, war diese jüngere Generation stärkstens dezimiert, desorientiert, disqualifiziert, lückenhaft gebildet – für die Älteren eine einzigartige Gelegenheit, erneut zum Mittelpunkt zu werden und eine überlegene Selbstgefälligkeit auszubilden! Was bei Heuss selbst bei allem Triumph verhalten blieb, konnte bei Heuss-Verehrern, die sich von diesem Habitus anstecken ließen, penetrant wirken. So verschwand die Heuss-Welt am Ende aus dem kollektiven Gedächtnis der Jüngeren. Heuss-Bücher, in denen ich heute mit Vergnügen lese, wirkten auf mich in meiner Jugend antiquiert: »Lust der Augen« oder »Von Ort zu Ort«, die auf allen Geschenktischen herumlagen oder die sich in allen großen Buchhandlungen breitmachenden »Großen Deutschen«, jene voluminöse Neukonstruktion eines geistig bedeutenden Deutschlands, auf die Heuss als Bundespräsident so viel Zeit und Kraft verwandte – trotz meiner Leidenschaft für die Geschichte wäre ich nie auf die Idee gekommen, in solche Bücher auch nur einen Blick zu werfen!
Obwohl er zur Weitschweifigkeit neigte, besaß Heuss eine ausgeprägte Fähigkeit, Gedanken abzuwimmeln, die ihm nicht passten. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund muss man seine »Entkrampfung der Deutschen« verstehen. Mit der »Entkrampfung« vermied er den Begriff »Entspannung«, der in den 1950er Jahren zum Schlagwort gegen die Kalten Krieger wurde, mit dem er jedoch den Groll Adenauers riskiert hätte. Dabei verstand er die wachsende Sehnsucht nach Entspannung nur zu gut. Liest man sein Bekenntnis zur »Entkrampfung«, das als Motto vorangestellt wurde, in seinem Brief an die kritische Margret Boveri 1954 im Kontext, erkennt man, dass er mit diesem Begriff auch die Erwartung eines konkreten Programms abwehrte. Es war seine Art, aus der diffusen und wenig griffigen Kompetenz des Präsidentenamtes etwas zu machen.
Heuss schrieb als Bundespräsident in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Max Webers politischen Schriften – auf nur wenige andere Texte verwandte er als Präsident so viel Mühe –, diese Schriften seien »Beiträge zu einer Geschichte deutscher Möglichkeiten«.10 Und diese Bemerkung enthielt wie so vieles, was er über andere schrieb, zugleich ein Stück Bespiegelung seiner selbst. Am 7. Dezember 1944 schrieb er an den Architekten Paul Schmitthenner: »Ob auf mich je noch eine Aufgabe von gemäßem Sinn wartet, ahne ich nicht. Vielleicht bin ich museumsreif; dann will ich in eine Abteilung der deutschen Möglichkeiten gestellt werden …«11 Ebendarin besteht auch vielleicht der beste historische Erkenntniswert der Heuss-Vita vor 1945, und zwar gerade dann, wenn man sich von der fixen Idee befreit, in dem frühen Heuss sei bereits der künftige Bundespräsident angelegt, vielmehr das Heuss’sche Beziehungsnetz als ein Potential mit einer Mehrzahl von Möglichkeiten begreift. Mehr noch: Diese Biographie spekuliert darauf, dass Heuss’ Lebensgeschichte auch auf künftige Möglichkeiten verweist.
Anmerkungen
1884
Am 31. Januar Geburt von Theodor Heuss in Brackenheim am Neckar als Sohn des Regierungsbaumeisters Ludwig (genannt Louis) Heuss; die Mutter Elisabeth, geb. Gümbel, entstammt einer pfälzischen Försterfamilie
1890
Umzug nach Heilbronn
1899
Heuss’ Vater erkrankt an einem Nervenleiden, muss sich aus diesem Grund pensionieren lassen und begibt sich in Heilstätten; von 1900/1901 an dauerhaft bettlägerig
1902
Abitur; am 31. Juli bei einer feuchtfröhlichen Nachfeier und Rempelei Schulterverletzung (»Luxation«), wegen der Heuss vom Wehrdienst freigestellt wird. Friedrich Naumann: Neudeutsche Wirtschaftspolitik; im Juni schreibt Heuss eine Besprechung des Buches für die »Neckar-Zeitung«: Beginn seiner Förderung durch Ernst Jäckh, den damaligen Chefredakteur der Zeitung. Oktober: erste Begegnung mit Friedrich Naumann beim nationalsozialen Vertretertag in Hannover. Beginn des Studiums der Neuphilologie und Nationalökonomie an der Universität München
1903
Bekanntschaft mit Lulu von Strauß und Torney. 30. Mai: Tod des Vaters im Alter von 50 Jahren in der Heilanstalt Winnenthal (Heuss’ Mutter lebt noch bis 1921). 30. August: Auflösung des Nationalsozialen Vereins nach der Niederlage in den Reichstagswahlen; Naumann schließt sich der von Theodor Barth geführten Freisinnigen Vereinigung an
1903/04
Zweisemestriges Studium in Berlin
1905
Abschluss des Studiums der Nationalökonomie mit einer Dissertation zum Thema »Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar« bei Lujo Brentano. Redakteur von Naumanns Wochenzeitschrift »Die Hilfe« in Berlin; zunächst Leitung des literarischen Teils. Oktober: Erste Begegnung mit Elly Knapp »an einem Abend bei Naumann«
1906
April: Deutsche Heimarbeitsausstellung in Berlin mit weiter Resonanz: für Elly Knapp damals »der Mittelpunkt der Welt«; auch Heuss schreibt dazu in der »Süddeutschen Arbeiterzeitung«. Mai/Juni: Reise nach Paris; dort Treffen mit Wilhelm Hausenstein. September: Besuch der Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden. November/Dezember: Erfolgreicher Landtagswahlkampf für Ludwig Bauer in Urach
1907
Januar/Februar: Erfolgreicher Reichstagswahlkampf für Friedrich Naumann in Heilbronn. Übernahme des politischen Teils von Naumanns »Hilfe«. April: Verlobung mit Elly Knapp (geb. 1881), der Tochter von Georg Friedrich Knapp, Professor der Nationalökonomie an der Universität Straßburg. Juli: Reise nach Belgien und Holland. 5./6. Oktober: Gründung des Deutschen Werkbundes in München unter Beteiligung Naumanns
1908
11. April: Hochzeit mit Elly Knapp in Straßburg (Trauung durch Albert Schweitzer)
1909
Heuss in den Vorstand des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller gewählt (bis 1912)
1909
April: Reise mit Elly in die Toskana
1910
6. März: Zusammenschluss der Freisinnigen Vereinigung mit der von Eugen Richter geführten Freisinnigen Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei unter Teilnahme Naumanns. Mai: Besuch der Weltausstellung in Brüssel. 5. August: Geburt des Sohnes Ernst Ludwig
1911
Juli: Reise mit Elly nach England
1912
Januar: Erfolgloser Reichstagswahlkampf für Naumann in Heilbronn. April: Chefredakteur der »Neckar-Zeitung« in Heilbronn (bis 1917) als Nachfolger von Ernst Jäckh. August/September: Reise nach Norditalien. November: Erfolglose Kandidatur in Backnang für den württembergischen Landtag
1913
Schriftleiter der Kulturzeitschrift »März« (bis 1917)
1914
Mai: Reise mit Elly nach Rom. 1. August: Ausbruch des Ersten Weltkrieges