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Prolog

Insel Nantucket

Massachusetts

Herbst 1972

Der See erstreckte sich im Osten der Insel hinter den Sümpfen mit den Moosbeeren. Das Wetter war strahlend schön.

Nach kühlen Tagen begann es erneut warm zu werden. Die Wasseroberfläche spiegelte die leuchtenden Farben des herbstlich bunten Waldes wider. »Da, schau mal!«

Der kleine Junge ging auf das Ufer zu und blickte in die Richtung, in die seine Freundin zeigte. Inmitten von Blättern schwamm ein großer Vogel. Sein makellos weißes Gefieder, sein pechschwarzer Schnabel und sein langer schlanker Hals verliehen ihm eine majestätische Anmut.

Es war ein Schwan.

Nur wenige Meter von den Kindern entfernt steckte er Kopf und Hals ins Wasser. Dann tauchte er wieder auf und stieß einen lang gezogenen Ruf aus, der weich und melodiös klang, ganz im Gegensatz zum Krächzen der Schwäne mit den gelben Schnäbeln, die in vielen öffentlichen Anlagen zur Zierde gehalten werden.

»Ich werde ihn streicheln!«

Das kleine Mädchen trat ganz nah ans Ufer heran und streckte die Hand aus. Vor Schreck breitete der Schwan seine Flügel aus, mit einer so ruckartigen Bewegung, dass die Kleine das Gleichgewicht verlor. Sie plumpste ins Wasser, und über ihr schwang sich der Vogel mit schwerfälligem Flügelschlag in die Lüfte.

Das kalte Wasser verschlug ihr den Atem, als ob ein Schraubstock ihren Oberkörper zusammenpresste. Für ihr Alter konnte sie sehr gut schwimmen. Im Meer legte sie zuweilen mehrere hundert Meter im Brustschwimmen zurück. Aber das Wasser des Sees war eiskalt und das Ufer schwer zu erreichen. Sie schlug wild um sich, geriet in Panik, als sie erkannte, dass es ihr nicht gelingen würde, ans Ufer zu klettern. Sie fühlte sich so winzig, so ganz und gar verloren in dieser fließenden Unendlichkeit.

Der Junge zögerte nicht, als er sah, dass seine Freundin in Gefahr war: Er zog die Schuhe aus und sprang in voller Kleidung ins Wasser.

»Halt dich an mir fest, hab keine Angst.«

Sie klammerte sich an ihn, und eher schlecht als recht gelangten sie in die Nähe des Ufers. Er hielt den Kopf unter Wasser und schob sie mit aller Kraft nach oben. Dank seiner Hilfe konnte sie sich mit viel Mühe am Ufer hochziehen.

Doch als er selbst aus dem Wasser klettern wollte, fühlte er seine Kräfte schwinden, als zögen ihn zwei kräftige Arme gewaltsam in die Tiefe des Sees. Er rang nach Luft, sein Herz schlug zum Zerspringen, ein unerträglicher Druck lastete auf seinem Gehirn.

Er kämpfte, bis er spürte, wie sich seine Lunge mit Wasser füllte. Dann ließen seine Kräfte nach, er leistete keinen Widerstand mehr und sank nach unten. Seine Trommelfelle platzten, um ihn herum wurde alles schwarz. Eingehüllt in die Dunkelheit erkannte er, wenn auch verschwommen, dass dies vermutlich das Ende war.

Denn da war nichts mehr. Nichts als diese kalte und schreckliche Dunkelheit.

Dunkelheit.

Dunkelheit.

Dann plötzlich …

Ein Licht.

Kapitel 1

Manche werden als große Menschen geboren …

Und andere erlangen Größe

Shakespeare

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Manhattan

Heute

9. Dezember

Wie jeden Morgen wurde Nathan Del Amico durch doppeltes Klingeln geweckt. Er stellte immer zwei Wecker: einen, der ans Stromnetz angeschlossen war, und einen anderen, der mit Batterien betrieben wurde. Mallory fand das lächerlich. Nachdem er eine halbe Schale Cornflakes verschlungen, in einen Trainingsanzug geschlüpft und ein paar abgenutzte Reeboks angezogen hatte, verließ er die Wohnung für sein tägliches Training.

Der Spiegel im Aufzug zeigte ihm einen jungen Mann mit angenehmem Äußeren, aber erschöpften Gesichtszügen.

Du könntest dringend Urlaub gebrauchen, mein kleiner Nathan, dachte er und betrachtete aus der Nähe die bläulichen Schatten, die sich über Nacht unter seine Augen gelegt hatten.

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen hoch, schob seine Hände in gefütterte Handschuhe und stülpte sich eine Wollmütze mit dem Logo der Yankees über.

Nathan wohnte im 23. Stock des San Remo Buildings, jenem Komplex mit luxuriösen Wohnhäusern an der Upper West Side. Er hatte einen Blick direkt auf den Central Park West. Kaum hatte Nathan die Nase zur Tür rausgestreckt, entströmte ein kalter und weißer Dunst seinem Mund. Es war noch nicht richtig hell, und die Wohnhäuser am Straßenrand tauchten erst langsam aus dem Nebel auf. Am Vorabend hatte der Wetterbericht Schnee angesagt, doch bislang war keine einzige Flocke vom Himmel gefallen.

Mit kurzen Schritten lief er die Straße hinauf. Die Weihnachtsbeleuchtungen und die Kränze aus Stechpalmen an den Eingangstüren tauchten das Viertel in festlichen Glanz. Nathan lief am Naturkundemuseum vorbei, und am Ende eines Hundertmetersprints betrat er den Central Park.

Zu dieser Tageszeit und bei dieser Kälte war kaum jemand unterwegs. Ein eisiger Wind kam vom Hudson her und fegte über die Joggingstrecke, die um den Reservoir, den künstlichen See inmitten des Parks, herumführte.

