Laura von Semisch war eine gut aussehende, hochgewachsene, schlanke Frau. Auf einem Atelierfoto lehnte sie sich aufrecht und stolz an eine kleine Säule. Die weiße Rüschenbluse war bis zum Hals geschlossen, der schwarze Rock bedeckte züchtig die Beine bis zu den Knöcheln, und die vollen brünetten Haare waren einer Krone gleich hochgesteckt. Sie war zwanzig Jahre und ein introvertiertes Geschöpf, unfähig, Gefühle zu zeigen.
Auf dem väterlichen Gut zwischen Stargard und dem Oderbruch aufgewachsen, hatte sie selten Kontakt zu fremden Menschen, denn wenn Gäste die Eltern besuchten, zog sie sich zurück. Sie hatte drei jüngere Schwestern, lebenslustige, wilde Mädchen, die ihr das Leben zur Hölle machten und ihre stille Sanftmut ausnutzten. Gab es Streit, Unfälle oder Klagen der Dienerschaft, so gaben sie ihr die Schuld, und sie wurde bestraft. Ohne Widerspruch nahm sie Stubenarrest und den Unmut der Eltern in Kauf und zog sich weiter zurück. Die Mutter, eine zierliche Frau, litt mit ihr, konnte sich aber gegen ihren herrischen Mann nicht durchsetzen. Er verzieh ihr nie, dass sie ihm vier Töchter anstelle von vier Söhnen geboren hatte.
Erst als Laura achtzehn Jahre alt war, setzte die Mutter durch, dass ihre älteste Tochter in ein Pensionat nach Berlin geschickt wurde, wo sie Haushaltsführung, Fremdsprachen, gutes Benehmen und den Umgang mit fremden Menschen erlernen sollte. Simon von Semisch reiste persönlich in die Großstadt, um Damen-Pensionate zu besichtigen, und erlaubte nach endlosen, harten Diskussionen den Umzug in die preußische Hauptstadt. Schließlich sollten seine Töchter, bisher nur von Gouvernanten erzogen, einflussreiche Männer kennen lernen und eine umfassende Bildung vorweisen können.
Laura begrüßte den Entschluss der Eltern, um endlich den groben Streichen der Schwestern und dem mürrischen Vater zu entgehen, fürchtete sich aber gleichzeitig vor der Fremde, dem Trubel der Hauptstadt, der ganzen, unbekannten Welt, die auf sie einstürzen würde.
In dem Privathaus in Zehlendorf lebten elf weitere Mädchen. Außer zweien kamen alle von Gütern in Pommern. Geführt wurde das Pensionat von Frau von Achenbach, einer Offizierswitwe, die ihre kleine Pension aufbessern musste. Die Lehrkräfte kamen von außerhalb, das Dienstpersonal wohnte im Haus. Für ihre Zimmer und ihre Kleidung mussten die Schülerinnen selbst sorgen.
Laura bekam wie alle ein kleines Einzelzimmer mit Blick auf eine Laubenkolonie. Es gefiel ihr, wurde zu ihrer »Festung«, wann immer sie sich von den anderen zurückziehen konnte. Bei den jungen Damen galt sie als hochnäsig und eingebildet, was nicht stimmte. Sie war lediglich scheu und gehemmt. Nur die zwei Töchter der Schauspieler, Maria und Lisa, durch ständigen Wohnortwechsel weltgewandt und reich an Lebenserfahrungen, mochten Laura und nahmen sich insgeheim vor, sie aus ihrer Isolation herauszuholen.
Eines Abends klopften sie an ihre Tür, und als sie öffnete, erklärten sie: »Laura, du musst uns helfen und mit uns kommen.«
»Danke für die Einladung, aber wohin denn?«
»Wir haben Freikarten für eine Theatervorstellung am Gendarmenmarkt, und wir wollen meiner Mutter helfen, die Zuschauerreihen zu füllen. Mutter spielt die Hauptrolle in der »Minna von Barnhelm« und hat panische Angst, vor einem leeren Saal zu spielen. Heute ist die Premiere.«
»Aber da kommt es doch nicht auf mich an.«
»Auf jeden kommt es an. Wir haben schon andere Karten verteilt, wir brauchen einfach alle, die wir bitten könnten. Du tätest uns einen großen Gefallen.«
Laura zögerte einen Augenblick, dann sagte sie entschieden: »Danke, ich komme gern mit, wenn ich euch helfen kann.«
Es wurde ein erfolgreicher Abend: Für die Schauspielerin, die vor einem vollen Theatersaal spielte, viel Applaus und etliche Blumen bekam, die sie später an die drei Mädchen verteilte, für Maria und Lisa, die eine neue Freundin gefunden hatten, und für Laura, die entdeckte, wie schön das Leben außerhalb ihrer »Festung« sein konnte. Man lachte viel an diesem Abend, trank nach der Aufführung im Foyer ein Glas Sekt mit der Hauptdarstellerin und fuhr leicht erheitert, kichernd und Verse der Minna rezitierend zurück nach Zehlendorf.
Frau von Achenbach empfing die drei jungen Damen mit gequält verkrampftem Gesicht, besorgt, weil sie die Verantwortung trug, erleichtert, weil die drei wieder im Hause waren, und ohne schlechtes Gewissen den Eltern in Pommern gegenüber, denn die wünschten ja, dass ihre Tochter das Leben in der Großstadt kennen lernte. Und dazu gehören nun einmal Theaterbesuche, seufzte sie beruhigt, als sie die drei in ihren Betten wusste.
Die Theaterbesuche mit Lisa und Maria wurden zu einem festen Bestandteil in Lauras Leben. Dazu kamen bald Konzertbesuche und eines Tages die erste Aufführung in der Oper, weil der Vater der Freundinnen die Hauptrolle in Verdis »Troubadour« sang. Er wurde als Graf von Luna frenetisch von der Berliner Bevölkerung gefeiert und die drei jungen Damen besuchten die Aufführung vier Mal. Nach der letzten Aufführung lernte Laura Conrad Stelling kennen.
Sie stand an der Garderobe, wartete auf ihren Mantel, und als sie ihn anziehen wollte, half ihr ein Fremder galant hinein.
»Hat Ihnen die Aufführung gefallen?«, fragte er höflich. »Ich bin schon zum zweiten Mal hier.«
»Danke, ja, sehr gut, ich habe sie schon vier Mal gesehen«, nickte Laura verschämt und sah sich nach den Freundinnen um.
