Cover

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Der Mühlhiasl, Bleistiftzeichnung von Josef Fruth

Wolfgang Johannes Bekh
Mühlhiasl
Der Seher des Bayerischen Waldes
Deutung und Geheimnis
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Die erste Auflage dieses Buches erschien erstmals 1992

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:
allitera.de

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet
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2. Auflage
November 2014
Allitera Verlag
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2005 Buch&media GmbH (Allitera Verlag)
Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink
Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany · ISBN 978-3-86520-127-0

Inhalt

Die Seele des Waldes

Die Mühle

Wahrheit, im Kleide des Reizes

Keine Priester, keine Gläubigen

Von Ufer zu Ufer

Des Aschenbrenners Mär

Wie des Bettelmanns Rock

Das Große Abräumen

Kein Mensch wills glauben

Ende und Anfang

Anhang

Chronologische Zeittafel

Zeugnisse

Mühl-Hiasl, der Waldprophet

Literatur über den Mühlhiasl

Danksagung

Abbildungsverzeichnis

Obstupui, steteruntque comae, et vox faucibus haesit

Ich stand wie betäubt, die Haare richteten sich empor, die Stimme stockte im Halse

Vergil, Aeneis, 2. Buch

Die Seele des Waldes

Einleitung

Da saß ich also an einem blanken Holztisch im bescheidensten Wirthaus von Zwiesel und hatte zwei Einheimische vor mir, ein junges Paar. Etwas verblüffte mich an den Beiden: Trotz ihrer Jugend und obwohl sie motorisiert waren, hatte ihre Sprache noch keinen Teil an der Ferne genommen, war nah und blieb immer aufs Nächste beschränkt. Beschränkt in der edlen Bedeutung des Worts, nach der sich ein Meister erst in der Beschränkung zeigt. Wer etwa wüßte draußen in der »großen Welt«, was ein Reibndeuter ist? Am Auto der Blinker natürlich, der ein »Deuter«, ein Andeuter, ein Hindeuter ist. Und auf was deutet er hin? Auf eine Kurve, die im Bairischen »Reibn« heißt! Ein Reibndeuter also, ein Reibmdeiter, der in Bischofsmais, wo alle – ohnehin breit gesprochenen – »ei« zu »ä« werden, »Rämdäter« heißt. Recht österreichisch klingt das, wie das »Waidlerische«, das meine zwei Bezugspersonen redeten, überhaupt österreichisch klingt, etwa wenn der Mann sich die Finger am Sacktuch abwischte und bemerkte: »De Krenwürstl woan schoaf?«

Am nächsten Morgen dann die Übernachtungsquittung beim Janka und auf dem Platz heraussen mein erstauntes Heruntermurmeln der Namen vom Kriegerdenkmal: Dobetsberger, Gahleitner, Gandlgruber, Haderer, Klapfenböck, Perndorfer, Rappmannsberger, Sageder, Samhaber, Scheucher, Schratzenstaller, Wambrechtshamer, Zachbauer … Da wimmelte es von Hinweisen auf Bauerntum und Handwerk, Holz und Wald. Welch selbstverständliche Beschränkung auf das Nächstliegende!

Dann eine tagelange Wanderung durchs Waldgebirg. Drüben in Fürsteneck – ich konnte jenseits der scharfen Täler von Ohe und Ilz die blaue Höhe erkennen – hauste, wie ich wußte, in der Alten Wache Josef Fruth, ein Unverwechselbarer wie Alfred Kubin, ein Graphiker, dessen Tuschfeder und Sepiapinsel in fülliger Komposition und kräftigem Strich die Welt des Waldes beschwört, weiter drüben in Bischofsmais hatte Max Peinkofer gewohnt, ein echtbürtiger Sohn des Waldes. Richard Billinger, der Dichter der Rauhnacht, war aus dem Innviertel zu ihm gekommen, hatte dabei von Sankt Marienkirchen her den Sauwald überquert, von dem Uwe Dick ausdrucksstark in seiner Prosa kündet. Max Matheis hat auf den Schneehöhen von Nottau die Drangsal der Hausweber, die schweißtreibende Mühe der Steinhauer, die Gott-Ergebung der Austragsbauern besungen. Hans Carossa, ein Epiker von seraphischer Sprachschönheit (Freund Heinrich Lautensacks, des Passauer Außenseiters und Bürgerschrecks, der in der »Provinzialirrenanstalt « von Eberswalde endete), brach von den Ufern der Donau auf und wanderte nach Waldkirchen zum »Dichterweib« Emerenz Meier, der in dem dunklen Sang von der »Wederschwüln « ein Meisterwurf gelungen war. Emerenz, die so gut raunen konnte von den geheimnisvollen Kräften des tiefen Waldes und von umheimlichen Prophezeiungen, die dort umlaufen – auch sie starb in der Fremde, von der Sehnsucht (vulgo »Zeitlang«) nach ihrer verlorenen Heimat verzehrt. Und noch einmal huschte ein Gedanke an Heinrich Lautensack vorüber, der gleich Emerenz Meier in der Ferne hatte enden müssen. »Gerade vor dem Hintergrund des rationalen preußisch- protestantischen Berlin«, schreibt sein Biograph Wilhelm Lukas Kristl, »vor dem Hintergrund Brandenburg und Pommern mit den tristen Landarbeiter-Dörfern und ihrem Kartoffelschnaps malte ihm die Sehnsucht glühende Bilder von einem heiteren weiß-blauen Bierland, erstanden ihm die seltsamen Gesichte einer erdschweren bayerisch-lateinischen Mystik.«

