Entdecke die Welt der Piper Fantasy:
Für Philipp und Hadmar,
die mit mir die Flut heraufbeschworen.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014
ISBN 978-3-492-96728-0
© Piper Verlag GmbH, München 2014
Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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»Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Trutz, blanke Hans?«
Detlev von Liliencron: Trutz, blanke Hans
Hauptbrandmeister Dreyer folgte dem Ruf der Sirenen. Angestrengt starrte er durch die Windschutzscheibe seines Pkw und wagte es kaum, auf mehr als 40 km/h zu beschleunigen, da dichter Abendnebel die Wiesen und Felder des Marschlandes verhüllte. Der Dunst kroch über die Landstraße, und selbst von den hohen Ahornbäumen rechts der Fahrbahn waren kaum mehr als dunkle Schemen zu erahnen. Sicher, gerade hier oben an der Küste musste man mit raschen Wetterumschwüngen rechnen. Aber mitten im Sommer? Ein Nebel wie dieser war ihm schon seit Jahren nicht mehr untergekommen. Das Gewölk hatte etwas Unwirkliches. Beinahe wirkte es bedrohlich.
Das rotweiße Warndreieck, das plötzlich in Sicht kam, übersah er fast. Unmittelbar darauf tauchten im Dunst die blauen Warnlichter der Feuerwehrfahrzeuge auf. Vorsichtig fuhr er an den Unfallort heran und stoppte bei einem roten Mannschaftswagen, in dessen Nähe die Einsatzkräfte Straßensperren errichtet hatten. Dreyer strich sich kurz über den Schnurrbart, streifte sich die bereitliegende Signalweste über und stieg aus. Die Luft war wie erwartet schwülwarm, und er war nur froh, dass er in Sommerhemd und Jeans aufgebrochen war. Im Nebel kam einer der Feuerwehrleute auf ihn zu. »Das hier ist ein Einsatz. Bitte fahren Sie …«
»Hauptbrandmeister Dreyer«, unterbrach er ihn und wies sich aus. Seine Stimme klang seltsam gedämpft.
»Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht sofort erkannt. Zugführer Wilkens.« Sein Gegenüber reichte ihm die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Man hat mir lediglich mitgeteilt, dass hier ein Fahrzeug von der Straße abgekommen ist. Nur frage ich mich, warum Sie mich wegen so etwas von der Geburtstagsfeier meiner Tochter geholt und herbestellt haben.«
»Tut mir leid.« Unglücklich verzog der Zugführer das Gesicht. »Wir arbeiten im Augenblick nur mit Ehrenamtlichen. Doch was wir hier vorgefunden haben, ist vorsichtig ausgedrückt recht … seltsam. Also hatte ich mir gedacht, dass es nicht schaden könnte, einen Profi hinzuzuziehen. Sie haben doch mal beim Hochwasserschutz gearbeitet, oder?«
»Ja. Ist aber schon ein paar Jahre her.«
»Dann sind Sie vermutlich der Richtige.«
»Jetzt machen Sie mich aber neugierig.« Dreyer vergrub die Hände in den Taschen seiner Hose und sah sich um. »Wo ist eigentlich die Polizei?«
Wilkens seufzte und führte ihn in Richtung der Unfallstelle. »Am besten Sie sehen sich das selbst an.«
Dreyer entdeckte zunächst schwarze Bremsspuren auf dem Fahrbahnbelag, die in einem weiten Bogen an dem Mannschaftswagen vorbei zu einem der großen Ahornbäume am Straßenrand führten. Dort schälte sich beim Näherkommen ein Ford Mondeo in der typischen blau-silbernen Farbgebung der Polizei aus dem Nebel. Offenbar war er frontal mit einem Baumstamm kollidiert. Die Kühlerhaube des Streifenfahrzeugs war eingedrückt, die Windschutzscheibe wies Risse auf, und am Lenkrad hing der erschlaffte Luftsack des Airbags. Es roch nach ausgelaufenem Öl und Benzin, aber zwei Männer der Einsatzkräfte waren bereits dabei, Streu auszuschütten.
»Ach je. Verstehe.« Dreyer trat an den Wagen heran und sah, dass die Fahrertür leicht offen stand. Nur konnte er den verunglückten Fahrer nirgendwo ausmachen. »Und der Beamte … ist er verletzt?«
»Er ist eine Sie«, erklärte Wilkens. »Und sie lebt nicht mehr. Nur … wir können uns auf den Tod der Polizistin ehrlich gesagt keinen rechten Reim machen.«
Dreyer runzelte die Stirn. »Wo ist die Frau?«
Der Mann wies in den Nebel. »Offenbar ist sie nach dem Unfall ausgestiegen und dann weiter die Straße runtergelaufen.« Er marschierte mit Dreyer an seiner Seite an den Kollegen vorbei, die Bundesstraße entlang, auf der ein weiteres Einsatzfahrzeug mit Warnleuchten in Sicht kam. Dann blieb Wilkens ganz plötzlich stehen und deutete zum Straßenrand, wo ein Markierungsfähnchen steckte. Unmittelbar daneben lag eine Pistole. Dreyer beugte sich vor und runzelte die Stirn. »Das ist doch eine Walther P99? Die Dienstpistole der Beamtin?«
»Korrekt. Sie kennen sich gut aus.« Wilkens atmete unbehaglich ein. »Und sie ist leergeschossen.«
»Ein Schusswechsel?« Dreyer sah den Zugführer alarmiert an. »Und wo ist jetzt die Polizistin?«
Wilkens zeigte auf ein wurmstichiges, hölzernes Bushäuschen. Nur wenige Meter dahinter war beim Näherkommen eine veraltete gelbe Telefonzelle mit abgeblättertem Lack zu erkennen, die von drei Feuerwehrleuten umringt wurde. Einer von ihnen hielt die Tür der Zelle auf, die beiden anderen beugten sich über einen Schatten im Innern.
»Da drin ist sie.« Wilkens deutete auf die Telefonzelle. Die Männer vor dem Eingang erhoben sich und machten Dreyer Platz, sodass auch er einen Blick auf die Tote werfen konnte. Er musste schlucken.
Die Frau mochte um die vierzig Jahre alt sein und trug die typische blaue Uniform der Polizeibeamten in Schleswig-Holstein. Sie lag zusammengesunken und mit völlig durchnässter Kleidung neben einer der Kabinenwände. Er warf einen genaueren Blick auf die Tote und wich dann unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihr Mund war wie zu einem panischen Schrei weit aufgerissen, während ihr leerer Blick durch ihn hindurch ins Leere starrte.
»Um Gottes willen!«, ächzte er.
