Für Eija, in Liebe
Für Caroline, in Dankbarkeit
Und für alle, die in sich einen noch ungelebten Traum haben
Jede Reise hat eine Vorgeschichte – dies ist meine
Oft kann man den Faden einer Vorgeschichte einen weiten Weg zurückverfolgen. Währenddessen eröffnen sich einem dann manchmal Erkenntnisse, die einem helfen, das eigene Leben und Handeln besser zu verstehen, insbesondere dann, wenn der Faden bis in die Kindheit zurückverfolgt werden kann.
Mit der Kindheit ist es aber so eine Sache. Zumindest in meinem Fall. Obwohl ich mich sicher nicht beschweren darf über diese frühe Zeit – Eltern, die es immer gut mit einem meinten und die typischen Verhältnisse einer deutschen Durchschnittsfamilie –, so hatte ich sie doch in die hintersten Ecken meiner Erinnerung verbannt. Wozu auch daran denken?
Ich war erwachsen, und ich war heilfroh darüber. Ich blickte auf eine langjährige, spannende und in den Augen vieler erfolgreiche unternehmerische Tätigkeit als Beraterin für Unternehmen und politische Parteien zurück, mit Fernsehauftritten, Strategiegesprächen und internationalen Wahlkampfanalysen. Ich war beruflich viel unterwegs, verdiente mehr als ausreichend Geld, hatte eine Menge Länder gesehen, traf interessante Menschen, schrieb Bücher und war – vor allem (!) – sehr beschäftigt. Meine Arbeitstage waren lang, die freien Wochenenden wenig an der Zahl. Urlaube fand ich überbewertet, es sei denn, man konnte sie mit einer spannenden Konferenz verbinden. Aber das alles störte mich nicht, hatte ich mir es doch selbst so ausgesucht.
Ich wollte ganz oben mitspielen, mein eigenes Unternehmen haben, und beklagte mich deswegen auch nicht über den Preis, den das kostete. Das fand ich nur fair, schließlich genoss ich ja auch die vielen Vorzüge dieses Lebens ohne finanzielle Schwierigkeiten und voller beruflicher Herausforderungen. Mein Leben war anstrengend, aber toll. Und wenn es einmal nicht toll war, dann biss ich mich eben durch. Wie ein echter Manager eben. Wobei: Den Begriff »Manager« meine ich durchaus weit gefasst. Es gibt viele Arten von Managern: Alle haben Tag für Tag viel zu organisieren, viel Verantwortung und wenig Zeit für sich. Insofern sind auch Mütter, Politiker, Krankenschwestern, Rechtsanwälte etc. in meinen Augen Manager – und ich eine von vielen.
Die Kindheit eines Managers ist meist lange her und verläuft bei jedem Einzelnen sicher immer sehr unterschiedlich, aber die Rahmenbedingungen in der Gegenwart sind oft ähnlich. Sie zeigen ein immer größer werdendes Ungleichgewicht zwischen Input und Output.
Die Gleichung: »Je mehr man gibt, desto mehr erhält man zurück«, geht irgendwann einfach nicht mehr auf. Im Gegenteil: Eine vage Leere und das Gefühl, dass etwas falsch läuft, nicht nur bei einem selbst, sondern in unserer gesamten Gesellschaft, klopft in stets kürzer werdenden Abständen an die Tür des eigenen Bewusstseins. Im Alltag dreht sich währenddessen das Hamsterrad weiter. Der äußere Druck steigt, die Zufriedenheit nimmt ab, und man sagt sich immer öfter, man muss doch dankbar dafür sein, wie gut es einem im Vergleich zu anderen geht.
Auch die Leichtigkeit, mit der früher Dinge angestoßen und umgesetzt wurden, schwindet. Zwischen stetigem Zeit- und Termindruck, steigender Komplexität im Umfeld, zunehmender Fremdbestimmtheit und einem hohen Investment von Energie schleicht sich die leise Frage nach der eigenen Führung ein: Wer hat hier eigentlich die Zügel in der Hand? Sitze ich eigentlich im Sattel meines Lebens oder reitet mein Leben mich?
Bei mir sah es genau so aus. Ich war ständig beschäftigt, aber nur selten befriedigt. Hinzu kam, dass mich, wie in einem schleichenden Prozess, viele Dinge deutlich weniger befriedigten, als es früher der Fall gewesen war. Vielleicht hatte ich mich ganz einfach an die Dinge gewöhnt, die mir früher so wichtig gewesen waren und die ich nun aber in meinem Leben versammelt hatte. Ein tolles Auto, Statussymbole, Erfolg.
