DIE AUTORIN    


Barbara Büchner 

www.bbuechner.at

wurde 1950 in Wien geboren und wollte nie etwas Anderes werden als Schriftstellerin –¬ und zwar für Gruselromane. Sie wollte weder mit Puppen noch mit Ponys spielen, sondern verwandelte das zum Geburtstag geschenkte Puppenhaus in ein Geisterhaus samt unterirdischem Kerker und fing früh an, nur schwarz zu tragen – bis heute.

Nach einer guten Ausbildung und einigen missglückten Versuchen, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen, war sie siebzehn Jahre lang Journalistin und nutzte die Gelegenheit, sich mit verschiedenen unheimlichen Örtlichkeiten und Persönlichkeiten vertraut zu machen. 1985 erschien, unbeachtet von der Öffentlichkeit, ihr erstes Buch, ein Schauerroman. Dann schlitterte sie durch die Ironie des Schicksals in die Laufbahn einer erfolgreichen Kinder- und Jugendschriftstellerin, bis sie 2000 die literarische Pädagogik endgültig satt hatte und das Risiko einging, vom Horror zu leben. Inzwischen hat sie sich auf diesem, ihrem eigentlichen Gebiet im ganzen deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht.

Im Fabylon Verlag erschienen bereits ihre Romane „Der schwarze See“ und „Das Familienritual“ in der Reihe ARS LITTERAE, sowie der Episodenroman „Sherlock Holmes und das verschwundene Dorf“ in der Reihe MEISTERDETEKTIVE.

Barbara Büchner


SHERLOCK HOLMES UND DIE SELTSAMEN SÄRGE




MEISTERDETEKTIVE

Band 5



fabEbooks

In dieser Reihe sind erschienen: 


Band 1: SHERLOCK HOLMES UND DAS DRUIDENGRAB, Hrsg. Alisha Bionda

Band 2: SHERLOCK HOLMES TAUCHT AB, Tobias Bachmann & Sören Prescher

Band 3: SHERLOCK HOLMES UND DIE TOCHTER DES HENKERS, Hrsg. Alisha Bionda

Band 4: SHERLOCK HOLMES UND DAS VERSCHWUNDENE DORF, Barbara Büchner

Band 5: SHERLOCK HOLMES UND DIE SELTSAMEN SÄRGE, Barbara Büchner



Nach den Charakteren „Sherlock Holmes“ und „Dr. John H. Watson“

Geschaffen von Sir Arthur Conan Doyle


Die preisgünstige eBook-Ausgabe enthält keine Illustrationen.

ISBN 978-3-943570-45-8


© für fabEbooks November 2014

© der Printausgabe (ISBN 978-3-927071-62-9) Fabylon Verlag November 2014

Herausgeber: Alisha Bionda

Cover: Crossvalley Smith

Coverlayout: Atelier Bonzai



Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.

www.fabylon.de

Inhalt


Kapitel 1: Sherlock Holmes geht eine Wette ein

Kapitel 2: Die grausame See 

Kapitel 3: Raubtiere

Kapitel 4: Mächte der Finsternis

Kapitel 5: Die seltsamen Särge

Kapitel 6: Khurat Khan

Kapitel 7: Der ungelöste Fall


Anmerkungen zu den Hintergründen


Die Autorin

Kapitel 1

Sherlock Holmes geht eine Wette ein


1


„Nun sehen Sie sich das an, Watson! Wahrhaftig, mein Stern sinkt! In England mag ich ja noch als Koryphäe gelten, im übrigen Europa hingegen hält man mich für gerade gut genug, verrückten Töchtern und verschwenderischen Schwiegersöhnen hinterher zu spionieren!“

Mit diesen Worten reichte mir Sherlock Holmes ein Schreiben mit einem so pompösen Briefkopf, dass ich erst an einen ausländischen Fürsten dachte. Der Absender war jedoch H. J. Bertholdy, ein Schweizer Seifenfabrikant. Er hatte den Brief mit eigener Hand geschrieben, in einer groben Schrift, die den proletarischen Charakter und das übersteigerte Selbstbewusstsein des Autors verriet. Der kurze Text lautete:


S. g. Herr Holmes,

man hat Sie mir als einen recht tüchtigen Londoner Detektiv empfohlen. Da mein Schwiegersohn auf ein Jahr in London weilt, beauftrage ich Sie mit der Überprüfung, was meine Tochter und der Kerl eigentlich mit meinem Geld vorhaben, denn für irgendwelchen wissenschaftlichen Unsinn erhalten sie keinen Penny von mir. Der Kerl heißt Doktor Julian Brentano und ist ein bettelarmer [Anm.W.: das Wort war zwei Mal unterstrichen] Irrenarzt und genauso verrückt wie meine Madeleine. Berichten Sie mir in spätestens zwei Wochen, welche Ergebnisse Sie erzielt haben. Wenn Sie gute Resultate liefern, werden Sie auch ordentlich bezahlt. Also, auf an die Arbeit!