Ich sog mich voll mit Namen und Gestalten, mit Worten und Werken, und kam so nach Waldhäuser, wo nahe beim ehemaligen Domizil des unvergleichlichen Böhmerwaldmalers Reinhold Koeppel (»vom kalten Monde weiß umflossen steht tot das altvertraute Haus«) ein anderer Großer sich niedergelassen hatte, Robert Link, der unermüdliche Sammler heimischen Liedguts, das er in der vielbändigen Reihe »Waldlerisch gsunga« herausgab. Den Antrieb, der ihn dabei leitete, hat er selbst unnachahmlich beschrieben, nannte seine Sammlung: »A Haufa Liadl aus da Freud und da Liab, gega‘s Hoamweh und d‘Langweil, für d‘Schulstubn und für d‘Rockaroas«, womit er auf den alten Spinnrocken Bezug nahm, dem so viel Sagen- und Liedgut zu verdanken ist. (»Rockenreis « – wörtlich »Nachtbesuch mit dem Spinnrocken« – ist ein anderer Ausdruck für »Heimgarten« [Hoagart] oder »Sitzweil«, die winterliche Zusammenkunft auf den Dörfern, hervorgegangen aus der vom Erzählen und Singen begleiteten Tätigkeit in der Spinnstube.) Der begeisterte Liedersänger und ‑sammler war, wie ich mich erinnerte, ein Schmalzlerschnupfer gewesen, hatte auf den »Perlesreuter « geschworen. Im alten Forsthaus hatte er – sozusagen – überwintert, als hätte er sich in den prophezeiten Endzeiten an das traurigschöne Sonett gehalten, in dem es heißt: »Unter Wintern ist einer so endlos Winter, daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.« Am 4. Oktober 1973, am Tage des heiligen Franz Seraph, ist Robert Link in seinem Forsthaus gestorben …

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»Hier herauf hat sich die Urwelt zurückgezogen«
(Lusengipfel)

Gleich hinter dem Forsthaus steigt der Wald als Mauer auf, abgestuft in die Ferne, blau und schweigend. Auf dem Pfad, der mit dem Luchs gezeichnet ist, klettert man auf den Lusen. Hier herauf hat sich die Urwelt zurückgezogen. Unter der hingeschütteten Granitwüste wächst nur noch die Heidelbeere. Zum Schluß der nackte, silbrig grün schimmernde, aus zyklopenhaften Felstrümmern aufgetürmte Gipfel! Fast erschreckend ist der Ausblick in die Waldberge des Böhmlandes. In Lackenhäuser hat Adalbert Stifter den »Witiko« geschrieben. Bei ihm lesen wir: »Das Land steigt staffelartig gegen jenen Wald empor, der der böhmisch-bayerische genannt wird. Es besteht aus vielen Berghalden, langgestreckten Rücken, manchen tiefen Rinnen und Kesseln, und obwohl es jetzt zum größten Teile mit Wiesen, Feldern und Wohnungen bedeckt ist, so gehört es doch dem Hauptwalde an, mit dem es vielleicht vor Jahren ununterbrochen überkleidet gewesen war. Es ist, je höher hinauf, immer mehr mit den Bäumen des Waldes geziert, es ist immer mehr von dem reinen Granitwasser durchrauscht, und von klareren und kühleren Lüften durchweht, bis es im Arber, im Lusen, im Hohensteine, im Berge der drei Sessel und im Blöckensteine die höchste Stelle und den dichtesten und an mehreren Orten undurchdringlichen Waldstand erreicht …«

Es ist eine Landschaft, in der Urzeit und Endzeit ineinander übergehen. Wieder erinnern wir uns an ein Wort Stifters: »Die edlen Tannen, wie mächtig ihre Stämme auch sein mögen, stehen schlank wie die Kerzen da und wanken sanft in dem leisesten Luftzuge. Es ist wie das Atemholen des Waldes …«

Gestern, bevor ich mich am nackten Wirtshaustisch niedergelassen hatte, war ich noch eingekehrt im verwaisten Haus eines anderen unvergeßlichen Heimgegangenen, des in Pronfelden bei Spiegelau geborenen Volkskundlers, Liedersammlers und Romanschriftstellers Paul Friedl, besser bekannt unter dem Namen »Baumsteftenlenz«. Die Witwe empfing mich in dem schon erstorbenen Haus. Der Rundblick über das Waldgebirg war noch ebenso frei wie ehedem, das Haus wirkte auf mich noch ebenso einfach und sauber, die Ehrenurkunden hingen immer noch gerahmt im Stiegenhaus; treppauf las ich den Lobpreis wie einst, buchstabierte: »Prinz-Alfons-Erinnerungszeichen, Erzählpreis der Neuen Linie, Schillerpreis, Johann- Andreas-Schmeller-Medaille, Bundesverdienstkreuz, Goldener Fink, Gotteszeller Volksliederpreis …«, aber er selbst sank mir zur Legende zurück – der Witwe erging es nicht anders –, oder war es bereits eine Überhöhung? Aus der Feder des Baumsteftenlenz stammt der Roman: »Das Lied vom Pascher Gump«. Vor Jahr und Tag hatte er mir eindringlich davon erzählt:

»Heit sans de politischen Grenzverhältnisse, de's Schwirzen, 's Paschen oder Schmuggeln so erschwert ham, daß's nimma geht. Aba i selba bin a ganz a Guada gwen. I bin mit an Feierzeig, des i do kaft hob, umi ganga und hob's entn gegen Krandl (Kronen) verkaft. No hob i mit demselben Geld herenten wieder zwanzg Feierzeig kafa kenna, und a so is da Handl hin und herganga. In da Fria um sieme hamma scho Sekt gsuffa, reich samma net worn. Die andern natirli, de Pferde und Ochsn gschmuggelt ham, de hams besser verstandn. De ham a Geld zammabracht.«

Der Baumsteftenlenz gab die Anregung zu einem Holzhauerwettbewerb, der nun Jahr für Jahr in Zwiesel ausgetragen wird. Man lernt in Zwiesel das Anritzen, die Vorbereitung des Ansatzes für den Schnitt, das Ansägen für den Schlag der Kerbe, die die Fallrichtung bestimmen soll. Dann muß man von der Gegenseite schneiden, keilen und durchschneiden, notfalls die Kerbe erweitern. Wenn man durch die Füße schaut, muß man den Gipfel sehen, – so weit fällt der Stamm. Ein Nadelbaum fällt wie geplant. Eine Buche dreht sich im Fall. Da heißt es: Rennen ums Leben.