Und vielleicht war es ebendiese unterschwellig vorhandene Unzufriedenheit, dieses Fehlens von etwas Wichtigem, das mich im Kopf wieder offen werden ließ für neue Möglichkeiten und Herausforderungen jenseits alter Muster. Neue Chancen, die meinem Leben mehr Tiefe geben konnten. Und natürlich Sinn. Denn den suchen wir alle irgendwie in dem, was wir tun, oder?
Natürlich betrieb ich diese Suche nicht aktiv. Dazu hatte ich gar keine Zeit. Meine Tage waren dank Assistentin, Blackberry und vieler verschiedener Verantwortungen auch außerhalb meiner Beraterfirma bis in den kleinsten Winkel des Tages durchgetaktet. Dennoch gab es da ein Gefühl notwendiger Veränderung in mir, dem ich zwar nicht bewusst nachging, aber es auch nicht vor mir selbst verleugnete.
Und dann half mir das Leben. Denn unser Leben ist nichts anderes als eine Reise, die, ob man es plant oder nicht, immer wieder ganz unerwartete Perspektiven für jeden von uns bereithält. Und wenn diese Möglichkeiten kommen und man sie erkennt, muss man nur noch zugreifen.
Für manche ist dieses Zugreifen einfacher als für andere, aber wer es tut, wird für seinen Mut belohnt. In meinem Fall trat die Chance in Person einer jungen Frau auf mich zu. Und an diesem Tag passierte etwas in meinem Erwachsenenleben, was eng mit meiner nahezu vergessenen Kindheit verbunden war.
Ein Kindheitstraum wird neu erweckt
Der Tag, der mein Leben verändern sollte, begann wie so viele Tage des Jahres in Berlin: grau, verregnet, hektisch. Nichts wies darauf hin, dass es ein besonderer Tag werden sollte, ein Tag, an den ich noch heute, viele Monate später, oft und gerne zurückdenke.
Ich war von meiner Wohnung auf dem Weg zum Flughafen, und mein Taxi schob sich durch den schier endlosen Verkehr. Ich tat, was ich immer im Taxi tat: Ich las und beantwortete E-Mails und ärgerte mich über mich selbst, dass mein Magen das fehlende Frühstück in Verbindung mit der großen Portion Kaffee und das Starren in meinen steten Blackberry-Begleiter nicht wirklich gut vertrug.
Schließlich gab ich dem Grollen meines Magens nach, steckte den Blackberry in die Handtasche und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich gleich nach Dublin fliegen würde, um eine spannende Person zu treffen, die ich für ein Buch über erfolgreiche Frauen aus aller Welt porträtieren wollte. In Female Leadership – Die Macht der Frauen wollte ich die Wege von Top-Frauen zum Erfolg nachvollziehen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen durch persönliche Gespräche für andere nutzbar machen. Der Name der Frau, die ich an diesem Tag treffen wollte, war Caroline Casey, eine junge Irin, die mich aufgrund ihrer Lebensgeschichte schon bei der Vorabrecherche sehr beeindruckt hatte. Sie war blind, was sie aber nicht davon abgehalten hatte, eine international anerkannte, soziale Unternehmerin zu werden. Nach einer beeindruckenden Karriere in einer Unternehmensberatung setzt sie sich heute mit ihrer Stiftung »Kanchi« sehr erfolgreich und innovativ für die Integration von Behinderten in normale Jobs in der Wirtschaft ein. Ich freute mich auf das Kennenlernen dieser ungewöhnlichen Frau, das an diesem Tag für elf Uhr vormittags angesetzt war.
Dublin war bei der Ankunft genauso grau und verregnet wie Berlin, der Verkehr auf den Straßen nicht minder hektisch. Das Büro von Caroline Casey lag zentral, und ich schaffte es tatsächlich, um elf Uhr bei ihr zu sein. Punktlandung. Als sie mir dann die Tür zu ihrem Büro öffnete, war ich bass erstaunt: Caroline bewegte sich nicht wie eine blinde Frau. Sie sah auch überhaupt nicht so aus, wie ich mir blinde Menschen vorgestellt hatte. In ihr war eine unglaubliche Energie, das war vom ersten Moment an zu spüren.