Ich sah Holmes an, sprachlos über so viel Unverfrorenheit. Er nickte mir mit einem spöttischen Lächeln zu, nahm den Brief mit den Fingerspitzen und riss ihn in zwei Teile. „Ich glaube nicht“, sagte er, „dass ich Mister Bertholdys Auftrag annehmen werde. Aber da sehen Sie, mein lieber Watson, wie es um mich steht! Wer braucht meine Fähigkeiten? Plebejische Geldsäcke, die davor bangen, dass der Schwiegersohn ihr Geld für wissenschaftlichen Unsinn ausgeben könne!“ Das, so schien es mir, hatte ihn am meisten geärgert; schließlich sah er sich selbst als einen wissenschaftlich Arbeitenden auf dem Gebiet der Kriminalistik, und ich glaube, er hatte Mitleid mit dem „Kerl“, den diese Krämerseele von einem Seifenfabrikanten ausspähen wollte.

Nach einem aufregenden Sommer war es Herbst geworden, ohne dass Klienten mit interessanten Problemen in der Baker Street erschienen wären, und wie immer, wenn es ihm an reizvollen Angeboten mangelte, war der Detektiv zusehends in schlechte Laune verfallen. „Es gibt keine Verbrechen mehr!“, räsonierte er vor sich hin, während er an seiner Shagpfeife paffte. „Natürlich gibt es genug Leute, die einander bei Wirtshausraufereien den Schädel einschlagen oder Arsenik auf den Pudding streuen, aber was ich meine, ist: Es gibt keine künstlerisch anspruchsvollen Verbrechen mehr.“

„Holmes!“, protestierte ich. „Bei jedem Verbrechen kommen Menschen zu Schaden, oft auf die schrecklichste Weise. Und Sie reden, als stünden Sie im Museum vor einem Kunstwerk, dessen Perfektion Sie bewundern!“

Er zuckte mürrisch die Achseln. „Sie nehmen es doch auch einem Chirurgen nicht übel, wenn er heimlich von einer äußerst schwierigen, noch nie gewagten Operation träumt? Ich wünsche niemandem Böses, aber da das Böse ohnehin Tag und Nacht geschieht, ob ich es wünsche oder nicht, könnte es doch wenigstens auf eine Weise geschehen, die meine Fähigkeiten herausfordert!“ Halb spöttisch, halb in echter Verzweiflung streckte er die Hände zum Himmel. „Wenn Gott mir schon den analytischen Verstand gegeben hat, die kompliziertesten Rätsel zu lösen, warum lässt er mich dann an Langeweile zugrunde gehen? Ich verlange doch nichts weiter von ihm als einen unlösbaren Fall – das heißt, einen Fall, den niemand außer mir aufklären kann!“

Nun, wer bittet, dem wird gegeben, wer anklopft, dem wird aufgetan. Holmes’ unorthodoxes Gebet wurde schon wenig später erhört. Gott, so scheint es mir, besitzt einen feinen Sinn für Ironie, denn die Erhörung erfolgte bei einer Herrenrunde in Thurnton Hall, dem Landhaus eines Kirchenfürsten. 



2


Für gewöhnlich war Holmes kein geselliger Mensch, er verachtete das seichte Geschwätz und die leere Prahlerei der sogenannten „guten Gesellschaft“. Der katholische Bischof jedoch war ein wirklich reizender alter Herr, der sich obendrein sehr für wissenschaftliche Kuriositäten interessierte, weshalb seine Abendrunde von etwa fünfundzwanzig Gentlemen aus Ärzten, Wissenschaftlern, Kriminalbeamten der höheren Ränge und bedeutenden Kirchenmännern bestand. Der Bischof liebte es, zu seinen Runden die schärfsten Skeptiker gemeinsam mit besonders fanatisch Frommen einzuladen, um der Diskussion „ein wenig Pfeffer“ zu verleihen. Pfeffer war kein Ausdruck! Die frommen und unfrommen Herren fuhren zuweilen aufeinander los, dass ich dachte, sie würden einander an den Bärten reißen, die Brillen zertrümmern und die Gesichter zerkratzen!

Angenehmerweise waren nur Männer geladen. Selbstverständlich habe ich an Frauen nichts auszusetzen, ich empfinde sie durchaus als Bereicherung des Lebens und träume davon, eines Tages selbst eine für mich zu finden. Aber es geht doch nichts über die Gesellschaft von Männern unter sich, wenn die gestärkten Kragen und die Manieren etwas gelockert werden dürfen und man sich ganz dem Beisammensein widmen kann, ohne immer wieder aufstehen oder leere Höflichkeiten von sich geben zu müssen. 

Es war, das musste auch Holmes zugeben, ein netter Abend. Wir speisten exzellent und wurden dann in die Bibliothek gebeten. Sie lag im ältesten Teil des Hauses, im Untergeschoss eines düsteren Turmes aus normannischer Zeit, dem letzten Überrest der Festung, die Thurnton Hall einst gewesen war. Statt Fenster gab es nur Schießscharten. Erst der Bischof hatte den runden Raum mit allem modernen Komfort einrichten lassen, sodass er jetzt einen freundlichen und gemütlichen Eindruck machte. Die dunklen Steinmauern waren hinter Mahagoniregalen voll würdiger theologischer Wälzer verschwunden, der Boden war mit einem dicken Perserteppich bedeckt. Die Gaslampen an den Wänden waren niedrig gedreht worden, denn ein Feuer aus Buchenscheiten brannte hinter dem blank geputzten Kamingitter und erhellte aufs Angenehmste den Raum. Wir nahmen unsere Plätze auf bequemen Sofas und Sesseln ein. Zigarren wurden angeboten, ein Arrangement von Flaschen stand freizügig zur Selbstbedienung bereit, und bald waren höchst angeregte Gespräche im Gange. 

