Umschlag

Ingrid Sonnleitner wurde in Krieglach in der Steiermark geboren und war als Krankenschwester und im sozialpädagogischen Bereich tätig. Nach der Ausbildung zur Bibliothekarin und vor allem durch die seit ihrer Kindheit bestehende Liebe zu Büchern aller Art wurde in ihr der Wunsch nach literarischem Schaffen geweckt. Seit fünfundzwanzig Jahren lebt die Autorin mit ihrer Familie im Südburgenland, dessen Schauplätze sich hervorragend in das Krimigenre einbetten lassen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Rainer Mirau/LOOK-foto
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lisa Bitzer
Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-630-0
Originalausgabe

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Prolog

Der Plan ist ausgereift. Das passende Werkzeug dazu wird sich noch finden. Der Bertl, der ist eher von kleiner Statur. Es wird ein Leichtes sein, ihn in das Reich Gottes zu befördern. Nur das Werkzeug macht noch Kopfzerbrechen.

Die Entscheidung muss bald getroffen werden: Axt oder Eisenrohr?

Es gibt bloß eine Gelegenheit.

Heute würde es passen.

Schon von Weitem hört man Händels »Halleluja« durch das dicke Gemäuer der Dorfkirche hallen. Die Schneide auf der Haut fühlt sich kalt an. Tief im Hosenbund steckt der Schaft, gut versteckt unter dem weiten Pullover. Keine vier Schritte ist die Tür zum Seiteneingang entfernt. Ein kurzes Zögern, der Blick auf den menschenleeren Platz davor, dann schlüpft er hinein in das Gotteshaus, dem diffusen Licht der Orgelempore entgegen. Das Knarren der Bretter wird vom Klang der Pfeifen verschluckt. Er hält kurz inne, berauscht von der Lebendigkeit des Orgelwindes. Und dann, völlig unvorbereitet, trifft die Wucht des Schlages den Hinterkopf. Geräusche von aneinanderreibenden Knochen sind zu hören. Ein weiterer Schlag, und Bertl verliert das Gleichgewicht, stürzt zu Boden. Er richtet sich mit letzter Kraft auf, blickt in das Gesicht seines Mörders, sieht den Rachedurst, den Hass. Will um Vergebung, um Barmherzigkeit betteln, faltet die Hände zum Gebet.

Doch es gibt keine Barmherzigkeit. Mit voller Wucht trifft die Axt Bertl, erst am Kopf, danach an den Händen, immer und immer wieder, bis diese neben dem leblosen Körper liegen bleiben. Und mit jedem Schlag wird er ruhiger, beinahe sanftmütig.

Es ist vollbracht.

Sein Blick fällt auf die Axt in den Händen. Blut, überall Blut! Er dreht sich um, dann hastet er die ausgetretene Holzstiege hinunter, die Axt noch immer fest umklammert. Nur weg hier! Hinauf zum Friedhof, sich einfach fallen lassen, hinter einem Grabstein auf die feuchte Wiese. Die Wange an den kühlen Stein drücken. Wie ein vorbeirasender Schnellzug läuft das eben Vollendete vor seinen Augen ab, und es fühlt sich gut an, verdammt gut.

1

Adelheid beschloss, nachdem sie Bessie vom Spaziergang nach Hause gebracht hatte, in die Kirche zu gehen und dem Orgelspiel zu lauschen. Sie saß oft in der ersten Reihe, hörte dem Kantor bei der Probe zu, genoss es, die Einzige zu sein.

Komisch, dachte sie, als sie die hölzerne Pforte der Kirche öffnete. War sie zu spät? War die Probe schon vorbei? Dann hätte sie ihm begegnen müssen auf dem Weg hierher.

»Herr Gabriel? Herr Gabriel, sind Sie noch oben?«

Gegen ihre Gewohnheit setzte sie sich heute in die letzte Reihe und lauschte. Eine merkwürdige Stille durchflutete das Hauptschiff der Kirche.

Vielleicht ist er gar nicht oben, überlegte Adelheid und stand wieder auf.

Sie musste sich konzentrieren, als sie die Treppe emporstieg, aufpassen, dass sie nicht stolperte. Auf der Empore angekommen, wartete sie einen Augenblick, versuchte, durch ein paar kräftige Atemzüge ihre Kurzatmigkeit zu besiegen. Mehr Sport und weniger Essen, das hatte sie sich zum Jahreswechsel vorgenommen – ja, hatte. Aber der Weg zur Hölle war ja bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert.

Sie tastete nach dem Lichtschalter und rief erneut: »Herr Gabriel? Sind Sie noch da oben? Ist was passiert? Geht’s Ihnen nicht gut?«

Der Schalter, endlich. Der Neonbalken flatterte, es wurde taghell.

Da sah sie ihn, umgeben von Blut, Unmengen von Blut, auf dem Boden liegen, den Kopf unkenntlich gemacht, zu Brei geschlagen, und hätte er nicht seinen grün karierten Trachtenjanker angehabt, sie hätte ihn nicht wiedererkannt.

Der Geruch von Urin vermischt mit dem metallischen Gestank des Blutes drängte in ihre Nase. Sie spürte, wie ihr Magen zu rebellieren begann, spürte ein Würgen im Hals, hielt die Hand vor den Mund, wollte die Stufen hinuntereilen, stolperte, zog sich am Geländer wieder hoch. Erbrochenes rann zwischen ihren Fingern hindurch.

Vor dem Kirchenportal angekommen, lehnte sie sich an die Mauer, übergab sich.

Der Haller Felix, ein fünfzehnjähriger Bengel vom Kinderheim, schlenderte mit dem Dorfer Peter in ein Gespräch vertieft an Adelheid vorbei, murmelte einen Gruß, wollte seinen Weg fortsetzen, da krächzte sie ihm nach: »Felix, Felix! Der Herr Gabriel, ich mein, der Herr Bertl … der Kantor …« Ihre Stimme versagte, sie räusperte sich. »Du musst die Polizei rufen! Der Herr Gabriel. Ich glaub, der ist tot.«

Ihre Beine versagten, sie rutschte an der Mauer zu Boden. Während Felix telefonierte, half ihr Peter wieder auf, stützte sie bis zur nächsten Parkbank. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich das erlösende Tatütata des Polizeiwagens hörte, zwar noch in weiter Ferne, doch es kam rasch näher, bis das Blaulicht mit seinen zuckenden Bewegungen den Kirchenplatz in eine Disco zu verwandeln schien.

2

Inspektor Wurz stieg aus dem Wagen, drängte sich durch die kleine Gruppe Neugieriger, die sich mittlerweile vor dem Eingang versammelt hatte, und verschwand mit zwei Kollegen mit Metallkoffern in den Händen im Inneren der Kirche. Dort zogen sie sich weiße Overalls, Handschuhe, Mundschutz und Überzieher für die Schuhe an und marschierten die Stufen zur Empore hinauf bis neben den Ermordeten.