»Vier Mal?«, lächelte der Fremde, »dann muss sie Ihnen sehr, sehr gut gefallen haben.«
Laura nickte. »Die Aufführung ist jedes Mal ein Erlebnis. Der Vater meiner Freundinnen singt den Grafen.«
Conrad Stelling sah sie prüfend an. »Könnten wir dieses Erlebnis nicht gemeinsam mit einem Glas Sekt oder einer Tasse Kaffee beenden?«
»Danke, aber ich muss Ihr Angebot ablehnen. Ich bin ja nicht allein hier.«
»Ach«, überrascht sah er sie an. »Es tut mir Leid, wenn ich Sie belästigt haben sollte.«
»Bitte«, Laura schüttelte den Kopf, »Sie haben mich nicht belästigt, Sie waren sehr höflich. Aber jetzt muss ich gehen, meine beiden Freundinnen suchen mich schon.«
»Wir könnten alle vier diese schöne Aufführung feiern.«
Aber Laura schüttelte den Kopf. »Es ist schon spät, fast zwölf. Gute Nacht.«
Aber Conrad Stelling war mit so einem Abschluss des Abends nicht zufrieden. Die junge Frau gefiel ihm, sie hatte so etwas Unberührbares an sich, sie erschien ihm wie ein Juwel, das man wecken und entdecken durfte, er wollte sie nach diesen wenigen Minuten nicht verlieren. »Vielleicht könnten wir uns an einem anderen Tag einmal sehen?«
»Überlassen wir es dem Zufall.« Laura sah die Freundinnen an, die inzwischen hinzugekommen waren. »Gehen wir?«
Aber Lisa hatte schnell begriffen, dass sich da ein gut aussehender junger Mann für Laura interessierte, und fragte ganz naiv: »Um was geht es denn, von welchem Zufall redest du?«
»Von dem Zufall, sich in dieser großen Stadt zu begegnen«, erklärte Conrad und stellte sich vor. »Conrad Stelling, Student im letzten Semester, und von Zufällen halte ich gar nichts.«
Nun blieb Laura nichts anderes übrig, als die Freundinnen und sich selbst vorzustellen, und Maria fuhr fort: »Wir studieren zwar nicht, aber wir lernen auch.«
»Ach ja, und was, wenn es erlaubt ist zu fragen?«
»Gutes Benehmen«, kicherte Lisa und hakte sich bei den Freundinnen ein. »Kommt Mädels, Zeit für’s Bett.«
»Und was ist mit einem neuen Treffen?«
»Übermorgen sind wir im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Es gibt da ein Weinstübchen auf der anderen Straßenseite, das soll sehr gemütlich sein.«
Conrad Stelling nickte. »Ich warte nach der Vorstellung auf die Damen, es wird mir ein Vergnügen sein.« Er begleitete sie nach draußen zum Taxistand, hielt ihnen höflich die Tür auf und sah dem Auto nach, bis die Rücklichter von anderen Leuchten nicht mehr zu unterscheiden waren.
Nette Mädchen, dachte er, aber bei dreien sind zwei zu viel. Ich muss versuchen, Freunde mitzunehmen. Frohgestimmt und siegessicher machte er sich auf den langen Heimweg nach Charlottenburg. Geld für ein Taxi hatte er nicht – Vater und Großvater auf dem Gut in Rodenhagen hielten ihn sehr kurz, weil er sich nicht für Pferde interessierte und unbedingt studieren wollte – und die elektrische Bahn fuhr um diese Zeit nur in großen Abständen.
Vier Wochen später waren Laura von Semisch und Conrad Stelling gute Bekannte, und als die Theatersaison im Sommer zu Ende war, waren sie feste Freunde, in allen Ehren versteht sich. Im August, als das Pensionat für eine kurze Ferienzeit geschlossen wurde und Conrad seine Examen mit summa cum laude beendet hatte, nahm Laura ihn mit nach Hinterpommern, um ihn den Eltern vorzustellen.
Die junge Frau, inzwischen einundzwanzig Jahre alt und noch immer sehr introvertiert, hatte sich allerdings in aller Bescheidenheit zu einer selbstbewussten Persönlichkeit entwickelt. Sie wusste, was sie wollte, und setzte ihren Willen auf eine sanfte, aber konsequente Art durch. Die Mutter freute sich über diese Veränderung, der Vater nahm sie widerwillig zur Kenntnis, und die drei Schwestern hielten sich zurück. Alle drei schwärmten für diesen interessanten Fremden, der mit dem Vater über Politik debattierte, die Mutter mit Liebenswürdigkeiten verwöhnte und ihnen kleine Komplimente machte.
Conrad Stelling kam aus einem ähnlichen Milieu, aber Landwirtschaft und Tierhaltung lehnte er genauso ab wie die Einsamkeit des weiten Landes, die Stille und die Geborgenheit auf einem traditionellen Landsitz. Er war der Einzige in diesem Zweig der Stelling-Familie, der sich für die Wissenschaft interessierte. Er wollte Jurist werden, überlegte es sich aber nach zwei Semestern und änderte seine Pläne. Er machte Geschichte zu seinem Hauptfach, weil ihn der Entwicklungsprozess sozialer Strukturen und die Entstehung des Deutschen Reiches interessierte. Später wollte er selbst junge Menschen unterrichten und ihnen geschichtliche Zusammenhänge nahe bringen.
Nach der Hochzeit mit Laura und seiner Ernennung zum Doktor bekam er sehr schnell eine Dozentenstelle in Berlin, und als der Großvater starb, erbte er ein kleines Vermögen. Der alte Herr hatte seine Ersparnisse in der Schweiz angelegt, sodass sie nicht der Inflation zum Opfer fielen, und überschrieb kurz vor seinem Tod das Geld seinen Enkelkindern.
Conrads Gehalt, die sparsame Haushaltsführung von Laura und das Schweizer Geld ermöglichten schließlich den Bau eines Hauses bei Hamburg. Conrad, der die politische Entwicklung in Berlin nicht akzeptierte, wo immer öfter Sturmabteilungen in braunen Uniformen durch Straßen marschierten und patriotische Lieder schmetterten, folgte einem Ruf an die Hamburger Universität. 1927 zogen er und seine Frau an die Elbe, und ein Jahr später am 12. Oktober wurde Isabella geboren. Sie war ein aufgewecktes, fröhliches Kind und der ganze Stolz ihrer Eltern. Als sie zehn Jahre alt wurde, fragte sich Conrad Stelling zum ersten Mal, ob er die richtige Frau gewählt hatte. Nicht ein einziges Mal hatte er gesehen, dass sie ihr Kind zärtlich in die Arme nahm.
Fast über Nacht verwandelte sich der Frühling in den Sommer. Der Himmel wechselte von dem frischen Blau in ein flirrendes Hellblau heißer Sonnentage. Die Schatten wurden kürzer, weil die Sonne ihren tiefen Winterhorizont verließ. Im frischen grünen Laub der Holundersträucher hingen schwer die vollen Blütendolden, und am Wegrand schwenkten die Birken ihre samtweichen langen Kätzchenbehänge. Die Straße, die Isabella Stelling jeden Tag zur Schule und zurück gehen musste, war sandig, und die bunten Sommerblumen an den Rändern kämpften gegen den Staub. Auf einem fernen Feld drehte ein Bauer mit seinen Pferden die Runden, der Pflug zog Furchen durch den Acker und rollte den Boden um. Möwen begleiteten mit lautem Kreischen das Gespann, gierig nach Würmern, die sich im plötzlichen Tageslicht auf der Erde krümmten.
