Foto: Alexander Schmid
Astrida Wallat, geboren 1975, studierte Germanistik, Theologie und Romanistik in Würzburg und Urbino, Italien, wo sie neben der Landessprache die Feinheiten des mediterranen Alltags von Amore bis Zabaione kennenlernte. Sie ist im Projektmanagement tätig und lebt in Stuttgart.
Für Ruth
e per Corrado
… pasqua con chi vuoi! – »Weihnachten mit der Verwandtschaft, Ostern mit wem es dir gefällt! Gott sei Dank«, ächzt Nonna Elsa, während sie kraftvoll den Sauerteig in der Schüssel schlägt. Schöne, große Blasen muss er werfen, damit daraus am Ende ein Panettone entstehen kann, fluffig und wohlschmeckend wie wenige auf dieser Welt.
Seit ich denken kann, beginnt Weihnachten bei uns spätestens am 19. Dezember, dem Tag, an dem meine Großmutter den ersten Vorteig aus frischer Hefe und Wasser ansetzt, der nach einer Ruhephase weiterbearbeitet werden muss. Ein kompliziertes, zum Teil schweißtreibendes Unterfangen, denn Nonna hält viel auf Traditionen – Trockenhefe verachtet sie ebenso wie die Zuhilfenahme elektronischer Küchengeräte. So sitzt sie auch jetzt da, die rote Plastikschüssel zwischen den Knien, den Holzlöffel in der Hand, müht sich ab, schwitzt und flucht.
»Ach, Elsa«, seufzt Mama, die auf der Arbeitsplatte neben dem Herd kandierte Orangen und Zitronen zerhackt, »sei ehrlich, was wären wir ohne die Familie? Und abgesehen davon«, fügt sie pragmatisch hinzu, »kommen wir alle doch ohnehin nur dieses eine Mal im Jahr zusammen.«
»Und das reicht völlig!«, erwidert Nonna. »Basta, basta, basta!«, stöhnt sie im Takt ihrer Teigschläge.
Wir sind eine Familie – oder eine famiglia, je nachdem. Ich, Anna Maiotti, bin die Tochter des Italieners Dino Maiotti und der Deutschen Silke Maiotti, geborene Pfaffenlehner. Ich habe eine zwei Jahre jüngere Schwester namens Maura sowie ziemlich italienische Großeltern väterlicherseits, die bei uns wohnen, und ziemlich deutsche Großeltern mütterlicherseits, die glücklicherweise nicht bei uns wohnen. Außerdem gibt es meinen Cousin Angelo, den Sohn von Zio Franco und Zia Gina, der älteren Schwester meines Babbo. Angelo ist mit Arianna verheiratet, die beiden haben zwei Kinder, und hätte ich es mir aussuchen können, wäre ich die Patentante ihrer kleinen Tochter Savia gewesen. Weil man sich in einer halb italienischen Familie jedoch selten etwas aussuchen kann, bin ich die Patentante des achtjährigen Ugolino geworden. Ebenfalls nicht wirklich ausgesucht habe ich mir meine Arbeitsstelle. Dottore Vincenzi, ein Zahnarzt derselben Herkunft wie mein Vater, hat mich genommen, weil er uns kennt.
Jetzt lümmle ich neben der teigschlagenden Nonna am Küchentisch und rühre in einer fade schmeckenden camomilla, gegen die ich wieder einmal machtlos war.
»Wer hart arbeitet …«, presst Nonna kurzatmig hervor, indem sie das Kinn mahnend in Richtung der unseligen geblümten Teedose auf der Anrichte reckt.
»Wer hart arbeitet, muss dafür zusätzlich mit Kamillentee bestraft werden!«, brummt Babbo, der mein Schicksal teilt und ebenso lustlos in eine Tasse des eklig gelben Gebräus starrt. Dieser Einwurf wird von Nonna mit einer Drohgeste quittiert, bei der jeder italienische Sohn einer italienischen Mutter sofort weiß, dass hier, genau hier, die Grenze liegt, die keinesfalls überschritten werden darf.
»Camomilla ist gesund, wärmt den Magen und unterstützt die Verdauung. Damit …«
»… basta, schon klar«, füge ich mich in das Unvermeidliche. Über die Beschaffenheit meiner Darmflora zu diskutieren scheint mir noch schlimmer als der Tee. Nonna hat allerdings gut reden, denn vor ihr auf der Anrichte steht ein Pikkolo Prosecco Valdo (ihre Lieblingsmarke), an dem sie während des Kochens pausenlos nippt.
Am Kopfende des Tisches vergleicht Nonno Corrado Horoskope. Er liebt die Sterne, und wie die meisten gebürtigen Neapoletaner ist er überaus abergläubisch. Unser Haus ist vollgestopft mit irgendwelchen Objekten, die dem allerorts lauernden malocchio, dem bösen Blick, entgegenwirken, Glück befördern, Unglück verhindern sollen. Nonnos Repertoire an schicksalsrelevanten Verhaltensweisen ist beeindruckend. Nie würde er einen Hut aufs Bett legen oder den Löffel beim Essen in der linken Hand halten, weil das ebenso Unglück bringt, wie den Regenschirm in der Diele zu öffnen. Um Ehestreitigkeiten vorzubeugen, würde er nie und nimmer mit Nonna ein Handtuch teilen, und gefrühstückt wird ausschließlich in den eigenen vier Wänden – auf nüchternen Magen einer Elster zu begegnen, käme einer Katastrophe gleich. Non è vero ma ci credo – was so viel heißt wie: Zwar ist es Blödsinn, aber ich glaube daran; meinen Großvater muss man sich als fleischgewordenes Exempel dieser Redensart aller Redensarten vorstellen.
»Und, wie sieht’s so aus in den Sternen?«, erkundige ich mich, mehr zur Ablenkung von der Kamillenplörre denn aus echtem Interesse.
»Mmh, ja, also, in naher Zukunft sieht es grundsätzlich …«, setzt Nonno etwas umständlich an.
»In naher Zukunft«, ergreift Mama das Wort, »sieht es grundsätzlich so aus, dass das Abendessen fertig ist.« Sie zieht den Steinguttopf vom Herd, in dem seit einer guten halben Stunde die von Nonna vorbereitete minestrone vor sich hin köchelt, und wendet sich zur Tür.
»Mau---ra«, brüllt sie nach oben ins Universum des ersten Stockwerks. Als sich dort nichts rührt, nochmals: »Maura, Abendessen.«
»Ich decke den Tisch«, erbiete ich mich hastig an und lasse im Zuge eines Kurzsprints zum Geschirrschrank die lästige camomilla unauffällig in der Spüle verschwinden. Babbo tut es mir nach.