Nach der Begrüßung raste sie regelrecht einen langen Gang entlang in Richtung eines Meeting-Raums, riss die Tür zu diesem auf, alles mit einer hohen Selbstsicherheit, als würde sie jeden Millimeter des Raumes kennen. Sie bot mir einen Platz an einem langen Konferenztisch an, danach ein Getränk, alles mit einer enormen Geschwindigkeit. Dass ich das so deutlich registrierte, hatte damit zu tun, dass ich sie mir wohl langsamer und unsicherer in ihren Bewegungen vorgestellt hatte. Sie aber wirkte wie ein Mensch, der ganz normal sehen konnte. Unfassbar. Schlagartig wurde mir klar: Dieses Gespräch wird um ein Vielfaches spannender als jede Darstellung der (beeindruckenden) Fakten ihres Lebens online. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, dass mein eigenes Leben nach diesem Gespräch eine neue Wendung bekommen sollte und ich nicht nur hier war, um Carolines Geschichte zu hören.
Caroline Casey wurde mit einer schweren Augenkrankheit geboren, einer Augenkrankheit, die sie mit den Jahren fast vollkommen blind machte und die vielen anderen Menschen ein Leben als behinderter Mensch vorherbestimmt hätte. Nicht so Caroline. Ihre Eltern bestanden darauf, sie normal aufzuziehen. Ohne Sonderbehandlungen, ohne Blindenschule, ohne Ausflüchte. Im Gegenteil. Ihr Vater forderte seine Tochter immer wieder heraus und brachte ihr von klein auf bei, dass sie nicht blind sei, sondern lediglich anders sehen würde als beispielsweise ihre Mitschülerinnen.
Unternahm er einen Segelausflug mit ihr, verlangte er von ihr, das Boot zurück in den Hafen zu steuern, und in der Schule forderte er Gleichberechtigung für seine Tochter ein. Später setzte er sie im eigenen Unternehmen, einer Druckerei, in dem Bereich ein, in dem man sicher am wenigsten ein nahezu blindes Mädchen im Ferienjob erwartet: in der Qualitätssicherung von Druckerzeugnissen. Insofern dauerte es auch fast achtzehn Jahre, bis Caroline akzeptierte, dass sie bestimmte Dinge nun beim besten Willen nicht tun konnte. Autofahren zum Beispiel. Dies musste ihr allerdings erst ein Amtsarzt in Dublin mitteilen. Denn beantragt hatte sie den Führerschein mit der ihr eigenen Überzeugung, nicht blind zu sein, sondern nur anders zu sehen als andere.
Auch in ihrem weiteren Leben war Caroline nicht gewillt, Rückschritte oder Einbußen hinzunehmen. Sie absolvierte eine Business School und machte Karriere bei einer internationalen Unternehmensberatung. Mit Recht war sie stolz auf die außerordentliche Extraleistung ihres Körpers, mit dem sie nach außen hin ein nahezu normales Leben führte. Bis er eines Tages nicht mehr wollte und ihr dies durch verschiedenste Zeichen und große Schmerzen auch unmissverständlich deutlich machte. So lag es an ihr, eine neue berufliche Herausforderung zu suchen, eine, bei der sie niemandem etwas beweisen musste und doch sie selbst sein konnte. Und ebendiese Herausforderung fand sie dann, und sie wurde der Grund, warum ich Caroline porträtieren wollte: Sie hatte nämlich beschlossen, als erste Frau der Welt auf einem Elefanten durch Indien zu reiten, um auf die Fähigkeiten (nicht die Behinderung!) von blinden Menschen aufmerksam zu machen. Warum wählte sie diesen Weg?
»Warum ein Elefant?«, fragte ich sie.
Die einfache Antwort von ihr: »Weil es mein Kindheitstraum war, wie Mogli aus dem Dschungelbuch auf einem Elefanten zu reiten.«
Nee, ist klar, ein Kindheitstraum, dachte ich leicht ironisch. Was soll einen sonst motivieren, alleine auf einem Elefanten durch Indien zu reiten?
Während ich dieser jungen Frau gegenübersaß, konnte ich kaum fassen, was ich in der letzten Stunde gehört und gesehen hatte. Nicht nur, dass Caroline nicht blind aussah – wahrscheinlich sahen für mich blinde Menschen irgendwie alle wie Stevie Wonder aus, entweder mit Brille oder einem ganz spezifisch abwesenden Gesichts- und Augenausdruck, jedenfalls deutlich erkennbar blind. Sie aber war das Gegenteil davon. Ihre blauen wachen Augen und langen blonden Haare machten sie zu einer außerordentlich attraktiven Frau, die in keinster Weise eingeschränkt wirkte. Sie versprühte auch eine Überzeugungskraft und Power, die ich in vielen Jahren im Umgang mit Managern und Politikern selten erlebt hatte. Und sie sprach von einem Kindheitstraum, den sie als Erwachsene umgesetzt hatte. Wer tut das schon?