Isabella hörte ihn, bevor sie ihn sah: Hinter ihr brauste Alfons Dreher heran. Der Polizist in der dunkelblauen Uniform mit dem schwarzen Tschako auf dem Kopf, dem Ledergürtel und dem Schulterriemen fuhr, wie jeden Mittag um diese Zeit, auf seinem Motorrad zum Essen nach Hause. Und wie jeden Tag um diese Zeit hielt er an und erbot sich, Isabella mitzunehmen.
Er wohnte in ihrer Nähe und half manchmal bei der Gartenpflege des elterlichen Anwesens. Er fand es nicht richtig, dass dieses Kind den einsamen Weg täglich allein entlangging. Als Polizist wusste er, was kleinen Kindern drohte, die auf abgelegenen Straßen unterwegs waren. Deshalb richtete er seinen Dienst so ein, dass er jeden Tag hier entlangfuhr.
»Komm, Isabella, steig auf, ich nehme dich mit.« Und wie an jedem Tag bedankte sie sich artig und stieg hinter ihm auf die Maschine. Niemals gestand sie ihm, dass sie Angst hatte herunterzufallen. In der Eile des Aufsteigens fand sie nie die hochgeklappten Bügel für die Füße und ließ die Schuhe über den Boden schleifen, heilfroh, wenn sie endlich vor der Gartenpforte ankamen und sie wieder absteigen durfte. Ein Polizist ist eine Respektsperson, dachte sie jedes Mal und wagte nicht, sein Angebot abzulehnen. Außerdem war seine Tochter Annemarie ihre Freundin, und manchmal durfte sie seinen kleinen Sohn im Kinderwagen spazieren fahren, was ihr großen Spaß machte. Und dann die spannenden Ereignisse in seinem Haus, auf keinen Fall würde sie riskieren, dorthin nicht mehr eingeladen zu werden.
Da gab es zum Winteranfang das große Karpfenfest, wenn er seinen Teich am Dorfrand abließ und die vielen Karpfen einsammelte, die dann in seiner Waschküche geschlachtet und verkauft wurden. Niemals darf Mutter erfahren, dass ich eine Meisterin im Karpfenschlachten bin! Und dann im Januar das Gänsefedernzupfen, wenn sich in Drehers Waschküche alle Nachbarsfrauen versammeln und die Federn der Weihnachtsgänse für neue Bettenfüllungen zupfen. Da saß man im Kreis um einen Berg von Federn herum, um die seidig weißen Daunen vom Kiel zu trennen. Es wurde erzählt und gelacht und gegessen, allein der Mohnkuchen mit dem dicken Zuckerguss war das Mitmachen wert. Und dann das Kuchenplattentragen. Jeden Sonnabend musste Annemarie die großen Kuchenbleche mit den köstlichsten Belägen zum Bäcker tragen und später wieder abholen. Und wenn es ihre Zeit erlaubte, half Isabella der Freundin. Zur Belohnung durften die Mädchen dann die Kanten essen. Frau Dreher besaß nämlich keinen eigenen Backofen. Nein, auf diese Bekanntschaft wollte sie nicht verzichten.
»Sag’ deiner Mutter, ich komme morgen zum Heckenstutzen«, bat der Polizist und fuhr mit einem müden Aufheulen des Motors weiter. Das Neueste ist das Krad auch nicht mehr, dachte sie im Jargon der Nachbarsjungen, die sie manchmal wegen ihres Privilegs, mit dem Polizisten Motorrad fahren zu dürfen, hänselten.
Sie rannte die kleine Anhöhe hinauf zum Haus und schleuderte die Aktentasche auf einen Korbsessel in der Diele. Seitdem sie das Lyzeum besuchte, brauchte sie keinen Schulranzen mehr zu tragen. Sie hatte zu ihrem zehnten Geburtstag eine lederne Aktentasche bekommen. Fast so groß und so schön wie die vom Vater, hatte sie festgestellt und beglückt ihre Schreibgeräte, Hefte und Bücher umgepackt.
Wie jeden Tag lief sie zuerst in die Küche im Souterrain. Luise stand weinend am Tisch und schnitt Zwiebeln. Auf dem Gasherd kochten Kartoffeln, und in einem anderen Topf siedeten Königsberger Klopse, denn Luise stammte aus Masuren und überzeugte die Hausherrin immer wieder von den Vorzügen ostpreußischer Kochrezepte. »Hast du wieder Kapern drin?«, fragte Isabella vorsichtig, denn Kapern mochte sie überhaupt nicht.
»Kapern gehören in die Klopse«, erklärte Luise ernsthaft, sagte aber gleich darauf lächelnd, »aber ich glaube, da schwimmen zwei, bei denen ich ganz vergessen habe, Kapern hineinzutun.«
Isabella gab ihr einen Kuss auf die tränennasse Wange. »Danke, du bist mein liebster Schatz.«
»Da bin ich aber gespannt, wie lange noch«, grinste Luise die Zehnjährige an und zwinkerte mit den Augen.
»Immer und ewig«, versicherte Isabella und fragte gleich darauf ernsthaft: »Ist mein Vater schon im Haus?«
»Ich glaube nicht. Das Dorle hat noch nichts gesagt, sonst müsste ich mich mit dem Essen beeilen. Aber deine Mutter ist oben mit dem Fräulein Ernst.«
»Fräulein Ernst? Das bedeutet Arbeit. Schrecklich!«
Luise nickte. Fräulein Ernst wurde geholt, wenn Waschtage drohten oder die Einmachzeit kam oder Kleidung ausgebessert werden musste. Fräulein Ernst war eine alleinstehende Jungfer und half aus, wo es nötig war. Damit unterstützten die Stellings das alte Fräulein und hatten gleichzeitig Hilfe, wenn das Personal nicht ausreichte.
Nach der Mutter fragte sie nicht. Zur Mutter hatte die Zehnjährige kein gutes Verhältnis. Sie war zu streng, sie verbot alles, was Spaß machte und was der Vater vielleicht erlaubt hätte. Wie in jedem Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten wurde sie gefragt: »Was wünscht du dir denn?«, und jedes Mal hatte sie nur einen einzigen Wunsch, sie wollte einen Hund. Aber die Mutter mochte keine Tiere, im Haus schon gar nicht. Statt des Hundes bekam sie ein Klavier. Und das nur, weil der Sohn von Mutters Freundin Elsbeth Klavierunterricht bekam und bei Besuchen die langweiligsten Etüden vorspielen konnte. »Alle Kinder, die eine höhere Schule besuchen, müssen auch ein Instrument spielen können«, behauptete die Mutter, und so wurden die wenigen freien Stunden für Klavierunterricht vergeudet. Dabei hatte Doktor Hansen bei seinem letzten Besuch ausdrücklich gesagt: »Das Mädchen muss viel an die frische Luft. Sie ist zu schnell gewachsen, sie sollte keinen Ballettunterricht bekommen, sondern sich draußen bewegen.« Ach ja, seufzte Isabella genervt, zum Ballettunterricht wollte sie mich auch noch schicken. »Der guten Haltung und der eleganten Bewegungen wegen«, hatte die Mutter erklärt. Aber da sprach der Vater ein Machtwort und meldete sie kurzerhand beim Reitverein in Klein-Flottbek an. Nun konnte sie zweimal in der Woche zum Reiten gehen und hatte inzwischen genug gelernt, um mit der Gruppe am Elbufer entlangreiten zu dürfen. Am Anfang war die Mutter entsetzt gewesen und hatte von Genickbrüchen geredet, aber allmählich hatte sie sich daran gewöhnt, und wenn Isabella wirklich einmal gestürzt war, hatte Frau Giebel heimlich ihre Reitgarderobe wieder in Ordnung gebracht. Die alten Giebels wohnten in einem Gesindehaus beim Reitstall, und Isabella hatte so manche Träne dort vergossen, weil sie so tröstlich und liebevoll waren und immer Rat wussten. Außerdem haben sie die Katze Minka, mit der ich schmusen kann, wenn ich schon keinen Hund bekomme, und Kaninchen gibt’s auch noch im Stall, die ich füttern darf, dachte sie.