»So eine Schweinerei! Irgendwer muss den ganz schön g’hasst haben«, sagte Dr. Kleirer, der immer zu solchen Fällen gerufen wurde.

Kleirer sah in seinem weißen Papieroverall wie ein Michelin-Männchen aus. Schwer atmend kniete er sich neben den Leichnam. Wollte den Puls fühlen, zuerst an der Halsschlagader, dann am Handgelenk.

»Ach du heilige Scheiße«, entfuhr es ihm. »Wurz! He, Wurz, kommen S’ her. Schauen S’ einmal! Was fällt Ihnen denn auf?«

»Wie, was? Was soll mir auffallen? Außer dass mich der Schädel an eine Wassermelone erinnert, die vom zweiten Stock aus dem Fenster geworfen wurde. Aber sonst – ich wüsste jetzt nicht –«

»Na, schauen S’ genauer, Wurz, strengen S’ sich an. Ein Tipp: Wenn man die nicht hat, ist man ziemlich aufg’schmissen, würd ich jetzt einmal sagen.« Kleirer lachte.

Wurz betrachtete den Toten eindringlich, fasste sich ans Kinn, wurde blass. »Die Hände, oh mein Gott, die Hände, die sind ja –«

»Abg’hackt!«, vollendete der Mediziner den Satz. »Ad hoc würde ich jetzt einmal sagen, die Hände sind mit einer Axt von den Gelenken abgetrennt worden. Aber da war der Kerl höchstwahrscheinlich schon tot. Was ich so auf den ersten Blick feststellen kann, ist Folgendes: Man hat dem Opfer zuerst den Schädel eingeschlagen und danach die Hände amputiert, quasi.« Er hielt Wurz die abgeschlagene Hand hin. »Schauen S’, die Schneide war wahrscheinlich nicht besonders scharf, der Täter hat mehrmals hacken müssen, bis die Hände endlich von den Armen getrennt waren.«

Wurz schluckte, versuchte so, die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Nie würde er sich an diese Barbarei gewöhnen, und insgeheim verfluchte er wieder einmal seinen Vater, der eigentlich schuld daran war, dass er jetzt hier vor einem handamputierten Orgelspieler mit eingeschlagenem Schädel stand. Schauspieler, das war sein Traumberuf gewesen. »Nix da, Bub, du lernst einen anständigen Beruf, so wie ich«, hatte sein Vater gesagt. Wurz war zu schwach gewesen, sich gegen diese Entscheidung zu wehren, und so war er eben Polizist geworden – wie sein Vater. Doch so richtig losgelassen hatte ihn die Schauspielerei nie. Hier in Rotenturm konnte er seine Leidenschaft ausleben. Und es schien, dass er doch Talent besaß, denn seit zwei Jahren war er hochgeschätztes Mitglied des Theatervereins.

»He, Wurz, geht’s Ihnen gut?«

»Ja, ja, alles bestens. Ist ja nur eine Leiche ohne Hände und mit gespaltenem Kopf, reine Routine. Gibt es außerdem noch was Wichtiges? Irgendwas, das ich wissen sollte? Sonst würde ich jetzt gehen, den Leuten von der Spurensicherung den Vortritt lassen. Sie wissen ja, zu viele Leute am Tatort, das hat schon so manche Spur unbrauchbar gemacht.«

Frische Luft, das war es, was er jetzt brauchte. Er wollte seine Nase nur mehr von diesem süßlichen Geruch geronnenen Blutes befreien, untermalt von Urin und Weihwasser, torkelte wie ein Betrunkener die Treppe hinab und weiter hinaus zur Eingangspforte. Dort angekommen, atmete er durch, als wollte er die ganze Welt in seine Lungen einsaugen.

Inspektor Hafner tippte ihm auf die Schulter.

»Die Horvath sitzt da drüben, die hat den Toten g’funden. Wenn’st mit ihr reden möchtest.«

»Die schon wieder. Komisch, die zieht das Unglück regelrecht an, wie ein Magnet die Nägel«, sagte Wurz, machte einen weiteren tiefen Lungenzug, versuchte, sich zu sammeln, und ging dann zu ihr hinüber. »Na, Frau Horvath, wir zwei schon wieder. Was haben Sie denn um diese Zeit noch in der Kirchen gemacht? Da gibt es ja gar keinen Gottesdienst mehr, oder?«

»Zuhör’n wollt ich halt dem Herrn Gabriel, nur unten sitzen in der ersten Reihe und mir sein Orgelspiel anhören. Der spielt so schön, der Herr Kantor, äh, ich mein, der hat so schön g’spielt.« Adelheid wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen. »Aber heut, wie ich da in die Kirche hinein bin, da war es ziemlich finster drinnen, nur ein paar Kerzerl haben gebrannt, und er hat nicht g’spielt. Ich hab mich dann in die letzte Bank g’setzt und g’wartet. Und wie er nach einiger Zeit immer noch nicht ang’fangen hat zum Spielen, da bin ich nach hinten gegangen, zur Stiege, hab hinaufgerufen: ›Herr Gabriel, Herr Gabriel, sind S’ da oben?‹ Aber er hat sich nicht g’meldet, da bin ich hinaufg’stiegen, und dann, ich darf gar nicht daran denken, wie der so dag’legen ist. Und überall das Blut! Dass ein einzelner Mensch so viel Blut haben kann, Herr Inspektor, haben Sie das g’wusst? Der arme Herr Gabriel, er war so ein herzensguter Mensch, hat niemandem was zuleide getan, und jetzt liegt er da oben, tot, niedergemetzelt! Ich frag Sie, Herr Inspektor, wer tut so was?« Adelheid begann zu schluchzen, kramte in ihrer Hosentasche verzweifelt nach einem Taschentuch.

Wurz reichte Adelheid eine Packung Taschentücher. »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Atmen Sie tief durch, Frau Horvath. Geht es wieder?«

Adelheid nickte.

»Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie.«

»Fragen Sie nur, Herr Inspektor. Es ist halt, weil er mir so leidtut.«

»Schon gut. Nachdem Sie ihn gefunden hatten, sind Sie die Stiegen hinunter und wieder hinaus ins Freie. Was haben Sie dann gemacht?«

»Also, wenn ich ehrlich bin, ich habe neben der Kirche hing’spiebn, weil das viele Blut und der Schädel vom Herrn Gabriel … Ich darf gar nicht daran denken, da wird mir gleich wieder schlecht.«

»Frau Horvath«, unterbrach Wurz ihren Redeschwall, »beruhigen Sie sich. Was ist danach passiert?«

»Der Haller Felix ist vorbei’kommen mit seinem Freund, den habe ich ang’sprochen, hab zu ihm g’sagt: ›Felix, du musst die Polizei rufen, der Herr Gabriel, der ist tot.‹ Na ja, und den Rest wissen S’ eh. Aber warum grad er, Herr Inspektor? Er hat niemandem etwas getan, und er war so beliebt im Dorf bei jedem.« Adelheid weinte wieder, und Tränen rollten über ihre Wangen.