Auch wenn es nicht unbedingt als empfehlenswert galt, diesen Weg zu nehmen, so lange es noch dunkel war, tat Nathan es dennoch ohne Furcht. Seit Jahren joggte er hier, und nie hatte er etwas Unangenehmes erlebt. Nathan hielt sich an einen gleichmäßigen Laufrhythmus. Die Luft war klirrend kalt, aber um nichts in der Welt hätte er auf seine tägliche Stunde Sport verzichtet.

Nach einer Dreiviertelstunde gleichmäßigen Laufens hielt er auf der Höhe der Traverse Road an, löschte seinen Durst und setzte sich einen Moment auf den Rasen.

Er dachte an die milden Winter Kaliforniens, an die Küste von San Diego, wo sich ein kilometerlanger Strand ideal fürs Laufen eignete. Für einen Augenblick sah er in Gedanken seine Tochter Bonnie, wie sie sich vor Lachen schüttelte.

Sie fehlte ihm so sehr, dass es schmerzte.

Das Gesicht seiner Frau Mallory und ihre großen, meerblauen Augen kamen ihm auch in den Sinn, aber er zwang sich, dieses Bild zu verdrängen.

Hör auf, mit dem Messer in der Wunde herumzustochern.

Dennoch blieb er auf dem Rasen sitzen, beherrscht von dieser grenzenlosen Leere, die er empfunden hatte, als sie gegangen war. Eine Leere, die ihn seit mehreren Monaten innerlich verzehrte.

Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass Schmerz solche Ausmaße annehmen konnte.

Er fühlte sich einsam und elend. Einen kurzen Moment lang füllten sich seine Augen mit Tränen, bis der eisige Wind sie vertrieb.

Er trank noch einen Schluck Wasser. Seit er am Morgen erwacht war, fühlte er einen seltsamen Schmerz in der Brust, etwas wie Seitenstechen, das seine Atmung behinderte.

Die ersten Flocken fielen. Nun erhob er sich doch, lief mit langen Schritten zum San Remo Building zurück, weil er noch duschen wollte, bevor er zur Arbeit aufbrach.

Nathan schlug die Tür des Taxis zu. Im dunklen Anzug und frisch rasiert betrat er den Glasturm an der Ecke Park Avenue und 52. Straße, in dem sich die Büros der Kanzlei Marble & March befanden. Von allen Anwaltskanzleien der Stadt war Marble die erfolgreichste. Sie beschäftigte über neunhundert Angestellte in allen Teilen der Vereinigten Staaten, und fast die Hälfte arbeitete nur in New York.

Nathan hatte seine Karriere bei Marble & March in San Diego begonnen, wo er so schnell zum Star der Kanzlei wurde, dass der Hauptgesellschafter Ashley Jordan ihn als Teilhaber vorschlug. Die Kanzlei in New York befand sich zu jener Zeit im Ausbau, sodass Nathan mit einunddreißig Jahren seine Koffer packte, um in die Stadt zurückzukehren, in der er aufgewachsen war und in der seine neue Stelle als stellvertretender Leiter der Abteilung Fusionen/Akquisitionen auf ihn wartete.

Eine ungewöhnliche Karriere für sein Alter.

Nathan hatte sein ehrgeiziges Ziel erreicht: Er war ein Rainmaker, einer der angesehensten und jüngsten Anwälte in seinem Bereich. Er hatte es ganz nach oben geschafft. Nicht durch Börsengewinne oder Erbschaften. Nein, er hatte das Geld mit seiner Arbeit verdient. Indem er einzelne Menschen und Gesellschaften verteidigte und dafür sorgte, dass Gesetze befolgt wurden.

Brillant, reich und hochmütig.

Das war Nathan Del Amico.

Von außen betrachtet.

Nathan beschäftigte sich den ganzen Vormittag mit den Mitarbeitern und kontrollierte ihre Arbeiten, um die laufenden Fälle auf den Punkt zu bringen. Gegen Mittag brachte Abby ihm einen Kaffee, Sesambrezeln und cream cheese.

Abby war seit mehreren Jahren seine Assistentin. Sie stammte aus Kalifornien und war bereit gewesen, ihm nach New York zu folgen, weil sie gut miteinander auskamen. Als Single mittleren Alters ging sie in ihrer Arbeit auf und besaß Nathans ganzes Vertrauen. Er zögerte niemals, ihr Verantwortung zu übertragen. Abby war außerordentlich fleißig und hatte eine Arbeitsmoral, mit der sie das Tempo ihres Chefs mühelos halten oder sogar beschleunigen konnte, selbst wenn sie sich dafür insgeheim mit Vitaminsäften und reichlich Koffein traktieren musste.

Da Nathan in der folgenden Stunde keinen Termin hatte, lockerte er seine Krawatte. Wirklich, der stechende Schmerz in der Brust war immer noch da. Er rieb sich die Schläfen und spritzte sich ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht.

Hör auf, an Mallory zu denken.

»Nathan?«

Abby trat ein ohne anzuklopfen, wie üblich, wenn sie allein waren. Sie besprach mit ihm seine Termine für den Nachmittag und fügte dann hinzu:

»Heute Morgen hat ein Freund von Ashley Jordan angerufen, er wollte dringend einen Termin. Ein gewisser Garrett Goodrich …«

»Goodrich? Nie gehört.«

»Ich glaube, er ist ein Sandkastenfreund von ihm, ein berühmter Arzt.«

»Und was kann ich für diesen Herrn tun?«, fragte Nathan und runzelte die Stirn.

»Ich weiß nicht, er hat sich nicht geäußert. Er sagte lediglich, Jordan meinte, Sie seien der Beste.«

Und das stimmt: Ich habe in meiner ganzen Karriere keinen einzigen Prozess verloren. Keinen einzigen.