Da wir uns im Hause eines Kirchenfürsten befanden, kam die Rede rasch auf allerlei Wunder, Erscheinungen und mystische Ereignisse. Man war sich einig, dass viele Geschehnisse auf Erden schwer zu verstehen seien, weil es an den nötigen technischen Kenntnissen zu ihrem Verständnis fehle oder weil die Würfel des Zufalls so wunderlich gefallen seien, dass der Sinn sich nicht offenbare. 

Es gibt jedoch auch – dieser Meinung waren viele der Anwesenden – Ereignisse, die unverständlich bleiben, vor denen selbst die klügsten Köpfe stehen wie die Kuh vor dem neuen Tor und sich alle noch so brillanten Theorien in grauen Rauch auflösen. 

Die Gläubigen konnten jede Menge Beweise für ihre Ansichten beibringen – man hätte ein Buch füllen können mit den erstaunlichen Erlebnissen, die vielen Herren in der Runde entweder persönlich oder beruflich widerfahren waren. Irgendwann allerdings fiel jemandem auf, dass sich Sherlock Holmes nicht am Gespräch beteiligte, und man fragte nach dem Warum. Er lehnte schlaff in der tiefen Ledercouch, die Beine übereinandergeschlagen, und zuckte nur lässig die Achseln. „Ich habe zu diesem Thema nichts beizutragen. Was hat ein einfacher Detektiv in den mystischen Gefilden zwischen Tod und Leben, Diesseits und Jenseits verloren? Wenn tatsächlich ein Wunder geschieht, so übersteigt es menschliche Kräfte, mit einem Engel zu ringen. Der alberne Mummenschanz jedoch, mit dem die sogenannten Spiritisten ihre Opfer täuschen, ist unter meiner Würde. Es braucht keinen Sherlock Holmes, um bei einer Séance einen angeblichen Geist als nach Phosphor stinkenden, nasskalten Fetzen zu entlarven!“

Das war typisch Holmes. 

Ich hatte nie verstanden, warum sich dieser unersättlich forschende Geist weigerte, gerade dort zu forschen, wo es unsere Neugier von Natur aus hinzog – beim Bizarren, beim Phantastischen, beim schier Unglaublichen. Er beharrte mit philisterhafter Sturheit darauf, dass es sich dabei um Betrug und Blendwerk handle. Natürlich hatte er in vielerlei Hinsicht Recht, in London wimmelte es von betrügerischen so genannten „Medien“, aber man misstraute ja auch nicht der Bank von England, nur weil immer wieder Fälscher gefasst wurden. Mir persönlich schien es, dass wir das Recht und die Pflicht hatten, allem nachzuforschen, das unsere Neugier erregte, und nicht von vornherein zu entscheiden, was diese Neugier rechtfertigte und was nicht. Ich behielt diese Ansicht jedoch bei mir, jedenfalls meinem Freund gegenüber, denn Holmes hatte eine scharfe Zunge, und es verletzte mich, wenn er mir zu verstehen gab, dass er mich für einen abergläubischen Dummkopf hielt. Dabei hatte er gar nicht die Absicht, mich mit diesem Urteil zu kränken, er fällte es so emotionslos und nüchtern, als hätte er festgestellt, dass ich einen Schnurrbart trug.

Einige der anwesenden Herren protestierten in meinem Sinne. Holmes war jedoch von seinem Standpunkt nicht abzubringen. Mit einer aufreizend blasierten Geste legte er die Fingerspitzen zusammen und blickte in die Runde, das schmale Lächeln auf den Lippen, in dem sich sein intellektueller Hochmut ausdrückte. „Nein, ich bin nur für irdische Verbrechen zuständig. Unter diesen freilich gibt es keines, das ich mir nicht zutraue zu lösen, mögen Publikum und Wissenschaft es auch für unlösbar erklären!“

Unter gewissen Umständen konnte Holmes jeden mit seiner subtilen Arroganz zur Weißglut reizen, und diese Umstände waren nun gegeben. Die Anwesenden waren erhitzt vom Alkohol und den stundenlangen Diskussionen. In der Turm-Bibliothek war die Luft dick von Tabakrauch und emotionaler Erregung, und da wir unter Engländern waren, konnte die Herausforderung nicht ausbleiben: „Darauf würden Sie aber nicht wetten?“

„Gewiss doch“, antwortete Holmes kühl. „Mein gesamtes Vermögen, wenn es sein muss.“

Schlagartig herrschte Stille. Für uns Engländer sind Wetten eben eine sehr ernste und wichtige, ja geradezu heilige Sache. Sofort wurde ein Komitee aus den angesehensten der anwesenden Herren gewählt, das unter dem Vorsitz des Lordoberrichters Henry Walhalm die Bedingungen festlegte. Man verhandelte, als ginge es um die Verfassung eines neu zu gründenden Staates; Vorschläge wurden unterbreitet, angenommen oder auch abgewiesen, die Einsätze festgelegt … Schließlich wurde mit großem Pomp das endgültige Dokument vorgelegt.

