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Ossi Urchs & Tim Cole

DIGITALE AUFKLÄRUNG

Warum uns das Internet klüger macht

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Inhalt

Vorwort: Über die Beschleunigung des Alltags
Ich bin ich, und ich bin da!
Digitalisierung bringt Märkte in Bewegung
Vernetzung bedeutet immer Veränderung
1. Warum wir eine »digitale Aufklärung« brauchen: 10 Thesen
Was uns die Teekanne lehrt
Das Neue verstehen
Zehn Thesen zu einer digitalen Aufklärung
Kategorien für eine neue Aufklärung
2. Vergangenheit und Zukunft der Vernetzung
Die Lehre der Spinne
Vernetzung ohne Netzwerk
Metcalfes Vermächtnis
Leben im Schwarm
3. Denken in Echtzeit
Digital Natives sind keine neue Generation
Digitalisierung verändert die Wahrnehmung (der Umwelt und meiner selbst)
Multitasking ist keine Körperverletzung
4. Der vernetzte Mensch
Wie die digitale Vernetzung uns verändert
Warum Ballerspieler friedliche Menschen sind
Evolution im Zeitraffertempo
Der sechste Kondratieff
Der Generationenkonflikt findet nicht statt
Neophobe und Neophile
Ein einig Volk von Onlinern
5. Generation jetzt
Digitale Schnullerbabys
Willkommen in der Facebook-Gesellschaft
Die Welt ist »meins«
Social Media 2.0: Zeitverwendung statt Zeitverschwendung
Kein Leben ohne Facebook
Jeder ist Pressesprecher
6. Der neue Lebensplan
Feierabend war gestern
Arbeit ohne Grenzen
Digitalisierung versus Industrialisierung
Digitaler Beduine sucht digitale Oase
7. Die Zukunft des Privaten – das globale Dorf
Pulcinellas Geheimnis und die Erfindung des Privaten
Alles ist öffentlich
Digitale Omertà
Der Rumpelstilzchen-Effekt
Im Schutz des digitalen Schleiers
Agenten, Avatare und digitale Diskretion
Anonymität als Menschenrecht
8. Information will frei sein
Schwarze Löcher im Internet
Das neue Rechtsempfinden
Ein Drehbuch für Raubkopierer
Kunst ohne Copyright – Copyright ist keine Kunst
Ist geistiges Eigentum Diebstahl?
Alte Inhalte in neuem Kontext
Information ohne Zusammenhang
Blogger – Amateurjournalisten auf dem Vormarsch
Der Journalist als Auslaufmodell
9. Das Erdbeben von New York
Die Angst vor der Freiheit
Der Bote lebt gefährlich
Das Erbe der Twin Towers
Die Überwacher überwachen!
10. Das Ende der Utopien
Politik in Echtzeit: Von Hacktivismus zur Helvetisierung
Digitale Kleinstaaterei
Heilslehren waren gestern
Die Zukunft der Intelligenz
11. Selber denken!
Neue Begriffe für eine neue Ethik
Alles wird klar
Zukunftsziel Offenheit
Autonomie als Systemelement
Nachwort: Wie dieses Buch entstand
Anmerkungen
Literaturverzeichnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2013 Carl Hanser Verlag München

Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de

Lektorat: Martin Janik

Herstellung: Andrea Stolz

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

ISBN 978-3-446-43673-2

E-Book-ISBN 978-3-446-43821-7

VORWORT: ÜBER DIE BESCHLEUNIGUNG DES ALLTAGS

Im Kinderbuch Alice hinter den Spiegeln lässt der Autor Lewis Carroll seine kleine Heldin von der Königin an die Hand nehmen, die daraufhin losrennt und das Kind so lange hinter sich herzerrt, bis es vor Erschöpfung stehen bleibt und sich wundert, dass sie beide immer noch auf dem gleichen Fleck stehen wie vorher. »Bei uns kommt man meistens irgendwo hin, wenn man lange Zeit so schnell rennt wie wir gerade«, sagt sie keuchend. »Ein langsames Land ist das!«, sagt die Königin. »So schnell wie du muss man hier schon rennen, um bloß auf der gleichen Stelle zu bleiben. Wenn du irgendwo hinkommen willst, musst du mindestens doppelt so schnell laufen.«

Willkommen im Land hinter dem Bildschirm, wo man irgendwie das Gefühl hat, alles liefe viel schneller ab, als man es mitbekommen und verstehen kann, und wo sich der Fortschritt im Zeitraffertempo abzuspielen scheint. Das Internet hat uns eine völlig neue Zeiteinheit beschert: Internet-Jahre, von denen zwischen sechs und neun angeblich einem Menschenjahr entsprechen. Womit sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Hundejahren haben, die ja auch viel schneller ablaufen sollen als unsere.