»Versuchen Sie bitte, Ashley zu erreichen.«

»Er ist vor einer Stunde nach Baltimore gefahren. Sie wissen doch, der Fall Kyle …«

»Ach ja, genau … Wann wird dieser Goodrich kommen?«

»Ich habe ihm siebzehn Uhr vorgeschlagen.«

Sie stand bereits auf der Türschwelle, als sie sich umwandte.

»Bestimmt handelt es sich um einen Prozess gegen einen Arzt«, vermutete sie.

»Zweifellos«, pflichtete er ihr bei und versenkte sich wieder in seine Akten. »Wenn das zutrifft, verweisen wir ihn in die Abteilung im vierten Stock.«

Goodrich traf kurz vor siebzehn Uhr ein. Abby brachte ihn in Nathans Büro, ohne ihn warten zu lassen.

Er war ein Mann in den besten Jahren, hochgewachsen und kräftig gebaut. Sein eleganter langer Mantel und sein anthrazitfarbener Anzug unterstrichen seine Statur. Sicheren Schrittes betrat er das Büro. Er blieb in der Mitte des Raums stehen. Offensichtlich hatte er die Haltung eines Kämpfers, und das verlieh ihm eine starke Präsenz.

Mit einer lockeren Handbewegung schüttelte er seinen Mantel aus und reichte ihn dann Abby. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein gekonnt zerzaustes, grau meliertes Haar – das trotz seiner schätzungsweise sechzig Jahre sehr voll war –, strich sich über seinen kurzen Bart und musterte den Anwalt durchdringend.

Nathan fühlte sich unter Goodrichs Blick unbehaglich. Sein Atem beschleunigte sich auf seltsame Weise, und in Sekundenschnelle gerieten seine Gedanken durcheinander.

Kapitel 2

Dann sah ich einen Engel,

der in der Sonne stand.

Offenbarung, 19,17

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»Geht es Ihnen gut, Sir?«

Du lieber Himmel, was ist mit mir los?

»Ja, ja … nur eine kleine Schwäche«, erwiderte Nathan und fing sich wieder. »Vermutlich ein bisschen überarbeitet .«

Goodrich schien das nicht zu überzeugen.

»Ich bin Arzt. Wenn Sie wollen, untersuche ich Sie, ich tu es gern«, schlug er mit sonorer Stimme vor.

Nathan rang sich ein Lächeln ab.

»Danke, es geht schon.«

»Ehrlich?«

»Seien Sie unbesorgt.«

Ohne darauf zu warten, dass Nathan ihn aufforderte, sich zu setzen, machte Goodrich es sich in einem Ledersessel bequem und betrachtete aufmerksam die Einrichtung des Büros. An den Wänden reihten sich Regale mit alten Büchern, in der Mitte des Raumes befand sich ein imposanter Schreibtisch zwischen einem Konferenztisch aus massivem Nussbaum und einem eleganten kleinen Sofa. Alles wirkte behaglich.

»Also, was erwarten Sie von mir, Dr. Goodrich?«, fragte Nathan nach kurzem Schweigen.

Der Arzt schlug die Beine übereinander und lehnte sich in seinem Sessel zurück, bevor er antwortete:

»Ich erwarte nichts von Ihnen, Nathan … Sie erlauben doch, dass ich Nathan zu Ihnen sage, nicht wahr?«

Sein Ton klang nach einer Feststellung, nicht nach einer Frage.

Der Anwalt ließ sich nicht aus der Fassung bringen:

»Sie haben mich doch aus beruflichen Gründen aufgesucht, nicht wahr? Unsere Kanzlei verteidigt auch Ärzte, die von ihren Patienten verklagt werden …«

»Zum Glück ist das bei mir nicht der Fall«, unterbrach ihn Goodrich. »Wenn ich ein Glas zu viel getrunken habe, lasse ich das Operieren bleiben. Es ist doch peinlich, wenn man das rechte Bein amputiert, obwohl das linke krank ist, oder?«

Nathan zwang sich zu lächeln.

»Was haben Sie dann für ein Problem, Dr. Goodrich?«

»Nun, ich habe ein paar Kilo zu viel, aber …«

». dafür benötigen Sie nicht unbedingt die Dienste eines Anwalts, was Sie mir bestimmt bestätigen werden.«

»Genau.«

Dieser Typ hält mich für einen Idioten.

Eine lähmende Stille breitete sich im Raum aus, obwohl keine große Spannung herrschte. Nathan war nicht leicht zu beeindrucken. Seine berufliche Erfahrung hatte ihn zu einem gefürchteten Gesprächspartner gemacht, und es war schwierig, ihn bei einem Gespräch zu verunsichern.

Er musterte sein Gegenüber aufmerksam. Wo nur hatte er diese hohe, breite Stirn schon mal gesehen, diesen kräftigen Kiefer, diese buschigen, eng zusammenstehenden Augenbrauen? Goodrichs Blick verriet keine Spur von Feindseligkeit, dennoch fühlte sich der Anwalt bedroht.

»Wollen Sie etwas trinken?«, bot er in einem, wie er hoffte, ruhigen Ton an.

»Gern, ein Glas San Pellegrino, wenn es möglich ist.«

»Das wird zu beschaffen sein«, versicherte Nathan, griff nach dem Hörer, um Abby darum zu bitten.

Während er auf sein Mineralwasser wartete, erhob sich Goodrich, trat vor das Regal und studierte nun interessiert die Bücher.

Ja doch, fühl dich ganz wie zu Hause, dachte Nathan gereizt.

Als der Arzt wieder Platz genommen hatte, betrachtete er aufmerksam den Briefbeschwerer – einen Schwan aus Silber –, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

»Damit könnte man durchaus einen Menschen töten«, bemerkte er und wog ihn in der Hand.

»Zweifellos«, stimmte Nathan mit gequältem Lächeln zu.