Sowohl die Tote als auch das Innere der alten Telefonzelle wirkten so, als seien sie Opfer einer plötzlich hereinbrechenden Flut geworden. Wasser tropfte noch immer von dem herabbaumelnden Hörer, rann vereinzelt von den Scheiben und sickerte aus dem blonden Haar der Frau, das wie angeklatscht an ihrem Kopf klebte.
»Wir hatten eigentlich gehofft, dass Sie uns das erklären könnten«, ergriff erstmals einer der anderen Männer das Wort. Offenbar ein Sanitäter. Der Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss seine Notfalltasche, in der Dreyer Verbandsmaterialien und einen Beatmungsbeutel entdeckte. »Die Frau ist nämlich ertrunken.«
»Ertrunken!?«
»Ja, es muss fast so gewesen sein, als habe die komplette Telefonzelle sehr plötzlich unter Wasser gestanden.«
Dreyer sah sich im Nebel um und begriff erst jetzt, dass sie inmitten einer riesigen Wasserlache standen, die sich bis weit auf die Fahrbahn ausgebreitet hatte. »Wie soll das denn möglich gewesen sein? Hier hat es doch nicht mal geregnet.«
»Eben. Wissen wir nicht.« Der Zugführer konnte sein Unbehagen nicht verbergen. »Um die Zelle zu fluten, bräuchte man schon eine Hochdruckpumpe. In dieser Einöde befindet sich aber nicht einmal ein Hydrant. Geschweige denn, dass wir ein Loch in der Kabinenwand entdeckt hätten, das so etwas überhaupt hätte ermöglichen können.«
»Das ist doch Unsinn«, widersprach der Hauptbrandmeister. »Die Zellentür lässt sich nach außen öffnen. Selbst wenn die Beamtin …«
»Aber – das war noch nicht alles«, unterbrach ihn der Zugführer. Wilkens deutete zu der Kabinentür. »Die Tür war von innen mit einem Schlagstock verriegelt. Verstehen Sie, was ich meine? Von innen. So als ob sich die Frau da drinnen vor etwas versteckt hätte.« Wilkens starrte Dreyer ausdruckslos an.
Der bückte sich, befeuchtete seine Finger mit dem Pfützenwasser und roch daran. »Riecht brackig.« Er schritt an der Telefonzelle vorbei auf die Felder nahe der Straße zu und entdeckte nicht weit von der Fahrbahn entfernt einen breiten, mit Wasser gefüllten Feldgraben, von dem ein ähnlicher Geruch ausging wie von der gewaltigen Pfütze rund um die Telefonzelle. »Wenn Sie mich fragen, stammt das Wasser von hier.«
Wilkens trat neben ihn. »Das erklärt allerdings noch nicht, wie es in die Telefonzelle gelangt ist.«
»Wer ist die Polizistin eigentlich?«, wich der Hauptbrandmeister einer Antwort aus. Wilkens blickte zu der Toten hinüber. »Es handelt sich um Polizeikommissarin Edda Martens. Sie leitet die Wache in Egirholm.«
»Und wo sind ihre Kollegen?«
»Na ja, von Husum bis hierher ist es schon ein Stück. Vermutlich stecken die noch im Nebel fest.«
Dreyer starrte in den grauen Dunst. »Wann wurde der Unfall eigentlich gemeldet?«
»Gegen 21 Uhr«, antwortete Wilkens.
»Seltsam.« Der Hauptbrandmeister blickte die Straße hinunter. Immerhin, der Nebel klarte inzwischen wieder auf. Und das sogar eigentümlich rasch. Der Mannschaftswagen war bereits zu sehen. »Die Bremsspuren deuten darauf hin, dass die Frau mit einer ziemlich hohen Geschwindigkeit unterwegs war. Eigentlich muss man einigermaßen leichtsinnig sein, um bei dieser Suppe einen solchen Fahrstil an den Tag zu legen.«
»Sie glauben also, der Unfall habe sich ereignet, als der Nebel schon da war?«
»Das – oder sie ist vor etwas ausgewichen. Vielleicht beides.«
»Und … wenn es gar kein Unfall war?«, hakte der Zugführer zögernd nach.
Dreyer atmete tief ein. Dieser Zwischenfall hier steckte in der Tat voller Rätsel. Mehr noch, auf Anhieb würde er sagen: Ein Fall wie dieser war ihm in fünfunddreißig Dienstjahren nicht untergekommen. Er brauchte Antworten. Und zwar jetzt gleich. »Sehen wir uns den Streifenwagen noch mal an.« Mit einem letzten Blick auf die Ertrunkene wandte er sich ab und marschierte an dem Fähnchen mit der Dienstpistole vorbei zurück zu dem Ford. Der Zugführer folgte ihm.
Kurz darauf standen die beiden Männer wieder neben dem verunglückten Polizeifahrzeug. Dreyer schob den erschlafften Airbag zur Seite und zwängte sich auf den Fahrersitz.
»Sollten wir damit nicht lieber warten, bis die Polizei da ist?«, fragte Wilkens.
Dreyer ignorierte ihn einfach und suchte Armaturenkonsole, Blenden und Beifahrersitz nach Hinweisen ab, die ihm dabei halfen zu verstehen, was der Frau widerfahren sein mochte. Er fand aber lediglich Zigaretten, einen Lippenstift sowie einen kleinen Anhänger, der vom Rückspiegel baumelte. Daran befestigt war ein blauer Schmuckstein, in den so etwas wie ein stilisierter Schneekristall eingeritzt war. Irritiert hielt er inne. Moment, da war noch etwas. Ein blechernes Geräusch neben ihm. Das Funkgerät des Streifenwagens? Nein, das war … Musik!
Dreyer beugte sich über den Fußraum des Beifahrersitzes und hörte die Laute nun deutlicher. Ein MP3-Player? Neugierig fasste er unter den Sitz, tastete den Zwischenraum ab und fand dort zu seiner Überraschung ein Smartphone. Offenbar war es bei der Kollision runtergefallen. Das private Handy der Polizistin? Nur dass das Display noch immer leuchtete. Die Frau war also angerufen worden. Und wer auch immer das gewesen sein mochte, er schien noch in der Leitung zu sein. Allerdings schimmerte Dreyer statt der Nummer des Anrufers nur der Schriftzug Anrufer unbekannt entgegen.
Er hob das Handy an sein Ohr und hörte die Musik jetzt klar und deutlich.
Und – er kannte diesen Song. Das war das berühmte Medley des Musicalhits Hair.
Doch was die Klänge irgendwie unheimlich wirken ließ, war, dass ihm aus dem Lautsprecher lediglich der Refrain des Stücks entgegenhallte.
Immer und immer wieder.