Und dann, mir nichts, dir nichts, ohne Ankündigung oder Vorwarnung, wendete sie das Blatt unseres Gesprächs. Völlig unvermittelt und mir direkt in die Augen schauend fragte sie: »Und was war dein Kindheitstraum?«
Ich war perplex, wusste keine Antwort. Aber von irgendwo ganz tief in mir stieg etwas auf. Keine Antwort, aber ein Gefühl. Und ehe ich mich versah, war dieses Gefühl weiter aufgestiegen und war so intensiv, dass es mir, der Geschäftsfrau, Tränen in die Augen trieb. Mir blieb die Luft weg. Was war das denn?
Was da hochstieg, war das tiefe Empfinden einer großen Traurigkeit, und noch ehe ich reagieren konnte, hatte Caroline (obwohl nichts sehend) meine Reaktion mitbekommen. Sie stand wortlos auf und holte Taschentücher. Ich blieb zurück und kämpfte weiter gegen meine Tränen an. Verwirrt, peinlich bewegt, ertappt.
Ich konnte nicht glauben, was gerade passiert war, und erkannte mich selbst nicht wieder. Weinen, gegenüber Fremden? Noch dazu ohne ersichtlichen Grund? Rasend schnell versuchte ich meine Fassung zurückzugewinnen, und als Caroline wieder ins Zimmer trat, war es mir auch gelungen. Aber dennoch: Dass ich so gar keine Antwort auf die Frage wusste, erstaunte mich zutiefst, war es mir doch in den vielen Jahren meines Berufs als Beraterin schon fast zur zweiten Natur geworden, immer eine Antwort parat zu haben. Und nun das.
Nach ihrer Rückkehr gelang es mir, unser Interview auf für mich sichereres Terrain zurückzuführen, und auch Caroline sprach das Thema Kindheitstraum nicht mehr an. Erst beim Abschied, nach einer herzlichen Umarmung, sagte sie: »Versuche, dich an deinen Kindheitstraum zu erinnern. Und wenn du dich wieder erinnern kannst, und der Gedanke daran macht dich glücklich, dann setz ihn um.« Ich versprach es, einmal mehr an diesem Tag perplex, und stieg in mein Taxi zurück zum Flughafen.
Kennen Sie den Moment im Flugzeug, wenn die Maschine die Wolkendecke durchbricht, die Welt unten ganz klein geworden ist und Sie bei meist wunderbarem Licht freie Sicht auf Heerscharen samtener Schäfchenwolken haben?
In diesem Moment bekomme ich immer Abstand zum Trubel der Welt, zu meinen Alltagssorgen und allem, was noch so da unten ist. So auch dieses Mal. Das Gespräch mit Caroline ging mir dennoch nicht aus dem Kopf. Vielleicht, weil ich noch nie in einer so merkwürdigen Situation gewesen war, vielleicht, weil mich meine Reaktion auf die eigentlich einfache Frage so erschreckt hatte.
Wie auch immer, ich dachte zurück an meine Kindheit. Was hatte ich für Träume gehabt? Was war mir wichtig gewesen? Was wollte ich mal werden, wenn ich erwachsen bin? Ich hatte keine Ahnung, nicht mal einen Schimmer, alles war verschüttet und gefühlt ewig weit weg. Aber ich beschloss, darüber nachzudenken. Und siehe da, hoch über den Wolken, noch eine gute Flugstunde von Berlin entfernt, stiegen langsam, erst bruchstückhaft, aber dann ständig klarer einzelne Bilder meiner Kindheit auf.
Langsam, wie bei einer Wiese im Morgennebel, lichteten sich dann auch die letzten Schleier. Und auf einmal sah ich es: das kleine Mädchen, das ich vor gut dreißig Jahren einmal gewesen war. Wie Tausende anderer Mädchen in dem Alter trug ich freche Zöpfe und hatte unzählige Sommersprossen. Wir lebten zu dem Zeitpunkt in Südafrika, weil mein Vater dort beruflich zu tun hatte. Er arbeitete für einen großen deutschen Konzern, der wie viele andere internationale Firmen auch eine Niederlassung in Südafrika hatte. Meine Mutter kümmerte sich zu Hause um alles, auch um meinen älteren Bruder und mich.