»In den alten keltischen Texten findet man viele Schwäne«, murmelte Goodrich wie zu sich selbst.

»Sie interessieren sich für die keltische Kultur?«

»Die Familie meiner Mutter stammt aus Irland.«

»Die Familie meiner Frau ebenfalls.«

»Sie meinen wohl Ihre Ex-Frau.«

Nathans Blick durchbohrte seinen Gesprächspartner.

»Ashley hat mir erzählt, dass Sie geschieden sind«, erklärte Goodrich seelenruhig und drehte sich auf seinem bequem gepolsterten Sessel.

Das fehlt noch, dass du diesem Kerl dein Leben beichtest.

»In den keltischen Texten«, fuhr Goodrich fort, »nehmen die Wesen aus der anderen Welt häufig die Form eines Schwans an, wenn sie auf die Erde kommen.«

»Sehr poetisch, aber können Sie mir erklären, was .«

In diesem Augenblick kam Abby mit einem Tablett herein, auf dem eine Flasche und zwei große Gläser mit Mineralwasser standen.

Der Arzt legte den Briefbeschwerer zurück und trank sein Glas aus – so langsam als genieße er jeden Tropfen.

»Haben Sie sich verletzt?«, fragte er und deutete auf eine Schramme an der linken Hand des Anwalts.

Dieser zuckte die Achseln.

»Das ist gar nichts: Ich habe beim Joggen ein Drahtgitter gestreift.«

Goodrich stellte sein Glas zurück und schlug einen belehrenden Ton an:

»In dem Augenblick, in dem Sie das sagen, erneuern sich Hunderte Ihrer Hautzellen. Wenn eine Zelle abstirbt, teilt sich eine andere, um sie zu ersetzen: Das ist das Phänomen der Gewebehomöostase.«

»Freut mich zu hören.«

»Gleichzeitig werden jeden Tag viele Neuronen Ihres Gehirns zerstört, und das seit Ihrem zwanzigsten Lebensjahr …«

»Ich denke, das ist das Schicksal aller menschlichen Wesen.«

»Genau, das ständige Pendeln zwischen Schöpfung und Zerstörung.«

Der Typ ist wahnsinnig.

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Weil der Tod überall ist. In jedem menschlichen Wesen, in allen Phasen seines Lebens herrscht eine Spannung zwischen zwei widersprüchlichen Kräften: den Kräften des Lebens und denen des Todes.« Nathan erhob sich und deutete auf die Tür des Büros. »Sie erlauben?«

»Bitte sehr.«

Er verließ den Raum und ging zu einem freien Arbeitsplatz im Zimmer der Sekretärinnen. Schnell klickte er sich ins Internet ein und durchforstete die Seiten der New Yorker Krankenhäuser.

Der Mann, der in seinem Büro saß, war kein Betrüger. Es handelte sich weder um einen Prediger noch um einen Geisteskranken, der einer Nervenheilanstalt entflohen war. Er hieß wirklich Garrett Goodrich, war Doktor der onkologischen Chirurgie, ehemaliger Assistenzarzt am Medical General Hospital in Boston, jetzt Chefarzt am Staten Island Hospital und Leiter der Abteilung Palliativmedizin dieses Krankenhauses.

Dieser Mann war ein hohes Tier, eine echte Koryphäe in der Welt der Medizin. Kein Zweifel: Es gab sogar ein Foto von ihm, und es zeigte eindeutig das gepflegte Gesicht des Sechzigjährigen, der im Nebenraum auf ihn wartete.

Nathan prüfte aufmerksam die Karriere seines Gastes: Seines Wissens war er nie in einem der Krankenhäuser gewesen, die den beruflichen Aufstieg von Doktor Garrett Goodrich markierten. Warum also kam er ihm so bekannt vor?

Diese Frage bewegte ihn, als er in sein Büro zurückkehrte.

»Also, Garrett, Sie haben mir vorhin vom Tod erzählt? Sie erlauben doch, dass ich Garrett zu Ihnen sage, nicht wahr?«

»Ich habe Ihnen vom Leben erzählt, Del Amico, vom Leben und von der Zeit, die vergeht.«

Nathan nutzte diese Worte, um einen ostentativen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen, womit er andeuten wollte, dass »die Zeit tatsächlich vergeht« und seine Zeit kostbar war.

»Sie arbeiten zu viel«, bemerkte Goodrich lakonisch.

»Ich bin sehr gerührt, dass sich jemand um meine Gesundheit sorgt, ehrlich.«

Erneut breitete sich diese Stille zwischen ihnen beiden aus, eine Stille, die gleichermaßen vertraulich und bedrückend wirkte. Dann stieg die Spannung: »Zum letzten Mal: Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«

»Nathan, ich glaube, ich könnte Ihnen dienen.«

»Im Augenblick sehe ich nicht, womit.«

»Das kommt noch, Nathan, das kommt noch. Einige Prüfungen können schmerzlich sein, Sie werden das bald erkennen.«

»Worauf genau spielen Sie an?«

»Auf die Notwendigkeit, gut vorbereitet zu sein.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Wer weiß denn, was morgen sein wird? Es kommt darauf an, im Leben die richtigen Prioritäten zu setzen.«

»Das ist ein sehr tiefsinniger Gedanke«, spottete der Anwalt. »Soll das eine Art Drohung sein?«

»Keine Drohung, Nathan, sondern eine Botschaft.«

Eine Botschaft?

Nach wie vor war in Goodrichs Blick keine Feindseligkeit zu erkennen, was aber nicht unbedingt zu Nathans Beruhigung beitrug.

Wirf ihn raus, Nathan. Dieser Typ redet Unsinn. Spiel nicht sein Spiel.