»Bei jedem? Das kann ich mir jetzt aber nicht vorstellen, irgendwer muss den ganz schön gehasst haben, so wie der zugerichtet ist.«

»Wie, was, was meinen Sie damit? Zug’richtet?«

»Na, die Hände hat ihm der Täter oder die Täterin abgehackt, und der Schädel ist beinahe bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagen.«

»Die Hände abg’hackt, sagen Sie? Und warum Täterin? Sie meinen, dass das auch eine Frau g’wesen sein könnt? Ich versteh die Welt nicht mehr! Er war so ein netter, umgänglicher Mensch und immer so hilfsbereit. Sogar mein Herr Schnurr ist immer auf seinem Schoß g’legen, obwohl der nicht an jeden mag, und erst die Frauen, die haben ihn vergöttert, eine mehr als die andere.«

»Genau deshalb können wir das weibliche Geschlecht bei der Suche nach dem Täter nicht ausschließen. Eifersucht ist oft das Motiv für so ein Delikt, und Frauen untereinander können ganz schön garstig sein. Aber was ich noch fragen wollte, haben Sie jemanden gesehen, der aus der Kirche gerannt ist, auf der Flucht war? Fremde?«

»Nein, aber ich hab ja auch nicht wirklich darauf geachtet. Aber sagen S’, Herr Inspektor, was ist denn momentan los in unserer kleinen Ortschaft? Zuerst das mit dem Haller Tobias, und jetzt hat man auch noch den Herrn Gabriel erschlagen.« Adelheid schluchzte abermals auf, wischte sich mit dem Taschentuch die neuerlich aufsteigenden Wasserpegel aus den Augen. »Habts den Tobias schon g’funden?«, wimmerte sie.

»Leider nicht, aber wir sind nah dran, wir verfolgen da eine Spur, und in ein paar Tagen ist der Tobias bestimmt wieder zu Hause«, log Wurz, weil ihm die Horvath jetzt leidtat. Schön wäre es, das mit der Spur – nicht einmal ein Quäntchen von irgendeinem Lebenszeichen hatten sie, geschweige denn eine vernünftige Idee, was mit dem jungen Mann passiert sein könnte.

»Gut, Frau Horvath, das wär’s fürs Erste. Wir kommen heute ohnehin noch bei Ihnen vorbei mit den Kollegen von der Spurensicherung, müssen das Zimmer des Kantors nach Indizien absuchen. Am besten ist, Frau Horvath, Sie gehen gar nicht hinein in das Zimmer.«

Adelheid nickte stumm. Sie wollte nur noch heim, wollte die Loni anrufen, brauchte jetzt jemanden, der ihr zuhörte, einfach nur zuhörte, keine Fragen stellte, kein Wenn und Aber.

3

Zu Hause angekommen, brühte sich Adelheid eine Tasse Melissentee auf und ließ sich in ihren Ohrensessel sinken. Sie schloss die Augen und nippte an dem heißen Getränk. Bilder tauchten auf.

Es war früher Nachmittag gewesen, als sie dem Herrn Gabriel das erste Mal begegnet war. Sie hatte sich gerade Kaffee aufgebrüht und einen Blick durch ihr PowerSeeker geworfen. Seit ihr Josef sie so früh verlassen hatte, war der Blick durchs Teleskop oft die einzige Zerstreuung des Tages. So wirklich verziehen hatte sie es dem Josef eigentlich nie, dass er eines Abends im Badezimmer tot auf dem kalten Fliesenboden gelegen und sie allein zurückgelassen hatte, ohne Vorwarnung. Pumperlg’sund war er immer gewesen, der Josef. Unkraut verdirbt nicht, hatte er zeit seines Lebens gesagt und gelacht, und sie sah ihn noch vor sich mit seinem grünen Steirerhut und dem Gamsbart drauf, das Gewehr umgehängt, so war er immer in den Wald gegangen.

Und dann das: massive Gehirnblutung. Zu spät hatte sie ihn gefunden.

Adelheid nahm einen großen Schluck vom Melissentee, der in der Zwischenzeit nur mehr lauwarm war und einen schalen Geschmack in der Mundhöhle hinterließ. Es war einsam geworden um sie, seit man sie einfach noch vor ihrem Sechzigsten in den Ruhestand geschickt hatte und die Bibliothek von einer Jüngeren übernommen worden war, die ihre Erfahrung nicht mehr brauchte. »Es geht alles übers Netz und übern PC, Frau Horvath«, hatte Adelheid die Worte der jungen Frau noch im Ohr, »das ist halt nichts mehr für Sie, damit muss man sich auskennen. Aber zum Vorlesen können Sie gern kommen, so alle zwei Monate mal, denn öfter interessiert es die Kinder auch nicht, haben ja den Fernseher und die Computerspiele.«

Geht alles übers Netz – die Neue glaubte wohl, der Fortschritt sei noch nicht bis zu ihr durchgesickert. So ein bisserl kannte sie sich ja aus mit dem Computer, und erklären hätte es diese blöde Gans ihr sowieso können. Adelheid war für alles offen, und der Fernseher ersetzte noch lange nicht einen Vorlesenachmittag. Flimmerkiste, Ballerspiele, wo sollte das noch hinführen? Sie schüttelte den Kopf, hörte, wie das Katzentürl, das ihr der Heinzl, der Nachbar und Pirschfreund ihres seligen Josef, eingebaut hatte, auf- und wieder zuklappte. Herr Schnurr war nach Hause gekommen und kündigte seine Anwesenheit durch lautstarkes Miauen an. Er sprang auf Adelheids Schoß, und beinahe hätte sie den Rest des Tees verschüttet, so stürmisch drückte er den Kopf gegen ihre Brüste und verlangte nach seinen Streicheleinheiten.

Während sie ihn kraulte, erinnerte sie sich, wie das alles begonnen hatte, die Idee mit dem Jagdstüberl und der Vermietung. Der Josef würde ihr das sicher verzeihen, obwohl es sein Heiligtum gewesen war. Wie hatte er immer gesagt? A guter Jäger braucht sein Jagdstüberl. Sie hatte das Stüberl mit all dem toten Getier und den noch toteren Glasaugen immer gehasst. Verzeihen oder auch nicht, die Aussicht auf Abwechslung, auf Gesellschaft, auf jemanden, mit dem man sich wirklich unterhalten konnte, hatte sie nach dem Tod ihres Mannes heiter gestimmt. Eines Tages, es war so ein Jahr nach Josefs Tod, war sie in den Baumarkt gefahren und hatte sich Farbe besorgt. Es war das erste Mal gewesen, dass sie etwas malerte, und sie war mit sich zufrieden. Ein Meisterwerk war es keines geworden, dennoch, das Zimmer wirkte wieder sauber, und das Polarweiß an den Wänden unterstrich diese Sauberkeit. Die ausgestopften Tiere, die ihres Lebens beraubt worden waren, nur um von irgendwelchen Wänden herunterzuglotzen, transferierte sie vorübergehend in den Garten. Es war eine Heidenarbeit, und Adelheid fiel am Abend ziemlich erschöpft ins Bett.