Viele von uns haben damit so ihre Probleme, nicht nur die Betagteren unter uns. Es geht wohl weniger um Alter als um Anpassungsfähigkeit, um Flexibilität und um Aufgeschlossenheit für neue Dinge. Wohl an keinem Beispiel wird das deutlicher als bei Twitter. Die Menschheit unterteilt sich in Bezug auf diese winzigen »Telegramme aus dem Internet«, wie der Nachrichtendienst einmal beschrieben wurde, in zwei unversöhnliche Lager: die einen, die Twitter für so ziemlich das Dämlichste halten, was ihnen je untergekommen ist (»99 Prozent Mist«) und die anderen, für die Twitter nichts Geringeres ist als eine Revolution in der Kommunikationstechnik.

Zur Erinnerung: Per Twitter ist es möglich, Nachrichten von maximal 140 Zeichen Länge vom PC oder unterwegs per Handy abzusetzen, die zunächst einmal auf der Website www.twitter.com dargestellt werden. Da mittlerweile pro Stunde viele Millionen solcher »Tweets«, wie die Superkurztexte heißen, geschrieben werden, kann kein Mensch sie alle lesen. Deshalb sucht man sich diejenigen Twitter-Autoren aus, denen man »folgen« möchte, so wie weiland die Jünger Jesus gefolgt sind. Sie heißen im Englischen auch genauso, nämlich »follower«, was auch so viel wie »Anhänger« oder »Fan« bedeutet. Das heißt: Ich sehe nur die Texte, die von den Menschen stammen, denen ich »followe«, wie es Neudeutsch heißt.

Es ist erstaunlich, wie viel Geistreiches sich in 140 Zeichen packen lässt, aber natürlich auch wie viel aberwitzig Dummes. Das mit den 99 Prozent Mist kommt ungefähr hin – aber wegen des einen Prozents lohnt sich die ganze Mühe, jedenfalls für die Anhänger von Twitter. Und die sind seltsamerweise zu einem erstaunlich hohen Anteil ältere Menschen. Wir meinen damit die Generation der »Babyboomer«, also diejenigen, die entweder langsam ins Rentenalter kommen oder bereits ihr berufliches Ablaufdatum erreicht haben. Da lässt zum Beispiel einer, der sich »@lusches« nennt und von Beruf Metzgermeister im Oldenburgischen ist, täglich Dutzende von Tweets vom Stapel, in denen es um Bratwürste und Bauernbraten, um Salzgraslamm und Partyservice geht. Klar: Der Mann hat eigentlich beruflich alle Hände voll zu tun und findet trotzdem noch Zeit zum Online-Zwitschern.

Ich bin ich, und ich bin da!

Bei Twitter ist es gerade die Mischung aus Selbstmitteilung und Echtzeitkommunikation, die viele fasziniert. »Ich bin ich, und ich bin da!«, lautet die Kernbotschaft dieses neuen Mediums – das neueste in einer Reihe von technischen Innovationen, die uns Menschen einander immer näher bringen. Zugleich setzen sie uns aber auch unter neuen Druck. Jeder Kommunikationsversuch, jede E-Mail, jede SMS, jede Twitter-Nachricht ist zugleich ein Hilferuf aus dem digitalen Jenseits: Hier ist ein Mensch, der will zu dir! Ich habe Kommunikationsbedarf, also heb bitte ab, antworte, schicke mir etwas zurück, rede mit mir! Und weil wir so sind, wie wir sind, reagieren wir auch auf fast jeden Versuch der kommunikativen Kontaktaufnahme. »Ich bin gerade in einem Meeting«, sagte mir neulich jemand, den ich am Handy angerufen hatte, aber er redete trotzdem volle fünf Minuten mit mir. Was die anderen Teilnehmer wohl so lange gemacht haben? Wahrscheinlich E-Mails beantwortet oder SMS-Texte getippt.