Im Zwieseler Waldmuseum, dem ich schon so häufige Besuche abgestattet hatte, herrscht unübersehbar das Holz vor. Gleich beim Eingang wird die Schnittfläche einer Tanne gezeigt, die 450 Jahre alt geworden ist. Fähnchen sind in die Jahrringe gesteckt, wo markante Weltereignisse trafen. Als Amerika entdeckt wurde, stand die Tanne schon. Daneben aneinandergereiht alle Arten von Sägen und Sägemaschinen, getrieben von Wasserkraft, Turbine oder Dampf.

Der Baumsteftenlenz erzählt: »Im Sägewerk, mein Vater war ja Sägemeister, in einem Sägewerk könnte ich, glaube ich, heut noch alle Maschinen bedienen: Die Abhängsäge, die Kettensäge, die Gattersäge.«

Dann die Kohlenmeiler, die Schlitten, mit Holz beladen, Alraunwurzeln wie Hexen, Männlein oder Teufelsgestalten, Spankörbe, Totenbretter, Holzschuhe, sogenannte Böhmschuhe, und Pribramer Madonnen.

Der Baumsteftenlenz: »… i bin a glernter Holzschnitzer …« Von Grafenau und noch weiter südlich war man keineswegs nach Öding (Altötting) wallfahrten gegangen, sondern zur Muttergottes von Pribram bei Prag. Die Pribramer Madonnen waren Mitbringsel der Wallfahrer.

Auf die Frage nach gewissen Vorausahnungen, die es in Bayern und im Böhmland so häufig gibt, erzählte mir Paul Friedl aus dem Erinnerungsschatz. Sprachliche Holprigkeiten sind um der Echtheit des Berichtes willen nicht geglättet worden:

»Ich habe einmal eine Bauersfrau kennengelernt, gut kennengelernt, – von der möchte ich sagen: Sie war fast eine Prophetin. Sie hatte Vorahnungen, die fast Unglaubliches erbracht haben. Sie sagte zum Beispiel: Ich fürcht mich wegen nächster Woche, da kriegen wir ein rechts Kreuz ins Haus in der Familie; mir geht da ebbs vor. Und immer, wenn sie solche Vorahnungen hatte – sie bezog auch die Nachbarschaft ein oder andere Bekannte im Dorf –, trafen sie ein; sie war sich wahrscheinlich selber nicht bewußt, daß sie durch irgendeine Gabe, möge es das Zweite Gesicht gewesen sein, eine Verbindung zur Zukunft hatte. Ich nenne es: Vorahnung. Ich habe dann auch noch den Zwieseler, den Prokop, den Waldhirten gut gekannt, der in seinen so plötzlich hingeworfenen Äußerungen immer wieder Voraussagen gemacht hat. Er war Waldhirte aus dem Rugowitz, und wie das Hüten gar war, ist er Glasmacher geworden. Er ist 1965 gestorben, von seinen eigenen Angehörigen sehr mißverstanden. Da hat es allweil geheißen: Mein Gott, der macht die Leut noch ganz narrisch mit seinem saudummen G‘schmatz. Und seine eigene Frau, die hat allweil gesagt: ›Ja, was hast denn nur? Laß doch die Leut in Ruah! Was bringst denn allaweil daher!‹ Aber alle mußten bestätigen, daß das, was er gesagt hat, auch eingetroffen ist. Er war ein einfacher Mann, und er wollt auch gar nicht prophezeien.

Im Zwieseler Waldhaus sind wir einmal dringesessen im Wirtsgarten, da ist einer vorbeigegangen, ein gewisser Dirndorfer, ein Holzhauer. Da hat er gesagt: ›Mei, der arme Mann, den erschlägt der Baum!‹ Drei Monate später war es geschehen … Ich bin Zeuge gewesen und habe Menschen mit dem Zweiten Gesicht kennengelernt, einen, der während des Weltkrieges für acht oder vierzehn Tage vorausgesehen hat: Am Montag oder Dienstag kriegt es der. Dieses ›Kriegen‹, das war der Blaue Brief, daß der Sohn gefallen ist. Das hat er für sein Dorf und für die weiteste Umgebung vorausgesagt, und es ist immer eingetroffen. Ja, woher kommt das? Mir fehlt die Erklärung, und ob es andere erklären können – ich weiß es nicht.«

Prokop, der Waldhirte vom Rugowitz-Schachten (der sich bürgerlich Joseph Schmid schrieb), hatte einmal eine frappierende Schau; der Baumsteftenlenz hat sie in den zwanziger Jahren genauso aufgeschrieben, wie der Waldhirt sie in seiner Mundart erzählte: »I schlof und schlof net, wenn i in der Nacht in meiner Hüttn lieg. Aber Sachan machts mir vür, zun Grausen! Und i schlof do net, weil i daußt meine Stier hör und an Wind und 'n Regen. Auf oamoi sehg i, wia da Wind 's Feuer daherbringt, und alle Baam brennan wia Zündhölzl. An andermal sehg i, daß drunten alles verkemma is, koa Mensch is mehr da und koa Haus. Grad mehr Mauertrümmer. Und allerweil wieder kemman Wolken, feuerrot, und es blitzt, aber es donnert net. Und auf amal is alles finster, und drunten auf der Waldhausstraß geht oana mit an brennandn Ast und schreit: Bin i wirkli no da Letzt? Bin i wirkli no da Oanzig? Und nacha is wieder da Himmel gelb wiara Zitron und is so tiaf herunt. Koa Vogl singt, i find koan Stier mehr und koa Wasser. Aufn Berg is koans mehr und drunt im Regen aa koa Tropfa nimma. Muaß ja aso kemma, weil d'Leit nix mehr glaubn, a jeda tuat, als waar er allaweil aaf da Welt da.«

Zweierlei lernen wir aus dieser verblüffend eindringlichen Schau: Einmal erfahren wir vom Wassermangel nach der Katastrophe, der auch von anderen Sehern bestätigt wird. Die Flüsse führen »so wenig Wasser, daß man fast trockenen Fußes hindurch gehen kann«. Zum andern hören wir wieder einmal von der tiefen Frömmigkeit eines einfachen Sehers, die so gut wie beispielhaft für alle Sensitiven ist. Wer etwa einem Mühlhiasl Kirchenfeindschaft – in diesen Breiten und Zeiten unter allen Umständen Gottlosigkeit – andichtet, wie es in einer Biographie geschehen ist, macht sich unglaubwürdig. Die um sich greifende Kirchenfeindlichkeit, das Ersterben der Priesterberufe und vor allem der dramatisch zurückgehende Gottesdienstbesuch sind ja keineswegs Erscheinungen aus dem Lebensbereich der Seher, sondern Kennzeichen einer Endzeit, auf die sie nicht müde wurden, immer wieder hinzuweisen.