Es war eine schöne Zeit. Eine Zeit voll neuer Erlebnisse, wunderbarer Abenteuer, endloser Weite und großartigen Begebenheiten mit den großen und kleinen Tieren Afrikas. Und auf einmal hörte ich innerlich meine eigene Stimme. Mit einer Mischung aus Überzeugung und Stolz verkündete sie eines Abends: »Wenn ich groß bin, werde ich Ranger im Krügerpark.«
Aha. Das Rätsel war gelöst. Das Abenteuer, mein höchstpersönliches Erwachsenen-Abenteuer, das sollte aber erst noch beginnen. Das war mir in diesem Moment jedoch überhaupt nicht klar. Ich war einfach nur beseelt und glücklich in meiner Erinnerung an das kleine neunjährige Mädchen, das ich einmal gewesen war und das davon träumte, Ranger zu werden. Ranger fand ich großartig. Die ewig braun gebrannten Frauen und Männer fuhren mit ihrem Jeep in schicken beigefarbenen Uniformen, auf denen tolle Abzeichen prangten, als engagierte Wildhüter durch die Savanne, stellten gefährliche Wilderer und kümmerten sich um die großen und kleinen Leiden ihrer tierischen Zöglinge. Tagsüber betreuten sie Gäste, die aus fremden Ländern kamen und sich in einem Touristencamp unter Leitung von Rangern aus den unterschiedlichsten Gründen den Tieren Afrikas nähern und die Natur von ihrer schönsten Seite erleben wollten, und abends würden die Ranger dann die abenteuerlichsten Geschichten am Lagerfeuer erzählen, um morgens früh den Fährten der Nacht zu folgen. Aufregend.
So ungefähr stellte ich mir wohl den Beruf eines Rangers vor. Für eine Berufsberatung war ich damals noch zu jung, aber wer weiß, vielleicht hätte man mir diesen Wunsch auf der Basis irgendwelcher kruder Testergebnisse nur versucht auszureden. Ich jedenfalls hegte für die Ranger eine große kindliche Begeisterung. Dieses Herumfahren durch Nationalparks und immer wieder Tieren auf der Spur zu sein. Etwas Schöneres konnte ich mir kaum vorstellen. Ich bin übrigens auch selbst ein großer Tierfreund – solange die Tiere eine gewisse Größe haben. Jeder Hund auf der Straße, jedes Pferd am Zaun und jedes Schaf auf der Weide wird wahrgenommen und im Geiste gestreichelt. Zu Hause ist zudem seit vielen Jahren ein Hund Teil der Familie, und der Grund, warum es nicht mehr Haustiere sind, liegt einzig und allein in meinem zeitaufwendigen, mit vielen Reisen verbundenen Beruf.
Von der Theorie zur Praxis: Träume wollen gelebt werden
Ranger zu werden bedeutete mir als Mädchen also unendlich viel, und ich muss heute noch lächeln, wie felsenfest ich davon überzeugt war, dass es auch passieren würde. Dabei war dieser Wunsch nicht etwa entstanden, weil ich von so bekannten Fernsehserien wie Lassie oder Kimba, der weiße Löwe angesteckt war. Nein, mein Wunsch entstand dort, wo ich die Ranger zum ersten Mal arbeiten sah: Im südafrikanischen Krüger-Nationalpark, mit 20 000 Quadratkilometern eines der größten Wildschutzgebiete der Welt. Dort, inmitten von Elefanten, Löwen, Nashörnern, Giraffen und Zebras, verbrachte ich mit meinen Eltern und meinem älteren Bruder zwei Jahre lang nahezu jede Ferien.
Zu dieser Zeit wohnten wir in Pretoria, dem Regierungssitz Südafrikas, und der Job meines Vaters in dem deutschen Konzern erschien mir im Vergleich zu meinen Tieren im Krügerpark nicht nur total uncool, sondern auch als ein Buch mit sieben unattraktiven Siegeln versehen. Dass ich Jahrzehnte später ebenso einen »echten« Job in der »normalen« Welt machen würde, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Meine Welt war Afrika. Ob Ostern, Weihnachten oder im Sommer, ich zählte immer bereits die Tage bis zur Abreise zu meinen geliebten Tieren. Waren wir im Park angekommen, genoss ich jede Minute in der von den Südafrikanern liebevoll »Busch« genannten Natur.
Aber eines Tages ging die Abreise nicht in den Urlaub, sondern zurück nach Deutschland. Und in einen exakt eingezäunten Vorgarten im Südwesten von München.
Zwischen den nahenden Pubertätsproblemen eines Mädchens mit dem Wunsch nach Freiheit, zwischen Schule, Studium und Beruf verblasste der Traum dann Stück für Stück. So lange, bis ich ihn ganz vergessen hatte und nach Dublin fliegen musste, um mich daran zu erinnern.