»Vielleicht sollte ich es Ihnen nicht sagen, aber ich tu es trotzdem: Wenn Sie nicht auf Empfehlung von Ashley Jordan hier wären, würde ich den Sicherheitsdienst rufen und Sie vor die Tür setzen lassen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, lächelte Goodrich.

»Zu Ihrer Information: Ich kenne Ashley Jordan nicht.«

»Ich dachte, Sie seien mit ihm befreundet!«

»Das war nur ein Trick, um bei Ihnen vorgelassen zu werden.«

»Hören Sie, wenn Sie Jordan nicht kennen, wer hat Ihnen dann gesagt, dass ich geschieden bin?«

»Das steht in Ihrem Gesicht geschrieben.«

Damit war das Fass übergelaufen … Der Anwalt erhob sich mit einem Ruck, riss unbeherrscht und heftig die Tür auf.

»Ich habe zu arbeiten.«

»Sie glauben nicht, was man Ihnen sagt, und deshalb verlasse ich Sie … fürs Erste.«

Goodrich erhob sich von seinem Sessel. Seine kräftige Gestalt wirkte im Gegenlicht wie ein unzerstörbarer mächtiger Koloss. Er wandte sich zur Tür und ging hinaus, ohne sich umzudrehen.

»Aber was wollen Sie denn eigentlich von mir?«, fragte Nathan hilflos.

»Ich glaube, Sie wissen es, Nathan, ich glaube, Sie wissen es genau«, rief Goodrich aus dem Flur.

»Ich weiß gar nichts!«, erwiderte der Anwalt mit Nachdruck.

Er schlug die Tür seines Büros zu, riss sie wieder auf, nur um in den Flur zu schreien:

»Ich weiß nicht mal, wer Sie sind.«

Aber Garrett Goodrich war bereits verschwunden.

Kapitel 3

Eine große Karriere ist etwas Wunderbares,

aber wenn man nachts friert,

kann man sich nicht an sie schmiegen.

Marilyn Monroe

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Nachdem Nathan die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, schloss er die Augen und presste ein Glas frisches Wasser sekundenlang gegen die Stirn. Irgendwie spürte er, dass dieser Vorfall nicht ohne Folgen bleiben würde, dass er nicht zum letzten Mal von Garrett Goodrich gehört hatte.

Es fiel ihm schwer, an die Arbeit zurückzukehren. Die Hitzewallungen, die ihn überfluteten, und der stärker werdende Schmerz in seiner Brust hinderten ihn daran, sich zu konzentrieren.

Mit dem Glas Wasser in der Hand erhob er sich von seinem Stuhl und ging ein paar Schritte in Richtung Fenster, um die bläulichen Reflexe des Helmsey Building zu betrachten. Neben der nüchternen Fassade des Met Life war dieser Wolkenkratzer mit seinem eleganten Turm, auf dem ein pyramidenförmiges Dach thronte, ein wahres Schmuckstück. Er hatte menschliche Dimensionen.

Ein paar Minuten lang betrachtete Nathan den Verkehr, der nach Süden strömte, vorbei an den Rampen der beiden riesigen Torbögen, die sich über die Fahrbahn spannten.

Unaufhörlich fiel Schnee, tauchte die Stadt in Weiß- und Grautöne.

Nathan empfand jedes Mal Unbehagen, wenn er an dieses Fenster trat. Während der Attentate vom 11. September hatte er an seinem Computer gearbeitet, als die erste Explosion die Stadt erschütterte. Niemals würde er diesen grauenhaften Tag voller Schrecken vergessen, diese Säulen aus schwarzem Rauch, die den klaren Himmel verdunkelten, und dann diese riesige Wolke aus Qualm und Staub, nachdem die Türme eingestürzt waren. Zum ersten Mal waren ihm Manhattan und seine Wolkenkratzer klein, verwundbar und vergänglich erschienen.

Wie die meisten seiner Kollegen hatte er versucht, den Albtraum, den sie damals erlebt hatten, nicht endlos zu träumen. Das Leben war weitergegangen. Business as usual. Dennoch, sagen die Leute, die hier leben, ist New York nie wieder New York geworden.

Ich schaffe es wirklich nicht.

Er sortierte dennoch einige Dossiers, die er in seinem Aktenkoffer verstaute. Dann beschloss er zu Abbys großer Verblüffung, zu Hause weiterzuarbeiten.

Es war eine Ewigkeit her, dass er so früh sein Büro verlassen hatte. Gewöhnlich arbeitete er rund vierzehn Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche, und seit seiner Scheidung ging er häufig sogar sonntags ins Büro. Von allen Teilhabern arbeitete er am längsten.

Mit seiner letzten Glanzleistung hatte er sich zudem großes Ansehen erworben: Obwohl alle Mitarbeiter der Kanzlei diese Aufgabe als sehr heikel einschätzten, war es ihm gelungen, die durch die Medien hochgespielte Fusion der Unternehmen Downey und NewWax abzuwickeln, was ihm sogar einen lobenden Artikel in der angesehenen Fachzeitschrift National Lawyer eingebracht hatte. Nathan war den meisten Kollegen ein Dorn im Auge. Er war zu vorbildlich, zu perfekt. Er besaß nicht nur ein attraktives Äußeres, sondern auch untadelige Manieren, vergaß nie, die Sekretärinnen zu grüßen, dankte dem Portier, der ihm ein Taxi rief, und widmete bedürftigen Mandanten ein paar Gratisstunden im Monat.

Die lebhafte Atmosphäre auf der Straße tat ihm gut. Es fielen noch einzelne Flocken, doch der Schneefall war nicht so dicht gewesen, dass er den Verkehr behinderte. Während er nach einem Taxi Ausschau hielt, hörte er einen Kinderchor. In makellos weißen Gewändern sangen die Kinder vor der Kirche St. Bartholemew das Ave verum corpus. Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass die Musik ihn berührte, beruhigend und aufwühlend zugleich.

