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Copyright © 2014 edition zweihorn GmbH & Co. KG, Neureichenau
Umschlaggestaltung und Illustration: André Junker, Hamburg
ISBN: 978-3-943199-19-2
eISBN: 978-3-943199-98-7
1: Null Kühe und ein Schrei
Lenny rannte so schnell, dass er das Gefühl hatte, seine Füße würden über den Boden fliegen. Er rannte, obwohl er schon keine Puste mehr hatte. Doch es fühlte sich gut an. Richtig gut.
Neben ihm holte Mieze auf. Das Pferd kam näher und näher an Lenny heran und setzte bereits zum Überholen an. Aber Lenny war das egal. Ihm ging es nicht darum, ein Rennen gegen Mieze zu gewinnen. Er wollte nur laufen. Weiter und weiter laufen. Immer neben Mieze her, über diese wunderschöne Wiese, unter dem blauen Himmel dahinjagen, bis das Pferd ihn plötzlich ansprach: „Lenny!“
Lenny blickte das Pferd erstaunt an. Allerdings war er nicht etwa überrascht, dass das Pferd sprechen konnte. Nein, vielmehr wunderte sich Lenny, dass Mieze ihn mit der Stimme seiner Mutter anredete: „Lenny, alles in Ordnung?“
Er brauchte ein wenig, um aus seinem Traum herauszufinden.
„Klar, alles in Ordnung“, murmelte er und ärgerte sich gleichzeitig über die Sorge seiner Mutter. Wenn sie in etwas gut war, dann war es im Sich-Sorgen-Machen. Da machte ihr so schnell keiner was vor. „Was soll denn sein?“, brachte Lenny hervor.
„Du hast so schnell geatmet, da dachte ich …“
Völlig genervt schaltete sich nun Lennys Vater ein: „Nun lass ihn doch mal!“
Seine Mutter, Clara Seidel, wandte sich ab und Lenny rieb sich die Augen. „Wie viele Stunden fah-ren wir jetzt schon?“
„Über sieben“, knurrte Michael Seidel, in einem Ton, der verriet, dass der Vater diese Frage nicht leiden konnte. „Ist nicht mehr weit. Zwei Stunden vielleicht noch. Wenn es keinen Stau gibt. Oder jemand dringend aufs Klo muss … angeblich!“
Lenny sah zu seiner Rechten aus dem Fenster. Die Landschaft zog an ihm vorbei. Ebenso wie die Lastwagen, die sie überholten.
Er drehte den Kopf nach links und stutzte. Neben ihm, auf dem Autositz, saß Lisa. Sie war ebenfalls eingeschlafen. Auf ihrem Schoß lag ihr Pferdebuch. Sie hielt es noch immer geöffnet in den Händen – das Sticker-Buch, das sie so liebte. Ein Sammelbuch für Pferdebildchen, von denen fünf Stück in einem Tütchen über einen Euro kosteten. Lenny wusste, dass Lisa bereits ein Vermögen dafür ausgegeben hatte.
Doch es war nicht das Buch, was Lenny stutzen ließ. Nein, da war etwas ganz anderes.
Lisas Kopf hing schief gegen die Fensterscheibe gelehnt. Anscheinend war sie tief in ihre Träume versunken. Und deshalb bemerkte sie auch nicht diesen Tropfen. Diesen riesigen Tropfen.
Diesen riesigen Tropfen, der ihr aus einem Nasenloch hing. Er glitzerte im Sonnenlicht und schaukelte fröhlich hin und her, während er größer und größer wurde. Lenny war sicher: Nur noch wenige Sekunden, dann würde der Tropfen herunterfallen. Und dann exakt auf Lisas Lieblingsbuch.