Er war auf Endlosschleife gestellt:
This is the dawning of the age of Aquarius
The age of Aquarius,
Aquarius, Aquarius …
»Noch einmal schauert leise
Und schweigt dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.«
Theodor Storm: Meeresstrand
Drei Wochen später
In düsterer Einsamkeit erhoben sich die Umrisse des Schiffswracks auf dem Meeresgrund. Jens Ahrens lauschte dem Brodeln der Luftblasen, die seinem Lungenautomaten entstiegen, hielt mit sanftem Flossenschlag die Höhe und beobachtete seinen Kollegen Werner dabei, wie dieser drei Meter unter ihm, im einstigen Laderaum der Cyntia, mit dem Schneidbrenner metallene Verstrebungen voneinander trennte. Der Lichtschein des Schneidbrenners war grell und blendete ihn. Jens wandte den Blick von den Arbeiten ab und betrachtete stattdessen die muschelverkrusteten Aufbauten des Frachters. Das Schiff lag in fünfundzwanzig Metern Tiefe auf schrägem Grund – die Sicht im Wasser war vergleichsweise hervorragend. Er schätzte sie auf fast fünfzehn Meter, was in der Nordsee als Ausnahme galt. Daher konnte er gut erkennen, dass die Cyntia etwas zur Seite geneigt dalag. Vom einstigen Holzdeck und den meisten der Aufbauten waren nur noch die Stahlgerippe und die Verstrebungen vorhanden. Doch noch immer war dem Frachter anzusehen, in welch schweren Sturm er einst geraten sein musste. Der von Algen überwucherte Schornstein über dem Kesselraum war geborsten, die alte Brücke größtenteils eingestürzt, und steuerbords, nämlich dort, wo Ladung über Deck gerutscht sein mochte, hingen verbogene Teile der Reling über die Außenwand.
Sorgen bereiteten ihm allein die Überreste des alten Schleppnetzes, das sich am Bug des Schiffes verheddert und backbordseitig wie ein riesiger Algenschleier über Schiff und Meeresgrund gelegt hatte. Diverses Treibgut hatte sich darin verfangen, darunter sogar ein Klappstuhl. Jens hatte für diese Art des Fischens noch nie etwas übrig gehabt. Und als Profi wusste er nur zu gut um die Gefahren, die von solchen Netzen für Taucher ausgingen. Doch die Strömung bewegte die Maschen kaum, und so waren die vielen Tauchgänge bislang einigermaßen problemlos verlaufen.
Gerade wegen der Melancholie des Anblicks genoss er die Stille der fast schwerelos anmutenden Unterwasserwelt. Sie brachte lediglich drei Farben hervor: Blau, Grün und Braun. Hin und wieder umschwärmten ihn kleine Fische, die ihn aus großen Augen anglotzten, und nicht zum ersten Mal wurde er sich des Umstandes bewusst, dass er sich im Meer zuweilen wohler fühlte als oben an Land. Was auch immer ihn dort für Sorgen und Nöte plagten, in der Tiefe waren sie bedeutungslos. Und das sogar trotz der körperlichen Anstrengungen.
Er und seine drei Kollegen arbeiteten hier unten jetzt schon seit vier Tagen im strengen Schichtwechsel, und bislang waren die Bergungsarbeiten erfolgreicher verlaufen, als es sich seine Auftraggeber von der Blue Ocean Exploration erhofft hatten. Jens gönnte es ihnen, denn allein hier in der Deutschen Bucht lagen fast viertausend Schiffe auf dem Meeresboden, von denen auch noch viele durch Verdriftungen ihre Position veränderten. Unter ihnen das richtige Wrack zu finden, erforderte Geld und Zeit – vor allem aber akribische Recherchen.
Die Cyntia war 1956 bei einem Sturm in Seenot geraten und dann steuerlos abgetrieben. Bis auf den Kapitän, der sein Schiff partout nicht hatte verlassen wollen, hatte sich zwar die gesamte Mannschaft retten können, doch gab es nur unzureichende Aufzeichnungen darüber, wo der Frachter letzten Endes gesunken war. Entdeckt hatte die Firma das Wrack letztlich vor weit über einem Jahr mittels Echolot. Doch dann war noch einmal fast ebenso viel Zeit bis zur Erlangung der Bergungslizenz verstrichen. Jetzt machten die Aktionäre Druck. Bei alledem ging es der B. O. E. vornehmlich um Rohstoffe wie Kupfer und Messing. Hinzu kamen noch Maschinenteile. Da in einem durchschnittlichen Schiff fast zehn Tonnen Kupfer verbaut wurden und eine Tonne dieses Rohstoffes knapp siebentausend Euro wert war, konnte sich für Wagemutige, die schnell und effizient vorgingen, daraus ein durchaus lukratives Geschäft entwickeln. Nur dass die B. O. E. gar nicht an der Cyntia selbst interessiert war, sondern allein an ihrer Ladung. Der Frachter hatte Kupferkabel im Wert von dreihunderttausend Euro geladen, und bislang war es ihnen gelungen, Rohstoffe im Wert von fast neunzigtausend Euro nach oben zu schaffen, was bereits als großer Erfolg galt.
Weniger erfolgreich war die Suche nach dem anderen, geheimen Teil der Ladung verlaufen: Rohdiamanten. Die Entscheider von Blue Ocean Exploration waren bei ihren Recherchen über vertrauliche Hinweise gestolpert, nach denen die Cyntia einen ganzen Koffer davon als Schmuggelgut von Dänemark aus in die Niederlande befördern sollte. Nur hatten sie trotz akribischer Suche im Schiffsbauch nichts dergleichen gefunden. Jens erwartete auch keinen derartigen Fund, denn – wie er wusste – kursierten Gerüchte dieser und anderer Art allzu gern in Schatztaucherkreisen. Die lukrative Anzahl großer Kabeltrommeln im Laderaum rechtfertigte bereits die Bergung. Ob sie sich anschließend noch die Zeit dafür nehmen würden, Teile des Schiffes auseinanderzunehmen, bezweifelte er. Dabei hätte er nichts dagegen gehabt, die Tauchgänge fortzusetzen.