Weil vom Stammvater aller neueren Seher und Propheten, vom Thema und Titel dieses Buches erstmals die Rede ist, vom weitgehend schon legendären Leben und Wirken des Mühlhiasl, soll auch auf den literarischen Anspruch der Zeitlosigkeit hingewiesen werden, dem in dieser Arbeit (nur scheinbar) nicht genügt wird. Muß aber nicht eine auf die Zeit bezogene Aussage gleichsam immerfort zeitlich sein? Und ist nicht jede Zeit Summe aller Zeiten, so daß die Erfüllung der beschriebenen Gesichte nur in einem überzeitlichen Ziel ihren Abschluß finden kann? So gesehen ist auch der Wald als Ort und Raum nur stellvertretend für andere Orte und Räume, wenngleich das Guckfenster in einen Bereich, wo Zeit und Raum aufgehoben scheinen, hier im Wald am weitesten offensteht.

Der Münchner Gymnasiumsleiter und Kommunalpolitiker Winfried Zehetmeier erzählte mir um 1970 herum von einer Begebenheit aus dem Bayerischen Wald: »Als die nachmalige Klöppellehrerin Theresia Müllner, die ›Engel-Res‹ in Hohenbach, an die fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, ist sie einmal mit Gleichaltrigen vom Samstag-Rosenkranz heimgegangen. Es war noch hell. Plötzlich ist sie stehengeblieben, mitten auf der Straße, und hat ganz starr auf das Schneider-Haus hingeschaut. Die mit ihr gingen, hatten im ersten Augenblick gar nicht auf sie geachtet, sie dann aber angerufen und, als sie sich nicht rührte, mit sich weitergezerrt. – Die Engel-Res hat damals, wie sie anschließend erzählte, Folgendes gesehen: Neben der Tür vom Schneider, im Freien, war ein kleiner Kindersarg zu sehen. Er stand nur auf einem Stuhl, während Erwachsenensärge immer über zwei Stühle gelegt wurden. Der Kaplan, begleitet von zwei Ministranten, nahm die Aussegnung vor. Sie, die Res, stand mitten unter der Trauergemeinde. An der Hauswand, neben dem Sarg, lehnte ein weißes Holzkreuz. Nach zwei Wochen starb tatsächlich im Schneider-Haus ein Kind an eitriger Mandel-Entzündung. Die Aussegnung fand so statt, wie es die Engel-Res vorausgesehen hatte.«

Mir hat es von je als ausgemacht gegolten, daß die Gabe des Zweiten Gesichts ein Erbe der an Donau und Moldau ansässig gewesenen Kelten und ihrer Druiden ist. Auf die Frage, warum es so viele Hellseher im Bayerischen Wald gebe, wußte der Baumsteftenlenz im Verlauf unseres Gesprächs eine Erklärung, die zwar etwas anders klang, aber meiner Meinung nicht widersprach:

»Ich erinnere mich siebzig Jahre zurück. Diese arme Landschaft, dieser schwermütige Wald, das Traurigschöne an diesem Lande! Das hat doch unsere Menschen beeinflußt, das hat sie doch bedrückt, das hat sie doch dauernd beschäftigt und hat sie geprägt! Daß bei uns das Zweite Gesicht des öfteren vorkam, das weiß ich von meinen Großeltern und von meinen Eltern. Es hat immer Leute gegeben, die bei uns, ich muß sagen, verschrien waren, die nicht angesehen waren deswegen, sondern verschrien, weil …: ›Die haben ebbs kinnt, die haben ebbs gwißt! Dös is ein ganz ein anderer!‹ hat es geheißen. ›Der, der weiß mehrer wie mir!‹ Die hat es immer gegeben … Es ist viel Aberglaube bei uns dagewesen von jeher in den Einöden, in den Dörfern. Da hat man ja auch von diesen Dingen geradezu gelebt. Das war ja der Erzählstoff, und man hat eben Geister gesehen dort, wo sie waren oder wo sie nicht waren. Ich weiß einen Spruch, der stand auf einem Totenbrett in Arnbruck:

›Bilde dir nicht ein,
du wärest hier allein.
Man hat auf diese Welt
dir Geister zugesellt.‹ «

Der Wald hat eine Seele, er holt – nach Adalbert Stifters Worten –Atem, er atmet mit uns. Fremdes und Urbekanntes raunt uns aus dem Rascheln seines Laubs ins Ohr, weht uns von den wiegenden, schwankenden Wipfeln entgegen, spricht uns aus Wurzelwerk und Fuchshöhle an. Ein uraltes Lied gluckst uns die Quelle, sprudelt uns das Bächlein vor. Nicht nur unerlöste Geister, auch die alten Götter der Heimat und ihre Erben, die hilfreichen Heiligen, leben in jedem fächelnden Farn, in jedem geäderten Stein, in jeder zerklüfteten Rinde. Wie alles Außen ein Innen hat, so ist diese herrliche Geschöpflichkeit nur Spiegel der verborgenen Größe des Schöpfers. Der Wald hat eine Seele. Vom noch nie gehörten Sterben einer Seele, vom Sterben der Seele des Waldes wird noch die Rede sein.