Lenny streckte schnell eine Hand aus, um Lisa zu wecken, doch da zischte ihm der Vater mit unterdrückter Stimme vom Fahrersitz her zu: „Lass sie! Um Himmels willen, lass sie schlafen, Lenny. Es tut gut, mal zehn Minuten kein Genörgel von einer Achtjährigen zu hören!“
„Aber da …“
Der Kopf des Vaters fuhr für einen Augenblick herum. Gerade so lange, dass der Vater Lenny einen Blick zuwerfen konnte, der Lenny sofort verstummen ließ. Und wieder stieß er zischend seine Worte aus, mit Angst in der Stimme, nein, mit Panik, er selbst könnte Lisa wecken: „Mal zehn Minuten kein Wann-sind-wir-da. Ist das zu viel verlangt?“
„Nein. Ich … Aber …“
„Dann sind wir uns ja einig!“
Lenny blickte erst zu seinem Vater. Dann auf den dicken Tropfen in Lisas Nasenloch. Dann auf das Pferdealbum, an dem Lisa so hing. Bestimmt wäre sie entsetzt, wenn von nun an, bis in alle Ewigkeit, auf der Seite mit dem Glitzer-Hengst-Sticker ein fetter Schnuddel-Tropfen aus ihrer Nase kleben würde.
Lenny wusste sich nicht zu helfen. Keinesfalls wollte er dabei zuschauen, wie Lisas Sammelbuch verkleckert wurde. Aber er wollte auch keinen Streit mit seinem Vater bekommen. Zu Beginn der Ferien war er sowieso stets mies gelaunt.
Der Tropfen in Lisas Nase tanzte hin und her. Gerade so, als wäre er schadenfroh, dass Lennys Versuche nichts halfen. Am liebsten hätte Lenny seine Schwester mit einem Fuß angestoßen. Heimlich. Hinter dem Fahrersitz. Das hätte der Vater vielleicht nicht gesehen, aber Lenny war das ja nicht möglich.
Da hatte Lenny eine Idee: Er könnte einfach eine Hand auf die Stelle halten, an der wahrscheinlich der Tropfen aufprallen würde. Doch im nächsten Moment schüttelte es ihn. Igitt! Das war eklig. Ein nasser, warmer Patscher auf seine Hand. Direkt aus Lisas Nase. Fangfrisch, sozusagen.
Es schüttelte ihn noch einmal. Aber für seine Schwester würde er das tun. Sie würde es ja nicht mitbekommen.
Langsam reckte er sich zur Seite. Ganz langsam. Mit Blick nach vorn, zu seinem Vater. Er fuhr seinen Arm aus, dehnte den Körper nach links, als Michael Seidel diese winzige Bewegung im Rückspiegel bemerkte. Wieder war die zischende Stimme des Vaters zu hören: „Lass sie in Ruhe. Du musst ihr ja nicht auf dem Pferdehof hinterherrennen, wenn sie nachts völlig übermüdet auf dumme Ideen kommt.“ Und noch einmal kam der Befehl: „LASS … SIE … SCHLAFEN, LENNY!“
Lenny zog sich zurück.
Der Wagen fuhr über eine Kuppe und der Tropfen in Lisas Nase schlingerte. Verspielt brachen sich die Farben der Sonne darin. Ein winziger Regenbogen, direkt aus dem Nasenloch seiner Schwester. In diesem Moment konnte Lenny sehen, wie sich der Tropfen langsam von Lisas Nase löste. Er war im Begriff zu fallen. Lenny musste handeln.
JETZT!
Und dann kam ihm der rettende Einfall!
„Da, Papa! Vorsicht!!“, schrie Lenny urplötzlich auf und zeigte nach vorn. Michael Seidel trat in die Bremsen, Lisas Kopf rutschte vor und der Tropfen ihrer Nase flog in einem engen Bogen über das Buch hinweg, zwischen Kopfstütze und Rücklehne des Fahrersitzes und landete platschend auf dem Nacken des Vaters, der es allerdings nicht bemerkte, denn schon drehte er sich aufgebracht zu Lenny um.
„Was war denn?“, schrie er. „Was sollte denn dieser Schrei?“
„Ich dachte, da steht eine Kuh auf der Straße“, log Lenny schnell. „Sah von hier hinten so aus.“
„Klar!“ Er blickte Lenny scharf an. Dann schaute er zu Lisa, die sich die Augen rieb, dann wieder zu Lenny zurück. „Eine Kuh! Ist klar! Da waren insgesamt null Kühe auf der Straße.“ Dann trat er, ohne ein weiteres Wort, wieder auf das Gaspedal.