Es bestimmte, dass die Schiedsrichter aus den Akten von Scotland Yard oder anderen Polizeistellen, sowie den Archiven von Kirche und Universität nach eigenem Ermessen sieben Fälle auswählen sollten, bei denen alle Versuche einer Lösung gescheitert waren. Danach würde man Sherlock Holmes das gesamte Material vorlegen, und er mochte verfahren, wie es seine übliche Art war – den Tatort untersuchen, Zeugen befragen, Dokumente studieren, auch andere Fachleute beiziehen. Eine weitere Bedingung lautete: Um die Wette zu gewinnen, musste er entweder den Täter namhaft machen – die Verfolgung und Verhaftung konnte man der Polizei überlassen – oder eine Darstellung des Falles mit Indizien liefern, die vor Gericht stichhaltig sein würde. Er durfte sich dabei wie bisher der Hilfe von Scotland Yard bedienen. 

„Also keine windigen Theorien!“, mahnte einer von denen, die gegen Holmes wetten wollten. Es war Professor Eustache Grimes, der Anführer dieser Fraktion. „Sie dürfen nicht bloß sagen: Ich denke, es ist so oder so geschehen, beweisen kann ich es nicht!“

„Mein sehr geehrter Herr“, antwortete Holmes in einem Ton, dass die Temperatur im Raum um ein paar Grade zu sinken schien, „ich pflege bei meiner Arbeit keine Luftschlösser zu bauen, sondern arbeite mit harten Fakten und logischen Analysen.“

Holmes selbst stellte nur zwei Bedingungen: Es musste greifbare Unterlagen geben wie Dokumente, Objekte, Zeugenaussagen, mit denen er arbeiten konnte, und es musste sich um eine ernsthafte Angelegenheit handeln. Mit gutem Gewissen könne er seine ungewöhnlichen Fähigkeiten nur einsetzen, um Schaden abzuwenden oder bereits geschehenes Unheil zu rächen. Er sei nicht bereit, ergänzte er mit seinem süffisanten Lächeln, seine Kräfte an bloße Spukgeschichten und Ammenmärchen zu verschwenden.

 Und – was mich heimlich von ganzem Herzen freute – er sagte: „Sie müssen übrigens in diesen Fällen Doktor Watson und mich als eine Einheit betrachten. Löst eine dritte Person den Fall, gebe ich mich geschlagen, löst ihn aber mein Freund Watson, so muss es gelten, als hätte ich selbst ihn gelöst! Und nun seien Sie so freundlich und reichen Sie mir den Wettvertrag, damit ich ihn unterschreibe. Watson, Sie auch!“

Das waren die Augenblicke, in denen ich die tiefe, herzliche Zuneigung spürte, die sein kühles Temperament ihm nicht auszudrücken gestattete – die Augenblicke, in denen ich ihm alle Kränkungen verzieh. Ebenso freute mich, dass der Vorschlag ohne jeden Widerspruch angenommen wurde. Man betrachtete uns also wohl wirklich als eine Art Siamesische Zwillinge.

Das Dokument machte die Runde, und jeder der Anwesenden unterschrieb es, wobei von vornherein ausgemacht war, dass die Gewinne jeder einzelnen Wette – egal, welcher Seite sie zufielen – dem Polizei-Waisenhaus zugutekommen sollten.



3


Da wir bereits Oktober hatten, mit Nachtfrost und stürmischen Winden, und das Landhaus des Bischofs eine gute Stunde von London entfernt lag, waren alle Gäste eingeladen, die Nacht dort zu verbringen. Erschöpft schlüpfte ich aus den Kleidern und kroch in das Himmelbett, das so pompös und ungemütlich wie ein Leichenwagen mitten im Raum stand. Die mächtigen Federbetten erdrückten mich fast, ich musste gut die Hälfte davon zurückschlagen, um überhaupt schlafen zu können. Durch die offenen Fenster wehte frischer Nachtwind herein. Ich rekelte mich in den Kissen und blickte durch das Fenster hinaus auf den Nachthimmel. Einzelne Sterne glühten auf dunklem Kobalt. Ich persönlich war gerne auf dem Land, obwohl ich nie vergessen habe, was mein Freund Holmes anlässlich des Falles Das Haus bei den Blutbuchen gesagt hatte: Dass es im finstersten Whitechapel nicht so gefährlich sei wie in diesen einsamen, idyllischen Gegenden, wo einem kein Nachbar ins Fenster guckte und kein aufmerksamer Bobby seine Runde patrouillierte.