Nein, zur Mutter hatte sie keine besonders innige Beziehung. Außerdem beklagte sie sich ständig beim Vater, wenn Isabella nicht gehorchte, und verlangte Bestrafung. Manchmal zwinkerte er heimlich mit einem Auge, wenn er so tat, als sei er schrecklich böse. Dabei kann der gar nicht böse sein. Er ist der klügste Vater, den ich kenne, nie sagt er »Das weiß ich nicht«. Als ich noch klein war, hat er mich oft auf den Schoß genommen und mir die tollsten Geschichten aus seiner Jugend erzählt, und wenn er in ganz besonders guter Stimmung war, durfte ich ihn kämmen, erinnerte sie sich. Dann setzte er sich auf einen Kinderstuhl, damit ich seinen Kopf erreichte, und dann durfte ich ihn frisieren, wie ich wollte. Nur leider hatte er nicht oft Zeit für solchen Spaß. Immer warteten Studenten oder Kollegen auf ihn, und oft brachte er sogar welche mit nach Hause. Dann sprach er sehr gewissenhaft und geheimnisvoll mit ihnen, und nie durfte sie zuhören. Was konnte nur so wichtig sein, dass man sich stundenlang und oft sogar nachts unterhielt?
Das Haus der Stellings befand sich in Klein Flottbek, einem bäuerlichen, wenig erschlossenen Stadtteil Altonas oberhalb der Unterelbe. Das Land jenseits der komfortablen Elbchaussee mit ihren Villen und Palästen war dünn besiedelt, und die Preise für Bauland waren für einen Hochschulprofessor gerade noch erschwinglich. So kaufte Conrad Stelling gleich nach seinem Umzug von Berlin nach Hamburg und kurz vor der Geburt von Isabella 1928 das Grundstück und ließ ein schlichtes, aber nobles Haus darauf errichten. Keine Säulen, keine Türmchen, keine Erker und keinen Stuck, hatte er dem Baumeister erklärt und ein gradliniges, übersichtliches Haus bekommen. Im Erdgeschoss die Wohnräume, im Obergeschoss die Schlafzimmer und in der Mansarde die Räume für das Personal. Das Haus stand auf einem Hügel, und der Professor hatte sehr großzügig das Land drum herum dazugekauft, sodass ein schöner Garten das Haus umgab. Aber auch hier hatte der Hausherr um schlichte Bepflanzung und viel Freiraum gebeten. Ein paar Blumenrabatten an den Rändern und an der Terrasse entlang und sonst nur Rhododendron- und Azaleenbüsche am Zaun. Dazu die alten Bäume, die Hausbauer und Gärtner bei ihren Planungen berücksichtigen mussten, mehr wollte der Hausherr nicht in seinem Garten haben. Nur ganz hinten im Grundstück gab es eine Hecke als Grenze zum Nachbarn, darauf hatte die Mutter bestanden.
Isabella verließ die Küche, nahm ihre Tasche und schlich nach oben in ihr Zimmer. Sie wollte die Mutter nicht stören, die hatte immer gleich Aufgaben für die Tochter. In ihrem Zimmer holte Isabella den Stundenplan aus der Tasche und sortierte den Inhalt für den nächsten Tag. Ach du meine Güte, heute Nachmittag ist Dienst beim Jungmädelbund, das hätte ich fast vergessen. Da muss ich ja wieder zur Schule zurück. So eine unnötige Organisation, stöhnte sie.
Isabella mochte diesen Dienst überhaupt nicht. Was man da alles lernen musste. Die Erste-Hilfe-Kurse waren ja ganz gut, und toll fand sie auch die Nachtwanderungen und die Wochenendausflüge mit Zelten, aber alles andere war nicht nach ihrem Geschmack. Das Wettschwimmen für irgendwelche Meisterschaften, das Exerzieren, bei dem die Jungen einen auslachten, das Heil-Hitler-Geschrei, bis es im Chor klappte, das Grüßen mit erhobenem Arm und ewig das Stillsitzen, wenn man Radiosendungen oder Vorträge anhören musste – nein, das war nichts für sie. Aber fern bleiben durfte man nicht, es gab dann unangenehme und blamable Strafen, und man drohte sogar den Eltern, wenn die Kinder nicht zu diesem so genannten »Dienst« erschienen.
Ich mach’ lieber schnell die Hausaufgaben, dann muss ich nicht abends damit anfangen, beschloss sie und holte die Bücher aus der Mappe. Mathematik und Englisch waren ihre schwächsten Fächer, Erdkunde und Biologie liebte sie, und was es sonst noch gab, lief so nebenher. Mit der Englischlehrerin hatte sie es gleich am ersten Tag im Lyzeum verdorben. Die wollte von den Kindern wissen, ob jemand ihren Namen kenne, und da alle von der Matschke geredet hatten, meldete sich Isabella fröhlich und erklärte laut und deutlich: »Sie sind Fräulein Matschke.« Der rundlichen Frau mit den dicken Brillengläsern vor kleinen Froschaugen blieb der Mund offen stehen, und entrüstet sagte sie: »Ich bin Fräulein Matuscheck.«
Den Fauxpas verzieh sie ihr nie. Und da Isabella eine schlechte Englischschülerin war, was an ihrer Veranlagung zur Perfektion lag und sie sich genierte, Töne und Laute in ihrem Mund zu verdrehen und dann auch noch auszusprechen, hatte sie nie eine bessere Note als eine Fünf in ihrem Zeugnis.
In der Diele schlug Dorle auf den Gong. Zeit fürs Essen. Isabella schraubte das Tintenfass zu, kämmte sich und spritzte etwas Wasser über die Finger. Mutter legte großen Wert auf gepflegtes Aussehen, und Isabella wollte keine Ermahnung im Beisein des Vaters. Heute saß Fräulein Ernst mit am Tisch. Das war etwas, was Isabella der Mutter hoch anrechnete. Sie war nicht eingebildet. Das stille, bescheidene Fräulein, wie immer ganz in Grau, wirkte stets etwas verschüchtert, aber Mutter verstand es, sie in ein Gespräch mit einzubeziehen, und manchmal passierte es sogar, dass Fräulein Ernst lächelte. Aber das geschah höchst selten.