Lisa atmete verschlafen ein, blickte sich nach allen Seiten um, dann schaute sie in ihr Pferdebuch und erfreute sich an dem kunterbunten Glitzerbild mit dem galoppierenden Hengst.
Lenny schaute erleichtert aus dem Fenster. Eigentlich war doch alles gut gelaufen, dachte er noch, bis er die Stimme seiner Schwester fragen hörte: „Wann sind wir da?“
Und in diesem Augenblick war Lenny klar, dass es dieses Mal ganz bestimmt länger als nur zwei Tage dauern würde, bis sein Vater die Ferien auf dem Pferdehof endlich genießen konnte und mit seinem ewigen Gemecker aufhören würde.
2: Ein Schrei und zwei rote Augen
Natürlich hatten sie noch einige Male im Stau gestanden.
Natürlich hatte Lisa unterwegs noch dreimal zur Toilette gemusst – angeblich.
Und natürlich waren sie alle höchst genervt von ihrer pausenlosen „Wann-sind-wir-endlich-da?“-Fragerei.
Doch irgendwann knirschte es laut unter den Autorädern. Der Wagen bog von der Dorfstraße auf einen schmalen Kiesweg ab. Beim Anblick des Ortsschildes „Quasseln an der Strippe“ brüllte Lisa erfreut auf: „Endlich! Wir sind da! Wir sind da!“
Lenny schaute gähnend auf die Uhr. „Neun Stunden Autofahrt! Was für eine Folter!“ Doch im gleichen Moment dachte er nur: Aber es lohnt sich. Jedes Mal.
Er konnte Lisas Freude nur zu gut verstehen.
Hier anzukommen, das war beinahe wie zu einem zweiten Zuhause zurückzukehren. Seit sechs Jahren verbrachten sie den größten Teil ihrer Sommerferien auf diesem Pferdehof. Und weder Lenny noch Lisa hätten das ändern wollen.
Eigentlich gab es nur einen in der Familie, der überhaupt keine Lust auf Reiterferien hatte. „Oh Mann! Wir sind da“, knurrte der Vater vom Fahrersitz her. „Wieder einmal drei Wochen Pferdegeruch. Stallgeruch. Landgeruch.“
Lenny schaute auf den kleinen Fleck am Nacken seines Vaters. Der Tropfen war inzwischen getrocknet und sah aus wie ein Muttermal. Bloß nicht braun, sondern eher gelblich-grün.
Schnell riss sich Lenny von dem Anblick los und versuchte seinen Vater zu trösten: „Hätte schlimmer kommen können in den Ferien. Du weißt ja, dass die liebe Oma für ein paar Tage zu uns kommen wollte.“
Der Vater hob die Hand. „Stimmt! Das hatte ich schon ganz vergessen. Also los, Leute! Auspacken! Lieber wochenlang nur Pferde als ein paar Tage diesen Drachen.“
KLATSCH!
Clara Seidel schlug ihrem Mann herzhaft auf die Schulter. „Du sollst nicht so über meine Mutter reden“, lachte sie und schaute nach hinten. Sie warf Lenny einen dankbaren Blick zu. Es war nicht leicht, mit dem Vater in Ferien zu fahren. Die ersten Tage war er ungenießbar, weil ihm seine Arbeit fehlte. Und die letzten Tage war er ungenießbar, weil er bald wieder zur Arbeit musste. Doch dazwischen gab es Momente, in denen sie ihren Vater so ausgelassen erleben konnten wie sonst das ganze Jahr nicht.
Daher versuchten Lisa, Lenny und ihre Mutter in den ersten Tagen das Geknurre und Gemecker zu überhören.
„Ich freu mich so auf Pascha“, sagte Lisa zum tausendsten Mal, seit sie losgefahren waren. Und Lenny dachte wieder an sein eigenes Lieblingspferd: Mieze.
Kaum stand der Wagen, da war Lisa auch schon weg. „Bis später“, rief sie noch, bevor sie in die Richtung der Stallungen davonrannte. Lenny blickte ihr nur lachend hinterher.