Die Stichflamme des Brennschneiders unter ihm erlosch, und Werner formte Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis, dem internationalen Zeichen für Alles in Ordnung. Jens nickte und verständigte die Kollegen oben an Bord des Bergungsschiffes mittels Schmalband-SMS. Dankenswerterweise setzte die Blue Ocean Exploration auf die neueste Technik. Vor ein paar Jahren noch waren gewöhnliche Funkverbindungen unter Wasser nahezu unmöglich gewesen, sodass Taucher weltweit allein auf Unterwasser-Zeichensprache angewiesen waren. Doch an seinem Handgelenk hatte er jetzt ein Gerät von der Größe seines Smartphones, das den Versand und Empfang kurzer Textnachrichten mittels niederfrequenter Schallwellen ermöglichte. Sie zuckelten zwar einhundert Mal langsamer durch das Wasser, als es selbst Internetverbindungen mit Telefoneinwahl gestatteten, hatten die Unterwasserkommunikation aber doch revolutioniert. Es dauerte nicht lange, und die Antwort erschien auf dem Display: Trosse kommt. Ihr folgte eine weitere Meldung: Aufziehender Sturm. Die Nachricht war mit einem Wetterkartensymbol versehen, das einer liegenden Zahnbürste mit drei aufrecht stehenden Borsten glich. Es deutete auf starken Wind an der Oberfläche hin, mit bis zu 56 km/h. Wenn es da oben stürmisch wurde, hieß das, dass die Bergung gegebenenfalls nicht ganz unproblematisch verlief. Zwar hatten sie für ihr Vorhaben bewusst eine möglichst strömungsfreie Periode zwischen Ebbe und Flut gewählt, doch liefen sie jetzt Gefahr, dass sich die Zugtrosse des Krans mit dem Auf und Ab des Bergungsschiffes auf den Wellen ebenfalls hob und senkte. Werner und Jens, die die Nachricht zugleich empfingen, tauschten durch die Tauchmasken hindurch Blicke. Beide wussten, dass auch noch die Gefahr zusätzlicher Dekompressionszeiten während des Aufstiegs auf sie zukäme. Ihre Lungenautomaten stellten automatisch den nötigen Ausgleich her, der jenem Druck entsprach, der hier unten in fünfundzwanzig Metern Tiefe auf ihrer Körperfläche lastete. Daher musste man sich beim Aufstieg Zeit lassen, damit der vermehrt aufgenommene Stickstoff im Blut auch wieder über die Lunge abgebaut werden konnte. Ignorierte man das, konnten sich im Körperinnern Gasblasen bilden. Ein Effekt, ähnlich dem Öffnen einer Sprudelflasche, der die Gefahr von Lungenembolien, Sinnesstörungen und Lähmungen mit sich brachte. Ärgerlicherweise war ihre Nullzeit bereits in knapp zehn Minuten abgelaufen. Das war jene, mit zunehmender Wassertiefe abnehmende Tauchspanne, nach der sie noch mit vergleichsweise geringem Zeitaufwand wieder aufsteigen konnten. Überschritten sie diese Frist, würden sie in unterschiedlichen Wassertiefen zusätzliche Dekompressionsaufenthalte einlegen müssen. Jens und Werner überprüften rasch den Druck in ihren Pressluftflaschen und waren sich auch ohne Worte einig. Sie beide hatten noch Atemluft für fast vierzig Minuten. Jeder Tag hier auf See war kostbar, und für jede der mannshohen Kabeltrommeln, die sie bargen, erhielten sie überdies eine Extraprämie. Sie würden es darauf ankommen lassen. Werner schickte die Antwort nach oben: Okay.
Gemeinsam tauchten sie zu der Markierungsleine, die zur Meeresoberfläche hinaufführte, um das Erscheinen der Zugtrosse abzuwarten – als Jens schräg über ihnen einen schlanken Schatten wahrnahm, der rasch durch das Wasser schoss. Irritiert verengte er die Augen, doch so wie er gekommen war, verschwand der Schatten auch wieder – im Trüben. Eine Robbe? Jens warf Werner einen Blick zu, doch der schien den Schatten gar nicht bemerkt zu haben. Viel Zeit zum Grübeln blieb ihm nicht, denn aus dem grünblauen Zwielicht über ihnen glitt jetzt das Stahlkabel mit dem Kranhaken auf sie zu. Sie konnten sehen, dass es leicht hin und her schwankte. Die Mannschaft da oben kämpfte offenbar tatsächlich schon mit den Wellen. Sie warteten ab, bis die Trosse den Meeresgrund erreicht hatte, dann packten er und Werner das Zugseil, um es zur offen stehenden Frachtraumluke zu schaffen. Beide konnten sie die Kräfte spüren, die auf das Seil einwirkten. Jens schaltete den Scheinwerfer am Gürtel an und tauchte mit dem Kranhaken voran in den Frachtraum, während Werner über ihm das Zugseil zu stabilisieren versuchte. Schlagartig wurde es noch dunkler. Der Lichtkegel seines Scheinwerfers enthüllte Schlamm, Algen und rostige Stahlwände. Doch seine Aufmerksamkeit galt allein der kostbaren Fracht des Schiffes. Die Ladung musste bereits während des Untergangs der Cyntia verrutscht sein, denn die gewaltigen Kabeltrommeln lagen heillos verstreut über- und untereinander. Jene Trommeln, die sich quasi direkt unter der Frachtluke befunden hatten, hatten sie bereits geborgen, die übrigen ruhten tiefer im Frachtraum und würden mehr Sorgfalt bei der Bergung erfordern. Jens tauchte zu der Trommel hinüber, die sie als nächste ausgewählt hatten, und versuchte den Kranhaken in die Rundschlingen des Bergungsgeschirrs einzuklinken. Ein heftiger Ruck am Stahlseil verhinderte das Unterfangen jedoch. Die unerwartete Bewegung kugelte ihm fast die Schulter aus. Offenbar verschlimmerte sich der Sturm da oben. Im Geiste fluchend, gab er Werner das Zeichen, dass er mehr Leine brauchte, und startete einen neuen Versuch. Diesmal war er erfolgreich. Die Sicherungsfalle des Hakens schnappte zu, und im gleichen Moment straffte sich das Stahlkabel wieder. Hastig fuhr Jens zurück. Keinen Moment zu spät, denn die schräg zur Frachtraumöffnung hinaufführende Trosse kratzte quietschend über die Lukenkante, spannte das Bergungsgeschirr und zerrte die Kabeltrommel rücksichtslos mit sich. Rumpelnd schleifte sie die tonnenschwere Fracht über den Schiffsboden und wirbelte Schlamm auf. Jens überprüfte ein weiteres Mal den Tauchcomputer. Noch drei Minuten bis zum Ende der Nullzeit. Das würde knapp werden. Auf dem Display seines Kommunikationsgeräts erschien Werners Befehl zum Hochziehen. War das nicht etwas voreilig? Die Kabeltrommel befand sich noch gar nicht unter der Luke. Jens leuchtete mit dem Scheinwerfer, um sich in der trüben Brühe einen Überblick zu verschaffen, und hörte zugleich ein nervenzerfetzendes Quietschen. Offenbar kam der Kranführer der Order etwas vorschnell nach, denn das noch immer am Lukenrand entlangschleifende Zugseil riss die Kabeltrommel jetzt mit einem plötzlichen, brachialen Ruck nach oben. Verdammt! Rechnete der Kerl da oben die Wellenbewegungen nicht mit ein? Die riesige Kabelspule donnerte gegen die Decke des Frachtraums und brachte das Schiffsinnere zum Dröhnen. Jäh entspannte sich das Zugseil wieder, und Jens sah zu seinem Schrecken einen dunklen Schatten auf sich zukommen. Die verdammte Trommel schwang jetzt wie ein unheilvolles Pendel durch den Frachtraum. Mittels einer raschen Seitwärtsbewegung tauchte er zur Seite und hörte unmittelbar hinter sich ein unheilvolles Rumpeln. Die am Seil hängende Kabeltrommel war mit einer anderen der riesigen Spulen zusammengeprallt, die sich jetzt in eine rollende Bewegung versetzte, bis sie mit der Backbordwand des Wracks kollidierte. Ein Beben ging durch das Schiffsinnere der Cyntia, und Jens’ Herzschlag beschleunigte sich. Das lief nicht gut. Gar nicht gut. Schon straffte ein weiterer Ruck die Trosse, und die daran befestigte Kabeltrommel rauschte wieder auf die offene Luke zu.