Wir spüren es ja am eigenen Leibe: Das Lebenstempo ist schneller geworden. Wir sitzen angekettet auf der Bank und rudern zu einem Takt, dessen Schlagzahl ständig steigt, und wir sehen nicht den Mann an der Trommel, der sie uns vorgibt. Wir sind alle kleine Alices, die so schnell laufen, wie sie können, nur damit wir auf dem gleichen Fleck bleiben und nicht zurückfallen.

»The Age of Acceleration« nennt der Amerikaner Ray Kurzweil dieses Phänomen. Er glaubt, dass wir sogar erst am Anfang dieser Entwicklung stehen. »Dank exponentiellem Wachstum wird der Fortschritt im 21. Jahrhundert dem von 20000 Jahren Fortschritt im bisherigen Tempo entsprechen«, schreibt er in Homo s@piens.1

Das Problem ist nur: Der Mensch lebt linear. Und insgeheim »weiß« jeder von uns, dass exponentielle Modelle irgendwann kollabieren, weil sie im Grunde nichts anderes sind als Kettenbriefe. Wenn die Kurven langsam ansteigen und dann irgendwann steil nach oben ragen, scheint es so, als ob die Gesetze der Schwerkraft ausgeschaltet worden wären. Sind sie aber nicht, wie wir alle in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends erleben mussten, als nämlich die wunderbare Scheinwelt der »New Economy« auf einmal wie eine Seifenblase platzte und das ganze schöne Geld, das Wachstum und Wohlstand für alle bringen sollte, auf einmal in einem schwarzen Loch verschwand, so wie der Hase in Alice im Wunderland.

Was uns auf einem Umweg zurückbringt zu der Geschichte von Alice und der Frage, wie schnell man rennen muss, um nicht hoffnungslos zurückzufallen, geschweige denn, welches Tempo wir vorlegen – und vorleben – müssen, um vorwärtszukommen. Niemals war diese wundervolle kleine Geschichte von Lewis Carroll wertvoller als heute, um zu verstehen, welche Veränderungen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit gerade im Internet-Tempo ablaufen.

Digitalisierung bringt Märkte in Bewegung

Das wird sofort deutlich, wenn wir uns den »Megatrend« der letzten Jahrzehnte anschauen. Die Rede ist von der Digitalisierung. Alles, was sich digitalisieren lässt, wird auch digitalisiert. Und zwar aus einem einfachen Grund: Digitalisierung bedeutet, wirtschaftlich betrachtet, immer einen Preisverfall. Damit wird klar: Digitalisierung ist ein mächtiger Marktfaktor, der großen Einfluss hat auf zahlreiche Bereiche des Lebens und der Wirtschaft.

Das trifft für den Vergleich vordigitaler Produkte mit ihren digitalen Nachfolgern ebenso zu wie für die Preisentwicklung digitaler Waren im Laufe der Zeit: Wer vor Jahrzehnten eine Langspielplatte käuflich erwerben wollte, musste mit der damals üppigen Summe von 20 D-Mark rechnen. 20 Jahre später war für eine (»teildigitale«) CD immer noch ein recht stolzer Preis zu entrichten, vielleicht 15 Euro. Wer aber heute überhaupt noch bezahlt, wenn er digitale Musik per Download aus dem Web bezieht, braucht dafür kaum mehr als ein paar Cent zu investieren.

Digitale Produkte werden immer billiger, weil die variablen Kosten beim Vertrieb der Ware gegen null gehen. Und das betrifft nicht nur Verpackung und Logistik, sondern auch Lagerhaltung und Verkaufsflächen, um nur die wichtigsten Faktoren zu nennen. Deswegen kann Amazon heute nicht nur bei digitalen, sondern auch bei »analogen« Produkten im Wettbewerb mit herkömmlichen stationären Händlern immer wieder mit Preisvorteilen punkten. Einfach weil das gesamte Geschäftsmodell des Online-Versenders auf der Digitalisierung wesentlicher Geschäftsbereiche beruht.

Dieser Preisverfall führt notwendig zu einem verschärften Wettbewerb am Markt, dem die Anbieter, nicht nur Online-Händler, sondern zunehmend auch die Hersteller selbst, zu begegnen versuchen, indem sie immer direktere Beziehungen zu den Endkunden aufbauen, um so möglichst viele der nicht unbedingt zur Wertschöpfung benötigten Vermittlerfunktionen im Markt auszuschalten. Ermöglicht werden solche Strategien durch einen Grad der Vernetzung von bislang unbekanntem Ausmaß, und zwar sowohl global wie persönlich.