Dankenswerterweise nahm sich Heinzl dann der Kuriositäten an. »Sind alles Unikate, Frau Horvath«, sagte er zu ihr. Und außerdem: praktisch wertlos. Der verlogene Hund. »Aber das bin ich dem Josef schuldig, dass ich sie nehm, und irgendwo werde ich schon ein schönes Platzerl finden.«

Wie war sie erstaunt, als sie wie jeden ersten Samstag des Monats den Flohmarkt besuchte. Eher zufällig kam sie am Stand vom Heinzl vorbei und entdeckte die Preisausschilderung der angeblich wertlosen Unikate. Für Emma, wie der Josef seine Schleiereule immer liebevoll genannt hatte, bezahlte ein Mann in grüner Kleidung und brauner Feder am Hut, wohl auch ein Waidmann, gerade neunzig Euro. In bar. Wenn sie das gewusst hätte!

Herrn Heinzl war es sichtlich peinlich, wie sie dann so unverhofft vor seinem Stand auftauchte.

»Ein gutes Platzerl haben S’ gefunden für dem Josef seine wertlosen Unikate, Herr Heinzl. Schad, dass das mir nicht eingefallen ist!«, tat sie ihren Unmut kund.

Darauf hatte er nur gemurmelt, dass das der Josef auch so gewollt hätte, und sich rasch dem nächsten Kunden zugewandt, der unbedingt den aufgebahrten Fasan auf dem blauen Holzteller für achtzig Euro hatte mitnehmen wollen.

Achtzig Euro für einen toten Vogel. Dafür hätte sie beinahe die Möblage für das Gästezimmer kaufen können.

Sie seufzte und kraulte Herrn Schnurr zwischen den Ohren, der es ihr mit einem ausgiebigen Schnurrkonzert dankte. Es war zum Glück auch so nett geworden, geradezu heimelig mit dem orangefarbenen Shaggy in der Mitte des Zimmers.

Shaggy, dachte sie jetzt, muss wohl aus dem Englischen kommen, wie so vieles heute. Früher war der Shaggy einfach nur ein Flokati.

Die neuen maisgelben Vorhänge gefielen ihr. Sie strahlten eine sonnige Wärme aus, und nichts, Gott sei Dank, erinnerte mehr an die einstige Funktion des Raumes als Jagdzimmer. Tisch, Sessel, Kasten und das Bett in einem satten Dunkelbraun, wie es jetzt modern war, hatte Adelheid günstig im Internet erstanden, mit dem sie sehr wohl umzugehen vermochte. Und weil von Josefs Lebensversicherung sogar noch Geld übrig gewesen war, hatte sie sich einen Fernsehtisch mit einem Flachbildschirm geleistet.

Das Zimmer war rasch bezugsfertig. Dennoch, einen passenden Mieter zu finden gestaltete sich äußerst schwierig. Na ja, ein bisschen wählerisch durfte sie schon sein, und eigentlich hoffte sie, dass ein junges Mädchen einziehen würde, weil die ja ordentlicher sein sollten als die Buben.

Stimmte nicht.

Und so stand das Zimmer nach kurzer Zeit und vom Müll befreit, der sich während der drei Wochen der Miete angesammelt hatte, wieder zur Verfügung.

Also kam sie doch wieder zurück zu den Männern. Die waren meistens auch in technischen Angelegenheiten brauchbarer. Mit diesem Gedanken freundete sie sich damals an. Sie würde alle Anwärterinnen abwimmeln und nur mit den männlichen einen Besichtigungstermin vereinbaren. Das war der Plan.

Die Tage vergingen, ohne dass sich auch nur ein einziger Mann für das Zimmer interessiert hätte. Dann endlich kam Hilfe von oberster Stelle. Der Herr Pfarrer läutete an der Eingangstür, und er war nicht allein.

Sie sah die beiden noch vor sich. Hochwürden wünschte ihr ein »Gott zum Gruße« und schob seine Begleitung zur Tür hinein. Sie fühlte sich geehrt über diesen hohen Besuch, hatte aber gleich ein schlechtes Gewissen, wegen der letzten Messe, die sie dem Josef hatte lesen lassen. Hatte sie die Rechnung noch nicht bezahlt?

Der Herr Pfarrer versicherte ihr mit einem »Vergelt’s Gott!«, dass das nicht der Grund für seinen Besuch war, und stellte ihr den neuen Kantor und Organisten, Herrn Gabriel Bertl, vor. Woraufhin Adelheid ihm versicherte, dass sie ja gänzlich unmusikalisch sei und dem Herrn Kantor nicht dienlich sein könne. Es gehe nicht um das Musikalische, sagte Hochwürden, eigentlich sei man da wegen des Zimmers. Er habe nämlich keinen Platz im Pfarrhaus, da es leider zurzeit renoviert werde und er selbst schon in Oberwart beim Kollegen Wallner eingemietet sei.

Adelheid wollte ein Mannsbild im Haus haben, und jetzt hatte sie eines. Aber ob der in Sachen Technik Bescheid wusste, da kamen ihr so die Zweifel. In Gottes Namen, probieren kann ich es ja, dachte sie und führte die beiden Männer ins Gästezimmer.

Das fehlende Kreuz beanstandete Hochwürden natürlich sofort, aber man einigte sich, dass Herr Gabriel für die Zeit der Renovierung bei ihr einzog.

Links und rechts bepackt mit einem braunen Lederkoffer und unter dem Arm einen Stapel Notenblätter, so stand er am nächsten Morgen vor ihrer Tür. Groß war er nicht gewachsen, in etwa wie Josef, einhundertvierundsiebzig Zentimeter, aber schlank, noch keine fünfunddreißig, ein richtiges Bürscherl halt und trotzdem schmuck in seiner Erscheinung. Schwarze Hose, grün karierter Trachtenjanker, weißes Hemd mit Stehkragen, die letzten beiden Knöpfe geöffnet. Brusthaare quollen hervor, schwarz, sexy, wenn man Brusthaare mochte, genauso dicht wie das Haar auf seinem Kopf. Leicht gewellt, dunkelbraun, nach hinten gekämmt, um die hohe Stirn und sein knochiges Gesicht noch besser zur Geltung zu bringen. Die Lippen hingegen waren voll, prall, ein richtiger Kussmund, hätte der Josef gesagt, viel zu weiblich.