Ich war kurz davor einzuschlafen, als draußen Pferdehufe in der Stille der Nacht klapperten und das Knirschen im Kies verriet, dass ein später Gast angekommen war. Neugierig stand ich auf und beugte mich aus dem Fenster, das auf die Einfahrt hinausblickte. Es war tatsächlich ein Einspänner. Als der Diener mit einer Laterne heraustrat, sah ich in ihrem Schein einen sehr attraktiven jungen Mann im Kutschermantel, mit dichtem braunen Haar, Schnauzbart und goldener Brille, aus dem Wagen steigen. Er entschuldigte sich für die späte Ankunft, worauf der Diener antwortete: „Das macht nichts, Herr Doktor, seine Eminenz und viele von den Herren sind noch auf und werden auch nicht so bald schlafen gehen. Kommen Sie nur herein!“ Und dem in der Haustür wartenden Butler rief er zu: „Herr Doktor Julian Brentano ist angekommen!“

Damit verschwanden beide im Haus, und ich kehrte in mein Bett zurück. Dort lag ich eine Weile wach und sinnierte darüber nach, wie seltsam das Schicksal seine Fäden wob. Der Name war sehr ungewöhnlich, also war der Doktor, der soeben zu unserer Gesellschaft gestoßen war, zweifellos derselbe, den H. J. Bertholdy als bettelarmen Irrenarzt bezeichnet hatte. Derselbe, der im Begriff stand, das Vermögen seines Schwiegervaters für „wissenschaftlichen Unsinn“ auszugeben. Ich persönlich glaubte fest an Fügungen, und so schien mir das Erscheinen dieses späten Gastes als ein Wink des Schicksals, uns um seine Angelegenheiten zu kümmern.

Kapitel 2

Die grausame See


1


Als wir uns am nächsten Morgen zu einem späten Frühstück trafen, erklärte uns der Vorsitzende des Wett-Gerichts, Lordoberrichter Walhalm, dass man sich in einer langen nächtlichen Sitzung bereits auf einen Fall geeinigt hätte. Einen extrem schwierigen: Das Komitee hatte den berühmten Fall der Mulholland-Expedition ausgewählt! 

Obgleich inzwischen viele Jahre vergangen waren und man alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, auch Expeditionen an den vermutlichen Ort des Geschehens gesandt hatte, war die Frage unbeantwortet geblieben: Wie konnten zwei mächtige Schiffe mit bestens geschulter Mannschaft, modernster Ausrüstung und einem erfahrenen Kapitän spurlos verschwinden? 1845 war die Expedition mit großem Pomp aufgebrochen, um den noch unbekannten Teil der Nordwest-Passage zu erforschen. Sie hatte von Anfang an unter einem schlechten Stern gestanden, vielleicht, weil man den beiden Schiffen die Namen Medusa und Inferno gegeben hatte – was in meinen Augen das Unglück heraufzubeschwören bedeutete. Schon kurz nach Beginn der Reise starben einige Seeleute, ohne dass man sich erklären konnte, woran; es waren kräftige junge Burschen gewesen und die Behandlung besser, die Verköstigung gesünder als auf anderen vergleichbaren Schiffen. Damals waren gerade die Konservendosen erfunden worden, sodass die Seefahrer abwechslungsreiche Mahlzeiten erhielten, statt wie früher tagein, tagaus Zwieback und gepökeltes Fleisch. 1847 folgte die Katastrophe. Das Letzte, was man jemals von den beiden Schiffen hörte, war, dass sie in der Nähe von King Williams Island in der Victoria Strait im Packeis stecken geblieben waren. Danach kam nichts mehr, keine Nachricht. Die Mulholland-Expedition war verschwunden, als wären die Schiffe mit Mann und Maus in den Orkus gestürzt, dessen Schlund sich ja angeblich am Nordpol öffnet. 

Der hochnäsige Professor Eustache Grimes, der Holmes ursprünglich zu der Wette herausgefordert hatte, bemerkte spöttisch: „Sie haben gewiss schon die Lösung im Kopf, Herr Detektiv?“

„Nein, ich habe nur wie alle Engländer von dem seinerzeitigen Unglück gehört und viel darüber gelesen – aber erst will ich in aller Ruhe frühstücken und dann einen gemütlichen Spaziergang mit meinem Freund Watson zur Bahnstation machen; unser Gepäck wird der Herr Bischof freundlicherweise dorthin transportieren. Sie gestatten!“ Damit beugte er sich demonstrativ über seinen Frühstücksteller, um anzuzeigen, dass weitere Kommentare von ihm nicht zu erwarten waren.

Angesichts der Aufregung, in die mich unser erster „unlösbarer“ Fall versetzte, hatte ich gar nicht mehr an den Schweizer Arzt gedacht, der gestern zu so später Stunde angekommen war, aber er brachte sich mir nachdrücklich in Erinnerung. Die Wangen fleckig, die Augen blitzend vor Erregung, eilte er auf unseren Tisch zu und setzte sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, als Dritter zu uns. Er stellte sich auch nicht vor, sondern rief sofort in einem seltsam gefärbten Englisch: „Welche Verschwendung ungewöhnlicher Fähigkeiten! Ihre Analysen, Mister Holmes, können hier doch nur mehr ein geistiges Rätsel lösen! Ein Gedankenspiel!“

Mein Freund legte Messer und Gabel beiseite. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen“, antwortete er in ausnehmend frostigem Ton. „Mein Name ist Sherlock Holmes. Und der Ihre?“