„Typisch“, sagte seine Mutter und der Vater ergänzte: „Na, die sehen wir in den nächsten Wochen nur noch zum Essen.“
Die beiden stiegen aus dem Wagen und während sein Vater zum Kofferraum ging, half die Mutter Lenny aus dem Autositz.
Schon wenige Minuten später saß Lenny an seinem Lieblingsort dieses Pferdehofs: die Tischgruppe vor dem Eingang des Haupthauses. Dort nämlich, wo Lenny alles beobachten konnte: die Stallungen, den Parkplatz, die drei Häuser mit den Ferienwohnungen und auch einen Teil der Weiden. Bloß den Reitplatz, den konnte er von hier aus nicht einsehen, was er etwas schade fand.
Heute war es natürlich besonders spannend. Es war Anreisetag und Lenny sah zu, wie ein Wagen nach dem anderen auf den Parkplatz vorfuhr, wie die Kinder meistens überstürzt von den Rücksitzen sprangen und in die Stallungen rannten, während die Eltern sich erst reckten und sich dann mit den Koffern in die Wohnungen begaben.
Einige der Leute kannte Lenny. Immerhin war seine Familie nicht die einzige, die hier regelmäßig herkam. Da waren die Zwillingsmädchen, Anna und Lena, die sich mit ihren blonden Zöpfen und ihren runden Brillen so perfekt ähnelten, dass Lenny es längst aufgegeben hatte, sie auseinanderzuhalten. Da war das schweigende Mädchen, dessen Stimme man nur hörte, wenn es ein Pferd anleitete oder wenn es am Abend vor der Heimreise leise schluchzend im Stall saß. Und da waren noch viele, viele andere Mädchen. Ja, Lenny musste sich nichts vormachen, es waren vor allem Mädchen, die hier mit ihren Eltern die Ferien verbrachten. Jungs sah man kaum. Fast nie.
„Hey, Lenny!“
„Hey, Lenny!“
Das waren die Zwillinge, die gerade an ihm vorbei auf die Stallungen zuliefen. Er winkte zurück und lächelte ihnen zu.
„Hallo, Lenny! Auch wieder da?“ Diese Rufe kamen von Katharina, die seit letztem Jahr zu den Reitlehrerinnen gehörte, obwohl sie erst fünfzehn war. Auch sie winkte ihm zu: „Bis später“, bevor sie im Stall verschwand.
Dann ließ er seinen Blick wieder schweifen. Er liebte es, alles zu beobachten: Menschen, Tiere, alles. Am liebsten jedoch Tiere. Im Gegensatz zu den meisten Leuten, die er kannte, interessierte sich Lenny auch für Tiere, die kaum Beachtung fanden. Es wunderte ihn immer wieder, dass alle Feriengäste sofort von den Katzen und von Schlamper, dem riesigen Hofhund, begeistert waren, aber kaum einen Blick übrig hatten für die unterschiedlichen Käferarten, die es hier gab, oder für die Ameisen, die geschäftig herumliefen, oder für die Schwalben und Spatzen, die hier zu Hunderten ein und aus flogen.
Gerade jetzt war Lennys Blick zum Beispiel fest auf einen kleinen Spatz gerichtet, der neugierig über den Hof hopste. Keiner der anderen Feriengäste hatte den kleinen grauen Vogel auch nur kurz beachtet. Es war ja schließlich keine Katze und kein Hund und schon gar nicht ein Pferd. Nur ein kleiner Piepmatz, den Lenny aber nicht mehr aus den Augen lassen konnte.
Der kleine Kerl hatte irgendetwas an sich. Er schien Lenny sehr beschäftigt zu sein, geradezu, als ob er etwas suche. Aber nicht etwa Futter oder Stroh für ein Nest, nein, dieser Vogel wirkte, als beschäftige ihn etwas ganz anderes. Ganz bewusst, ja ganz gezielt, schaute der Vogel sich die Leute an und die Dinge, die sie heute, am Anreisetag, aus ihren Autos in die Wohnungen schleppten. Das alles verfolgte dieser Vogel ganz genau an. Er besah sich jeden Handgriff der Menschen so intensiv, wie Lenny es noch nie bei einem Vogel beobachtet hatte. Bis sich plötzlich ihre beiden Blicke trafen.