Vor ein paar Wochen war ihre alte Mutter, mit der sie in einem Zimmer schlief, gestorben und Isabella hatte, weil sie heimlich lauschte, alles mitbekommen. Fräulein Ernst erzählte der Mutter von Schnarchtönen, die sich langsam veränderten und dann erstarben. Sie machte die Geräusche nach, sodass Isabella eine Gänsehaut bekam und floh.
Nun saß das stille Fräulein Ernst zwischen ihnen, und alle genossen Luises Königsberger Klopse. Trotz kritischem Suchen fand Isabella keine einzige Kapernknospe in ihren Klößen und genoss das Essen. Hunger hatte sie immer.
Vater und Mutter unterhielten sich leise, da durfte sie nicht stören, aber später hatte der Vater auch Zeit für sie, das wusste sie genau. Gut sah er wieder aus. Das dunkelblonde leicht wellige Haar, die blauen Augen und die Sommersprossen um die Nase herum, die im Winter verblassten – für sie war er der schönste Mann der Welt. Und groß war er. Gardemaß, nannte er es und lachte, wenn sie sagte, sie wolle auch so groß werden. Auch die Mutter sah gut aus. Ihr Haar, etwas heller, war zwar vom Friseur gewellt, und Sommersprossen hatte sie auch nicht, aber sie war groß und schlank und passte gut zu ihrem Mann. Doch, mit dem Aussehen der Eltern konnte sie zufrieden sein. Und wenn der gemeinsame Sonntagnachmittags-Spaziergang am Elbuferweg drohte, war es ihr einziger Trost, zu diesen wohlgeratenen Erwachsenen zu gehören. Aber sonst fand sie diesen Spaziergang abscheulich langweilig. Immer ging es die Elbe abwärts bis nach Blankenese oder die Elbe aufwärts bis nach Övelgönne und zurück. Man traf Bekannte, plauderte ein Weilchen, ging weiter, traf wieder irgendwen, blieb stehen, ging weiter und immer so fort, kilometerweit! Irgendwann bei so einem Spaziergang hatte Isabella dann einen Hund erfunden, der nur in ihrer Vorstellung existierte. Es war eine gelbe Dogge namens »Senta« – sie hatte gerade ein gleichnamiges Buch gelesen – und Senta gehorchte ihr aufs Wort. Treu lief die Hündin neben ihr her, jagte nach Stöcken, die sie ihr zum Apportieren in die Elbe warf, und beschützte sie vor Fremden. Niemand durfte ihr zu nahe kommen, sonst hätte Senta ihn zerfleischt. Es war nicht immer ganz leicht gewesen, Senta vor den Eltern zu verbergen, aber sie hatte es geschafft.
Doch das war alles schon eine Weile her. Spielereien, dachte sie, aber sie waren schön. Sie lief hinauf in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Zum Dienst mussten die Jungmädel in Uniform erscheinen. Eigentlich mag ich die Uniform, überlegte sie und zog ihr Kleid aus. Der enge schwarze Rock, die weiße Bluse, das schwarze Dreiecktuch mit dem Lederknoten, da sehe ich gleich erwachsener aus. Sie holte frische weiße Söckchen aus der Schublade, rieb die verstaubten Schuhe blank und streifte sich die Schultertasche mit dem Portemonnaie, dem Taschentuch und dem Dienstplanheftchen um. Ein Blick auf die Uhr, Mutter schläft jetzt, überlegte sie, und Vater wird auf der Terrasse Zeitung lesen, bevor er wieder in die Stadt fährt. Sie ging leise hinunter, um die Mutter nicht zu stören, und legte dem erschrockenen Vater von hinten die Arme um die Schultern. Aber in Wahrheit hatte er sich nicht erschrocken, grinste sie, er tut nur immer so.
»Na, mein Frosch, wo willst du hin?«
»Frosch«, murrte sie. »Ich bin kein Frosch mehr, schau mich an.«
Conrad Stelling drehte sich schuldbewusst um. »Tatsächlich, da steht eine selbstbewusste Dame vor mir! Also, was hast du vor? Ach, die Uniform, dann weiß ich Bescheid.«
»Ich habe überhaupt keine Lust zu diesem Dienst. Heute fällt deshalb wieder meine Reitstunde aus. Mir gefällt das alles nicht. Man hat ja kaum noch Zeit für sich selbst.«
»Es gibt Pflichten, mein Schatz, die kann man nicht umgehen.«
»Ich möchte bloß wissen, wofür das gut sein soll.«
»Erzählt man euch das nicht?«
»Doch, da wird von Pflichten und Verantwortung dem deutschen Volk gegenüber geredet, aber ich verstehe nicht warum. Was habe ich mit dem deutschen Volk zu tun?«
»Du bist ein Teil davon.«
»Ja, schon, aber muss etwa irgendein Kind meinetwegen auf seine Reitstunden verzichten?«
»Das weiß man nicht, dazu ist das Volk zu groß. Aber wenn nun alle zehnjährigen Mädchen lieber zum Reiten gehen würden als zum Dienst, was wäre dann?«
»Ja, was wäre denn dann, gar nichts, alle hätten ihren Spaß.«
»So gesehen hast du Recht, aber ihr lernt doch auch nützliche Dinge, die ihr vielleicht einmal braucht?«
»Und was ist das?«
»Nun, ihr könnt erste Hilfe leisten, wenn jemand verletzt ist, ihr könnt im Wald Spuren lesen und nachts Himmelsrichtungen erkennen.«
»Ach, Paps, was nützen mir denn die Himmelsrichtungen und die Spuren im Wald? Ich möchte lieber hier bei dir sitzen und ein spannendes Buch lesen, da lerne ich viel mehr.«
»Ich weiß, mein Kind.« Der Vater faltete resigniert die Zeitung zusammen und sah auf seine Armbanduhr, die die Mutter ihm zu seinem vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. »Ich muss los, soll ich dich mitnehmen?«
»Nein danke, ich fahre mit dem Rad, dann bin ich abends schneller wieder hier.«
»Ist gut, mein Liebling. Und nimm’s nicht so tragisch mit dem Dienst, irgendwann hört das auch alles wieder auf.«
»Tschüss, Paps, bist du zum Abendessen wieder hier?«
»Ich weiß es noch nicht. Du siehst, ich habe auch meine Pflichten. Dabei wäre ich viel lieber bei euch.«
Isabella sah ihm nach, wie er über den Kies der Auffahrt zu seinem Wagen ging. »Hoffentlich bringt er nicht wieder Leute mit, dann habe ich gar nichts von ihm, wenn er wirklich einmal hier ist.«
Sie ging um das Haus herum zu einem kleinen Schuppen, um ihr Fahrrad zu holen. Da stand der Schlitten in der Ecke und ein verstaubter Bollerwagen, in dem sie als Kind bei längeren Wanderungen gezogen wurde. Unter einer Plane versteckte sich Vaters Fahrrad mit dem Kindersattel hinter der Lenkstange. Das waren die schönsten Ausflüge, an die sie sich erinnern konnte. Mutter hatte einen Picknickkorb hinten auf dem Gepäckhalter, und man fuhr übers Land zu einem Gasthaus mit Bänken und Tischen unter schattigen Bäumen. Da bestellten die Gäste dann Kannen voller Kaffee, und die Frauen packten den selbst gebackenen Kuchen aus, während die Kinder durch den Garten tobten und Fangen und Verstecken spielten. Bei so einem Ausflug hatten die Eltern die Familie Brandt kennen gelernt. Nette Leute, erinnerte sich Isabella und pumpte Luft in die Reifen ihres Rades. Drei Kinder hatten sie, und obwohl alle drei älter waren, verhielten sie sich lieb zu ihr. Sie halfen ihr, Spiele zu gewinnen, nahmen sie vor der Mutter in Schutz, wenn ein Kleid ein Loch bekommen hatte, und erzählten ihr die abenteuerlichsten Geschichten von Baumaffen und Riesenfröschen. Und als sie in die Schule kam, hatte ihr die fast erwachsene Uschi eine große bunte Schultüte überreicht. Aber dann hatten sich die Mütter zerstritten, und die Freundschaft war zu Ende. Dabei hatte ihr der jüngste Sohn, Jürgen, besonders gut gefallen.