Die Mühle

Der Müller-Mathias von Apoig hielt einen Briefbogen in Händen; weich fühlte sich das Lumpenpapier an, kein Knistern und Knattern gab es beim Entfalten. Umso härter war die Botschaft. Er hatte vom Lesen einen höchst unzulänglichen Begriff, hielt sich den Bogen ganz nahe vor Augen, drückte den Bart beiseite. Sauber abgezirkelt und gut leserlich hatte der Schreiber die Buchstaben hingesetzt, ein wenig erregt mutete die Signatur des Abtes an. Keinen Prägestempel wies das Blatt auf, dafür baumelte das wächserne Klostersiegel (mit springendem Hund auf dem Rautenwappen) an gelbweißer Kordel hervor, als der Empfänger den Bogen sinken ließ. Frater Augustin, der Überbringer, der in schneeweißer Kutte neben ihm stand, erläuterte den Wortlaut.

»Abgestiftet«, will sagen: Des Pachtverhältnisses enthoben. So lautete die amtliche Mitteilung der klösterlichen Grundherrschaft. Es war ja richtig: Der Pater Kastner hatte ihn beim letzten Besuch in der Klosterkanzlei gefragt, ob er den Stift (die vom Pächter geforderte Pachtgebühr) entrichten werde, und er hatte dessen Vermahnung ausweichend beantwortet. Es war auch richtig: Er hatte seit dem Frühjahr 1799 keinen einzigen Gulden Pacht bezahlt. Von dem bei der Verstiftung der Mühle »armutshalber« zinslos gewährten Darlehen (fünfundsiebzig Gulden) war noch keine einzige Rate, noch kein einziger Kreuzer zurückerstattet. Man schrieb aber schon den Juli 1801. Richtig war, daß er auch sonst manchen Grund zur Beanstandung gegeben hatte, daß er mit der ans Kloster zu liefernden Mehlmenge im Rückstand blieb, daß die Reinheit seines Mahlguts zu wünschen übrig ließ. Da half ihm auch sein Vorwurf nichts, der Straubinger Kastner habe ihm nur schlechtes und wurmiges Getreide geliefert, daraus könne er kein gutes Mehl mahlen

Es schlug ihm nun zum Unglück aus, daß unter Abt Joachim Eggmann eine heillose Mißwirtschaft geherrscht hatte. Krankhaft mißtrauisch, nahm dieser, obwohl er dazu keinerlei Befähigung besaß, die gesamte Verwaltung allein in die Hand, führte keinerlei Rechnung, fragte keinen Menschen um Rat, gewährte niemandem Einblick in den Gang der Dinge. Die Klosterämter besetzte er mit ungeeigneten Leuten. Jahrelang fand keine Profeßablegung mehr statt, weil der Abt von dem unüberwindlichen Angstkomplex verfolgt war, er könne seinen Konvent nicht ernähren. So kam es im Kloster zu Unzufriedenheit, Spaltung, Zwietracht. Abt Joachim sah zwar ein, daß er dem hohen Amt nicht gewachsen war, seinem zweifachen Gesuch um Resignation wurde aber zum Nachteil des Klosters nicht stattgegeben. Erst im Spätherbst 1799, als es zu einer Art Revolution im Kloster kam, wurde Joachims Abdankung erzwungen. Der im Dezember 1799 neugewählte Abt Ignaz Preu – bisheriger Prior –, der nicht umsonst nach dem streitbaren Gründer des Jesuitenordens genannt war, tat vielleicht in der Hitze der notwendigen Neuerungen manchmal des Guten zu viel, jedenfalls kehrte er mit eisernem Besen aus.

Es war ja nicht so, daß die Verwaltung eines großen Gemeinwesens, wie es ein Kloster darstellt, mit allen Kunstwerten, mit Kirchen und Kapellen, mit Ringmauern und Toren, mit Richterhaus, Gastbau, Kanzlei, Abtwohnung, Sommer- und Winterrefektorium, Konvent- und Bauhofküche, Prälatur, Konventgebäude, Noviziat, Kapitelsaal, Sakristei, Bibliothek, Zellen, Kreuzgang, Krypta und Gruft, mit allen Liegenschaften, mit Handwerkerstuben und ökonomischen Baulichkeiten, mit Stallungen und Städeln, mit Waschküchen und Backöfen, mit Brauerei und Gärtnerei, mit Pfarrhöfen und Widdumhäusern, mit einer schier ungeheuerlichen Bau- und Renovierungslast nicht strengster Sorgfalt unterliegen mußte. Gerade in Zeiten kirchenfeindlicher Aufldärung und frühindustrielen Aufschwungs war bei den Klöstern die Zahlungsunfähigkeit oft in greifbare Nähe gerückt. Das Kloster Windberg zeigte sich im Widerspruch zum eigenen Nutzen als milder Grundherr und stundete in schlechten Zeiten oft die Abgaben. (Bei der Säkularisation fand die Lokalkommission über 40 000 Gulden Ausstände bei den Untertanen vor.)