Die Tafel sieht einladend aus, sechs tiefe Teller, sechs silberne Löffel, dazu Gläser aus Murano und ein Korb mit duftender Oliven-Ciabatta. Noch während ich genüsslich den Blick schweifen lasse, rumpelt es auf der Treppe. Wumm, wumm, wumm macht es aufmerksamkeitheischend, dann ist sie da: meine Schwester Maura, gesegnet mit all dem, was einer uninteressanten Erstgeborenen böse Schauer der Minderwertigkeit über den Rücken jagt: Schönheit, Intelligenz, Offenheit, Schlagfertigkeit, Weltgewandtheit, Esprit.
Zielstrebig peilt sie das Spülbecken an, um sich dort die Hände zu waschen, was sie aus Faulheit nie im Bad erledigt, schnuppert, reckt das Näschen in die Luft, schnuppert erneut.
»Könnte es sein, dass da vor kurzem jemand camomilla in den Ausguss gekippt hat?«, flötet sie unschuldig zu mir hinüber, um dann auf ihren angestammten Platz zu plumpsen.
»Du musst dich täuschen«, flöte ich zurück, »nie käme Babbo auf die Idee, so etwas zu tun. Nicht wahr, Babbo?«
Meine Schwester lächelt gnädig. Ihr gewohnt selbstbewusster Auftritt vermag nicht darüber hinzwegzutäuschen, dass sie, der zuletzt sogar »Managementqualitäten« bescheinigt wurden, an diesem Abend etwas angekratzt wirkt. Das belegt allein ihre Anwesenheit. Während ich als hartnäckiger Single auch im fortgeschrittenen Alter von dreiundzwanzig in meinem Mädchenzimmer hause, lebt Maura seit einiger Zeit bei ihrem Freund Sammy in Erlangen, wo sie etwas sehr Geistvolles studiert. Das heißt, sie lebt dort, solange sie sich nicht mit Sammy verkracht. In diesem (häufig eintretenden) Fall verkriecht sie sich umgehend in ihrem alten Zimmer im ersten Stock unseres rustikalen Hauses in Gerasmühle, einem der südlichsten Zipfel von Nürnberg. Gerade ist es wieder so weit. Maura ist zurück. Seit ungewöhnlich langen dreieinhalb Tagen, in denen ich sie allerdings kaum zu Gesicht bekommen habe, weil vor Weihnachten alle Welt plötzlich durch furchtbare Zahnschmerzen geplagt wird und ich in der Praxis Überstunden schieben muss.
Nonna lüpft den Deckel der Kasserolle und greift zum Schöpflöffel.
»Iih, minestrone«, krittelt meine Schwester, als wäre die Suppe auf dem Tisch nichts anderes als der Kamillentee in der Spüle, »ich glaube, ich habe keinen Appetit.«
Nonna bleibt gelassen.
»Wenn du nichts isst, cara, wirst du abmagern bis auf die Knochen«, erwidert sie gleichmütig und kippt eine randvolle Kelle Suppe in Mauras Teller. »Dann wird es erst recht nichts mit deinem Sammy. Kein Mann mag eine spilungona.«
Bohnenstange? Dass ich nicht lache. Grotesk. Wenn es ein Attribut von Superfrauen gibt, das Maura verweigert wurde, dann das, schlank zu sein. Von thigh gap keine Spur. Auf den massiven Schenkeln meiner Schwester sitzen üppige Hüften, ein ausladendes Hinterteil, dazu gehöriger Bauchspeck und einschüchternd große Brüste. Man könnte sie bestenfalls als »vollschlank«, mit etwas Boshaftigkeit sogar als »dick« bezeichnen. Was ihrer Schönheit keinen Abbruch tut. Sammy himmelt sie (meistens) an, Babbo schmilzt dahin, sobald sie mit den Wimpern klimpert, und Mama ist unsagbar stolz auf ihre Jüngste, weil sie etwas »Kulturelles« studiert.
Normalerweise halte ich mich zurück. Heute nicht. Beherzt kneife ich in die verlockende Stelle über dem Hosenbund, wo der Hüftspeck meiner Schwester üppige Röllchen wirft.
»Keine Sorge, Nonna, dieser Speck wird es überleben, der ist zäh.« Durch Mauras Körper geht ein Ruck.
»Stronza«, zischt sie wütend, »schau dich an, wenn es sonst schon keiner tut. Nonna hat völlig recht. Du bist flach wie eine Flunder und – Single.«
Das letzte Wort betont sie absichtlich in einer Weise, die mir beinahe die Tränen in die Augen treibt.
»Pah, besser dünn und Single als fett und …«
»Figlie mie«, beschwichtigt Babbo, der sich inzwischen selbst an der Suppe bedient hat, »non litigate, hört auf zu streiten.«
»Wenn ihr mich fragt, kein Wunder!«, brummelt Nonno, der die Zeitungshoroskope neben seinem Teller abgelegt hat. »Widder und Skorpione sind kosmisch heute nicht harmonisch bestrahlt!« Ich bin Widder, Maura Skorpion.
»Wir fragen dich aber nicht, Corrado«, weist Mama ihren Schwiegervater milde, aber bestimmt zurecht. Nonno schweigt.
»Wie dem auch sei«, erklärt Maura, »ich habe keinen Hunger. Buon appetito a voi! Lasst es euch schmecken.« Schwungvoll schmeißt sie den unbenutzten Löffel zurück neben den Teller. Dann rauscht sie aus der Küche wie eine Primadonna von der Bühne. Mama will ihr etwas nachrufen, Babbo hindert sie daran. Er weiß, es ist zwecklos.
»Na denn, salute!« Nonna hebt ihr Glas und nimmt einen kräftigen Schluck.
Nonno rückt mit geducktem Kopf auf den nun leeren Platz und hinter den vollen Teller neben mir.
»Horoskope lügen nie«, flüstert er mir zu, ehe er sich genussvoll schmatzend seiner Suppe widmet. Auch ich beginne zu essen. Im Gegensatz zu Maura bin ich geradezu verrückt nach minestrone. Mit frischem Gemüse, Reiseinlage, einer Koriandernote und sehr sämig, wie Nonna sie zubereitet hat, kann ich normalerweise nicht genug davon kriegen.
Normalerweise. Heute bleibt mir jeder zweite Bissen im Hals stecken, minestrone oder camomilla, völlig egal. Ich muss ständig an meine entschwundene Schwester denken. Dieses eitle, ungerechte, nervige, faszinierende Trampeltier, ohne das mein fades Leben noch fader wäre! Nach ungefähr zehn Löffeln Suppe und einigen Würgebrocken ciabatta entscheide ich, zu tun, was getan werden muss.
»Ich sehe nach!« Wie gelingt es Maura nur, dass wir für ihr Theater stets bereitwillig die Statisten spielen?