Nun war er aber wieder da, mein Kindheitstraum, und obwohl ich mir ziemlich dumm dabei vorkam und ein ziemlich schlechtes Gewissen gegenüber nahezu jedem in meinem Umfeld hatte, entschied ich, diesen Traum mit Leben zu erfüllen. Das war mehr eine Bauch- als eine Kopfentscheidung, und das war auch gut so, denn der Kopf eines Managers findet keine guten Argumente dafür, einem Kindheitstraum zu folgen, geschweige denn die damit verbundene Auszeit auch umzusetzen.
Mein Bauch aber war fest entschlossen und wurde, das half enorm, von seinem familiären Umfeld sehr bestärkt. Jeder redete mir zu: »Du musst das machen, du musst auf deine Gefühle hören! Die Idee ist toll! Mach es endlich!« Wieso endlich? Nun erfuhr ich, dass ich in den Jahren zuvor schon öfter den Wunsch geäußert hätte, Rangerin zu werden, was ich aber keineswegs erinnern konnte. Seltsam. Schließlich argumentierte dann aber doch noch mein Kopf: Immerhin hätte ich Caroline das Versprechen gegeben, ebendies zu tun, falls es sich bei der Erinnerung gut anfühlen würde. Und das tat es. Sogar mehr als das. Das Glücksgefühl in meinem Bauch bei der schieren Erinnerung daran verursachte eine Wärme und ein wohliges Kribbeln, das ich lange nicht mehr gespürt hatte.
Also hieß es handeln. Und das geht schnell, wenn ein Manager erst einmal eine Entscheidung getroffen hat. In kürzester Zeit hatte ich Angebote von Institutionen in Südafrika gefunden, die Ranger-Ausbildungen anboten, und hatte mich auch, ebenfalls gesteuert vom Bauchgefühl, für eine davon entschieden. Da ich über Jahrzehnte gelernt hatte, nach einer Entscheidung konsequent zu agieren, sprich: immer Nägel mit Köpfen zu machen, erschien es mir nur logisch, die gefundene Ausbildung auch umgehend zu buchen und zu bezahlen. Wozu warten? Zeit in meiner damaligen Welt war ein knappes, höchst wertvolles Gut.
Im Nachhinein denke ich, ich hätte mich intensiver und ausführlicher mit der Ranger-Ausbildung beschäftigen können. Hätte mich informieren können, was es genau zu lernen gibt und welche Voraussetzungen hilfreich sind. Andererseits: Hätte ich das gemacht, wer weiß, ob ich mich dann für Ranger-geeignet gehalten hätte. Vermutlich nicht. Ich hätte wahrscheinlich viele gute Argumente gefunden, diese mentale und körperlich anstrengende Power-Ausbildung, noch dazu in einer Fremdsprache, sein zu lassen. Als Frau jenseits der vierzig hätte ich mir sicher andere Herausforderungen suchen können. Hätte, könnte, müsste, sollte. Mein Managerkopf hasst Konjunktive. Das Leben ist ja auch keiner.
Ich buchte – und hatte danach noch ein gutes halbes Jahr Zeit, bis das Abenteuer im Krügerpark (wo auch sonst?) beginnen sollte. Genug Zeit, um fast zu vergessen, wofür ich mich entschieden hatte.
Die Vorboten meines Ausstiegs auf Zeit
Obwohl mein Alltag mich zurückhatte, erschienen ab und zu Vorboten aus Südafrika. Zum Beispiel erhielt ich ein umfangreiches Paket mit Anmeldebestätigung, Fachliteratur (die ich völlig ignorierte und später ungelesen in meinen Koffer schmiss) sowie einer To-do-Liste. Mit Letzterem kannte ich mich besonders gut aus, erstellte ich doch jeden Tag meine eigene und die für etliche Mitarbeiter. Diese To-do-Liste war allerdings anders. Sie enthielt zwar einige Shopping-Artikel (und shoppen tue ich gerne), aber auch Bestätigungen, die ich noch beibringen musste. Zum Beispiel ärztliche Atteste über meine Fitness, über Impfungen und Krankheiten. Zudem verlangte man von mir ein aktuelles Zeugnis, dass ich einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatte. Na toll. Wie lange war mein Führerschein her? Dafür hatte ich doch einen Erste-Hilfe-Kurs belegen müssen. Warum hatte der keine Gültigkeit mehr? Sofort stieg Ärger in mir auf. Woher die Zeit für diesen Papierkram und für diesen Kurs nehmen? Ich war sowieso schon am äußersten Limit meiner zeitlichen Kapazitäten. Dennoch, die Tonalität der Papiere war klar: keine ärztlichen Atteste, kein Ranger-Kurs. Die ersten Zweifel an meinem Vorhaben regten sich in mir.