Kurz nach achtzehn Uhr kam er zu Hause an, machte sich einen heißen Tee und griff nach dem Telefon.

Auch wenn es in San Diego erst fünfzehn Uhr war, würden Bonnie und Mallory vielleicht zu Hause sein. Er wollte die Einzelheiten der Reise seiner Tochter besprechen, die in wenigen Tagen zu ihm kommen sollte, weil sie dann Ferien hatte. Sorgfältig wählte er die Nummer. Nach dem dritten Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein.

»Sie haben die Nummer von Mallory Wexler gewählt. Sie können mich im Augenblick nicht persönlich sprechen, aber …«

Den Klang ihrer Stimme zu hören, tat ihm gut. Es war wie eine Sauerstoffzufuhr, auf die er allzu lange hatte verzichten müssen. Wie genügsam er geworden war, dabei war es überhaupt nicht seine Art, sich mit wenig zufrieden zu geben.

Plötzlich wurde die Ansage unterbrochen.

»Hallo?«

Nathan brauchte übermenschliche Kraft, damit seine Stimme unbeschwert klang, nur um seiner alten, dämlichen Gewohnheit zu folgen: niemals Schwäche zu zeigen, nicht einmal der Frau gegenüber, die ihn von Kindheit an kannte.

»Hi, Mallory.«

Wie lange schon nannte er sie nicht mehr mein Liebling?

»Guten Tag«, erwiderte sie ohne Begeisterung.

»Alles in Ordnung?«

Sie erwiderte schroff:

»Was willst du denn, Nathan?«

Ah ja, ich habe begriffen: Heute ist bestimmt nicht der Tag, an dem du bereit bist, dich freundlich mit mir zu unterhalten.

»Ich rufe nur an, um mit dir über Bonnies Reise zu sprechen. Ist sie bei dir?«

»Sie ist im Geigenunterricht, sie kommt in einer Stunde zurück.«

»Vielleicht könntest du mir schon mal sagen, wann sie abfliegt«, bat er. »Ich glaube, ihre Maschine kommt am frühen Abend an …«

»Sie kommt in einer Stunde zurück«, wiederholte Mallory, offensichtlich bemüht, diese Unterhaltung zu beenden.

»Sehr gut, schön, dann bi…«

Doch sie hatte bereits den Hörer aufgelegt.

Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass in ihrer Beziehung eines Tages eine solche Kälte herrschen könnte. Warum konnten sich zwei Menschen, die sich einmal sehr nahe gewesen waren, wie Fremde verhalten? Wie war das möglich? Er setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und ließ den Blick zur Decke schweifen. Wie naiv er doch war! Natürlich war das möglich! Er brauchte sich nur umzusehen: Scheidungen, Betrügereien, Überdruss . In seinem Beruf war die Konkurrenz unerbittlich. Nur jene durften auf Erfolg hoffen, die einen Teil ihres Familienlebens und ihrer Freizeit opferten. Jeder Mandant der Anwaltskanzlei war mehrere zehn Millionen Dollar wert, was für die Anwälte bedeutete, rund um die Uhr verfügbar sein zu müssen. Das war die Spielregel, der Preis, der zu zahlen war, um am Hof der Großen seinen Platz zu behaupten. Und Nathan hatte ihn akzeptiert. Dafür verdiente er jetzt 45 000 Dollar im Monat, die übrigen Privilegien nicht mitgerechnet. Immerhin bekam er als Teilhaber zusätzlich einen Jahresbonus von etwa einer halben Million Dollar. Zum ersten Mal hatte sein Bankkonto die Grenze von einer Million überschritten. Und das war nur der Anfang.

Doch sein Privatleben hatte sich anders entwickelt als seine berufliche Karriere. Diese letzten Jahre hatten seine Ehe zerstört. Die Kanzlei war immer mehr zu seinem Lebensinhalt geworden. Bis er nicht mal mehr die Zeit fand, mit der Familie zu frühstücken oder die Hausaufgaben seiner Tochter durchzusehen. Als er das Ausmaß der Schäden erkannt hatte, war es zu spät, das Ruder herumzuwerfen, und vor ein paar Monaten war er geschieden worden. Sicher, er war nicht der einzige Geschiedene – mehr als die Hälfte seiner Kollegen in der Kanzlei lebte von ihren Frauen getrennt –, doch das war kein Trost.

Nathan machte sich große Sorgen um Bonnie, weil die Ereignisse sie sehr mitgenommen hatten. Obwohl sie bereits sieben war, machte sie gelegentlich ins Bett und litt – laut ihrer Mutter – unter häufigen Angstattacken. Nathan rief sie jeden Abend an, aber er wäre gern in ihrer Nähe gewesen. Nein, dachte er, als er sich auf das Sofa setzte, ein Mann, der abends allein einschläft und seit drei Monaten seine Tochter nicht gesehen hat, der hat es im Leben nicht weit gebracht, auch wenn er Millionär ist.

Nathan zog den Ehering, den er immer noch trug, vom Ringfinger und las auf der Innenseite den Vers aus dem Hohelied Salomos, den Mallory ihm zur Hochzeit hatte eingravieren lassen:

Stark wie der Tod ist die Liebe.

Er kannte die Fortsetzung auswendig: Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht weg. Alles Blödsinn! Sentimentaler Kitsch für verliebte Teenager. Die Liebe ist nicht dieses absolute Ding, das die Zeit überdauert und Prüfungen widersteht.

Dennoch hatte er lange geglaubt, seine Ehe sei etwas Außergewöhnliches, eine magische, irrationale Dimension, die in der Kindheit wurzelte. Mallory und er kannten sich seit ihrem sechsten Lebensjahr. Von Anfang an spann sich zwischen ihnen eine Art unsichtbarer Faden, als ob das Schicksal sie angesichts der Schwierigkeiten des Lebens zu natürlichen Verbündeten hätte machen wollen.