Der saumselige Müller-Hias war also weit weniger ein Opfer äbtlicher Willkür, als eines dringend gebotenen strengeren Regiments. Das Kloster mußte sogar die als Darlehen an den Müller verabfolgte Summe verloren geben. Ein Härtefall ohne Zweifel: Der Vater Mathias Lang war in hohem Alter vor zwei Jahren verstorben (worauf die Pacht an den Sohn ging, der schon von Kin- desbeinen an in der Klostermühle gearbeitet hatte), aber die Mutter lebte noch. Sein jüngster Bruder Joseph arbeitete im Haus als Mühlknecht. Er selbst hatte acht Kinder; fünf waren am Leben geblieben, das älteste zwölf Jahre, das jüngste erst ein Jahr alt. Der Müller aber zeitlebens ein wenig »bsunderlich«. Obwohl kernhaften Glaubens und ernster Lebensauffassung, war er geregelter Arbeit abhold, unstet und untüchtig, ein Herumstreicher in Feld und Flur, ein Träumer, ein Wanderer. Tag und Nacht in der weiß ausgestäubten Müllnerstube sitzen, in die Säcke mahlen und im Staub ersticken, immer wieder Getreide nachschütten, wenn der Mahlgang leer war, aufschrecken, wenn die Glocke bimmelte, die einen sogar nachts nicht schlafen ließ, wer konnte das? Er jedenfalls nicht. Es war aber notwendig, Tag und Nacht zu mahlen, sonst erzielte man die Hälfte des Mehlertrags oder noch weniger und kam auf keinen grünen Zweig. Sein ältestes Kind war eine Tochter, zwei Buben und ein Dirndl waren gestorben, der Knabe, der ihm hätte helfen können, war erst acht Jahre alt und für die schwere Arbeit noch zu schwach. Des Müllers Liebstes war es, auf dem Eglseer Weiher – der den Klosterherren Fische in die Fastenzeit lieferte – mit seinen Kindern Schifferl zu fahren. Überhaupt das Wasser …! Was für ein Glück, daß die Gattin Barbara tüchtig war, die er 1788 geehelicht hatte, eine geborene Lorenz, Bauerstochter vom nahen Weiler Recksberg in der Pfarrei Haibach (nach den Forschungen des Prämonstratensers Norbert Backmund soll es ein Racklberger Hof bei Haselbach gewesen sein). Sie stand neben ihm in der Wohnstube, blickte schräg her ins Blatt, ihre Hände vom Knödelwasser an der Schürze trocknend, und legte ihm die Rechte auf die Schulter. Um ihre Füße krabbelte der Jüngste, das Nesthäklein, der Johannes Evangelist. Während ihren Gatten ein leichtes Zittern überlief und Feuchtigkeit in seine Augen stieg, war sie ganz ruhig und blickte ihn aus trockenen, weit aufgerissenen Augen an, sprach ihm – ein wenig stockend – Mut zu, strich ihm sanft über die Schulter. Er aber schüttelte sich, ließ das Blatt auf den Bretterboden gleiten und stürzte hinaus, blieb erst auf dem hölzernen Steg stehen, setzte sich, nahm zwei Sprossen des Geländers zwischen die Beine und ließ die Füße auf das Wasser des Mühlbachs herunterbaumeln.

Abschied nehmen hieß es nun von der Mühle, auf der sein Vater schon Müller gewesen, auf der er selbst vor achtundvierzig Jahren geboren worden war. Die Geburtsmatrikel der Pfarrei Hunderdorf, der die paar Gehöfte und Sölden von Apoig zugehören, meldet: »Am 16. September 1753 wurde getauft Mathäus, legitimer Sohn des Mathias Lang, Müllers von Apoig, und seiner Ehefrau Anna Maria, geborener Iglberger von Grub. Taufpate Georg Bayr von Buchberg. Die Taufe spendete Pater Johann Nepomuk Altmann de Windberg.« (Der Weiler Grub liegt in der Nähe von Gaishausen, Buchberg unweit hinterhalb Windberg.)

Ja, er hieß eigentlich Matthäus. Weil man aber einen Matthäus in der Landessprache auf der ersten Silbe betont und Matheis zu ihm sagt, liegt auch der ebenfalls auf der ersten Silbe betonte Mathiers nahe. War der Schreiber schuld, war die des Schreibens und Lesens unkundige Bevölkerung schuld – er selbst war ja des Schreibens und Lesens nicht mächtig –, lag die Ursache darin, daß schon der Vater »Mühl-Hias« gerufen wurde? (Bemerkenswerte Überlegungen stellte der Straubinger Mühlhiasl-Forscher Rupert Sigl bezüglich des Vornamens an: Sowohl der Matthäustag, der 21. September, als der Mathiastag, der 24. Februar, galten als »Matheistag«; den ersten beging man als »Macheis im Herbst«, den zweiten als »Macheis in den Fasten«. Eine bekannte Wetterregel heißt: »Macheis brichts Eis«. Auch den »Matthäus« hat man übrigens mit nur einem t geschrieben. Die Wandlung des Rufnamens von Mathäus zu Mathias ist also – nach Sigl – für den Mühlhiasl nichts Außergewöhnliches.) Jedenfalls hatte er laut Eintrag in den Pfarrbüchern 1788 die Ehe unter dem Namen »Mathias« geschlossen, war die Apoiger Klostermühle 1799 von Abt Joachim an »Mathias Lang« verstiftet worden: Der Name hing ihm an, der Müllner hieß einfach Mühlhias.

Der Mann auf dem Steg starrte ins Wasser. Er war immer gern am Wasser gesessen, schon als Bub. Stundenlang hatte er am Bogenbach stehen können und zuschauen, wie das Wasser rinnt. Alles – dachte er – geht dahin wie das Wasser. Mit jedem Augenblick sind es tausend Tropfen, sind es tausend Wellen, es gibt nichts Gleiches. Jede Welle ist anders. Oft sind sie so friedsam, die Wellen, dann wieder haben sie es so eilig. Sie kommen aus den Quellen und laufen fort, immer und immer, nie mehr kehren sie zurück. So geht es auch uns, wir alle laufen fort, nie mehr kehren wir zurück. Heimat ist wo anders.

Hinter Büschen, die ihre im Winde lispelnden Blätter fast über dem Wasser zusammenschlossen, klapperte unter breitem Bretterverschlag das Mühlrad. Es lief unterschlächtig. Holzschaufel für Holzschaufel grub sich in den Mühlbach, Schaufel für Schaufel ohne Unterlaß. Es war dieses eintönige Klappern und Rauschen, das den Hiasl seit Bubentagen schon zum Sinnieren gebracht hatte. Und jetzt war es wieder so. Wenn er hinträumend hinabblickte ins brodelnde Wellenspiel, waren ihm früher schon Gestalten erschienen, Gesichter, Menschen.