Während der Fahrt dachte sie auch an die Familie des Vaters. Die Stellings und die Brennickes hatten in Hamburg bekannte Namen und großen Einfluss, aber Vaters Familie war mit ihnen zerstritten. Irgendwann hatte eine Viktoria Brennicke einen Onkel des Vaters zu einer Schiffsreise überredet, und dann waren die beiden in chinesischen Gewässern von Piraten umgebracht worden. Vaters Großmutter gab den Hamburgern die Schuld am Verlust ihres geliebten Sohnes. Seitdem verkehrten die Familien nicht mehr miteinander, was Isabella sehr bedauerte, sie hätte gern die reichen Verwandten in ihren schönen Häusern an Alster und Elbe kennen gelernt.
Conrad Stelling fuhr langsam durch das Gartentor und hinaus auf die Straße. Er durchquerte die engen Dorfstraßen und die zahlreichen Kurven, bis er die Park-Straße und kurz darauf die Elbchaussee erreichte. Wie immer genoss er den Blick auf die unter ihm dahingleitende Elbe. Dann dachte er an die vergangene Stunde daheim und bedauerte, so wenig Zeit für seine Tochter zu haben. Sie ist ein so aufgewecktes, wissbegieriges kleines Mädchen mit viel zu vielen Fragen, und ich bin so selten für sie da, dachte er. Dabei ist sie auf mich angewiesen. An wen soll sie sich wenden, wenn nicht an mich? Laura in ihrer kühlen Art streift Fragen und Probleme wie lästige Komplikationen von sich. Für sie sind ein gepflegter Haushalt, gesellschaftliche Anerkennung, ein repräsentatives Erscheinungsbild und das finanzielle Auskommen wichtiger als die Probleme einer Zehnjährigen. Na schön, äußerlich sind wir eine musterhafte Familie, aber innerlich stimmt gar nichts mehr. Lauras kühle Zurückhaltung ist schrecklich. An zärtliche Augenblicke kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Gute gemeinsame Gespräche gibt es schon lange nicht mehr, sie zeigt kaum Interesse an meinem Beruf, und wenn ich Freunde oder Kollegen mitbringe, zieht sie sich so schnell wie möglich zurück. Und genauso ergeht es Isabella. Bringt sie eine Freundin mit, achtet Laura weniger auf die Höflichkeit und Wohlerzogenheit des fremden Mädchens als vielmehr auf den Schmutz, den sie eventuell mit den Schuhen ins Haus trägt. Isabella, die das merkt und der das peinlich ist, bringt immer seltener einen kleinen Gast mit und vereinsamt zusehends, überlegte er traurig.
Conrad sah ein letztes Mal hinüber zur Elbe, dann drehte er nach links ab und suchte einen Platz für sein Auto am Altonaer Bahnhof. Nach Hamburg hinein fuhr er mit der Ringbahn, die ihn sicher und ohne drängelnden Verkehr bis zum Dammtorbahnhof brachte. Von hier aus hatte er nur noch wenige Schritte bis zum Haupthaus der Hochschule. Wie so oft blieb er vor dem imposanten Bauwerk stehen, das eher einem Palast als einem Vorlesungsgebäude ähnelte, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.
»Nun, Herr Kollege, wie immer fasziniert vom Reichtum der Hamburger Mäzene.«
Lächelnd drehte sich Conrad um: »Wie immer fasziniert«, nickte er, »der Reichtum Hamburger Bürger scheint unermesslich. Wie angenehm, dass das Vermögen der Kaufmannsfamilie Siemers auch der Wissenschaft zugute kommt.« Er reichte dem Kollegen die Hand. »Hallo, Benedikt, auch Vorlesungen heute Nachmittag?«
Benedikt Bemberg schüttelte den Kopf. »Es gibt ein paar Schwierigkeiten, für die ich keine Lösung weiß.«
»Ihr habt Probleme? Sag mir Bescheid, wenn ich helfen kann.« Er wusste, dass Bemberg und ein paar andere Kollegen mit jüdischen Gelehrten, die längst Berufsverbot hatten, kooperierten und eine Flucht nach Übersee organisierten. Bemberg hakte sich bei ihm ein. »Lass uns in den Park gehen, da sind wir ungestörter.«
Conrad sah auf die Uhr: »Ein paar Minuten habe ich noch, was gibt’s?«
»Wie du weißt, versuchen wir, im Abstand von einigen Wochen, Freunden auf Hamburger Schiffen eine Seereise zu ermöglichen. Die Schiffspassagen, Visa, Pässe – wir stellen sogar unsere Namen und oft unser Geld zur Verfügung, womit die Ausreise auch gelingt. Aber nun hören wir, dass man unsere Freunde in Übersee nicht an Land lässt, dass sie oft wochen- oder gar monatelang unter schlimmsten Bedingungen mit diesen Schiffen unterwegs sind und schließlich, wenn überhaupt, ganz woanders landen, als sie wollen oder erwartet hatten. Wir sind in großer Sorge und fürchten, dass diese Seereisen in Zukunft nicht mehr möglich sind.«
»Um Gottes willen, warum lässt man sie denn nicht an Land?«
»Offizielle Begründungen gibt es selten. Man lässt sie einfach nicht von Bord, und die Schiffe irren auf den Meeren umher, bis sie irgendeinen Hafen finden, der die Passagiere aufnimmt. Bekannte von mir wollten nach Argentinien und landeten in Chile, andere wollten auf einem voll ausgebuchten Schiff nach Kuba und fanden nach wochenlanger Odyssee in Belgien, Frankreich, England und in den Niederlanden Unterschlupf.«
»Furchtbar! Und das mit Frauen und Kindern an Bord.«
»Ich würde dir das nicht erzählen, wenn ich nicht wüsste, dass du selbst ständig nach Hilfsmöglichkeiten suchst. Rechne also nicht mehr mit ›Seereisen‹.«
»Meine Möglichkeiten sind mehr als beschränkt.«
»Ich weiß, lass uns trotzdem Erfahrungen austauschen, wir müssen einfach Wege finden, denn unseren Freunden sind die Hände gebunden, sie sind auf uns angewiesen, und der Druck wird immer stärker.«