Der junge Mann errötete heftig, als ihm bewusst wurde, wie unmanierlich er sich benommen hatte. „Verzeihen Sie!“, stieß er hervor. „Für gewöhnlich habe ich bessere Manieren. Ich heiße Julian Brentano, bin Schweizer von Geburt und war bis vor Kurzem als Arzt an einer angesehenen Nervenklinik in Zürich tätig. Zurzeit verbringe ich ein Sabbatjahr mit Studien interessanter Fälle in London. Ich war nur so unhöflich, weil … weil … es bringt mich auf! Hier sitzen Sie, der größte Detektiv der Welt, und verschwenden Ihre Zeit mit Theorien! Was immer geschah, diese Seeleute sind tot; es ist nicht mehr wichtig, wo und wie sie starben. Der Fall jedoch, den ich selbst dem Komitee vorschlug und der als unbedeutend abgelehnt wurde, ist dringend und dramatisch, denn es geht um das Leben eines Menschen, der in einem Irrenhaus dahinvegetiert, schmutzig und verwahrlost, ans Bett gekettet, aus einem Napf gefüttert wie ein Vieh – und die Lebenden brauchen Hilfe dringender als die Toten, seien diese auch so berühmt wie Kapitän Mulholland! Um meinen Fall müssen Sie sich kümmern!“

Holmes – den es milde gestimmt hatte, dass er als „größter Detektiv der Welt“ angesprochen wurde – zeigte Interesse, schränkte jedoch ein: „Wenn ein Nervenarzt einen Fall auf das Tapet bringt, ist das wohl eher ein medizinisches als ein kriminalistisches Problem, und trotz meiner nicht geringen Kenntnisse der Medizin und Pharmakologie würde ich mir niemals anmaßen, mehr von einer Krankheit zu verstehen als ein Arzt.“

Brentano widersprach heftig. „Ich lernte den Fall zwar als ein medizinisches Problem kennen, aber im Zentrum der Ereignisse steht die Frage, ob ein junger Mann als Massenmörder gehenkt oder als gemeingefährlicher Irrer lebenslänglich in eine Zelle gesteckt wird, obwohl er vielleicht völlig unschuldig ist. Sein Schicksal steht in engem Zusammenhang mit dem eines Schiffes, das mindestens so unerklärlich ist wie das Verschwinden einer Arktis-Expedition. Man fand den Mann, der jetzt in der Briarfields-Irrenanstalt einsitzt, an Bord einer steuerlosen Jacht mit fünf Toten an Bord – und nicht den geringsten Hinweis, was geschehen war! Bis jetzt sind alle ärztlichen und polizeilichen Versuche gescheitert, Aufklärung zu finden.“

Dann erzählte er uns eine tragische und gleichzeitig unerklärliche Geschichte.



2


Im April des Jahres war auf einer Sandbank vor den Orkneys bei ruhigem Wetter ein Schiff auf Grund gelaufen, eine hübsche kleine Jacht, an deren Mast die Stars and Stripes flatterten. Sie hatte schon vorher Aufsehen erregt, weil sie so schief im Wasser lag und steuerlos hin und her torkelte. Offiziere und Matrosen der Küstenwache fuhren hinaus und enterten das Schiff.

Holmes kniff plötzlich die Augen zusammen. „Ah! War das diese amerikanische Jacht, die den Namen Pharao trug? Ich erinnere mich, darüber gelesen zu haben. Dann ist Ihr Patient wohl jener seltsame Bursche …“

„Holmes“, unterbrach ich ihn, „lassen Sie doch Doktor Brentano die Geschichte von A bis Z erzählen; ich erinnere mich zwar auch dunkel, davon gehört zu haben, aber Genaueres weiß ich nicht mehr.“

Der Schweizer gehorchte dem Wink und erzählte weiter. „Sie haben Recht, Mister Holmes, es war tatsächlich die Pharao, eine Luxusjacht, die der international berühmten Sängerin Annette Koblenzer gehörte. Man sah häufig Bilder davon in den illustrierten Zeitschriften, denn Madame Koblenzer gab gerne luxuriöse Gesellschaften an Bord. Freilich nur für ihre engsten Freunde, denn die Jacht war, wie gesagt, nicht sehr groß. Es war nicht schwierig festzustellen, dass sie vierzehn Tage zuvor von der irischen Küstenstadt Cork aus in See gestochen war, um eine Vergnügungsreise entlang der irischen, englischen und schottischen Küste zu machen. An Bord waren laut Hafenbüro Madame Koblenzer selbst, ein älterer, reicher Amerikaner namens Tom Sönkes, der als ihr Geliebter galt, ihre Halbschwester Marguerite und deren beide Kinder, 14-jährige Zwillingsmädchen, die die kinderlose Sängerin wie ihre eigenen betrachtete. Sönkes, der ein Kapitänspatent hatte, kommandierte das Schiff; sonst waren noch mehrere Matrosen und einige Personen zur Bedienung an Bord. Erst verlief alles, wie man es sich von einer Vergnügungsreise reicher Leute erwartet. Die Jacht legte da und dort in einem Hafen an, man besichtigte Sehenswürdigkeiten, kaufte ein, amüsierte sich … Die erste Merkwürdigkeit, von der die Polizei erfuhr, war die plötzliche Aufforderung an die gesamte Crew und die Dienerschaft, in Dublin zwei Tage Landurlaub zu nehmen, man brauche sie nicht. Natürlich nahmen die Leute an, das Schiff würde während dieser Zeit im Hafen liegen, doch die Pharao verließ nach wenigen Stunden ihren Ankerplatz und verschwand. Sie blieb verschwunden, bis zu jenem Tag, an dem sie auf der Sandbank strandete und ihr entsetzliches Geheimnis offenbarte.“

Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass Passagiere einer Luxusjacht in den nordischen Gewässern von Piraten überfallen und ermordet worden waren, aber als Doktor Brentano dann die ganze Wahrheit erzählte, stockte mir der Atem.