Im oberen Stockwerk befinden sich auf der rechten Seite des Ganges das Bad und mein Zimmer, auf der linken das Gästezimmer und das meiner Schwester. Alle Räume sind winzig, aber in einer famiglia wie der unsrigen ist man mitunter dankbar für den Platz von der Größe einer Bienenwabe, solange man dort für sich sein kann. Vor Mauras Tür halte ich inne. Drinnen wird eine Computertastatur malträtiert, dazu ertönen massive Schimpfwörter, zwischendurch fliegen Bücher. Keine ganz ungewohnte Situation. Ich gehe in die Knie, versuche durchs Schlüsselloch zu spähen. Das habe ich schon als Kind getan, wenn meine kleine Schwester nach einem Streit beleidigt in ihrem Zimmer verschwunden war. Oder später, aus Neugier, als sie ihren ersten Freund hatte. Manchmal, wenn ich nicht schlafen konnte, öffnete ich die Tür einen winzigen Spalt und setzte mich in den Rahmen, um Mauras gleichmäßigen Atemzügen zu lauschen. Ich fragte mich dann, was sie gerade träumen mochte. Das beruhigte mich. Einmal bin ich sogar in dieser unbequemen Position auf der Schwelle weggedöst, wo mich Nonna am nächsten Morgen kopfschüttelnd fand.
Heute Abend klopfe ich halbherzig an und trete sofort ein.
»Maura, tut mir leid wegen vorhin, ich wollte nicht streiten.«
Erschütternd, wie jemand sich in kurzer Zeit derart verändern kann. Meine Schwester sieht erbärmlich aus. Dunkle Ringe unter dunklen Augen, dramatisch verschmierte, von Tränenrinnsalen durchzogene Schminke, die sonst schnittige Bobfrisur zur Unkenntlichkeit zerzaust.
»Schon mal was von Anklopfen gehört?«
»Nette Begrüßung!«
»So bin ich eben.« Trotzig schiebt mir Maura die Unterlippe entgegen, was sie noch bedauernswerter wirken lässt. Ich unterdrücke den Impuls, sie in die Arme zu nehmen.
»Schönes Chaos hier.« Kritisch mustere ich die quer über den Boden verteilten, eselsohrigen Bücher, unter denen ich einige Standardwerke aus der Bibliothek unserer Eltern wiedererkenne.
»Lass das lieber nicht Mama sehen!«
»Wenn du mir so kommst, kannst du gleich wieder abhauen und mit den anderen Idioten minestrone fressen«, versetzt Maura mürrisch.
»Was ist denn passiert?«, frage ich, obwohl ich es eigentlich weiß. »Sammy?«
Maura nickt.
»Dieser Mega-Stronzo. So ein Riesenarsch!«
»Hm.«
»Was heißt ›hm‹?«
»Das hast du schon öfter gesagt.«
»Aber diesmal meine ich es ernst. Da!« Sie deutet auf den Bildschirm ihres Laptops, wo ihr Facebook-Account geöffnet ist. Bei genauerem Hinsehen wird mir klar, dass sie auf dem Profil von Sammy surft. Ein paar Schnappschüsse des vertrauten Gesichts, mal grinsend, mal bedeutungsschwanger dreinblickend, mal cool, mal verträumt. Ziemlich attraktiv.
»Und?«
Der Finger meiner Schwester bohrt sich in die nachgiebige Oberfläche des Flachbildschirms.
»Getrennt«, lese ich laut den Begriff vor, der neben einem unscheinbaren Herzchen prangt, das den Beziehungsstatus symbolisiert. »Oh.«
»Das hat er noch nie gemacht«, jammert Maura, »noch nie.«
»Sicher meint er es nicht so«, versuche ich sie zu beruhigen, aber es kommt mir ebenfalls nicht ganz harmlos vor. Sammy ist nicht der Typ für solche Späße.
»Wie soll er es sonst meinen?«, bellt Maura prompt.
Ich zucke die Achseln. Manchmal fällt es mir schwer, meine kleine Schwester zu trösten. Schließlich hat sie den dritten festen Freund, während ich romantische Beziehungen nur aus dem Fernsehen kenne.
»In ein paar Tagen ist Weihnachten, bis dahin werdet ihr euch versöhnen. War doch immer so.«
»Diesmal nicht«, orakelt Maura düster, »diesmal ist es endgültig. Aus und vorbei. Schau dir das an.« In schwindelerregendem Tempo scrollt sie durch Sammys Pinnwand, auf der verschiedene Personen die vielfältigsten Nachrichten hinterlassen haben. Einige davon stammen von einer gewissen »Rosalie«.
»Hi, it’s me. Never thought something like this could really happen! After all that time«, schreibt sie.
»Yeah, but it did!«, antwortet Sammy.
»Might seem strange, but I’d like to know you better again. See you soon?«
»Wish we could.« Mit dem ersehnten Treffen dürfte es schwierig werden, da Rosalie laut Auskunft von Facebook derzeit beruflich in Kapstadt weilt.
Dazwischen ein paar nichtssagende Nachrichten anderer Freunde. Dann weiter unten, ein früherer post:
»Something new! How do you like this photo?«
»You are really beautiful, Rosalie. Beautiful and charming.«
Schönheit und Charme kann man Rosalie nicht absprechen. Sie trägt lange mahagonifarbene Locken zu einer feingeschnittenen Nase und einem spöttischen Zug um die Mundwinkel. Der bronzefarbene Teint glänzt makellos. Es ist etwas an ihr, so etwas Fotomodellartiges, das spontan Bewunderung erzeugt.
»Kannst du das verstehen?«, schnaubt Maura. »Dreieinhalb Jahre, für nichts! Für eine ›Rosalie‹.« Der Ton ihrer Stimme lässt keinen Zweifel daran, dass sie dieser virtuellen Unperson am liebsten die Augen auskratzen würde.
»Klar, es lief nicht gerade perfekt mit uns in letzter Zeit, das stressige Studium, die Prüfungen, die Familie, das gibt’s halt, ist doch normal, oder?«
Offen gestanden kann ich das nicht beurteilen.