Digitalisierung bedeutet aber nicht nur Preisverfall am Markt für digitale Waren. Sie bringt auch eine unglaubliche Beschleunigung der Technologie- und damit einhergehend der Medienentwicklung. Von Gutenbergs »Erfindung« des Buchdrucks mit variablen Typen 1453 in Mainz (die in China schon mindestens 500 Jahre vorher bekannt war) bis zur massenhaften Verbreitung gedruckter Medien, die man mit dem Aufkommen der ersten Tageszeitungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ansetzen könnte, dauerte es noch etwa 350 Jahre. Bis sich Tim Berners-Lees Konzeption des World Wide Web 1989 am CERN in Genf zu einem »Massenmedium neuen Typs« entwickelt hatte, vergingen gerade noch fünf Jahre. Wobei er den größten Teil dieser Zeit dafür benötigte, das CERN davon zu überzeugen, sein Konzept eines weltweiten Webs direkt in die »Public Domain« zu übergeben, um es der weiteren Entwicklung und allgemeinen Nutzung zuzuführen.

Die Idee von »TBL«, wie Tim Berners-Lee in Internet-Kreisen gerne genannt wird, nämlich die Wissenschaftler am CERN und ihre Forschungsergebnisse besser und effizienter zu vernetzen, beruhte auf damals längst bekannten und etablierten Technologien, vor allem auf »Hypercard«, einer Software, die es erlaubte, auf einem Computer Karteikarten zu simulieren, deren Inhalte mit anderen Karten durch einen sogenannten »Link« verknüpft werden konnten. Das Geniale war, dass er diese Verlinkung nicht nur auf einem einzelnen Computer oder dessen Festplatte nutzen wollte, sondern dass er verstand, welches Potenzial diese Verlinkung entfalten würde, wenn sie erst mal auf allen Workstations am CERN realisiert würde, die damals schon durch ein TCP/IP-Netzwerk miteinander verbunden waren. Um das zu ermöglichen, musste er lediglich ein neues Zusatzprotokoll zum »TCP/IP-Stack« schreiben, das heute weltberühmte »HTTP«. Und das schaffte er in ein paar Tagen.

Die dramatische Veränderung, die die Entwicklung des Web prägte und von allen anderen Softwareprojekten vorher unterschied, war die Strategie der Entwicklung auf der Grundlage offener und allgemein zugänglicher Standards. Und die führte nicht nur zu einer neuen Qualität der Produktionsgeschwindigkeit, sondern auch der Ergebnisse der Entwicklungsanstrengungen des einzelnen Wissenschaftlers. Ähnliche Ergebnisse können aber auch Unternehmen erzielen, deren Mitarbeiterzahl per definitionem endlich ist. Diese Entwicklungsstrategie auf der Basis offener Standards unterscheidet das Internet von anderen, traditionellen Massenmedien, und zwar sowohl quantitativ, also in der Geschwindigkeit seiner Entwicklung und Verbreitung, als auch qualitativ, nämlich in der »Offenheit« der Strategien, also ihrer Fähigkeit, neue Technologien und Anwendungen zu integrieren.

Genau dieser Entwicklungsstrategie folgte Tim Berners-Lee, als er die offenen Standards der Internet-Technologie, die sogenannten Internet-Protokolle nutzte, um auf deren Grundlage seine eigenen, entscheidenden Beiträge zur Entwicklung des World Wide Web zu realisieren. Mittels des »Hypertext Transfer Protocol« (HTTP) kann jeder Nutzer im Netzwerk eine Anfrage an einen (Web-)Server stellen, die der Server mithilfe des gleichen Protokolls durch die Auslieferung der gewünschten Daten beantwortet.

Zur Darstellung der in (IP-)Paketen versandten Daten auf der Client-Seite nutzte Berners-Lee die Standards sogenannter »Auszeichnungssprachen«. Mit deren Hilfe entwickelte er seine vergleichsweise unkomplizierte »Hypertext Markup Language« (HTML), eine Sprache zur Darstellung der übermittelten Daten auf einer digitalen »Seite« – eine Metapher, die an die vordigitale Art der Präsentation von Daten auf einer Dokumenten- oder Buchseite erinnert.