„Die ersten Männer, die das Schiff enterten“, berichtete er, „wichen vor einem grauenvollen Fäulnisgestank zurück, der aus dem Schiffsinneren quoll; angsterfüllt, sie könnten ein Pestschiff betreten haben, wollten sie schon wieder von Bord gehen, als eine halb von Segeltuch verborgene, auf dem Deck liegende Person durch schwache Laute und Zeichen auf sich aufmerksam machte. Der Mann, den man unter dem Segel hervorzog, trug die Uniform eines einfachen Matrosen, war verwildert und abgemagert und hatte sich in den letzten Tagen wohl hauptsächlich von Whisky ernährt, so viele leere Flaschen lagen herum. Er war aber nicht nur sturzbetrunken, sondern stand offensichtlich unter schwerem Schock. Bis zum heutigen Tage war kein Wort von ihm zu erfahren, was auf dem Schiff geschehen ist.“

Ich wollte Doktor Brentano gerne von vornherein klarmachen, dass ich aktiv an den Fällen mitarbeitete, also warf ich ein: „Wenn der Mann zur Crew gehörte, muss man doch im Hafenbüro von Cork, wo die Reise begann, seine Personalien vorliegen haben. Jegliches Schiffspersonal wird registriert.“

Der junge Arzt schüttelte den Kopf. „Die ursprüngliche Crew war vollzählig auf Landurlaub in Dublin und wartete immer noch auf den Befehl, an Bord zurückzukehren. Niemand von ihnen hatte den überzähligen Matrosen je gesehen, auch die Behörde nicht.“

Ich bohrte weiter, während Holmes schweigend, mit halb geschlossenen Augen lauschte. „Ein Pirat hätte doch das Schiff, dessen Passagiere er eben ermordet hatte, an die Küste gesteuert und am erstbesten versteckten Ort verlassen. Niemand will mit fünf stinkenden Leichen auf engem Raum beisammen sein. War der Mann vielleicht gar kein Matrose?“

„Das weiß man nicht“, erwiderte Doktor Brentano. „Doch er hätte das Schiff auf keinen Fall steuern können. Die Pharao war zwar seetüchtig, aber nicht nur das Rettungsboot war mit Axthieben leckgeschlagen worden, auch der Kompass war mit roher Gewalt zerstört worden, der Sextant und das Chronometer ebenfalls, das Uhrwerk der Schiffsuhr war zerbrochen, und sämtliche Papiere, vom Log bis zu persönlichen Notizen oder Tagebüchern, fehlten. Die Lebensmittel- und Trinkwasservorräte jedoch waren reichlich vorhanden und in guter Ordnung. Die zerstörten Instrumente ließen an einen äußerst brutalen Überfall denken, allenfalls mit der Absicht, das manövrierunfähige Schiff zu kapern. Dem widersprach jedoch der Zustand der Leichen. Sie waren während ihrer steuerlosen Reise in der dumpfen Wärme des Schiffsbauchs alle bereits in jenen schwarzbraun aufgeblähten Zustand der Zersetzung übergegangen, der es schwer machte, subtile Verletzungen wie etwa die Einstiche einer Injektionsnadel festzustellen. Grobe Verletzungen wies keine der Leichen auf. Alle machten den Eindruck, dass sie sich bis zum Augenblick ihres Todes bestens amüsiert hatten.“

„Amüsiert?“, fragte ich. „Wie meinen Sie das?“

„Die Sängerin trug eine Robe und kostbaren Schmuck, der Kapitän seine Ausgehuniform, die beiden Kinder und ihre Mutter waren ebenso herausgeputzt. Offenbar hatten sie gefeiert, denn der Tisch im Salon war mit Käsecrackern und Salzgebäck, Flaschen mit Selterswasser, Whisky und Cognac sowie Muffins und Eierlikör für die Kinder vollgestellt. Sie sind dann wohl sehr rasch müde geworden, denn die Sängerin hatte sich angekleidet auf ihr Bett gelegt, die beiden Mädchen lagen in Sonntagskleidern in ihren Kojen. Die Schwester schlief ebenfalls voll angekleidet auf der bequemen, halbmondförmigen Couch ein und starb so, zusammengerollt wie ein Kätzchen. Der Kapitän lag tot im Steuerhaus. Wie und warum sie ermordet wurden, darauf gibt es keine Hinweise; es scheint sich nicht die geringste Kluft aufzutun zwischen dieser fröhlichen kleinen Party an Deck und der späteren Auffindung der Leichen. – Auf jeden Fall wurde der Matrose festgenommen, ausgenüchtert und einem scharfen Verhör nach dem anderen unterzogen. Vergeblich. Die Behörde stellt sich auf den Standpunkt: Es kann gar kein anderer der Mörder dieser unglücklichen Menschen sein als er, das beweisen die Umstände und sein verstocktes Verhalten, aber die Justiz zögert mit einem öffentlichen Prozess. Man weiß nicht einmal, woran genau die Primadonna und ihre Freunde starben. Man weiß nicht, welche Rolle der Mensch an Bord spielte, welches Motiv er gehabt haben könnte, und warum er nach vollbrachter Tat am Ort seiner Übeltat verblieb, der ja durch die verfaulenden Leichen täglich unerträglicher wurde …“