Er betrachtete die eingerahmten Fotografien auf der Kommode, die seine Ex-Frau zeigten. Er schaute lange auf das neueste Foto, das er sich mit Bonnies Hilfe besorgt hatte.

Sicher, die Blässe in Mallorys Gesicht zeugte von der schweren Zeit, die mit ihrer Trennung verbunden war, aber sie veränderte nicht ihre langen Wimpern, ihre zarte Nase und ihre weißen Zähne. An dem Tag, an dem das Foto aufgenommen worden war, bei einem Spaziergang am Silver Strand Beach, am Strand mit den Silbermuscheln, hatte sie die Haare zu Zöpfen geflochten, hochgesteckt und mit einem Schildpattkamm befestigt. Mit der kleinen Nickelbrille erinnerte sie an Nicole Kidman in Eyes Wide Shut, auch wenn Mallory diesen Vergleich nicht mochte. Er musste unwillkürlich lächeln, denn sie trug einen seiner ewigen Patchwork-Pullis, die sie selbst strickte und in denen er schick und zugleich unbekümmert wirkte.

Sie hatte in Umweltforschung promoviert, an der Universität gelehrt, doch nachdem sie in das alte Haus ihrer Großmutter in die Nähe von San Diego gezogen war, gab sie den Unterricht auf, um sich nur noch verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen zu widmen. Von zu Hause aus betreute sie die Webseite einer regierungsunabhängigen Organisation, sie malte Aquarelle und stellte kleine, mit Muscheln verzierte Möbel her, die sie im Sommer an Touristen verkaufte, wenn sie in Nantucket Urlaub machte. Geld oder gesellschaftliches Ansehen waren für Mallory niemals wichtig gewesen. Sie sagte gern, dass ein Spaziergang im Wald oder am Strand keinen Dollar kostete, doch Nathan konnte diese simplifizierenden Anschauungen ganz und gar nicht teilen.

Das war sehr einfach, wenn es einem nie an etwas gefehlt hat!

Mallory stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie. Ihr Vater war der Hauptgesellschafter einer sehr gut gehenden Anwaltskanzlei in Boston gewesen. Sie brauchte keinen beruflichen Erfolg, um sich eine gesellschaftliche Stellung zu erobern, weil sie diese Stellung von Geburt an besessen hatte.

Einen Moment lang dachte Nathan an all die Stellen ihres Körpers, an denen sich Leberflecke befanden. Dann zwang er sich, diese Erinnerung zu verdrängen, öffnete eine der Akten, die er mitgenommen hatte, und schaltete sein Notebook ein. Er machte sich Notizen und diktierte ein paar Briefe für Abby.

Endlich, gegen neunzehn Uhr dreißig, erhielt er den Anruf, den er erwartete.

»Hallo, Pa.«

»Hallo, kleines Eichhörnchen.«

Bonnie berichtete ausführlich von ihrem Tagesablauf, wie sie es bei ihren täglichen Telefongesprächen zu tun pflegte. Sie erzählte ihm von Tigern und Flusspferden, die sie beim Zoobesuch mit der Schule im Balboa Park gesehen hatte. Er fragte nach dem Unterricht und nach dem Fußballspiel, an dem sie tags zuvor teilgenommen hatte. Seltsamerweise hatte er nie so viel mit seiner Tochter geredet wie jetzt, da sie dreitausend Kilometer von ihm entfernt lebte.

Plötzlich klang ihre Stimme unruhig:

»Ich muss dich um was bitten.«

»Was immer du willst, mein Schatz.«

»Ich habe Angst, ganz allein zu fliegen. Ich möchte, dass du mich am Samstag abholst.«

»Das ist doch dumm, Bonnie, du bist doch schon ein großes Mädchen.«

Er hatte ausgerechnet an diesem Samstag ein wichtiges Gespräch: Es ging um die letzten Regelungen eines Vergleichs zwischen zwei Firmen, an dem er seit Monaten arbeitete. Und er hatte darauf bestanden, diesen Termin so zu legen.

»Bitte, Pa, hol mich ab!«

Nathan ahnte, dass seine Tochter am anderen Ende der Leitung mit den Tränen kämpfte. Bonnie war kein kapriziöses kleines Mädchen. Ihre Weigerung, allein ins Flugzeug zu steigen, bewies, wie groß ihre Angst war. Um nichts auf der Welt wollte Nathan ihr Kummer bereiten. Und ganz bestimmt nicht jetzt.

»Okay, kein Problem, Schatz. Ich werde da sein. Versprochen.«

Sie beruhigte sich, und sie sprachen noch ein paar Minuten miteinander. Um sie aufzuheitern, erzählte er ihr eine kleine Geschichte und imitierte wie so oft sehr gekonnt Winnie, das Bärenkind, das einen Topf voller Honig verlangte.

Ich hab dich lieb, Baby.

Nachdem er aufgelegt hatte, dachte er kurz über die Folgen des Aufschubs seiner Samstagsverabredung nach. Natürlich gab es immer noch die Möglichkeit, jemanden zu engagieren, der seine Tochter in Kalifornien abholte. Aber diese törichte Idee verwarf er sofort. Das wäre ein Schritt gewesen, den Mallory ihm nie verzeihen würde. Und außerdem hatte er Bonnie versprochen, dass er sie abholen würde. Es kam gar nicht in Frage, sie zu enttäuschen. Er würde schon eine Lösung finden, für dieses eine Mal.

Er diktierte noch ein paar Notizen aufs Band, dann schlief er auf dem Sofa ein, ohne die Schuhe ausgezogen oder die Lichter gelöscht zu haben.

Er schreckte hoch, als er die Sprechanlage hörte. Peter, der Portier, rief ihn von seinem Apparat in der Lobby an.