Werner! Jens sah noch, wie sein Kollege auswich, doch im nächsten Augenblick erschütterte ein schwerer Schlag das Deck, und das helle Quadrat über ihm an der Frachtraumdecke wurde erst dunkel und dann schlagartig wieder hell. Die Kabeltrommel war fort. Jetzt befand sie sich auf dem Weg an die Meeresoberfläche. Jens nahm einen tiefen Luftzug aus dem Lungenautomaten und versuchte sich zu beruhigen – doch irgendetwas stimmte nicht mit dem Wrack. Noch immer quietschte und ächzte der stählerne Leib der Cyntia. Beunruhigt ließ er den Lichtkegel seines Scheinwerfers durch den Frachtraum wandern und sah, dass sich noch eine weitere der riesigen Trommeln in Bewegung gesetzt hatte. Unaufhörlich rollte auch sie auf die Backbordwand zu. Der Frachter ruhte bereits in Schräglage am Meeresboden. Wenn sich das Gewicht im Frachtraum weiter verlagerte, lief die Cyntia Gefahr, auf die Seite zu kippen. Bloß raus hier. Mit kräftigen Flossenschlägen schoss Jens auf die Luke zu und hielt erst inne, als er sich außerhalb des Wracks auf Höhe des einstigen Schiffsschornsteins befand. Noch immer war die Tiefe von metallenem Quietschen erfüllt, und nun konnte er sehen, wie unter ihm Sand und Schlamm, die sich auf den korrodierten Decksteilen niedergelassen hatten, zitterten und in eine Fließbewegung gerieten.
Aber wo war Werner? Besorgt blickte sich Jens um, doch von seinem Kollegen war nichts zu sehen. Moment. Ganz so wie vorhin schon, glaubte er auch jetzt wieder einen schlanken Schatten erkennen zu können, der flink durch die Tiefe glitt. Diesmal befand er sich auf der Backbordseite des Schiffes. Jens stieß sich vom Schornstein ab und tauchte zögernd darauf zu. Doch da war nichts.
Verdammt, Werner musste doch irgendwo sein …
Sicherheit war hier unten oberstes Gebot. Und sie beide waren füreinander verantwortlich. Unmöglich konnte sein Kollege bereits aufgetaucht sein. Wenn er also nirgendwo zu sehen war, dann … musste ihm etwas passiert sein!
Während er die Geräusche des sich verbiegenden Metalls ignorierte, tauchte Jens wieder nach unten und versuchte sich Werners letzte Bewegungen in Erinnerung zu rufen. Als die Kabeltrommel nach oben schoss, war Werner nach links ausgewichen, zur Backbordseite. Sollte sie ihn erwischt haben, musste er also dort nachsehen. Alarmiert tauchte Jens über die muschelverkrustete Reling hinweg, sah sich dort um und entdeckte seinen Kollegen.
Werner lag regungslos inmitten der Maschen des alten Treibnetzes, das sich vom Schiff kommend über den schlammigen Boden ausgebreitet hatte. Inmitten all des Treibgutes hätte er ihn fast übersehen. Und nach wie vor rutschte das Schiff Zentimeter um Zentimeter die Schräge hinunter. Ihm blieben vielleicht noch zwei oder drei Minuten, dann würde der stählerne Leib der Cyntia Werner begraben. Jens tauchte mit raschen Flossenschlägen auf seinen Kollegen zu und sah zu seinem Entsetzen, dass Werner das Mundstück des Lungenautomaten entglitten war. Hoffentlich war er nur bewusstlos. Sofort setzte er es ihm wieder ein und versuchte ihn aus dem Tangnetz zu ziehen. Unglücklicherweise hatten sich Werners Pressluftflaschen im Gewirr der Maschen verheddert. Jens zückte sein Tauchermesser und säbelte an den Stricken – als ihm abermals ein Schreck durch die Glieder fuhr. Gott, das durfte doch alles nicht wahr sein!
Knappe zwei Meter neben ihnen zeichnete sich eine tonnengroße, korrodierte Metallkugel unter den Maschen ab, die er dank seiner Zeit bei der Bundeswehr sofort zu identifizieren wusste. Eine Seemine. Genauer gesagt, eine einstige Ankertau-Seemine deutscher Fertigung aus dem Zweiten Weltkrieg. Er sah die drohend hervorstehenden Kontaktzünder – irgendwann und irgendwie musste diese Mine in das verdammte Schleppnetz geraten sein. Hinter ihm ächzte der Leib der Cyntia, der Meeresboden geriet weiter in Bewegung, und ein metallenes Quietschen rollte durch die Tiefe. Das Wrack rutschte weiter. Himmel, wenn die Mine bis jetzt noch nicht hochgegangen war, dann vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, wenn das Wrack auf sie prallte.
Jens ignorierte den aufkommenden Fluchtreflex. Er befreite seinen Kollegen mit verzweifelten Schnitten, packte ihn unter den Schultern und tauchte mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte, von dem Wrack fort. Vermutlich war es längst zu spät, denn aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass der riesige Schiffsleib der Cyntia nun tatsächlich kippte und in beängstigender Langsamkeit den Meeresboden weiter hinabrutschte. Jens strampelte um sein Leben. Weg. Sie mussten weg von hier! Tauchtiefe und Luftvorrat waren ihm jetzt völlig egal. Ebenso der Umstand, dass die Mannschaft oben an der Oberfläche nichts von der Gefahr wusste. Verzweifelt mit den Flossen schlagend löste er Werners Bleigürtel, um noch schneller auftauchen zu können. Er wollte gerade auch seine Bleigewichte für den Notaufstieg abwerfen …
… als ein Lichtblitz durch das Wasser zuckte.