»Diese Nachrichten sind über drei Monate alt«, bemerke ich ausweichend, »warum regst du dich erst jetzt darüber auf?«
»Was glaubst du? Ich bin im Sommersemester durch zwei Prüfungen gerasselt, was Mamma (Maura spricht das Wort italienisch aus, mit ploppendem Doppel-M) im Übrigen noch nicht weiß, und hatte anderes zu tun, als mich um das blödsinnige Facebook-Geplauder, Gechatte und Geposte zu kümmern. Außerdem, warum sollte ich misstrauisch sein? Nie hätte ich mir vorstellen können, dass Sammy untreu ist!«
»Ich, ehrlich gesagt, auch nicht!«
»Aber als er in der letzten Zeit immer so komisch war … entweder schwieg er sich zu Tode, oder er interessierte sich für seltsame Dinge, zum Beispiel dafür, wo Arianna geboren wurde oder ob dein Chef verheiratet ist, als ginge ihn das etwas an. Wenn ich ihn fragte: ›Was ist los mit dir, was hast du?‹, antwortete er nie etwas anderes als: ›Nothing.‹ ›Nothing‹, mit so einer Miene« – Maura zieht eine schaurige Grimasse –, »mit so einer Miene, die irgendwie alles sagt, deswegen habe ich mich hier mal wieder eingeloggt und ein bisschen nachkontrolliert. Und jetzt das!«
»Hast du ihn darauf angesprochen?«, erkundige ich mich vorsichtig.
»Schon.«
»Und?«
»Er meint, diese Rosalie sei eine Bekannte aus der Highschool, die er per Zufall im Netz wiedergetroffen hat, es habe überhaupt nichts zu bedeuten.«
Ich atme auf. Das könnte durchaus stimmen. Sammy ist gebürtiger Amerikaner und schokobraun. Mit siebzehn Jahren kam er nach Deutschland, weil sein Vater für die Army arbeitete. Dass er Maura kennenlernte, war später sicher einer der Gründe dafür, in Deutschland zu bleiben. Die famiglia hieß ihn sofort willkommen, eine Nationalität mehr oder weniger spielte für uns keine Rolle. Sammy war immer ehrlich. Und die fraglichen posts auf seiner Facebook-Seite kann jeder einsehen, was sollte er zu verbergen haben?
»Na also! Wo liegt das Problem?«
»Das Problem? You are really beautiful, Rosalie. Beautiful and charming«, äfft Maura. »Die Geschichte mit der Jugendfreundin glaubt ihm doch kein Mensch. Ach, Anna, man merkt ehrlich, dass du von Männern keine Ahnung hast.«
»Da muss ich dir recht geben«, entgegne ich steif, »von Männern habe ich tatsächlich wenig Ahnung. Aber Sammy kenne ich. Und ich glaube ihm.«
»Tu, was du willst«, kommentiert Maura spitz, »aber mir macht niemand etwas vor; sein eigenartiges Verhalten, das urplötzliche Auftauchen der alten Bekannten … mir ist absolut klar, was Sache ist.«
»Wenn du meinst.«
»Doch komisch, dass er mir nie von einer soooo guten Freundin namens Rosalie erzählt hat, nicht ein einziges Mal in dreieinhalb Jahren.«
»Ach, Maura, mach dich nicht fertig, wer sagt denn, dass sie eine soooo gute Freundin ist?«
»You are really beautiful, Rosalie. And so charming!«
»Du bist eifersüchtig!« Wider Willen wächst in mir erneut das Verständnis für meine temperamentvolle, tragische Schwester.
»Und wenn schon.«
»Wie ich dich kenne, hast du Sammy kräftig Bescheid gegeben, und jetzt hat er genug.«
»Soll er doch. Ich habe auch meinen Stolz.«
Unsere konspirative Sitzung wird unterbrochen von Mama, die es unten nicht mehr ausgehalten hat und plötzlich im Zimmer steht.
»Alles klar?«
Angesichts von Mauras echauffiertem Zustand erübrigt sich die Frage.
»Sammy hat sich von ihr getrennt«, sage ich schnell.
»Ich mich von ihm«, korrigiert meine Schwester umgehend.
»Gut, dann eben so herum«, gebe ich nach.
Mama reagiert völlig unerwartet.
»O Gott. Und was ist mit Massimo?«, fragt sie schockiert.
»Massimo?«, brüllt Maura. »Ich bin todunglücklich, und du erkundigst dich allen Ernstes nach Massimo?«
Mit Massimo verhält es sich wie mit den meisten Dingen in unserer Familie: Es ist kompliziert. Massimo ist erstens ein Freund von Sammy, zweitens der Sohn von Gianni, eines Bekannten der famiglia, sowie drittens und schlimmstens der Traumschwiegerenkel meiner Nonna, die ihn unbedingt mit einer bestimmten Person verkuppeln möchte, nämlich mit mir.
»Mama, wie kommst du jetzt bloß auf Massimo?«, stärke ich Maura schwesterlich den Rücken.
»Das liegt doch auf der Hand. Maura und Sammy streiten, Sammy beklagt sich bei Massimo, und der will dann am Ende vielleicht nicht mehr den …«
Okay, ich habe etwas Wichtiges vergessen: Massimo ist viertens unser Weihnachtsmann, also derjenige, der seit Jahren sehr zur Freude der Kinder am Nachmittag des 25. Dezember pünktlich um drei Uhr als Babbo Natale erscheint. Keine schlechte Besetzung, wie ich zugeben muss. Im letzten Jahr deklamierte er mit italienischem Akzent ein deutsches Gedicht, um danach ruteschwenkend zu fragen, ob die bambini übers Jahr schön brav waren. Daraufhin servierte er, begleitet von freundlichem Geraune und Gegrunze, großzügig seine regali, Geschenke für alle. Zumindest die kleine Savia dürfte keinen Zweifel daran hegen, dass Babbo Natale wirklich existiert, ein waschechter Italiener ist und extrem nach Rasierwasser Marke Baldessarini duftet.
»Und wenn schon«, keift Maura, »was kümmert mich quel cazzo di Babbo Natale?«
»Scheiß Weihnachtsmann? Reiß dich zusammen, signorina«, keift Mama zurück.
Maura sieht nur sich und ist stinksauer, Mama sieht die famiglia und ist besorgt. Da sie sich gegenseitig nicht ansehen wollen, starren beide auf mich, eine von rechts, die andere von links, beide gleich verzweifelt, nur aus verschiedenen Gründen.
»Ach was«, verkünde ich schließlich großspurig, »das regelt sich schon, irgendwie.«
Mit dieser kühnen Behauptung und der geballten Familienverzweiflung im Nacken verzichte ich auf eine Fortsetzung des Abendessens und verschwinde in meinem Zimmer. Mein wundervolles, tröstliches, altprinzessinnenrosa Mädchenzimmer, das dringend einen neuen Anstrich bräuchte.
Weihnachten mit der Verwandtschaft? Ich wollte, es wäre schon Ostern.
… sind immer die süßesten. Oder anders: – »L’erba del vicino è sempre più verde.« Ist eine der Lieblingsweisheiten von Nonna Elsa und heißt übersetzt so viel wie, dass das Gras des Nachbarn stets grüner ist.