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Der Mühlbach von Apoig

Er wollte sich dem Quälend-Entpersönlichenden, das derartige Augenblicke – oder waren es Anfälle? – brachten, entziehen und stürzte ins Mühlhaus. Gerade noch sah er, wie Frater Augustin zurück über die steinerne Brücke und bergan zum Kloster ging. Er hetzte in die Müllnerstube, tauchte unter den Bretterverschlag. Er schimpfte den nach seinem Beispiel saumseligen Joseph, der maulend in den Hühnerhof hinausschlurfte, füllte Getreide nach aus hölzernen Schaffeln und schaltete den Mahlgang ein, da überfiel ihn die Schau.

An dieser Stelle ist es angebracht, für einen Augenblick den Gang der Dinge zu unterbrechen und ein Wort über das Zustandekommen von Zukunftsvoraussagen, Visionen, Entrückungen einzufü- gen. Die echte Vision hebt gewöhnlich unerwartet mit einem sogenannten Raptus an, das heißt, mit einem plötzlichen ekstatischen Hingerissensein, mit einer Art Verzückung und Begeisterung mitten aus irgend einer Tätigkeit heraus oder aus einem Gespräch über ganz andere Dinge. Die Befähigung zu einer beobachtenden Aufnahme der Umgebung wird ebenso wie die Ansprechbarkeit durch die Umgebung ausgeschaltet, die Aufnahmebereitschaft des Sehers auf die ihn überfallenden Eindrücke gesammelt. Ähnliches berichten Zeitgenossen von einem viel später lebenden Sensitiven, von Alois Irlmaier: Immer wenn er etwas »schaute«, ging sein Blick gleichsam nach innen oder durch den Gesprächspartner hindurch. Sekunden –, ja minutenlang erblindete er für Gegenwart und Umgebung. Nicht anders kann es bei Mathias Lang gewesen sein. Er hatte nie recht ernst genommen, was er sah, jetzt aber bezog sich die Schau auf Windberg droben und auf das Schicksal des heiligen Berges. Er sah – konnte es wirklich sein? – den Abzug des Konvents! Patres und Fratres in langer Reihe kamen schleppenden Schritts gegangen. Hinter rollenden Kutschen stiegen Staubwolken auf. Er sah die hohen Gemäuer leer stehen, sah Wagen um Wagen davonrollen mit Cimelien, Altargerät, priesterlichen Gewändern, Caseln und Ornat, mit Mobiliar, Büchern, Folianten, Handschriften, Gemälden, sah Mauern fallen, erblickte starr vor Schreck Riesenschutthäufen, sah, wie alle Kirchen abgebrochen wurden bis auf zwei, sah, wie sich Ziegelhalden türmten, erschauerte vor dem hastigen Werk der Zerstörung.

Dem alten Abt fühlte er sich verbunden, der lauter und fromm, der ein untadeliger Mann, der aber genauso unfähig und geschäftsuntüchtig gewesen war wie er. Als wegen der Unregelmäßigkeiten unter Abt Joachim eine Visitation stattfand, die dessen Abdankung zur Folge hatte, wurde jeder einzelne Konventual, auch jeder Klosterangestellte verhört, darunter der Klostermüller Mathias Lang. Er hatte damals nichts Schlechtes über seinen Herrn ausgesagt. Bitternis stieg jetzt auf in seiner Seele über die Tüchtigkeit und Härte des Abtes Ignaz. Das wollte er ihm ins Gesicht hineinschleudern. Er wollte nicht mehr hinter dem Berg halten mit seiner Abneigung, wollte nicht mehr zurückhalten mit allem Schrecken, den er geschaut hatte.

Über die Lebensweise, über vielerlei persönliche Umstände, über Charakter, Beruf und – vor allem – über die schon früh einsetzende hellseherische Begabung des Mathias Lang vulgo Mühlhiasl wissen wir zum Glück aus einer mündlichen Überlieferung. Sowohl der Traunsteiner Druckereibesitzer und Zeitungsredakteur Conrad Adlmaier, der zusammen mit dem Freilassinger Brunnenbauer Irlmaier das Prämonstratenserkloster Windberg besucht hatte, als auch Dr. Norbert Backmund, Pater des Klosters Windberg, der die Lebensschicksale des Klostermüllers Mathias Lang aus den Urkunden erforschte – ihm standen alle Stiftsakten und Pfarrarchive zur Verfügung –, stützen sich auf eine lückenlose mündliche Überlieferung durch Pfarrer Johann Georg Mühlbauer, der am 18. Mai 1921 im Alter von 93 Jahren starb. Dessen Vater, der nahezu 97 Jahre alt geworden war, hatte den Mühlhiasl noch persönlich gekannt.