»Du kannst mit mir rechnen, jederzeit. Ruf mich an oder kommt zu mir in die Wohnung, wenn es ganz eng wird.« Conrad sah auf die Uhr. »Leider muss ich jetzt gehen, sonst gibt es einen Aufstand in Hörsaal sieben.« Er reichte dem Kollegen die Hand. »Was meinst du, wie lange das alles noch dauert?«
»Conrad, die wirklichen Probleme haben noch gar nicht angefangen.«
Nachdenklich verließ Conrad Stelling den kleinen Park. Seit der Pogromnacht im letzten November, als jüdische Geschäfte, Schulen und fast alle Synagogen zerstört wurden, hatte die Angst auch ihn ergriffen. Jüdische Geschäftsinhaber, die er gut kannte, Gelehrte, die er als Freunde bezeichnete, Ärzte, die er schätzte, Industrielle, deren Söhne er unterrichtete, sie alle waren entsetzt und zutiefst verunsichert. Seit jener furchtbaren Nacht, deren Ausmaß er erst am nächsten Morgen auf dem Weg zur Hochschule erkannte, denn im kleinen Flottbek gab es keine Ausschreitungen, zweifelte er an der Aufrichtigkeit deutscher Mitbürger, denn viele hatten bereitwillig und freiwillig geholfen, Juden zu denunzieren und ihre Einrichtungen zu zerstören. Wie er später erfuhr, kamen allein in Hamburg einundneunzig jüdische Mitbürger ums Leben. Viele wohlhabende Juden wurden verhaftet, kamen in Konzentrationslager und wurden später gegen ein hohes Lösegeld wieder freigelassen. Conrad schüttelte den Kopf, wohin sollte das noch führen? Er war kein ängstlicher Mann, im Gegenteil, aber manchmal schnürte ihm die Furcht die Kehle zu. Auf der einen Seite dieser Hass, auf der anderen Seite das patriotische Geschrei für Führer, Volk und Vaterland.
Als Conrad Stelling an diesem Abend nach Hause fuhr, hatte er einen Studenten bei sich. Lukas Breitström war Schwede und jüdischer Abstammung. Er war einer der Begabtesten seines Semesters und einer der Gefährdetsten, weil er seinen Mund nicht halten konnte. Offiziell arbeiteten sie an einem Vortrag, inoffiziell musste Conrad seine Frau überzeugen, seinen Gast für ein paar Tage zu verstecken. Und das war problematisch. Nicht, dass Laura nicht hilfsbereit gewesen wäre, in dieser Beziehung war sie vorbildlich, es ging ihr eher darum, die eigene Familie zu schützen. Es gab Dienstpersonal, dem ein fremder Mensch im Hause auffallen musste, selbst wenn man ihn im Keller versteckte. Auch Isabella würde Fragen stellen, und Nachbarn würden das Haus beobachten.
Conrad seufzte, und Lukas erklärte: »Professor, Sie bringen sich selbst in Gefahr. Ich könnte hier und jetzt noch aussteigen.«
»Kommt nicht in Frage. Wir arbeiten an dem Vortrag wie geplant. Morgen bekomme ich Nachricht aus Flensburg, übermorgen fahren Sie ganz offiziell in den Norden, um den Vortrag zu halten, und einen Tag später sind Sie in Dänemark und auf dem Weg nach Hause.«
Diese Verbindung hatte schon einmal funktioniert, es würde auch diesmal klappen. Nur mit Isabella musste er eindringlich reden. Sie mochte diese Besuche nicht, weil sie ihr den Vater entzogen, aber sie musste verstehen lernen, dass es Situationen gab, die Vorrang hatten. Dabei durfte er sie nicht in die wirklichen Probleme einweihen, wollte er sie nicht gefährden. Unbewusst seufzte er noch einmal.
Isabella beeilte sich. Sie war spät dran. Nachmittags konnte sie Gott sei Dank mit dem Rad zur Schule fahren, wo sich ihre Gruppe heute traf. Während der Schulzeit durfte sie das Rad nicht benutzen und musste den ganzen Weg laufen. Die Schule hatte zu wenig Fahrradständer, und nur Schülerinnen, die wirklich weit entfernt wohnten, durften mit dem Fahrrad kommen.
Sie hatte die halbe Strecke hinter sich, als ein rasantes Klingeln näher kam. Sie fuhr an die Seite, um Platz zu machen. Aber der Drängler fuhr nicht vorbei, sondern stoppte neben ihr und hielt sie an.
»Hee, Isabella, dich habe ich ja lange nicht gesehen.« Da stand Jürgen Brandt vor ihr und grinste über das ganze Gesicht. Jürgen, der ihr schon gut gefallen hatte, als sie noch im Kaffeehausgarten Fangen spielten, gefiel ihr immer noch, dachte sie und zuckte mit den Schultern. »Du wohnst nicht gerade in der Nähe. Wo kommst du her, wo willst du hin?«
»Ich muss genau wie du zum Dienst. Wo trefft ihr euch?«
»Im Lyzeum.«
»Das liegt auf meinem Weg, ich fahre mit.« Ohne Verlegenheit sah er sie an. »Bist ja inzwischen richtig groß geworden. Und beim BDM bist du auch schon.«
»Im Jungmädchenbund«, verbesserte sie ihn, »bis zum Bund Deutscher Mädchen sind’s noch drei Jahre. Und du?«
»Ich bin in der HJ und habe schon eine Gruppe mit Pimpfen unter mir.«
»Dann bist du ja Scharführer. Na ja, du bist auch älter als ich.«
»Klar, macht richtig Spaß.«
Sie fuhren nebeneinander her, und Isabella betrachtete ihn heimlich. Gut sah er aus in der schicken Uniform, braun gebrannt von der Sommersonne. Das kurze dunkle Haar klebte verschwitzt an seinem Kopf. Zwischen Hals und Schulter baumelte eine grüne Kordel, Zeichen dafür, dass er HJ-Führer war. Sie wollten einen anderen Radfahrer überholen, und Jürgen ließ die laute, schrille Klingel ertönen.
»Deine Klingel gefällt mir. Damit macht dir jeder Platz.«
»Hab ich gekauft und ein bisschen umgebaut. Wenn du willst, besorge ich dir auch so eine.
»Das wäre toll. Meine ist schon halb verrostet.«
»Dein ganzes Rad sieht halb verrostet aus.«
»Ich habe einfach keine Zeit für’s Putzen.«
»Wenn’s dir recht ist, schaue ich mal vorbei und bringe das in Ordnung.«
»Das würdest du machen?«
»Klar, ist doch Ehrensache. Wann soll ich kommen?«
»Vielleicht Sonnabend Vormittag?« Isabella konnte es kaum fassen, dass dieser tolle HJ-Führer ihr Rad putzen wollte.