Mit dem Kantor war auch Leben in Adelheids Haus eingezogen. Fast wie in einem Bienenstock war es gewesen, erinnerte sie sich jetzt, ein beinahe nicht enden wollendes Kommen und Gehen. In den ersten Wochen besserte sich der Kantor sein eher karges Gehalt mit Orgelspielen in den umliegenden Gemeinden auf, und unter der Woche gab er nachmittags auch Klavierstunden.

Das hatte sich so ergeben mit dem Pianino: Eva, eine gute Bekannte von Adelheid, hatte eines Tages diesen Schlaganfall gehabt und war seitdem halbseitig gelähmt, verwirrt und musste irgendwann ins Altersheim. Als die Verwandtschaft das Haus geräumt und zum Verkauf angeboten hatte, hatte keiner gewusst, wohin mit dem Klavier und der Bessie. Adelheid hatte Erbarmen mit dem entzückenden reinrassigen West Highland White Terrier, sogar mit Stammbaum, noch keine zwei Jahre alt. Und der Kantor hatte eben Erbarmen mit dem Pianino. Mit einem Fünfhundert-Euro-Schein winkte er den Hinterbliebenen zu, die gierig danach langten. Seitdem besaß Adelheid ein zweites Haustier, und der Kantor gab Klavierunterricht für jeden, der sich die fünfunddreißig Euro für eine Stunde leisten wollte. Und das waren viele, vornehmlich Frauen mittleren Alters, die ihre Liebe und ihr Talent für dieses Instrument plötzlich entdeckten. Sie suchten nach neuen Hobbys, denn die Kinder waren aus dem Haus, erwachsen, und man hatte sich auseinandergelebt nach dreißig Jahren Ehe, suchte nach neuen Herausforderungen, besonders aber nach der Nähe zu Herrn Gabriel. Das weibliche Geschlecht im Ort war sehr bemüht um des Kantors Wohlbefinden, und die Zahl der Mitglieder im örtlichen Kirchenchor hatte sich in den ersten Wochen nahezu verdoppelt.

Adelheid musste lächeln. Nur für das Technische, da hatte sie noch immer einen Fachmann oder den Heinzl gebraucht – dafür war sie vom Herrn Gabriel mit Klassikern wie Bach, Händel oder Beethoven versorgt worden. Josefs Stereoanlage hatte sie ihm auch vererbt, bei ihr stand sie ja sowieso nur unbenutzt herum, war zum Staubfänger geworden. Ob das Josef so gewollt hätte, da war sie sich nicht so sicher, er hatte es ja nicht so mit der Heiligkeit und den Klassikern gehabt. Die alten Schlager von Peter Kraus, Conny Froboess oder Bill Ramsey mit seiner Zuckerpuppe, die hatte der Josef gemocht, die hatte er oft den ganzen Tag rauf und runter gespielt, dafür hätte sie ihn hassen können.

Dabei fiel ihr ein, sie hatte es gar nicht mit ihm besprochen, letztes Mal, als sie bei ihm auf dem Friedhof gewesen war. Überhaupt hatte sie ihm so einiges verschwiegen, seit der Herr Gabriel bei ihr wohnte. Sie überfiel ein schlechtes Gewissen, denn die Besuche an seiner letzten Ruhestätte waren nicht mehr so zahlreich wie einst. Wenn der Kantor für einige Tage verreist war und seine Familie besuchte, und das war so alle fünf bis sechs Wochen passiert, war wieder Ruhe eingekehrt, und sie hatte diese Tage mittlerweile zu genießen begonnen. Manchmal war ihr der Trubel doch zu viel geworden, war sie doch keine dreißig mehr. Sie hatte es ausgekostet, wieder einmal ungestört vor ihrem PowerSeeker zu sitzen und ihrer Lieblingsbeschäftigung zu frönen, nicht nur den Sternenhimmel, sondern auch ihre nähere Umgebung in den Fokus zu nehmen.

Tief in Gedanken versunken, saß sie in ihrem gemütlichen Ohrensessel, eingewickelt in eine flauschige Kamelhaardecke, Herrn Schnurr auf dem Schoß und Bessie zu ihren Füßen, da wurde sie durch ein Geräusch aus den Erinnerungen gerissen. Es war ein energisches Klopfen. Es kam direkt von der Eingangstür.

4

Das Geschrei spielender Kinder weckte Alessandro Tremente. Er musste eingeschlafen sein. Er wusste nicht, wie lange er so dalag, spürte aber ein leichtes Brennen auf seinem Rücken. Nur kurz rasten hatte er wollen, sein Kaffeebraun ein bisschen vertiefen, durchatmen.

Was war nur los mit ihm?

Noch vor einigen Jahren hatte er die acht Kilometer zur nächsten Bucht problemlos hinter sich gebracht. Aber jetzt, ein Jahr nach seinem sechzigsten Geburtstag, war er erschöpft, hatte nach einem Drittel des Weges zurückschwimmen, sich in den warmen Sand legen und verschnaufen müssen. Er war nach wie vor attraktiv, der Commissario im Ruhestand. Seine athletische Figur zog noch immer so manch bewundernden Blick vorübergehender Frauen auf sich. Sein strubbelig weißes Haar hing ihm verwegen ins Gesicht. Der Walrossbart an seiner Oberlippe erinnerte ein bisschen an Nietzsche, und wäre das mit dem Schuss ins rechte Knie nicht gewesen, würde er wie eh und je als Commissario in der Questura in der Via di Tor Bandena seinen Dienst verrichten.

Aus dem Hinterhalt hatte er auf ihn geschossen, dieser zweitklassige Drogendealer, der ihm nicht einmal bis zur Schulter reichte, hatte ihn mit einer .44 Magnum außer Gefecht gesetzt. Tremente war zurückgetaumelt, gestolpert und mit dem Kopf auf der Gehsteigkante zu hart aufgeschlagen. Sie versetzten ihn in künstlichen Tiefschlaf. Nach einer Woche wachte er auf mit einem dicken Verband um den Kopf und einem Knie, das nicht mehr zusammenwachsen wollte. Dann ging das los mit den Operationen, eine folgte der anderen, bis er endlich mit seinem neuen Knie wieder am Lebensalltag teilnehmen konnte. Trotz der täglichen gymnastischen Übungen, Stromtherapien und Moorpackungen konnte er längere Strecken nicht ohne seinen Bambusstock zurücklegen. Aber gerade das machte ihn noch interessanter für das andere Geschlecht und erweckte das Mitleid so mancher Signora.

Tremente war seit neun Jahren Witwer. Es geschah bei dieser Klettertour auf die Nordwand der Zinnen. Paulina war allein unterwegs gewesen, sie hatte diese einsamen Touren geliebt. Diesmal war alles anders gewesen. Plötzlich hatte sich der Bohrhaken aus dem Felsen gelöst und sie mit in die Tiefe gerissen. Erst Tage später war ihr lebloser Körper aus den Seilen geschnitten worden.