Ob eins davon oder gar beides der Wahrheit entspricht, ist im Augenblick schwer zu sagen. Alle verfügbaren Obstbäume sind abgeerntet und die dazugehörigen Gärten bedeckt von einer dicken Schneeschicht, die sich garantiert pünktlich zum 24. Dezember in eine eklige Schlammpaste verwandeln wird. Wenn man sich in diesem Land auf etwas verlassen kann, dann darauf.
Neben uns, ein Stück weiter vorn an der Stichstraße, die zum Hauptweg führt, wohnen seit ein paar Monaten die Schäberles. Die Schäberles stammen aus Schwaben und sind nicht unbedingt freiwillig in Franken, sondern weil Herr Schäberle hierher versetzt wurde, um irgendeine Behörde zu leiten. Nach kurzer Zeit haben die beiden immerhin erkannt, dass es sie in eine Diaspora verschlagen hat, die missioniert werden muss. Und zwar insbesondere, was die »Kehrwoche« anbelangt, die man hierzulande eher »Hausordnung« nennt, was im Grunde dasselbe meint, aber keinesfalls dasselbe ist, zumindest nicht für die Schäberles. Die Kehrwoche verleiht deren Leben einen Sinn. Niemand nämlich kann mit solcher Inbrunst, Pedanterie und religiöser Überzeugung Schnee schippen, die Straße kehren und den Vorgarten pflegen wie die Schäberles. Niemand kann außerdem mit solcher Hartnäckigkeit den vorbeischleichenden oder -hetzenden Leuten durch bloße vorwurfsvolle Anwesenheit verdeutlichen, dass man selbst nicht so exzellent Schnee schippen, die Straße kehren und den Vorgarten pflegen kann wie das Ehepaar Schäberle. Wie es in deren Haus aussieht, mag man sich gar nicht erst vorstellen, wir wissen es auch nicht, denn meine Eltern und die Schäberles können sich nicht leiden. Ebenfalls nicht leiden können sich die Schäberles und meine italienischen Großeltern, die zu uns zogen, als Nonno Corrado vor zehn Jahren seine Arbeit verlor und sich der Zwangspensionierung ergab.
Als ich an diesem Morgen gegen 7.15 Uhr schlaftrunken in Richtung meines etwas abseits geparkten Fiat Panda torkle, lehnt neben der Eingangstür der Nachbarn demonstrativ eine Schneeschippe: Herr Schäberle hat seinen Teil des Winterzaubers längst säuberlich beseitigt. Frau Schäberle poliert nun, bewaffnet mit einem Reisigbesen, das Kopfsteinpflaster und streut Salz, damit sich niemand unfreiwillig auf den Hintern setzt. Die Grenze zu unserem Teil des Weges markiert eine circa zehn Zentimeter dicke, kompakte Schneeschicht. Da die Straße, wenn man den durch Kopfsteinpflaster gesäumten Teerstreifen überhaupt als solche bezeichnen kann, sehr schmal ist und in einer Sackgasse endet, bleibt mir keine Wahl – ich muss an Frau Schäberle vorbei. Unter dem Saum ihres Wintermantels leuchtet es bunt: Das Tragen geblümter Kittelschürzen gehört zu den wenigen gemeinsamen Vorlieben von ihr und Nonna Elsa.
»Grüß Gott«, murmle ich beiläufig und versuche mich, über das blankpolierte Parkett des Trottoirs hinwegschwebend, um den Reisigbesen herumzudrücken. Keine Chance.
»Guten Morgen!« Da ein Großteil der famiglia ihren Dialekt nicht verstehen konnte oder nicht verstehen wollte, bemüht Frau Schäberle sich uns gegenüber um reinliches Hochdeutsch. »Ihr Teil des Gehwegs ist nicht geräumt!«
»Ich, äh, nein, tut mir leid.« Nonno liegt im Bett, Babbo ist gerade nicht ansprechbar, Nonna kann nicht aufgrund von Küchenkämpfen, Maura nicht aufgrund von Liebeskummer, Mama aus Prinzip nicht, ich nicht, weil … versteht sich von selbst. So sieht’s aus.
»Später wird sich jemand darum kümmern«, versichere ich ihr.
»Später?« In einem mimischen Akt der Missbilligung hebt Frau Schäberle die linke Augenbraue. »Da kann man nur hoffen, dass später nicht zu spät ist. Unter dem Schnee befindet sich Glatteis« – sie schrubbt dramatisch mit dem Stiefel auf und ab –, »da kann schnell jemand hinfallen und sich einen Arm brechen oder ein Bein oder …«
»… wer weiß, was sonst noch«, ergänze ich rasch, um mir Weiteres zu ersparen. »Wie gesagt, das wird schon erledigt.« Wer zum Teufel sollte bitte um die Uhrzeit in diese gottverlassene Gegend kommen und sich alles Mögliche brechen? Hat Frau Schäberle darüber einmal nachgedacht? Offensichtlich ja.
»Da hinten wohnen die Hubers, wenn die jetzt herauskommen, das sind alte Leute, müssen Sie wissen.« Und ob ich das weiß, schließlich wohne ich seit meiner Geburt in dieser Straße. Die Hubers hat seit Ewigkeiten niemand zu Gesicht bekommen, weil sie ans Bett und er an den Rollstuhl gefesselt ist. Unnötig, festzustellen, dass sich auch vor ihrer Tür die Schneemassen türmen.
Fraglich ist nur: Wie schaffe ich es zu meinem Auto, sprich, wie beende ich die irrwitzige Diskussion mit Frau Schäberle?
Die Rettung erscheint in Form von Nonno Corrado, der sich schlurfend aus dem Haus quält, unsere alte, verbeulte Schneeschippe in der Hand. Was für ein Timing! Ich frohlocke.
»Ciao, Nonno!«, rufe ich vergnügt. Ein Gefühl des Triumphs bricht sich in mir Bahn, ich setze eine selbstzufriedene Miene auf, die so viel bedeuten soll wie: Hab ich’s nicht gewusst, auf la famiglia ist Verlass!
»Servus, Frau Schäberle, und schönen Tag auch!« Nonno beginnt zu schippen, die Nachbarin bleibt mit offenem Mund zurück.
Meine Arbeitsstelle ist nicht weit entfernt, sieben Fahrminuten bei gutem, zehn bei schlechtem Wetter. Wäre ich sportlicher, könnte ich laufen. »Avanti, topolina«, neckt Babbo mich manchmal, wenn das Wetter gut zu werden verspricht oder der Frühnebel romantisch in den Flussauen hinter dem Haus hängt. Babbo hat viele Kosenamen für mich, die meisten davon mit Vorbildern aus dem Tierreich: topolina, caprioletta, coccinella zum Beispiel. Mama findet das albern, ich selbst bin manchmal ganz gern ein Mäuschen, Rehlein oder Marienkäferchen, es vermittelt mir das Gefühl, nicht ganz so erwachsen sein zu müssen, wie gemeinhin in meinem Alter erwartet wird.