»Abgemacht. Soll ich klingeln, oder ist es dir lieber, wenn deine Eltern mich nicht sehen?«
»Natürlich kannst du klingeln, ich muss dich doch nicht verstecken.«
»Schade, dass es diesen blöden Streit zwischen unseren Müttern gibt, wir hatten uns alle so schön angefreundet.«
»Ja, mir tut’s auch Leid.«
»Wir beide könnten uns doch trotzdem öfter mal sehen. Wenn du mir deinen Stundenplan gibst, hole ich dich ab und zu von der Schule ab.«
»Abgemacht, kriegst du am Sonnabend.«
»Prima, und die Klingel bringe ich auch mit. Aber jetzt muss ich abbiegen, sonst wird mein Umweg zu groß.«
Sie hielten an, und Jürgen streckte seine Hand aus. »Eine Frage hab ich noch.«
»Ja?«
»Kommst du mal mit mir zum Eidechsenfangen?«
»Was willst du denn mit Eidechsen?«
»Mein Vater hat sich einen Steingarten angelegt, und nun redet er dauernd von Eidechsen, die ihm noch fehlen.«
»Und wo fängt man die?«
»Ich kenne eine Kiesgrube am Falkensteiner Ufer, da wimmelt es nur so. Aber allein ist es schwierig, die Viecher sind zu schnell. Ich würde dich zu Hause abholen, damit du nicht allein so weit fahren musst.«
»Das würde mir Spaß machen.«
»Also abgemacht?«
»Abgemacht.«
Jürgen fuhr in Richtung Altona weiter, Isabella erreichte ihre Schule. Auf dem Hof wimmelte es von kleinen und größeren Mädchen in Uniform. Sie hatte kaum ihr Rad abgestellt, als schon die ersten Kommandos ertönten.
»Alle Gruppen aufstellen. Vorn die Jungmädel, dahinter die vom BDM.«
»Was haben die heute wieder vor?« Isabella fragte die neben ihr stehende Annemarie. »Es geht um die Schwimmwettkämpfe am nächsten Wochenende.«
»So ein Mist, ich hab’ mich gerade für Sonnabend verabredet.«
»Du und verabredet, was hast du vor?«
»Eidechsen fangen.«
»Eidechsen fangen? Spinnst du? Warum willst du Eidechsen fangen?« »Ein Freund von früher braucht welche für einen Steingarten.«
»Welcher Freund von früher? Verheimlichst du mir was?«
»Nein, vor ein paar Jahren waren unsere Eltern befreundet, und wir haben zusammen gespielt. Heute hab’ ich ihn zufällig wieder getroffen. Und nun diese Schwimmerei am Wochenende.«
»Ja, du solltest wirklich den Kopfsprung üben.«
Isabella war eine gute und schnelle Schwimmerin. Das hatte sie von ihrem Vater gelernt, der sogar das Goldene Schwimmabzeichen besaß. Aber sie konnte keinen Kopfsprung. Der Vater übte mit ihr, ein Schwimmlehrer versuchte es, und oft genug probierte sie es heimlich, wenn niemand zusah. Aber es klappte nicht. Sie landete immer mit dem Bauch zuerst im Wasser, und das tat weh. Und schließlich sprang sie aus lauter Angst vor dem nächsten Bauchklatscher falsch. Die Turnlehrerin in der Schule, die auf die schnelle Schwimmerin nicht verzichten wollte, erlaubte schließlich, dass Isabella unterhalb des Startblocks im Wasser kauerte und losschwimmen musste, wenn die anderen sprangen. Das verschaffte ihr natürlich einen großen Nachteil, weil ihr der Anfangsschwung fehlte, aber sie schwamm mit ihren langen Armen und Beinen so schnell, dass sie meist als Erste das Ziel erreichte. Und nun begann das ganze Drama von neuem bei der Hitler-Jugend. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Jungen und Mädchen am Beckenrand standen und vor Vergnügen johlten.
Zum Gesang einiger patriotischer Lieder, nach denen man auch marschieren konnte, zogen die Mädchen in Gruppen ab. Isabella marschierte in ihrer Schar bis zum Ortsrand. Dort lagerten die Mädchen am Waldrand. Die Führerin, ein BDM-Mädel aus Nienstedten, kaum älter als die Kinder, die sie betreuen sollte, befahl den Mädchen, sich zu setzen und die Dienstpläne hervorzuholen.
»Ich diktiere euch die Aufgaben für die nächsten Wochen. Schreibt alles auf. Wenn jemand nicht kann, soll er sich jetzt melden.«
Isabella hob sofort die Hand. »Wir verreisen.«
»Wann und wohin?«
»Das Datum weiß ich nicht genau. Aber es geht ins Riesengebirge.«
Birthe, die Führerin, zögerte einen Augenblick. »Das Riesengebirge grenzt an das Sudetenland. Du kannst einen Abstecher dorthin machen und uns später berichten, wie die Menschen jetzt da leben, nachdem sie endlich zum deutschen Reich, zu uns, gehören.«
»Ich weiß nicht, ob meine Eltern so einen Abstecher erlauben.«
»Dann sollen sie dich begleiten. Übrigens, was ich dir schon lange sagen wollte«, sie trat auf Isabella zu und zog an ihren Locken, »du solltest Zöpfe flechten, diese wilde Frisur kleidet ein Hitler-Mädel nicht. Zum nächsten Dienst kommst du mit ordentlich geflochtenen Haaren.«
Isabella starrte sie mit offenem Mund an. »Das duldet meine Mutter nie.«
»Dann werde ich mit ihr sprechen.«
Damit war für Birthe das Thema »Isabella« erledigt. Sie wandte sich wieder den anderen zu. »Hat noch jemand irgendwelche Pläne für den Sommer?«
Keins der Mädchen wagte, sich zu melden, und Isabella ärgerte sich. Warum bin ich wieder vorgeprescht. So eine Gemeinheit mit den Zöpfen und mit dem Sudetenland. Für die Ferien hätte Paps eine Entschuldigung geschrieben, und alles wäre erledigt gewesen. Jetzt musste sie die Eltern zu einem Ausflug nach »Wer-weiß-wohin« überreden und bei jedem Dienst mit Zöpfen erscheinen.
Birthe diktierte den Dienstplan für die nächsten Wochen. Da gab es als Erstes das Wettschwimmen, dann Schulungsnachmittage, damit die Kinder so früh wie möglich Unterordnung, Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Kameradschaft und Liebe für Führer, Volk und Vaterland erlernten, dann gab es den Sport an den Wochenenden, »denn nebender geistigen Schulung muss die körperliche Ertüchtigung stehen«, erklärte Birthe. »Der Gesundheitszustand der deutschen Jugend ist nach ärztlichen Berichten erschreckend schlecht. Also da müssen wir viel tun.« Dann sagte sie: »Und jetzt das Wichtigste: Ab sofort und bis zum Ende des Sommers werdet ihr Heilkräuter sammeln. Deutsche Jungen und Mädchen vergeuden nicht den Reichtum der Natur. Wir werden die medizinischen Fabriken mit Bergen von Heilkräutern überschütten.«