Diese wurden allerdings deutlich verstärkt, als ich ein Beiblatt meines Info-Pakets entdeckte, welches unterschrieben und zurückgeschickt werden sollte. Es war eine Haftungsabtretung. Ich wurde darauf hingewiesen, dass die Ausbildung in einem offenen, nicht eingezäunten Camp durchgeführt wurde, was mit sich brachte (und auch explizit benannt wurde), dass es zu »einem direkten Zusammentreffen mit gefährlichen Tieren kommen könne«. Zukünftige Möchtegern-Ranger mussten diesen Umstand akzeptieren und unterschreiben, dass ihnen diese Gefahr bewusst ist, beziehungsweise dass sie im Falle eines Falles von Regress- oder sonstigen Forderungen Abstand nehmen würden. Die Zweifel wurden größer. Was würde ich tun, wenn im Camp plötzlich ein Löwe vor mir stehen würde? Ich wusste keine Antwort. Aber ich unterschrieb. Es gab einfach kein Zurück.
Dennoch: Der Gedanke eines »direkten Zusammentreffens« mit einem wilden Tier nagte an mir, und mir gingen Dinge durch den Kopf, denen ich bisher nie Raum in meinem Leben gegeben hatte. Mir wurde bewusst, dass ich während der Ausbildung nicht mehr in der Komfortzone meines sonstigen Lebens sein würde. Dort war nichts sicher. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passierte, war nicht gerade riesengroß, aber sie war auch nicht von der Hand zu weisen. Aber was ist, wenn ich dort krank werde oder mich ein Elefant schwer verletzt? In dem vom Camp aus nächstgelegenen Krankenhaus in der Ortschaft Nelspruit war ich nie gewesen, aber ich wusste, dass ich dort niemals liegen und behandelt werden wollte. Zumal: Krankheit war für mich bisher nie ein Thema gewesen, und in den letzten zwanzig Jahren meiner Karriere war ich überhaupt nur drei Mal krank gewesen. Ich definierte mich und mein Leben über Aktivität, und meine tägliche Herausforderung war es, in die vierundzwanzig Stunden eines Tages so viel wie möglich hineinzupacken.
In Verbindung mit einer möglichen Erkrankung tauchten auf einmal auch Fragen nach dem Tod auf. Ich hatte nie darüber nachgedacht und hielt es irgendwie auch für verfrüht. Dennoch. Die Gefahren in einem Camp mitten im Busch waren ja nun nicht zu unterschätzen. Ich beschloss, ein Testament zu machen. Leichter gedacht als getan. Den Gedanken an meinen eigenen Tod hatte ich bisher nie Raum gegeben. Denn der Tod war das Ende, und das erschien mir endlos weit weg. In Afrika sollte ich lernen, dass der Tod Teil des täglichen Lebens ist und jederzeit passieren kann, meist ohne Vorankündigung.
Wie setzt man ein Testament auf? Haben Sie sich schon einmal die Frage nach dem »Danach« gestellt? Und sich gefragt: Was hinterlässt man? Und für wen?
Mir fiel es schwer, mit einem Thema umzugehen, was in unserem hektischen, aktiven Leben so gar keinen Platz hat. Heute weiß ich, dass es wichtig ist, sich irgendwann in seinem Leben Fragen nach Krankheit und Tod zu stellen. Und das möglichst nicht erst kurz vor der Rente. Denn diese Fragen bringen uns weiter. Sie machen uns deutlich, wo wir stehen und was wir in finanzieller, aber auch in menschlicher Hinsicht bisher erreicht haben. Die Beschäftigung mit unserem möglichen Tod wirft ein Schlaglicht auf das, was uns wichtig ist, und macht auch bewusst, dass das Leben eben das ist, was es ist: ein Weg, der irgendwann endet. Diese Überlegungen eröffneten bei mir neue Horizonte und beschäftigten mich oft bis in meinen Schlaf hinein. Eine Lösung war schwer, aber schließlich reiste ich zu einem Lieblingsort meiner Jugend in Deutschland, dem bayerischen Ammersee, und verfasste dort auf einem Holzsteg mein erstes Testament. Interessant war, dass ich mir auch dazu einen Ort inmitten von Natur ausgesucht hatte.