„Was sagt der Verdächtige selbst?“, fragte Holmes. „Wie verteidigt er sich?“

„Gar nicht“, erwiderte der Arzt. „Man weiß nicht einmal, welcher Nationalität er angehört, welche Sprache er spricht, wie er heißt. Er ist völlig in sich gekehrt, er spricht nicht, scheint nicht zu hören, was man zu ihm sagt, ja er würde als hochgradig idiotisch erscheinen, wären da nicht blitzartig aufzuckende Ereignisse, die verraten, dass er sehr wohl bei Verstand ist. Mit Sicherheit weiß man, dass er Katholik ist, denn – und das war einer dieser verräterischen Augenblicke – als er über den Flur des Gefängnisses geführt wurde und in einer Nische ein Kruzifix hängen sah, beugte er mit einer reflexhaften Bewegung das Knie und bekreuzigte sich, gleich darauf stellte er sich aber wieder vollkommen taub, stumm und blöde.“

Holmes lächelte. „Ich sehe, der Fall beginnt mit einem sehr ergiebigen Zeugen! Wir wollen doch einmal sehen, was wir aus ihm herausbekommen.“

Doktor Brentano warf mit verbittertem Gesichtsausdruck ein: „Falls Sie versuchen sollten, die Wahrheit aus ihm heraus zu prügeln – das wurde schon versucht. Mehrmals. Ohne Ergebnis.“

„Nein, ich denke nicht, dass ich das tun werde“, antwortete Holmes ungerührt. „Die Folter gehört nicht zu meinen Arbeitsmethoden. Wo befindet sich Briarfields?“

„Die Anstalt liegt nahe an der Eisenbahnlinie zwischen hier und London.“

„Dann auf! Die Jagd beginnt!“

Doktor Brentano kannte meinen Freund nicht, deshalb war er völlig verdutzt über die Leidenschaft, mit der sich Holmes in den Fall stürzte. Keine Rede von umständlichen Vorbereitungen! Der Detektiv verlangte, auf der Stelle zu dem Gefangenen gebracht zu werden, und so hetzten wir zum Bahnhof, sprangen förmlich auf den anfahrenden Zug auf und gaben unterwegs ein Telegramm auf, die Klinik möge an der nächstgelegenen Eisenbahnstation eine Droschke bereitstellen. Unser Gepäck sollte von den Dienern des Bischofs nachgeliefert werden. Obwohl der Arzt der Jüngste von uns war, fiel er keuchend in den gepolsterten Sitz des Coupés und brauchte eine gute Viertelstunde, ehe er sich wieder gesammelt hatte. Er habe nicht gewusst, entschuldigte er sich, dass die Engländer so stürmisch seien; er habe gedacht, man ginge hier alles, wie in seiner heimatlichen Schweiz, eher vorsichtig und gemächlich an.

Während der kurzen Fahrt wurde nicht viel gesprochen. Holmes schätzte es nicht, wenn seine Gedanken, die sich bereits mit dem neuen Fall beschäftigten, durch unnötiges Geplauder wieder zerstreut wurden. Da ich also schweigen musste, vertrieb ich mir die Zeit damit, den jungen Arzt genau zu betrachten. Er machte einen sehr sympathischen Eindruck auf mich. Wohl war er ein wenig steif und unsicher, aber schließlich musste er sich einer fremden Sprache bedienen und befand sich in einer recht ungewöhnlichen Situation; in seiner gewohnten Umgebung war er wohl wesentlich lockerer. Sein Äußeres war angenehm, seine Kleidung adrett, seine Stimme melodisch. Und es gefiel mir, dass er sich für einen armen Burschen einsetzte, der außer ihm keinen Freund auf der Welt hatte.

Mir fiel allerdings auf, dass er, obwohl er doch ein verheirateter Mann war, keinen Ehering trug. Das ließ vermuten, dass es um seine Ehe nicht allzu gut bestellt war.

An der Station stand eine Droschke bereit und brachte uns ans Ziel. Das Irrenhaus war kein einheitlicher Komplex, sondern bestand aus einem Dutzend einzelner Gebäude, die verstreut auf einem niedrigen Hügel standen. Sie waren aus roten Ziegeln im Stil der Industriegotik erbaut, sodass man bei ihrem Anblick eher an kleine Fabriken als an ein Krankenhaus dachte. Rund um das Gebäude erstreckte sich ein weitläufiger Park, dessen idyllische Ruhe nicht oft von Rasenmähern oder Heckenscheren gestört wurde. Im Sommer musste er eine blühende Wildnis sein. Eine Buchsbaumhecke und hohe Nadelbäume schirmten die Gebäude zusätzlich ab. Unsere Droschke holperte mit krachender Karosserie über das bucklige Pflaster der Einfahrt, aus dessen Ritzen Gras und Moos sprossen.