Paulina, wie sehr sie ihm fehlte, auch heute noch nach all den Jahren. Tremente setzte sich auf, schaute den Kindern beim Sandburgbauen zu. Blickte zum Horizont. Das kleine Hotel, das Paulina von ihren Eltern geerbt hatte, tauchte vor seinen Augen auf. Als Sachbuchautorin hatte sie natürlich nur wenig Ahnung von der Gastronomie gehabt, selbst wenn die Eltern das Hotel schon lange gehabt hatten. Aber das hatte sie in ihrer Jugend nie interessiert. Schreiben, das war ihre große Leidenschaft gewesen, über die Gebirgswelt Mitteleuropas, nicht ein Hotel, noch dazu so eines, dessen Fassade in die Jahre gekommen und dessen Zimmer mit Moder behaftet waren. Selten, dass sich ein Tourist hineinverirrte, und wenn, dann höchstens für eine Nacht. Außerdem wollte sie nicht als albergatrice, als Gastwirtin, ihren Lebensabend verbringen, sondern schleunigst dieses Hotel veräußern. Aber niemand interessierte sich dafür, und so überdauerte es die Jahre im Dornröschenschlaf.

Eines Tages, es war Anfang 2000, fand wie immer das jährliche Triester Literaturfestival »NOVI LIBRI« statt, da kam Paulina die Idee, das »Gapitelli« zu modernisieren und Zimmer an schreibwütige Autoren zu vermieten. Und tatsächlich: Ihr Plan ging auf. Es gab kaum eine Jahreszeit, in der das kleine Hotel nicht ausgebucht war, und Paulina war glücklich gewesen, von ihresgleichen umgeben zu sein.

Der Schrei einer Möwe ließ ihn hochschrecken. Tremente blickte auf die Armbanduhr. Kurz nach zwölf, und wenn er das Mittagessen mit Sofie nicht verpassen wollte, dann musste er sich unverzüglich auf den Weg machen. Die Via Trauner war keine Viertelstunde von seinem Lieblingsplatz am Strand entfernt, und Tremente war froh, dass er bei dieser Hitze nicht in seinen Fiat klettern und sich den Weg zum »Gapitelli« durch den täglichen Triester Mittagsstau bahnen musste.

Nach Paulinas Tod hatte ihre Tochter Sofie das Hotel übernommen und in ihrem Sinne weitergeführt, und manchmal, so wie heute, stand sie sogar selbst in der Küche und bereitete Ravioli mit dieser herrlichen Soße aus Tomaten und frischem Basilikum zu. Diese Tage liebte Tremente, und als er am offenen Küchenfenster vorbeiging und ihm dieser einzigartig würzige Duft entgegenwehte, wurde ihm ein bisschen schwer ums Herz. Unweigerlich musste er wieder an seine Frau denken.

An der Eingangstür kam ihm Sofie entgegen, küsste ihn links und rechts und umarmte ihn herzlich. Wie ähnlich sie ihrer Mutter war, das ovale Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die er so sehr an Paulina geliebt hatte. Nur das Haar trug sie anders, lang, und wenn sie so wie heute kochte, dann band sie es im Nacken zu einem schlampigen Knoten. Tremente genoss diese Augenblicke, vor allem das gemeinsame Mittagessen. Zu selten hatte er Gelegenheit. Sofie war eine viel beschäftigte junge Frau, schrieb Bücher wie ihre Mutter, für Kinder aber, und arbeitete als Kulturreferentin bei der Triester Stadtverwaltung.

Das »Gapitelli« war inzwischen zu einem richtigen kleinen Familienbetrieb geworden. Anna, Trementes Schwester, war nach dem Tod seiner Frau hier eingezogen und hatte sich um Sofie, um das Hotel, aber auch um seine geknickte Seele gekümmert, und mit der Zeit war Anna, die nicht größer war als ein dreizehnjähriges Schulkind, zur Grande Dame des Hauses gewachsen. Alle Angestellten, Tremente und Sofie miteinbezogen, täuschten emsiges Treiben vor, wenn das Klackern ihrer Stöckel auf dem Fliesenboden erklang und das Rauschen ihrer langen Röcke ihr promptes Erscheinen ankündigte. Anna trug immer Schuhe mit Absätzen, damit konnte sie an Größe gewinnen, mindestens fünf, sechs Zentimeter. Was die Arbeit anbelangte, war sie gnadenlos streng – im Innersten jedoch war sie la mamma, die liebende Mutter, die schnell weich wurde, wenn ihr jemand ein Kümmernis anvertraute.

Auch Tremente arbeitete mittlerweile regelmäßig im »Gapitelli«, und so würde er wie heute Nachmittag im Hotel den Empfang der Gäste übernehmen, ihre Wünsche und Beschwerden weiterleiten und ein bisschen Seelsorger sein. Zuhören, wenn sie ihm von ihrem Leben erzählten, das konnte er. Zeit hatte er ja jetzt genug. Die Arbeit machte ihm auch Spaß und brachte etwas Abwechslung in sein Leben. Nebenbei spielte er schon länger mit dem Gedanken, eine Privatdetektei zu eröffnen. Er hatte sich ein kleines Büro in der Via Udine angeschaut und ein Inserat in der »La Repubblica« aufgegeben.

Und wirklich, gestern am frühen Abend war ein Anruf von einer Signora Bertani eingegangen, seiner ersten Klientin. Sie hatte aufgeregt am Telefon geklungen, bedurfte seiner Hilfe, wollte Referenzen von ihm haben, brauchte dringend jemanden, der Klarheit in ihr Leben brachte. Heute am Abend nach seinem Dienst an der Rezeption würde er sich mit ihr bei »Peppino« in Porto-Vecchio treffen.

»Peppino« war so eine Art Zweitbüro für die Polizei geworden, vor allem im Sommer. Es sprach sich leichter, wenn einem das Meer am Abend eine kühle Brise zufächelte und die Wellen sanft plätschernd am Felsen aufschlugen. Das beruhigte die Aufgekratztheit des Tages.

Tremente blickte öfter auf die Uhr in der Hotelhalle als sonst. Noch eine knappe Stunde, dann war sein Dienst für heute beendet. Das Quietschen der Drehtür ließ seine Augen von der Uhr zum Eingang wandern, der einströmenden japanischen Touristengruppe entgegen.

»Santa Lucia!«, kam es flüsternd über seine Lippen.

Die hatte er total vergessen. Und es war alles andere als einfach, dreißig Japaner in knapp einer Stunde einzuchecken, die Zimmerwünsche zu berücksichtigen, ihnen klarzumachen, dass das Haus schon älter war und leider über keinen Lift und keinen Concierge verfügte. Deshalb waren Trementes starke Arme gefordert, er musste mithelfen und etliche Koffer in die gewünschte Etage schleppen, was seinem Knie nicht gerade guttat.