Mit dem Knall, der durch die Tiefe rollte, kam die Druckwelle. Jens spürte noch, wie ihm Werner entrissen wurde und die Tauchmaske von seinen Augen rutschte. Dann wirbelte etwas Hartes, Kantiges auf ihn zu und erwischte ihn schwer an der Stirn … Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen … die in absolute Finsternis mündeten … Ruhe umfing ihn … und er schwebte in den Gestaden zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit. Oder war es die Strömung? … Die Dunkelheit gaukelte ihm bunte Bilder vor, und er glaubte von irgendwoher ein Flüstern zu hören … Stimmen … Stimmen im allgegenwärtigen Blau … Er fühlte sich so berauscht wie damals als Teenager bei seinem ersten richtigen Kuss … War das jetzt der Tod? … Etwas stupste ihn an und schien ihn mit sich zu ziehen … Jens lachte euphorisiert. Sein Körper fühlte sich so wahnsinnig leicht an. Geborgen … Und immerzu musste er lachen. Tief Luft holen … und lachen … Ihm war, als habe er sich mit dem Meer vereint, dessen Brandung seinen Körper liebevoll streichelte …
Brandung? Benommen schlug Jens die Augen auf und spürte, wie ihn die rote Nachmittagssonne kitzelte. Möwengeschrei war zu hören. Er blinzelte verwirrt und atmete tief ein. Er atmete? Tatsächlich. Die Luft roch nach Gischt und Tang. Dann hatte er diese verdammte Explosion also überlebt?
Endlich wurde er sich wieder seiner Umgebung bewusst. Er lag auf einem weichen, weißen Sandstrand mit einem salzigen Geschmack auf der Zunge. Es waren wirklich Wellen, die er fühlte. Beständig rollten sie über seine Beine und Flossen und zogen sich anschließend wieder zurück. Er konnte sein Glück kaum fassen. Noch immer trug er den Neoprenanzug, und das Gewicht der Pressluftflaschen auf seinem Rücken drückte ihn unerbittlich in den weichen Untergrund. Sollte er nicht eigentlich tot am Meeresgrund liegen? Wo zum Teufel war er hier?
Er hatte nicht die leiseste Ahnung.
Stöhnend riss er sich die Maske vom Kopf und befreite sich anschließend von Gewichtsgürtel, Werkzeugtasche, Scheinwerfer und Pressluftflaschen. Doch mit der Bewegung kam auch der Schmerz. Sein Körper fühlte sich an, als habe ihn ein Bus überrollt. Jeder Muskel seines Leibes schien gezerrt zu sein. Erschöpft blieb er liegen und lauschte in sich hinein, ob er Anzeichen der Dekompressionskrankheit spürte. Schwindel? Atemnot? Halluzinationen? Er war sich nicht sicher. Zumindest würde es eine Weile dauern, bis er sich an die Schmerzen gewöhnt hatte, die vermutlich von der Explosion der Seemine herrührten.
Himmel! Was war mit Werner? Hatte sein Kollege die Explosion auch überlebt? Ächzend mühte er sich wieder auf und versuchte Einzelheiten zu erkennen. Abermals verkrampfte sich die Muskulatur. Sein Blick fiel auf eine Düne. Doch von seinem Kollegen war nirgendwo etwas zu sehen. Eher zufällig erhaschte er einen Blick auf den Tauchcomputer. Bitte? Das konnte doch nicht sein. Den Angaben gemäß lag sein Tauchgang nur etwas über eine Stunde zurück. Die Bergungsstelle aber befand sich fast vierzig Kilometer von der Küste entfernt. War das Ding kaputt? Unter Schmerzen überprüfte Jens den Vorrat in den Pressluftflaschen und schüttelte den Kopf. Sie wiesen noch immer einen Luftvorrat von fast fünfundzwanzig Minuten auf. Das alles konnte überhaupt nicht sein. Fassungslos starrte er auf das Meer hinaus, an dessen Horizont dunkle Sturmwolken zu sehen waren.
Schließlich sammelte er seine Kräfte und mühte sich auf die Beine. Ihn schwindelte, und unwillkürlich schirmte er die Augen vor der Sonne ab. Gegen das Licht glaubte er einen Leuchtturm auszumachen – als er Schritte im Sand hörte.
»Hallo?« Er erblickte eine Gestalt, die aus den Dünen kommend auf ihn zulief. Eine Frau? Sie mochte Mitte vierzig sein, relativ hager, mit kurzem rotem Haar, durch das der warme Seewind fuhr. In ihrer Hand hielt sie eine Schaufel und … verwundert betrachtete sie ihn.
»Können Sie mir helfen?« Jens kämpfte wieder mit dem Gleichgewicht. »Ich brauche dringend ein Telefon. Und vermutlich auch einen Arzt.«
Die Frau lächelte. Dann hob sie den Spaten und schlug zu.
Jens erwachte zum zweiten Mal. Diesmal mit rasenden Kopfschmerzen. Zittrig öffnete er die Augenlider und erwartete, über sich den Himmel zu sehen. Stattdessen starrte er auf eine summende Neonröhre, die beständig flackerte. Seine linke Gesichtshälfte brannte, eine Lippe war aufgeplatzt, und ein seltsamer metallischer Geschmack lag ihm auf der Zunge. Außerdem plagte ihn brennender Durst.
Er trug zwar noch immer seinen Neoprenanzug, doch jemand musste ihm die Tauchhandschuhe und die Flossen abgestreift haben.
Was, zum Teufel, war mit ihm passiert?
Die Luft roch muffig. Ein Keller? Hatte er nicht eben noch an einem Sandstrand gelegen? Mit Macht kehrten seine Erinnerungen zurück. Der Tauchgang. Die Explosion der Seemine. Sein Erwachen an der Küste. Und dann … dieser Schlag mit der Schaufel.
Letzteres musste ein fürchterlicher Irrtum gewesen sein. Vielleicht hatte sich die Frau erschreckt? Trotz der Schmerzen versuchte er den Kopf zu heben. Nur kam er nicht weit, denn sein Körper fühlte sich taub an. Unter seinen Fingern und Fußballen hingegen spürte er kühles Metall. Jens drehte den Kopf und entdeckte neben sich die Stange eines Stativs, wie sie in Krankenhäusern gebräuchlich waren. Lag er auf einem Operationstisch? Oder war das hier sogar die Pathologie? Man hielt ihn doch nicht etwa für tot? Wieder versuchte er sich aufzurichten – nur war er mit Gurten an den Metalltisch gefesselt.
Warum zum Teufel hatte man ihn gefesselt? Jens versuchte seine Arme zu bewegen, doch die steckten in Lederschlaufen. Gott, was war hier bloß los?