Ich bin früh dran. Als ich die Tür aufsperre, liegen die Praxisräume leer im Dunkeln. Das Durcheinander auf der Empfangstheke ignorierend, bereite ich mir in der Teeküche den zweiten morgendlichen Cappuccino zu. Groß, stark, mit viel Milchschaum. Geöffnet wird um 8.30 Uhr, vorher sind Büroarbeiten zu erledigen. Die Praxis ist keine zertifizierte High-Tech-Maschinerie, sondern eher bescheiden. Normalerweise sind wir zu viert. Meine Kolleginnen Sabrina, Gabriella, Dottore Vincenzi und ich. Außerdem gibt es eine türkische Putzfrau und eine serbische Teilzeitkraft für die Buchhaltung. Derzeit bin ich mit meinem Chef allein, zwischen den Jahren habe ich Notdienst. Wenn ich eins schwören könnte, dann dies: Die durch überdimensionierte Weihnachtsgelage lädierten Kronen und Plomben werden sich die Klinke in die Hand geben, im Wechsel mit den Wichtigtuern, die sonst keine Zeit finden, zum Zahnarzt zu gehen. Im Augenblick jedoch herrscht seliger Frieden, sogar das Telefon schweigt. Genüsslich löffle ich den Milchschaum aus der Tasse, der wie angewärmter Schnee auf der Zunge zergeht.
Gegen die Tatsache, dass daheim einiges im Argen liegt, vermag allerdings der leckerste Cappuccino wenig auszurichten. Die Vorzeichen sind besorgniserregend. Heute früh wurde ich nicht wie üblich vom Wecker, sondern durch Würgegeräusche von schräg gegenüber unsanft aus dem Schlaf gerissen. Eindeutig Maura, die nach unserer Diskussion am Vorabend irgendetwas Unverträgliches – und davon zu viel – zu sich genommen haben muss, ihr übliches Verhalten in Sachen Liebeskummer. Während des Frühstücks in der Küche schimpfte Nonna Elsa energiegeladen über einen widerspenstigen Hefeteig und genehmigte sich aus Frust den ersten Pikkolo des Tages, weswegen Mama ihr prompt einen Hang zum Alkoholismus attestierte. Babbo vergrub sich hinter seiner Ausgabe der Nürnberger Nachrichten, eine stumme Aufforderung, ihn nicht anzusprechen. In der Luft hing üppige Festverdrossenheit, und das wenige Tage vor dem Ereignis.
Gegen 7.55 Uhr klingelt zum ersten Mal das Telefon. Selbstverständlich nehme ich nicht ab, geöffnet wird Punkt 8.30 Uhr, keine Minute früher! Stattdessen spiele ich am Computer eine Partie Coconut Bowling, um anschließend die Karteikarten der Patienten mit Termin herauszusortieren. In unserem System nimmt der Buchstabe »M« wie Maiotti ungewöhnlich viel Raum ein, was unter anderem daran liegen mag, dass meine gesamte Familie bei Dottore Vincenzi in Behandlung ist.
Um 8.29 Uhr dreht sich der Schlüssel im Schloss.
»Buon giorno, buon giorno!«
In meinem gut gelaunten Chef hat die Natur virtuos das verschmitzte Lächeln von George Clooney mit der Schlonzigkeit von Jack Nicholson und der wirren Frisur von Adriano Celentano kombiniert. Zu Letzterem besteht außerdem die Parallele, dass Dottore Vincenzi nicht singen kann, was ihn nicht daran hindert, es mit überbordender Leidenschaft zu tun. Von Azzurro über Volare und Il vecchio frac bis hin zu Felicità – kein populärer Italo-Song bleibt verschont. Richtig schlimm wird es, wenn mein Chef sich im Klassiksektor versucht.
»Gut gefrühstückt?«, erkundigt sich Dottore Vincenzi grinsend. Ich bin perplex.
»Sì grazie, wieso?«
»Sie haben einen Milchbart.«
»Oh.« Verschämt spiegle ich mich im Display meines Handys. Mein Chef stützt sich lässig mit dem linken Arm auf die Theke. Ein charmanter, gutaussehender Mann norditalienischen Typs, groß gewachsen, mit dunkelblondem Haar, der sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst ist. Alleinstehend und kinderlos. »Ich bin vielleicht der einzige Italiener«, pflegt er zu sagen, »der nicht versessen auf Kinder ist.«
»Was liegt an?«, fragt er nun.
»Karies«, antworte ich mit einem flüchtigen Blick in unseren dichtgedrängten Vor-Festtags-Terminkalender. Dottore Vincenzi lacht: »Na, dann wollen wir mal.«
Während ich die Patientenkartei weiter nach den benötigten Unterlagen durchforste, zieht sich mein Chef zur Vorbereitung zurück. Lange dauert es nicht: Ein Summton, das Schnappen des automatischen Türöffners, und herein tritt Signora Petrelli, eine Art Stammkundin, die zum Zahnarzt geht wie andere Frauen zum Friseur. Hochtoupiert, parfümumwolkt, perfekt gestylt, trippelt sie mir entgegen.
»Buon giorno. Ich habe einen Termin.« Obwohl mir das selbstredend bekannt ist, blättere ich wichtig in unserer Agenda. Signora Petrelli unterzieht mich einer eingehenden Musterung.
»Cara mia, Sie sollten ehrlich etwas mehr für sich tun«, säuselt sie in einem affektierten Soap-Opera-Tonfall, den sie sich als eine Art Modeaccessoire zugelegt hat. »So gewöhnlich, so blass. Ganz das Gegenteil Ihrer Schwester.«
Ich muss mein Kinn in beide Hände stützen, damit es nicht herunterfällt. Sogar in meiner Funktion als Empfangsdame einer Zahnarztpraxis bin ich vor Vergleichen mit Maura nicht gefeit. Woher kennen sich die beiden eigentlich, warum sagt Signora Petrelli so etwas? Und überhaupt: Was bildet sie sich ein?
»Sie brauchen nicht so entsetzt dreinzuschauen, cara mia, ich meine das ernst. Ihre Schwester weiß sehr genau, wie man sich präsentiert. Ebenso Ihr Chef, oh la la, sage ich.«
Täusche ich mich, oder liegt eine leichte Verärgerung in ihrer Stimme? Oder Ironie? Nur weshalb? Die Dame mag eine Schwäche für Dottore Vincenzi haben, über Maura kann sie nicht viel wissen.