Lenny schrie auf. So etwas hatte er noch nie gesehen: Der Vogel hatte rote Pupillen. Regelrecht rot leuchtende Augen.
Doch damit nicht genug. Mit einem Mal schrie auch der Vogel überrascht auf. Lenny hatte ihn wohl erschreckt. Doch der Vogel tschiepte nicht etwa, nein, es war eher ein Kreischen, das aus seiner Kehle zu hören war. Hätte Lenny den Spatz nicht gesehen, er hätte geschworen, dass es das Kreischen eines Menschen war. „Wie ein Hilferuf“, kam es Lenny in den Sinn. Und er wusste selbst nicht, wie er darauf kam.
Während Lenny den Vogel noch grübelnd anschaute, drehte dieser sich um und flog eiligst davon.
Lenny sah ihm nach. Hatte er schon wieder einen Traum? Aber nein, ganz bestimmt nicht. Er saß hier, fest an seinem Lieblingsplatz, mit wachen Augen. Auch wenn die Szene gerade seinem Traum von der Herfahrt sehr geähnelt hatte.
Lenny schüttelte sich. Welche Sorte Spatz sollte das denn gewesen sein? Diese roten Augen, dieser feste Blick. Diese Stimme. So etwas hatte Lenny wirklich noch nie erlebt und …
„Lenny?“ Die Mutter kam auf ihn zugerannt. „Alles in Ordnung? Hast du gerade geschrien?“
„Alles okay“, versuchte er sie zu beruhigen. Wobei er wusste, wie schwer es war, seine Mutter zu beruhigen. Wenn sie sich einmal sorgte, dann …
„Ich hab mir Sorgen gemacht“, sagte sie auch schon und ging vor ihm in die Hocke, um ihm besser in die Augen sehen zu können. „Wirklich alles okay?“
Lenny nickte und versuchte zu verbergen, wie genervt er von ihrer ewigen Fürsorge war. „Da … da ist nur eine Wespe gewesen“, log er. „Ziemlich groß. Die hat mich erschreckt und daher …“
Weiter kam er nicht. Neue Gäste trafen ein. Und noch bevor Lenny sie gesehen hatte, lief ihm schon ein Schauer über den Rücken. Der Wagen war erst mit der Spitze der Motorhaube zu sehen, da ahnte Lenny schon, dass mit diesem Auto Probleme herangefahren kamen. Es war nicht das Auto selbst, das ihn zu diesem Gedanken führte. Er war die Art, wie es hereingefahren kam. Und es waren die Leute darin. Ihre Blicke. Ihre Haltung. Ihre ganze Art. Lenny mochte solche Leute nicht. Doch wie sehr diese Familie ihm in den nächsten Wochen zusetzen würde, das konnte er in diesem Moment noch nicht erahnen.
Und das erste Problem ließ auch nicht lange auf sich warten.
Der Wagen stoppte so abrupt, dass der Kies des Hofes nach vorn geschleudert wurde. Schon im nächsten Moment schalteten sich die Rücklichter ein und der Motor heulte auf. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, in denen das Unglück geschah, doch Lenny kam es vor, als brauche der Wagen Stunden. Es war ihm unmöglich, etwas anderes zu tun, als „Stopp“ zu schreien, noch während allerdings der Schrei über den Hof hallte, wusste er, dass es vergeblich war. Seine Mutter sprang auf, riss die Arme in die Höhe und rannte auf den Wagen zu, doch der Fahrer setzte so schnell zurück, dass jede Warnung sinnlos war.
Es gab einen lauten Knall, man hörte das knirschende Geräusch von sich verbiegendem Metall, dann schließlich einen erneuten donnernden Knall: der Aufprall gegen die Hauswand.
Endlich stand der Wagen still.
Auch Lennys Herz stand still.
Und Clara Seidel stand ebenfalls still.
Mit weit aufgerissenen Augen starrten die beiden auf das Gewirr aus verbogenen Rohren und zerquetschten Rädern, das zwischen dem Wagen und der Hauswand festklemmte.
Und in die Stille der Betroffenheit – in das Schweigen der Bestürzung – donnerte Lennys Schrei: „Mein Rollstuhl!“