Als ich es schließlich geschrieben hatte, war ich überrascht, dass es mir eine innere Ruhe und Klarheit gab, die ich vorher nicht gekannt hatte. Immerhin wusste ich nun, wer von dem, was ich in meinem bisherigen Leben angesammelt hatte, »profitierte«. Ich hatte im Gegensatz zu sonst einmal nicht nur an das nächste Ziel vor mir gedacht, sondern hatte zum ersten Mal Bilanz gezogen aus dem, was hinter mir lag. Und so hatte ich später bei der Abreise aus Bayern das Gefühl, ich hätte dazugelernt, und dabei hatte die Reise noch nicht einmal begonnen.
Der letzte Teil der Reisevorbereitungen fiel mir leicht, denn es ging ums Einkaufen, wenn auch nicht in schicken Boutiquen, sondern bei Outdoor-Herstellern. Und da mein letztes Camping-Experiment mehr als zwanzig Jahre her war, konnte ich nicht behaupten, dass ich mich da wirklich auskannte. Die Ausbilder hatten alle Ausstattungsgegenstände aufgeführt, die im Zelt und im Busch gebraucht wurden und mitzubringen waren: Rucksäcke, Moskitospray, Verbandszeug, Kamera-Equipment, Fernglas, Taschenlampen und vieles andere. Auf der Liste standen auch Handschuhe und Mütze, unerwartete, aber für den afrikanischen Winter nicht unübliche Artikel. Erinnerungen an meine Kindheit wurden plötzlich wieder wach. Rabenschwarze kalte, aber sternenüberflutete Nächte und brutheiße Tagesstunden mit um die dreißig Grad Celsius im August, dem südafrikanischen Winter.
Bei meiner Outdoor-Shopping-Erfahrung in einem der wunderbaren Megastores, in dem auf jedem Stockwerk eine andere Sportart zu finden ist, stellte ich schnell fest, dass trotz des großen Angebots der Kern immer der gleiche war, nur die Marke unterschiedlich. Die Marken selber sagten mir aber nicht viel, ich war ja weder begeisterte Bergsteigerin noch Camperin. Aber eines war mir schnell klar: Gut aussehen beim Trecking war anscheinend nicht oberste Priorität, und Farbe war verpönt. So lautete auch die Anweisung im Info-Paket: Kleidung bitte in Beige oder Oliv mitbringen. Ich war wenig begeistert und musste bei der Vorstellung an lauter olivgrüne Möchtegern-Ranger mit Klappmessern und Kompass am Gürtel lächeln. Dort wären die Farb- und Stilberater, die die Damen in den Industrienationen mit einem Farbfächer ausgestattet nach Jahreszeiten beraten, wohl arbeitslos. Im Busch waren alle Herbsttypen. Andererseits hat ja schließlich jede Berufsgruppe ihre Uniform. Vom Manager bis zum Müllmann. Mein Problem war nur, ich war ja noch kein Ranger und fühlte mich mehr als merkwürdig, als ich, wennschon, dennschon, einen Rieseneinkaufswagen mit Schlafsack, Wasserflasche, Kompass, etlichen beigefarbenen Socken, T-Shirts, Polohemden, Bermudas und langen Hosen mit abnehmbaren Hosenbeinen zum Auto schleppte. War ich jetzt gerüstet?
Als sich der Zeitpunkt des Abflugs näherte, stieg die Zahl der Bedenkenträger in meinem Umfeld, deren ein oder anderes Argument auf durchaus fruchtbaren Boden bei mir fiel. Aber da ich seit jeher eine berufsbedingte Abneigung gegen Bedenkenträger hegte, war ich gewappnet. Dennoch. Viele Fragen waren durchaus valide: Wie komme ich bei Krankheit zurück aus dem Busch? Wie überstehe ich Wochen ohne telefonische Erreichbarkeit, wenig Strom und kaum Zivilisationsannehmlichkeiten? Was macht meine Firma ohne mich? Kann ich mich von meiner Arbeit überhaupt gedanklich entfernen? Zudem hatte ich eigene Fragen: Wie sehr wird mir meine Familie fehlen? Wie sehr meine Mitarbeiter und Kollegen? Meine Freunde? Meine Kunden? Wie sehr werde ich umgekehrt denen fehlen? Wird das alles gut gehen oder renne ich hier einem Spleen hinterher? Die Zeit des Selbstzweifels hatte mehr und mehr begonnen, und meine erste Lektion kündigte sich an: die Kunst des Loslassens. Des Kontrolle-Abgebens. Die beherrschte mein Managerkopf aber noch so gar nicht.
Das Abenteuer Afrika beginnt