Er drehte mühsam den Kopf und sah nun, dass er in dem Kellergewölbe nicht allein war. Keine zwei Meter von ihm entfernt stand ein hölzernes Feldbett mit grüner Zelttuchbespannung, auf dem ein bärtiger Mann mit kurzärmligem Hemd und Cordhose lag. Der Unbekannte mochte Ende fünfzig, Anfang sechzig sein und war ebenfalls mit Gurten an seine Liegestatt gefesselt. Hin und wieder stöhnte er, sein glasiger Blick war an die Raumdecke geheftet. Auf gar keinen Fall erweckte dieser Fremde den Eindruck, freiwillig hier zu sein. Und wenn er es nicht war, dann war er selbst das vermutlich auch nicht. Panik stieg in ihm auf. Jens bündelte all seine Kräfte und versuchte erneut, sich von seinen Fesseln zu befreien. Keine Chance. Er sackte wieder auf den Metalltisch zurück und schöpfte Atem. Unbedingt musste er diese eigenartige Benommenheit abschütteln. Gerade wollte er sich wieder dem Fremden zuwenden, als er gedämpfte Stimmen hörte, die näher kamen.
»… hat hier unten niemand etwas ohne meine Erlaubnis zu suchen«, blaffte eine ungehaltene Männerstimme. »Auch du nicht. Außerdem mag ich es nicht, wenn vom Plan abgewichen wird. Was, wenn jemand den Kerl vermisst?«
»Ach komm schon«, antwortete eine weibliche Stimme. »Werden sie nicht alle irgendwann vermisst? Die Gelegenheit war einfach zu günstig, und ich konnte dich vorher nicht erreichen. Das Meer hat ihn mir quasi wie ein Geschenk vor die Füße geschwemmt. Das war ein Zeichen!«
»Ein Zeichen?« Der Mann schnaubte abfällig. »Erzähl keinen Stuss. Du wolltest dich mit deinem Alleingang bloß wichtig machen. Was, wenn dich jemand gesehen hat?«
»Hat aber niemand.«
»Und wenn doch?«
»Meine Güte, hätte ich ihn etwa zurückschieben sollen in die Fluten?«
Etwas Metallisches klirrte, und ein Schlüssel schob sich in ein Schloss. Wenn Jens noch einen Rest an Hoffnung auf die lauteren Absichten des Pärchens hatte, so schwanden diese schlagartig bei ihren Worten. Rasch schloss er die Augen und stellte sich besinnungslos. Eine Tür kratzte über den Boden, und zwei Personen betraten das Gewölbe. Jens konnte spüren, wie die beiden Eindringlinge ihn und den anderen Mann im Raum musterten.
»Wie viel hast du ihm verpasst?«, fragte der Unbekannte seine Begleiterin.
»Einen Schlag mit der Schippe?« Die Frau lachte gehässig. »Ernsthaft: Ich hab gestern mit zehn Milligramm Midazolam angefangen. Oral. Und später immer wieder ein paar Tropfen. Ich konnte ja nicht gleich weg von meinem Posten. Keine Ahnung, wie du die Kerle sonst ruhig stellst.«
»Gestern« und »sonst«? Jens spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Wie lange lag er hier wohl schon?
»Mit Zäpfchen!«, antwortete der Mann verärgert und trat neben den Metalltisch. »Na gut. Er sollte wohl noch für ein oder zwei Stunden außer Gefecht gesetzt sein. Weißt du wenigstens, wer er ist?«
»Ist das so wichtig?«
»Natürlich ist das wichtig!« Jens spürte, wie sich der Unbekannte seiner Begleiterin zuwandte. »Unser aller Sicherheit ist davon abhängig. Was, wenn der hier nicht gesund ist? Du weißt doch, welch hohen Ansprüchen sie genügen müssen. Inzwischen suchen sie vielleicht die ganze Bucht nach ihm ab.«
»Meine Güte, beruhig dich mal. Wenn du wissen willst, wer er ist, frag ihn, sobald er wieder zu sich kommt. Mach einfach auf barmherziger Samariter.«
»Deine Profilierungssucht wird uns noch den Kopf kosten. Wir folgen einem Plan. Wir folgen immer einem Plan. Hast du ihm wenigstens Wasser gegeben?«
»Nee. Wann denn?« In der Stimme der Frau schwang Unsicherheit mit.
»Wann? Irgendwann in den letzten Stunden vielleicht, du dumme Kuh?! Wenn der Kerl zu sehr dehydriert, ist er überhaupt nichts mehr wert.« Jens spürte einen Griff am Arm. Der Mann beäugte offenbar seine Uhr, griff dann zum Tauchcomputer und nahm ihm beides ab. »Das sind keine billigen Modelle, das eine nicht und das andere auch nicht. Scheiße!« Plötzlich schob sich etwas Kaltes, Metallisches unter den Ärmelansatz seines Neoprenanzugs, und Jens versteifte sich unmerklich. Er spürte, wie ihm der Unbekannte den Anzug bis zur Ellenbeuge aufschnitt und das Prozedere an seinem anderen Arm wiederholte. Neben Jens’ Körper klirrte etwas auf dem Metalltisch, und der Mann schob den Stoff auf beiden Seiten nach oben. »Manchmal tragen sie etwas Persönliches bei sich. Wenigstens eine Tätowierung oder so. Der hier besitzt gar nichts.« Der Unbekannte fluchte. »Immerhin ist er im geeigneten Alter und gut trainiert.«
»Sag ich doch.« Die Stimme der Frau klang zufrieden. »Ich schätze ihn auf Mitte dreißig. Also ist er sogar im besten Alter.«
Die Unbekannte hatte sich leicht verschätzt. Jens war einundvierzig Jahre alt, nur fragte er sich, warum sein Alter und sein körperlicher Zustand für seine Entführer so wichtig waren.