»Beh«, macht Signora Petrelli affektiert, »jung muss man sein, verführerisch, sexy.« Überspannt rollt sie die Augäpfel nach oben. Was genau will sie von mir hören? Dass sie jung ist, verführerisch und sexy? Wie heißt es so schön? Du sollst nicht lügen. Von daher murmle ich irgendetwas vor mich hin, das ich selbst nicht verstehe. Entsprechend gereizt ist die Reaktion.
»Drücken Sie sich ruhig deutlicher aus!«
»Es hat geschneit«, erkläre ich mechanisch, »man darf die Kehrwoche nicht vergessen.«
»Die Kehrwoche?« Signora Petrelli scheint kurz sprachlos, weiß jedoch umgehend Rat: »Wunderbar, cara mia. Sagen Sie, sind Sie so naiv, oder ist das ein Trick?«
»Bin so.«
Ehe das Gespräch eine noch üblere Note annehmen kann, kommt – che fortuna! – Dottore Vincenzi im weißen Kittel aus dem Hintergrund hervorgeflattert, um die Dauerpatientin charmant ins Behandlungszimmer »Bologna« zu komplimentieren.
»Signora Petrelli, come va?«
»Wollen Sie wirklich wissen, wie es mir geht?«, trällert die.
Mein Chef übergeht diese Provokation galant.
»Aber naturalmente will ich das wissen! Und habe ich Ihnen erzählt, was meinem Kollegen Dottore Rotelli letzten Sommer in Urbino passiert ist? Nein? Davvero? Das müssen Sie sich anhören!«
Dann sind die beiden verschwunden. Ich gähne und lausche nach »Bologna«. Kein Mucks. Doch da: amüsiertes Quieken, schrilles Gelächter. Offenbar läuft mein Chef sich warm. Ebenso wie Nonna Elsa verfügt Dottore Vincenzi über ein schier unendliches Arsenal an Geschichten, eine skurriler, chimärenhafter als die andere. Dottore Vincenzi plaudert, Signora Petrelli gackert. Der Rest des Tages ist Routine. Sogar das Geschenk meines Chefs.
»Buon Natale, Anna! Für Ihre Sammlung«, verkündet er salbungsvoll, indem er ein in Klarsichtfolie gehülltes Päckchen vor mich auf die Theke zaubert. Darin befindet sich eine kitschige Schneekugel mit dem schiefen Turm von Pisa. Als wollte er die Tauglichkeit seines Präsents demonstrieren, nimmt Dottore Vincenzi es noch einmal an sich, um es kräftig zu schütteln. Sogleich versinkt die Sehenswürdigkeit in dichtem Schneegestöber.
»Me--ra--vi--glio--so!«, stottere ich. »Toll! Grazie.«
Gerade als ich die verschneite Pisa-Impression zu ihren Pendants schieben will – der Kugel mit dem Kolosseum aus dem Vorjahr, der mit dem Mailänder Dom aus dem Vorvorjahr und der mit dem Vesuv aus dem Vorvorvorjahr –, ertönt der Summton der Praxisklingel.
»Chi è? Wer mag das jetzt noch sein?« Dottore Vincenzi wirkt wenig beglückt. Er hat mir sein Geschenk überreicht, jetzt will er nach Hause, Feierabend, finito.
»Ein Notfall?«, mutmaße ich.
Der »Notfall« entpuppt sich als meine Schwester Maura, deren Erscheinen im Gegensatz zur Schneekugel meines Chefs eine echte Überraschung darstellt. Sie hat das noch nie gemacht. In fast viereinhalb Jahren kein einziges Mal. Maura meldet sich regelmäßig zur Kontrolluntersuchung an, manchmal zur Zahnreinigung, und selbst diese Termine legt sie meist so, dass sie mir in der Praxis nicht begegnen muss.
»Du?«
»Begeisterung klingt anders!«
»Was willst du?«
»Wonach sieht es aus? Dich abholen, wir brauchen ein Geschenk für Nonna Elsa.«
»Wir haben schon eins.«
»Wie?«
»Na, diesen Pasta-Wecker, der nach sieben Minuten den Triumphmarsch aus ›Aida‹ und nach zehn den Gefangenenchor aus ›Nabucco‹ piept.«
»Muss ich glatt vergessen haben.« Zerstreut lugt Maura an mir vorbei.
»Dein Chef hatte es aber eilig, zu verschwinden.«
In der Tat. Der sonst so redselige Dottore Vincenzi hat ihr lediglich rasch zugenickt und sich in sein Büro zurückgezogen. Untypisch für ihn.
»Vorweihnachtsstress.«
»So, so.«
Diese Art von Nichtbeachtung ist meine kleine Schwester nicht gewohnt.
»Heute war Signora Petrelli hier«, berichte ich leichthin.
»Ja, und?«
»Du weißt nicht, wer das ist?«
»Nö, wieso? Bin ich du?« Sie zeigt auf die Patientenkartei.
»Natürlich nicht. Ich habe mich bloß gewundert, weil sie dich umgekehrt recht gut zu kennen scheint.«
»Tja, ich bin eben so was wie ein Promi.« Herausfordernd dreht sich Maura einmal im Kreis. So selbstbewusst wie sonst wirkt es nicht.
Nach einem letzten prüfenden Blick auf meinen einigermaßen aufgeräumten Arbeitsplatz greife ich nach der Umhängetasche.
»Andiamo? Wollen wir gehen?« Meine Schwester fixiert mich schräg von der Seite.
»Der kommt nicht mehr, oder?«, erkundigt sie sich unschlüssig, mit dem Kinn in die Richtung weisend, in die Dottore Vincenzi verschwunden ist.
»Chef?«, rufe ich in die Tiefe der hinteren Praxisräume. Keine Antwort.
»Moment, ich komme gleich wieder.«
Auf mein sachtes Klopfen an der Tür des Privatraums erhalte ich ebenfalls keine Antwort. Was tun? Einfach abhauen? Nicht vor Weihnachten. Vorsichtig drücke ich die Klinke nach unten und öffne einen Spalt. Dottore Vincenzi steht mit dem Rücken zu mir am Fenster. Starr und versunken. Als ich ihn anspreche, fährt er herum. Sein Blick ist glasig.
»Scusi, Sie waren vorhin so schnell weg. Ich würde jetzt gehen.«
»Ja, ja, natürlich, auf Wiedersehen.« Abwesend sieht er durch mich hindurch.
»Tutto a posto?«, frage ich irritiert. »Alles okay?«
»Gehen Sie nur! Arrivederci!«
Unwillkürlich schüttle ich den Kopf; was ist wohl in den gefahren?
»Warum bist du wirklich gekommen, Maura?«, frage ich auf dem Heimweg meine ebenfalls wenig gesprächige Schwester.
»Ich? Wieso?«
»Was ist los?«
»Nichts.« Auf dem Beifahrersitz bleibt es stumm. Bis Maura sich überwindet, haben wir etliche Kreuzungen hinter uns gelassen.