Verschwitzt und mit einem Kopf, der überfüllt war mit den Wünschen und Beschwerden der Reisenden, verließ er keine Minute zu früh das »Gapitelli«.

Referenzen wollte sie haben, die Bertani, fiel ihm jetzt wieder ein. Wo sollte er jetzt auch noch Referenzen hernehmen? Sie bedurfte seiner Hilfe, welcher auch immer. Vielleicht war sie nur eine gelangweilte Hausfrau, die von ihrem Ehemann betrogen wurde, und er sollte Klarheit in die Sache bringen. Aber am Telefon hatte ihre Stimme ziemlich angespannt geklungen. Was, wenn doch mehr dahintersteckte?

5

Adelheid blickte auf ihre Armbanduhr. Kurz nach halb zehn. Sie befreite sich von der Belagerung ihrer Haustiere, stemmte sich aus dem Sessel, rieb sich kurz am Knie, um die Steifheit zu vertreiben, und ging zur Eichentür, um nachzusehen, wer zu so später Stunde noch um Einlass bat.

Inspektor Wurz und die Männer von der Spurensicherung waren gleichzeitig mit Loni eingetroffen.

Unendlich erleichtert umarmte Adelheid ihre Schwester, drückte sie und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge.

»Loni, dass du so schnell kommen bist! Der Herrgott schickt dich, weißt, es ist halt alles ein bisserl viel g’worden.«

»Dafür hab ich mir gedacht, fahrst gleich hinunter, die Adelheid kann sicher ein bisschen Schützenhilfe gebrauchen. Du hast Glück gehabt, die Verena, die Krautsack, war gerade bei mir, die aus Kemeten, die kennst ja. Die hat sich Marillen geholt, wie du angerufen hast, und da hab ich halt die Gunst der Stunde genutzt und bin mit ihr gleich mitgefahren. Bis vor die Haustür hat sie mich gebracht, ja, und da bin ich jetzt. Aber was will die Polizei um die Uhrzeit noch bei dir?«

»Das Zimmer vom Kantor müssen wir versiegeln, und da die Herren von der Spurensicherung noch da sind, werden wir uns gleich umschauen, ob wir Indizien finden. Irgendetwas, das uns weiterhilft. Notizen, die auf die Tat hinweisen«, antwortete Wurz.

»Da, da drüben, gleich die Tür gegenüber vom Bad, Herr Inspektor, das ist, nein das war das Zimmer vom Herrn Gabriel, äh, ich mein, vom Herrn Bertl. Sie müssen nämlich wissen, bevor ich es vermietet hab, war es das Jagdstüberl von meinem seligen Josef. Mein Gott, wie konnte das nur passieren? Der war doch so beliebt im Ort, bei allen. Und so schön g’spielt hat er auf der Orgel, gelt, Loni, du hast ihn auch g’hört am Ostersonntag beim Festtagsgottesdienst. Die Kirche war randvoll, müssen S’ wissen, kein Platz war mehr frei, so gern haben ihn die Leut’ g’habt.«

Loni nickte zustimmend, erinnerte aber Adelheid daran, dass der Herr Inspektor nur seiner Pflicht nachkomme und alles tun werde, um den Mörder zu finden.

Wurz salutierte zackig und sagte: »Wir müssen jetzt anfangen. Jede Sekunde, die wir dem Täter oder auch der Täterin als Vorsprung lassen, zählt. Das verstehen Sie doch, Frau Horvath?«

Adelheid nickte, und Loni schob sie in die Küche, drückte sie auf den Sessel und setzte Teewasser auf. Sie kramte im Küchenkastel nach einem Hopfenblütentee, übergoss diesen mit blubberndem Wasser, reichte das Häferl ihrer Schwester.

Da brach es aus Adelheid heraus. »Blut, so viel Blut, Loni, das war der reinste Wahnsinn. Ich hab ’glaubt, ein Mensch hat nur maximal sieben Liter im Körper, aber das, das müssen mehr g’wesen sein. Und hätt der Herr Gabriel nicht seinen Trachtenjanker ang’habt, ich hätt ihn nicht wiedererkannt. Mein Gott, Loni, wer tut so was?«

»Ich weiß auch nicht, aber der Herr Inspektor hat was von einer Täterin gesagt. Wie kommt er auf die Idee? Eine Frau, hat die überhaupt die Kraft dazu?«

»Ja weißt, Loni, der Wurz hat g’meint, ausschließen kann man das nie, wo die Weiber total narrisch waren auf ihn – und nicht nur die aus unserm Ort, nein, die sind sogar aus dem Steirischen, aus Hartberg, zum Klavierunterricht ’kommen, musst dir vorstellen. Drum meint der Herr Inspektor, dass halt ein Mord aus Eifersucht auch nicht so abwegig ist. Weißt, und wenn so eine einmal in Rage ist, dann gnade dir Gott. Aber es könnt genauso gut ein betrogener Ehemann sein. Was weiß ich.«

Inspektor Wurz blickte zur Tür herein, sagte, dass so weit alles gesichert sei, und mahnte nochmals eindringlich, das Zimmer nicht zu betreten. Vorläufig habe man nichts gefunden, er werde nochmals vorbeischauen, bei Tageslicht, könnt ja sein, dass sie irgendetwas übersehen hätten. Er setzte seine Dienstkappe auf. Obwohl er nicht verpflichtet war, Uniform zu tragen, weil das, wie überall in Österreich, der Schutzpolizei vorbehalten war, sah man ihn nie in etwas anderem als dem schicken Einreiher in dunklem Blau. Zum einen, weil er fand, dass ihm der Anzug mehr Schneid verlieh, zum anderen, weil er dank ihm das Gefühl hatte, eine Hauptrolle in den Kriminalfällen zu spielen, was ihm aufgrund seiner heimlichen Leidenschaft, dem Laienschauspiel, sehr entgegenkam. Er war ein kleiner Mann, der auf jeden Quadratzentimeter Autorität angewiesen war. Selbst wenn das bedeutete, im Winter in den dünnen Stoffhosen zu frieren und im Sommer in dem undurchlässigen Polyester zu schwitzen wie ein Schwein.

Er wünschte den Damen eine gute Nacht und verschwand mit denen von der Spurensicherung durch die schwere Eichentür.

6

Nach dieser Nacht, Adelheid hatte trotz Schlaftablette kaum geschlafen, war bestenfalls kurz eingenickt, während sie immer wieder den Kantor am Boden liegen sah, blutverschmiert, stand sie entgegen ihrer Gewohnheit bereits um kurz vor sechs Uhr auf. Sie machte sich einen Kaffee, ging ins Wohnzimmer zu ihrem Lieblingsplatz und öffnete die Terrassentür. Setzte sich in ihren Ohrensessel, lauschte dem Gezwitscher der Vögel. Ein angenehmes Lüfterl wehte ins Zimmer, erfrischte ihren Geist. Hoffentlich würde die Kripo bald das Zimmer vom Herrn Gabriel freigeben, dann könnte sie seine Sachen zusammenpacken und zu Hochwürden bringen.