Damit hatte Berners-Lee nicht nur alle wesentlichen Elemente zur Übermittlung und Darstellung der Daten im Web in rekordverdächtiger Zeit entwickelt; durch die Nutzung »offener« Standards war auch jederzeit gewährleistet, dass das System bei Bedarf weiterentwickelt werden konnte, sodass heute nicht nur Text- und Grafikdaten, sondern eben auch Sprach- oder Videodaten in »Echtzeit« (!) per Web übermittelt und dargestellt werden können. Designer können sich nicht nur immer neue Gestaltungsformen für die Darstellung der Daten einfallen lassen: Techniker und Entwickler können ihnen auch immer neue Funktionen und »Logiken« mit auf den Weg zum Nutzer geben. Das Web erweist sich damit als ebenso anpassungs- wie entwicklungsfähiges System und gerade darin allen anderen Massenmedien überlegen.

Diese mit der Digitalisierung und der globalen Vernetzung einhergehende Beschleunigung produziert oder begünstigt doch wenigstens auch sogenannte »disruptive« Entwicklungen, also Technologien und Produkte, die etablierte Märkte und die sie beherrschenden Unternehmen buchstäblich aus den Angeln heben können.

So sahen sich beispielsweise die Hersteller von Autonavigationssystemen noch vor wenigen Jahren in einer ausgesprochen komfortablen Situation: Sie konnten mit relativ einfachen technischen Geräten sowie einer zugegeben relativ komplexen Software an einem schier explodierenden Markt fantastische Preise erzielen. So lange, bis Google die eigenen digitalen Karten angereichert mit der dazupassenden Navigationssoftware in das kostenlose Smartphone-Betriebssystem »Android« integrierte. Damit änderte sich diese Situation schlagartig. Eine ganze Industrie mit einem ehemals florierenden Geschäftsmodell hörte de facto auf zu existieren, weshalb der ehemalige Google-CEO Eric Schmidt nicht ohne Zynismus den Markt für Navigationsgeräte gern als »Zero Billion Dollar Industries« beschreibt.

Vernetzung bedeutet immer Veränderung

Der zweite Großtrend, der mit dem Trend zur Digitalisierung unmittelbar verbunden ist, ist die globale Vernetzung und die dadurch ausgelöste permanente Veränderung. Diese betrifft beileibe nicht nur die technischen Systeme selbst, sondern alles, was mit diesen vernetzten Systemen in irgendeinem Zusammenhang steht: Geschäftsprozesse, Geschäftsmodelle und Marktentwicklungen, aber auch die Menschen selber, die an diesen vernetzten Systemen arbeiten oder damit kommunizieren. Alles unterliegt dem Imperativ der digitalen Veränderung. Darüber wird in diesem Buch noch viel zu reden sein.

So, wie Digitalisierung immer Beschleunigung bedeutet, bedeutet Vernetzung immer Veränderung. Sie liegt geradezu im Wesen der Vernetzung begründet. Ein gutes Beispiel dafür, wie Vernetzung zu Veränderung führt, stammt von Vinton Cerf, einem der Erfinder des TCP/IP-Protokolls und somit einem der Väter des Internets. Was passiert, fragte Cerf, wenn wir einen Internet-fähigen Kühlschrank mit einer ebenfalls Internet-fähigen Personenwaage vernetzen? Es verändert sich etwas. Sie kommen abends nach Hause, und der Kühlschrank ist nicht mehr zu öffnen oder er enthält nur noch Diätkost, weil die beiden sich einig geworden sind, dass Sie lieber ein paar Tage abnehmen sollten.

Vernetzung führt zwangsläufig zu Veränderung, auch im Unternehmen. Nur ist nicht immer sofort offensichtlich, wo sie stattfindet und wie groß ihre Tragweite sein wird. Die große Herausforderung besteht für Manager in einer digitalisierten und vernetzten Wirtschaft darin, die Veränderung für das Unternehmen, für ihr Geschäftsmodell und für sie persönlich zu erkennen und darauf ebenso schnell wie adäquat zu reagieren. Wer das am besten und am schnellsten kann, wird zu den Gewinnern zählen. Die Langsamen werden unter die Räder kommen.

Digitalisierung und Vernetzung sind also die komplementären Kräfte, die die exponentielle Beschleunigung, nicht nur der Technologieentwicklung, sondern unserer gesamten Lebensweise, auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene vorantreiben. Willkommen in der Ad-hoc-Gesellschaft!