»Du, Anna«, fragt sie zerknirscht, »findest du mich eigentlich komisch?«
»Total!«
»Nein, im Ernst, bin ich schwierig?«
Schwierig? Hoch kompliziert!
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich frag nur, weil …«, druckst Maura herum, »… glaubst du, dass das wieder wird, ich meine mit mir und Sammy?«
»O sorellina, wenn das dein Problem ist – du und Sammy, todsicher, ja!«
»Danke! Das ist lieb von dir.« Und dann ganz unvermittelt: »Können wir einen kleinen Umweg machen? Ich habe plötzlich Saulust auf Döner.«
»Döner? Nonna Elsa wäre scandalizzata!«
Da ich meiner jüngeren Schwester jedoch keinen Wunsch abschlagen kann, zumal dann nicht, wenn sie down ist, hält sie gleich darauf einen dieser stinkenden Riesenapparate in Händen, den sie mir zu allem Überfluss großzügig von der Seite ins Gesichtsfeld schiebt.
»Möchtest du?«
»Bloß nicht!« Ekel ist kein Ausdruck für das, was ich empfinde. Maura hingegen lässt es sich schmecken. Wieder daheim, sprintet sie, noch kauend, die Treppe hinauf und versenkt das soeben Konsumierte geräuschvoll in der Kloschüssel. Schade ums Geld.
Ich selbst werde von Nonna Elsa rekrutiert, um den widerspenstigen Hefeteig hereinzuholen, den sie zum Ruhen auf der Terrasse deponiert hat. – Der Anblick des Nachbargartens ist atemberaubend. Fein säuberlich wurde dort ein Geviert vom Schnee befreit, auf dem betörend ein von Hunderten von Leuchtdioden überzogener Rentierschlitten funkelt.
Das Gras des Nachbarn ist zeitweise also tatsächlich grüner, selbst im Winter, wenigstens das der Schäberles.
… casa mia, benché piccola tu sia, mi sembri una badia. – »Häuslein mein, Häuslein mein, bist du auch nur klein und fein, mir scheinst du ein Schloss zu sein.« Oder kurz gesagt: »Eigner Herd ist Goldes wert.«
Findet Nonna Elsa, findet Mama, finden dummerweise aber auch Oma Liselotte, Zia Gina und Arianna. Davon später mehr.
Im Augenblick steht Nonna Elsa genauso fluchend in der Küche wie am Morgen, als ich das Haus verlassen habe.
»Bella di Nonna«, schleudert sie mir entgegen, »wie soll man backen, wenn der Hefeteig nicht richtig aufgehen will?«
Nonna Elsa hat inzwischen den zweiten Panettone in Arbeit. Einer allein reicht nicht, davon ist sie überzeugt. Auch zwei sind zu wenig, drei müssen es sein. Panettone ist zwar alles andere als eine typische Spezialität aus Kampanien, wo unsere Vorfahren herkommen, aber was soll’s? Schmeckt gut, wird gegessen. Nachteilig ist lediglich die sich jährlich einstellende Überversorgung mit dieser Leckerei. Denn neben den Brummern, die Nonna Elsa seit Tagen fabriziert, wird garantiert Arianna einen anschleppen (den abgepackten von Motta), ebenso wie Zia Gina (aus Eigenproduktion, allein um Nonna Elsa zu ärgern) und Oma Liselotte, bei der das Ganze zwar »Striezel« heißt und etwas anders aussieht, aber ähnlich schmeckt. Mit dem Ergebnis, dass nach Weihnachten keiner von uns mehr Hefeteig sehen, geschweige denn verzehren kann.
»Nonna«, versuche ich sie zu beruhigen, »mach doch eine Pause. Du hast schließlich Zeit. Und wenn es diesmal zwei statt drei werden, wen stört’s?«
Das hätte ich nicht sagen dürfen.
»Prego, signorina? Wen es stört? Mich! Und tutta la famiglia. Natale ohne Panettone, undenkbar!«
»Na, so ganz ohne Panettone wäre das ja nicht unbedingt …«, versuche ich es erneut.
»Elsa«, schaltet Mama sich ein, »reg dich nicht auf, Anna meint es nur gut.«
Zoff mit Nonna, kurz vor den Festtagen? Nein, danke! Lieber ein kleines Ablenkungsmanöver. Die Geschichte, wie Nonna die Ehe meiner Eltern gestiftet hat, ist, genau wie der weihnachtliche Panettone, Teil des Familienerbes. Ich persönlich höre sie immer wieder gern, nicht zuletzt deswegen, weil sie im Detail jedes Mal ein bisschen anders ist.
»Nonna, erzähl doch mal!«, bettle ich darum jetzt. Was kann es nach einem anstrengenden Vorweihnachts-Powertag Netteres geben, als gemütlich gemeinsam in der Küche zu sitzen, Nüsse zu knacken, im Hintergrund das behagliche Prasseln eines Feuers im Kamin … nein, das leider nicht, Nonno muss erst neue Scheite schlagen. Gemütlich ist es trotzdem.
»Was willst du hören?«, fragt Nonna Elsa, obwohl sie genau weiß, was ich meine.
»Die Geschichte, wie Mama und Babbo sich verlobt haben.«
»Ah, sooo!« Mit einem genüsslichen Seufzer lässt sie den Panettone Panettone sein und setzt sich zu mir an den Tisch, wo die zersplitterten Nussschalen quer über die Platte spritzen.
»Auch eine?«, frage ich und halte ihr eine hübsche Walnuss unter die Nase, Nonna aber schüttelt den Kopf und beginnt zu erzählen:
»Silke war Austauschstudentin und Dino sehr in sie verliebt.« Entgegen dem, was man aufgrund der jetzigen Situation vermuten würde, begann die Geschichte meiner Eltern nämlich in Italien.
»Kennengelernt haben sie sich in der Mensa der Universität …«
War es das letzte Mal nicht eine Diskothek oder eine Osteria? Mama verdreht die Augen.
»Elsa, erzähl keine Märchen.«
Nonna zwinkert lustig und fährt fort: »Sie hat ihm gleich gefallen, aber er war molto timido, sehr schüchtern, niemals hätte er sie angesprochen. Inzwischen hat sich das gelegt, aber damals … Nicht wahr, Silke?«
Mama, die auf der Arbeitsplatte neben dem Herd Nougatmützchen formt, deren Rezeptur glücklicherweise keinen Hefeteig vorsieht, brummelt etwas in sich hinein. Sie weiß, dass Nonna nicht zu bremsen ist.
»Sie haben sich häufig gesehen, wieder und wieder, doch hätte Silke sich nicht irgendwann ein Herz gefasst …«
»Das allerdings stimmt!«, bekräftigt Mama impulsiv.