»Hatte er sonst etwas bei sich?«
»Du meinst, einen Ausweis oder so? Nein. Wie auch?« Die Frau räusperte sich. »Aber er trug noch so einen … Computer. Am anderen Handgelenk. Merkwürdiges Ding.«
»Einen was?«
»Keine Ahnung«, antwortete die Frau kleinlaut. Offenbar sprach sie von dem Unterwasser-Funkgerät. Jens fluchte innerlich, denn er hatte das Gewicht des Transponders an seinem Arm bereits vermisst. »Das Ding liegt oben im Wagen. Den Rest der Ausrüstung habe ich zurückgelassen. War mir zu schwer.«
»Und wann hattest du vor, mir davon zu erzählen?« Ihr Begleiter wartete die Antwort gar nicht erst ab. »Ich will nur hoffen, dass da keine GPS-Funktion dran hängt. Wenn du mich fragst, ist der Kerl hier nämlich Berufstaucher. Ich hoffe, dir ist klar, was das bedeutet.«
Die Frau zögerte. »Und was?«
»Gott, wenn jemand die Dummheit mit Löffeln gefressen hat, dann bist das du! Hörst du auch mal Radio oder schaust fern? Irgend so ein Bergungsunternehmen hat gestern einen ernsten Zwischenfall gehabt. Seemine. Einen der Taucher suchen sie immer noch.«
»Du meinst, er ist das?«
»Natürlich! Oder glaubst du, vor uns liegt der Weihnachtsmann?« Der Unbekannte verlor sichtlich die Beherrschung. »Diese Drecksfirma sucht nach ihm. Und das ist im Augenblick das Letzte, was wir gebrauchen können.«
»Aber die können uns doch nicht gefährlich werden, oder?«
»Weiß ich noch nicht!«, fuhr er sie an. »Ich muss das Gerät im Wagen untersuchen. Anschließend werden wir ein paar Anrufe machen, und dann wirst du dich für dein eigenmächtiges Handeln verantworten. So viel kann ich dir jetzt schon sagen: Das wird nicht angenehm für dich! Außerdem müssen wir sicherstellen, dass du keine Spuren hinterlassen hast.«
Die beiden verließen den Raum, und nun wagte es Jens zum ersten Mal wieder, die Augen zu einem schmalen Schlitz zu öffnen. Doch alles, was er erkennen konnte, war der breite Rücken seines Entführers. Er trug eine Baseballkappe, deren Krempe er in den Nacken gedreht hatte, sowie T-Shirt, Jeans und Gummistiefel, die ihm bis zu den Waden reichten. War das ein Bauer? Oder ein Fischer? Den Blick auf die Frau verdeckte er, doch Jens erinnerte sich nur zu gut an sie. Die Kellertür fiel ins Schloss und wurde verriegelt. Draußen klirrte es, und dann entfernten sich die Schritte der beiden.
Gott, das alles hier konnte doch nur ein böser Albtraum sein. Welchen Verrückten war er da in die Arme gefallen? Jens atmete tief ein und versuchte sich zu beruhigen. Zumindest ließ die Wirkung des Medikaments rascher nach, als die beiden dachten.
Er versuchte sich auf Einzelheiten zu konzentrieren. Die tonnenförmige Decke über ihm war schimmelverkrustet. Das Gebäude, zu dem der Keller gehörte, musste also älteren Datums sein. Ihm war klar, dass ihn niemand an einem solchen Ort suchen würde. Wenn, dann suchte die Bergungsmannschaft da draußen auf dem Meer nach ihm. So oder so, er musste hier unbedingt raus, bevor diese beiden Wahnsinnigen wieder zurückkehrten.
Jens stemmte sich abermals in die Fesseln, als er ein Stöhnen an der Wand zu seiner Rechten vernahm. Der Bärtige auf dem Feldbett hatte sich ihm zugewandt. Jens schluckte, denn der Flüssigkeitsverlust machte es ihm schwer zu sprechen. »Hey! Können Sie mich verstehen? Wissen Sie, warum wir hierhergebracht wurden?«
Sein Mitgefangener lallte etwas Unverständliches. In diesem betäubten Zustand würde ihm der Fremde keine Hilfe sein. Wieder zerrte Jens an den Armschlaufen, als sich der Bärtige gegenüber erneut mitzuteilen versuchte. Die Worte blieben unverständlich, doch Jens sah, dass sein Leidensgefährte mit trübem Blick zum Metalltisch stierte, auf dem er lag. Schwach wies er mit dem Kinn auf etwas in Hüfthöhe. Jens reckte den Hals und entdeckte das blinkende Objekt nun ebenfalls. Es handelte sich um die Schere, mit der sein Peiniger die Arme seines Anzugs aufgetrennt hatte. Der Mann hatte sie vergessen.
Das war seine Chance! Noch immer hatte er das Gefühl, dass ihm die Muskeln den Dienst versagten, doch Jens bog seinen schmerzenden Körper so lange durch, bis er die Schere erst am Rücken und dann am rechten Gesäß spürte. Er schob sie auf diese Weise Stück für Stück weiter nach unten, bis er schließlich den Versuch wagen konnte, mit den Fingern seiner gefesselten Rechten nach ihr zu greifen. Zu seiner Überraschung gelang es ihm bereits beim zweiten Versuch. Er drehte die Scherenspitze mit den Fingern und positionierte die Schlaufe, in der sein Handgelenk steckte, und zwar so, dass sie zwischen den Schneiden lag. Mühsam begann er zu säbeln. Die Position, in der er hantierte, war unbequem, und seine Rechte fühlte sich noch immer seltsam gefühllos an. Aber dann hörte er schließlich ein reißendes Geräusch. Sein Befreiungsversuch hatte Erfolg. Unter Schmerzen spannte er den Arm an, und nun riss der Stoff der Schlaufe endgültig entzwei. Seine rechte Hand war frei. Rasch trennte er mit der Schere auch die übrigen Gurte auf. Geschafft!
Unter Mühen richtete sich Jens auf, und sogleich drehte sich die Welt. Einen Moment lang glaubte er sogar, sich übergeben zu müssen. Schwer atmend kämpfte er das aufsteigende Würgegefühl nieder und wandte sich schließlich seinem Mitgefangenen zu. Der Bärtige kämpfte sichtlich darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Jens stolperte zu ihm und befreite auch ihn von den Fesseln, doch der Mann machte keine Anstalten, sich zu rühren. Im Gegenteil, sein linker Arm fiel schlaff zu Boden, kaum dass er die Armschlaufe geöffnet hatte.
»Kommen Sie zu sich!« Was auch immer die Entführer dem Mann verabreicht haben mochten, das Zeug entfaltete bei ihm nach wie vor seine Wirkung.
»Welches … Datum?«, keuchte der Mann mit krächzender Stimme.
»Was?« Jens starrte den Bärtigen irritiert an. »Der 17. Juni – wenn die mich tatsächlich gestern überwältigt haben. Können Sie aufstehen?«
»Nein … fliehen Sie!«, lallte sein Gegenüber. »Sonst sind Sie … verloren. Nur noch sechs … Tage. Dann … sind wir alle tot!«
»Was? Wer sind Sie?«, flüsterte Jens konsterniert. Sein Mitgefangener versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Sie klang müde. »Fff«, zischte er hilflos und versuchte es erneut. Dann sagte er flüssiger: »… olker … Rhode.«
»Volker Rhode?«
Der Bärtige nickte schwach und sah ihn flehend an. »Holen Sie … Hilfe!«
»Wer war das eben? Und warum sind wir hier?« Jens sah Rhode fest in die Augen. Der ächzte, und seine Finger krallten sich jetzt doch in seinen Arm. »Weil ich … ihr Geheimnis … kenne. Es ist … so unglaublich. So unglaublich.«
»Was?«