Die erste Veröffentlichung der Weissagungen des Mühlhiasl stammt von Johann Evangelist Landstorfer, lange Zeit Pfarrer und Dechant in Pinkofen bei Eggmühl, gestorben am 26. März 1949 in Oberalteich. Seine Veröffentlichung erschien am 28. Februar 1923 im Straubinger Tagblatt. Sie beansprucht, eine weit zurückliegende Überlieferung aufzugreifen. Landstorfer schreibt: »Da mir aus dem Munde des Pfarrers Mühlbauer …« (Johann Georg Mühlbauer, am 29. Dezember 1827 in Ramersdorf bei Viechtach geboren, war von 1882 bis 1887 Pfarrer von Achslach, versah von 1887 bis 1904 die Pfarrstelle von Oberalteich und starb am 18. Mai 1921 mit fast vierundneunzig Jahren als Kommorant in Pinkofen, wo Landstorfer Pfarrer war. Ein Onkel Mühlbauers, Pater Isfried Mühlbauer, geboren 1774, war zum Zeitpunkt der Säkularisation Prämonstratenser in Windberg. Man sollte meinen, daß hier eine ziemlich zuverlässige Überlieferung vorliegt, die an die Quellen zurückreicht.) Landstorfer schreibt also: »Da mir aus dem Munde des Pfarrers Mühlbauer, dessen über sechsundneunzigjähriger Vater noch ein spezieller Freund des Mühlhiasl gewesen war, manches eigenartige Wort eingeprägt worden war, nahm ich mir die Mühe, noch das Weitere zusammenzutragen und festzuhalten, was in der Erinnerung der ganz alten Leute fortlebte.« Conrad Adlmaier resümiert, »… daß die mündliche Tradition durch diesen Mann (Landstorfer) am besten gewährleistet ist und eine Fälschung ausgeschlossen erscheint. An seiner Glaubwürdigkeit und an der seines Informanten Pfarrer Mühlbauer ist nicht zu rütteln. Da Mühlbauers Vater das hohe Alter von fast 97 Jahren erreichte, ist die mündliche Tradition lückenlos.« P. Isfried Mühlbauer von Windberg wird aus dem Schatz seiner Erinnerungen ein übriges getan haben, um der Gestalt des Mühlhiasl deutliche Umrisse zu geben. Auch genug alte Leute konnten vor dem Ersten Weltkrieg, als Landstorfer forschte, noch aus den Erzählungen ihrer Eltern die Lebensumstände des prophezeienden Müllers von Apoig (gesprochen Apoing) lebendig schildern. Wer einmal erfahren hat, wie greifbar nah den in der ereignisarmen Einschicht lebenden Dörflern weit zurückliegende Ereignisse verfügbar sind, wird zudem für überzeugend halten, was der Baumsteftenlenz, von dessen Untersuchungen später die Rede sein soll, über seine Feldforschung in der Gegend um Sankt Englmar berichtet hat. Auch der sehr kritische, manchmal geradezu überkritische, keinerlei »Ungefähr« duldende Forscher Backmund bestätigt in seinen Schriften zur Mühlhiaslfrage die Stichhaltigkeit der Mühlbauerschen Überlieferung.

Nachbemerkungen des Verfassers
zum Kapitel »Die Mühle«

Nachdem ich mich in die einschlägige Literatur, in Bücher, Aufsätze und Archivalien vertieft, verglichen und erwogen, exzerpiert und kombiniert hatte, suchte ich den Augenschein, das Lokalkolorit, fahndete nach sichtbaren Spuren des Menschen Mathias Lang, der ein Müller und ein Seher gewesen war.

Zuerst, als ich mit meinem PKW durch Oberalteich und Bogen bis Hunderdorf gekommen war, fiel mir an der Straßengabelung das Wirtshaus auf, wo Irlmaier nach der Erinnerung Conrad Adlmaiers »einen Russen bei jedem Fenster hatte hereinschauen sehen«. (Irlmaier, der die Voraussagen des Mühlhiasl noch nicht kannte, las die Texte, als Adlmaier sie ihm vorlegte, aufmerksam durch und sagte: »Ja, so sehe ich die Dinge im großen und ganzen auch.«) Aber ach, weder unheimlich noch wenigstens romantisch, weder altväterisch noch historisch konnte ich dieses Gasthaus finden, wo ich zu Mittag aß, wohlfeil und reichlich übrigens. Man hatte das Gebäude »neu-renoviert« – nach dem Geschmack der sechziger und siebziger Jahre. Mit keinem geringen finanziellen Aufwand war das blitzsaubere Ergebnis erreicht: Nackte Wände, glatte einscheibige Fenster, pflegeleichter Plattenbelag, eloxiertes Metall, mit einem Wort: »Putzfrauenästhetik«. Wie zum Hohn hatte man ein paar zaghafte Schnörkel über den Rolladenkästen an die Mauer gepinselt; sogar einige wackere Blümchen hatte der Maler dreingegeben. Echt urig! Aber leider vergeblich, denn davor dehnte sich eine Endlosigkeit aus Asphalt. Als blanke Ironie flog mich der Refrain eines bekannten Liedes an: »Der Woid is schö!«

Nur tröstlich: Im Hintergrund stiegen grüne Hügel an. Zuoberst, hinter Baumwipfeln, sah ich Windberg thronen, das Prämonstratenser-Kloster, mit zeigefingergleich emporgestrecktem Kirchenturm. Ließ man die schnelle Hauptstraße, die großzügigen Kreuzungen und Parkplatzflächen hinter sich, gewann die Landschaft wieder ihr altes, vertrautes Gesicht, gab es Felder, Wiesen und Wälder, Buckel und Mulden, Kirchen und Konturen, liefen immer noch schmale Pfade, plätscherte immer noch der Bogenbach donauzu, der aus dem tiefen Inneren des Waldes kam, stand immer noch, wenn man vor der kleinen Brücke links abzweigte, zwischen den paar alten Sölden von Apoig die Mühle im Grün. Es war ein breitgelagerter, niedriger Bau mit hochgezogenem Dach, in der Mitte ein zweiachsiger aufgemauerter Giebelstock, eine Art Durchhaus, das auf der Rückseite wiederkehrte. Leider war das beherrschende Dach nicht mehr mit Schindeln oder mit geradegeschnittenen sogenannten Kirchenbibern, sondern mit schweren Falzziegeln gedeckt, vermutlich seit dem Ersten Weltkrieg, als diese Art von Dachdeckung aufkam. Unvermeidlich war auch die neuere BauSünde einscheibiger Kippfenster. Von diesen Einbußen abgesehen, erhob sich das Haus aus der Landschaft wie vor zweihundert Jahren.

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Die Klostermühle von Apoig

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Das Mühlrad von Apoig

Während ich so betrachte und überlege, tritt ein Mann aus der Tür; ich müßte ihn augenblicklich für den Mühlhiasl halten, wenn ich nicht wüßte, daß wir das Jahr 1991 schreiben. Als Widerspruch zum schwarzen Stiftenkopf fällt ihm ein eisgrauer Vollbart, wie er eisgrauer und voller nicht sein könnte, über den Arbeitskittel von weißlichgräulicher Bleichheit. Er will wissen, was ich da mache. Als er meines Photoapparats ansichtig wird, bittet er um einen Abzug und brummt, es wäre sowieso das erste Mal, wenn er von einem Photographen seines Hauses je wieder etwas hören würde. Alle Daumenlang komme einer und schaue sich in des Mühlhiasls Heimat um.