Wenn Adelheid jetzt so nachdachte über den Kantor, musste sie sich eingestehen, dass sie kaum etwas über ihn wusste. Nie hatte er mit ihr über seine Vergangenheit oder gar über seine Familie gesprochen. Sehr geheimnisvoll hatte er immer getan, der Herr Gabriel, nur hier und da eine vage Andeutung gemacht über sein Leben, und bei der Frage über seine Heimat hatte er sich meistens mit Schulterzucken und einem unschuldigen Blick aus der Affäre gezogen. Irgendwann war dann das Gerücht aufgekommen, dass er aus der Schweiz komme. Warum? Das Paket, das eines Tages an Adelheids Adresse geliefert wurde, ziemlich lang, länger als ein normales Paket und schmal, erregte so einiges Aufsehen – und dann der Absender aus der Schweiz: »Alphornshop Edelweiß«. Was Adelheid noch mehr verwunderte, war die Tatsache, dass dieses Paket gar nicht schwer war, wenn wirklich das drinnen war, was daraufstand. Sie hatte immer gedacht, diese Dinger müssten eine Menge wiegen. Falsch gedacht.

Das erste Mal hatte Herr Gabriel das Alphorn mit den handgemalten Edelweißblumen am Schlossparkplatz aufgebaut, an einem Samstagnachmittag. Beinahe ganz Rotenturm war zusammengelaufen, um diesem Spektakel beizuwohnen. Seit damals war für alle klar, der Kantor, der war ein Schweizer, ein Eidgenosse. Doch über seine Eltern oder Geschwister hatte er nie mit ihr gesprochen.

Sie, Adelheid, war froh, dass sie eine Schwester hatte. Obwohl sie Loni zeitweise gehasst hatte. Immer war sie der Liebling aller gewesen, egal ob bei Lehrern oder Schülern, und Loni hatte mit dreizehn ihren ersten BH bekommen. Adelheid dagegen war mit siebzehn noch immer flachbrüstig gewesen und hatte sich eine doppelte Ladung Papiertaschentücher in ihren Büstenhalter gesteckt, wenn sie einmal von einem Burschen zum Kino eingeladen worden war, und das war leider äußerst selten geschehen. Irgendwann hatte sich das geändert, und so manch verstohlener Blick des anderen Geschlechtes hatte Adelheids Silhouette gestreift. Da hatte sie das aber schon gar nicht mehr interessiert, denn da hatte sie ja bereits den Josef gehabt.

Loni war aufgewacht, gesellte sich ebenfalls mit einer Tasse Kaffee zu ihr, schwarz und dampfend heiß.

»Na, wie geht’s dir? Hast wenigstens ein bisserl geschlafen?«

»Kaum. Immer wenn ich beinahe eing’schlafen bin, hat mir der Wurz die abg’hackten Hände vom Herrn Gabriel entgegeng’streckt, und da bin ich hochg’schreckt und war wieder putzmunter. Grauslich war das, ich sag dir’s, Loni! Hoffentlich kann ich das Zimmer bald ausräumen. Sachen von einem Toten im Haus zu haben, das bringt nur Unglück.«

»Geh, Adelheid, du bist doch sonst nicht so abergläubisch.«

»Na ja, im Fernsehen zeigen s’ immer solche Geschichten. Der Geist des Ermordeten findet keine Ruhe, irrt herum, oft jahrelang.«

»Lässt es halt ausräuchern, das Zimmer.«

»Meinst, Loni, dass das was hilft?«

»Hilft’s nicht, schadt’s auch nicht.«

Gleich nach dem deliziösen Mittagsmahl, Adelheid hatte sich diesmal selbst übertroffen, die Putenschnitzerl zart angebraten, mit Mozzarella überbacken, dazu Wildreis und einen gemischten Salat mit frischen Paradeisern, Paprika und Rucola, nachgelesen in ihrem italienischen Kochbuch, hatten sich die Schwestern aufgemacht, auf den Friedhof zu fahren, um den Josef zu besuchen. Loni hatte beschlossen, noch ein, zwei Tage bei Adelheid zu bleiben, sie abzulenken, vielleicht sogar ihr beim Ausräuchern zu helfen. Adelheid holte den Grafen Carello aus der Garage, und mit Bessie auf Lonis Schoß fuhren sie los. Sie liebte dieses Golfwägelchen mit Überdachung, großer Panoramafrontscheibe und gläsernen Türen, das beinahe wie ein echtes Auto war und das sie sich von der Lebensversicherung ihres Josef gekauft hatte. Damit konnte sie mühelos die steile Auffahrt zu seiner letzten Ruhestätte bewältigen. Sie hatte sich damals unter anderem für dieses Vehikel entschieden, weil sie keinen Führerschein besaß und für den Grafen keinen brauchte.

»Es besteht keine Notwendigkeit«, hatte Josef immer gesagt, »hast ja eh mich.«

Nach seinem Tod hatte sie ihn nicht mehr gehabt, und so ohne Fahrzeug zu sein, immer abhängig von den Nachbarn, hatte ihr nicht besonders behagt, und da hatte sie eben beim Autohaus Grabner den Carello günstig erstanden, noch dazu in Testarossarot, ihrer Lieblingsfarbe, was ihm wirklich ein schnittiges Aussehen verlieh. Auch diesmal brachte er die drei bequem zum Friedhof hinauf, wollte sie doch Josef ein Kerzerl anzünden.

Josef hatte Loni gemocht, auch ihre Späße, die sie immer mit ihm gemacht hatte. Doch einmal, da wäre er beinahe böse geworden. Nein, er war böse geworden, aber nur kurz, damals, als er sie zum Ansitzen mitgenommen hatte. Einen geraden Zehnender hatte er im Visier gehabt, selten genug, so ein Vieh, und gerade in dem Moment, als er abdrücken wollte, läutete Lonis Handy, blies zum Radetzkymarsch. Das war das Zeichen für den Zehnender, im Dickicht zu verschwinden. Es wäre Josefs erster gewesen, und er hätte sich damit bei seinen Jagdkumpanen eine gehörige Portion Hochachtung einhandeln können, doch dann das. Den ganzen Tag und den darauffolgenden hatte er nicht mit Loni gesprochen, war ihr aus dem Weg gegangen. Erst als er sie zum Busbahnhof führte, küsste er sie zum Abschied wie gewohnt auf die Wange und sagte: »Hat halt nicht sein sollen, wär eh schad g’wesen um das majestätische Viech.«

Später hatte ihr Loni einmal gestanden, dass sie so viel Mitleid mit dem Hirschen gehabt hatte, dass sie heimlich in ihre Tasche gegriffen, zufällig den Johann Strauss ausgewählt und so dem Zehnender zur Flucht verholfen hatte.