»Hier ist jemand für Sie, Sir: Doktor Garrett Goodrich.«

Nathan warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Verdammt noch mal, bereits einundzwanzig Uhr! Er hatte nicht die Absicht, sich von diesem Typen bis nach Hause verfolgen zu lassen!

»Lassen Sie ihn nicht rein, Peter, ich kenne diesen Herrn nicht.«

»Stellen Sie sich nicht so an«, rief Goodrich, der offenkundig nach dem Hörer gegriffen hatte. »Es ist wichtig.«

Lieber Himmel! Was habe ich dem Herrn angetan, dass er mir diese Plage schickt?

Er rieb sich die Augen und dachte nach. Im Grunde wusste er, dass er seine Ruhe erst wiederfinden würde, wenn er mit Goodrich fertig war. Was voraussetzte, dass er erst einmal verstand, was dieser Mann überhaupt von ihm wollte.

»In Ordnung«, gab er nach, »Sie können ihn hochschicken, Peter.«

Nathan knöpfte sein Hemd zu, öffnete die Tür des Apartments und trat auf den Treppenabsatz, um den Arzt zu empfangen, der nicht lange brauchte, um in den 23. Stock zu gelangen.

»Garrett, was zum Teufel machen Sie hier? Wissen Sie, wie spät es ist?«

»Schöne Wohnung«, bemerkte der andere und warf einen Blick in das Apartment.

»Ich habe Sie gefragt, was Sie hier wollen.«

»Ich glaube, Sie sollten mitkommen, Del Amico.«

»Scheren Sie sich zum Teufel! Ich stehe nicht in Ihren Diensten.«

Garrett versuchte ihn zu beruhigen.

»Und wie wäre es, wenn Sie mir vertrauten?«

»Was beweist mir, dass Sie nicht gefährlich sind?«

»Absolut nichts«, gab Goodrich zu und zuckte die Schultern. »Jeder Mensch kann gefährlich werden, da stimme ich Ihnen zu.«

Die Hände in den Taschen und eingemummt in seinen weiten Mantel ging Goodrich seelenruhig die Straße hinunter, während Nathan, der einen guten Kopf kleiner war, neben ihm wild gestikulierte.

»Es ist eiskalt.«

»Jammern Sie immer so?«, fragte Garrett. »Im Sommer ist diese Stadt unerträglich. Erst im Winter zeigt New York sein wahres Gesicht.«

»Quatsch!«

»Im Übrigen konserviert die Kälte und tötet die Mikroben und dann …«

Nathan ließ ihm keine Zeit, seine Ausführungen fortzusetzen.

»Nehmen wir doch ein Taxi …«

Er trat auf die Fahrbahn und hob den Arm, um ein Taxi herbeizurufen.

»Hep, hep!«

»Hören Sie auf zu schreien, Sie machen sich lächerlich.«

»Wenn Sie glauben, dass ich mir hier die Eier abfriere, damit Sie Ihren Spaß haben, dann irren Sie sich gründlich.«

Zwei Taxis fuhren an ihnen vorbei ohne zu bremsen. Ein yellow cab hielt schließlich in Höhe der Century Apartments. Die beiden Männer stiegen ein, Goodrich nannte dem Chauffeur das Fahrziel: die Kreuzung der 5. Avenue und der 34. Straße.

Nathan rieb sich die Hände. Der Wagen war gut geheizt. Das Radio spielte ein altes Lied von Frank Sinatra.

Der Broadway wimmelte von Menschen. Wegen der Feiertage zum Jahresende waren viele Läden die ganze Nacht geöffnet.

»Zu Fuß wären wir schneller vorangekommen.« Diese Bemerkung konnte sich Goodrich nicht verkneifen, als das Taxi im Stau stecken blieb.

Nathan warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Nach einigen Minuten gelang es dem Taxi, in die 7. Avenue einzubiegen, wo der Verkehr weniger dicht war. Der Wagen fuhr hinunter bis zur 34. Straße, bog nach links ab und rollte noch ungefähr hundert Meter weiter, bevor er hielt.

Goodrich zahlte, und die beiden Männer stiegen aus.

Sie befanden sich am Fuße eines der berühmtesten Gebäude von Manhattan: am Empire State Building.

Kapitel 4

Der Engel mit dem Flammenschwert, der aufrecht vor dir steht, treibt dir den Dolch in den Leib und stößt dich in den Abgrund!

Victor Hugo

vignette

Nathan hob den Blick zum Himmel. Seit der Zerstörung der Twin Towers war das alte Empire State Building wieder Manhattans höchster Wolkenkratzer. Fest auf seinem massiven Sockel ruhend beherrschte das Gebäude in einer Mischung aus Macht und Eleganz ganz Midtown. Seine letzten dreißig Stockwerke leuchteten in Rot und in Grün wie immer zur Weihnachtszeit.

»Sie wollen da wirklich hoch?«, fragte der Anwalt und deutete auf die leuchtende Spitze, die den Schleier der Nacht zu durchbohren schien.

»Ich habe die Tickets bereits«, erwiderte Goodrich und zog zwei kleine rechteckige blaue Karten aus der Tasche. »Sie schulden mir übrigens sechs Dollar …«

Nathan schüttelte verärgert den Kopf, resignierte und folgte dem Arzt auf dem Fuße.

Sie betraten die im Jugendstil gehaltene Eingangshalle. Hinter dem Empfangstisch zeigte eine Wanduhr zehn Uhr dreißig, während ein Schild die Besucher informierte, dass der Ticketverkauf noch eine Stunde lang geöffnet war und das Gebäude bis Mitternacht besichtigt werden konnte. Daneben funkelte eine riesige Reproduktion des Gebäudes wie eine Sonne aus Kupfer. Die Weihnachtszeit zog wie immer viele Touristen nach New York, und trotz der späten Stunde drängten sich viele Menschen vor den Schaltern, an denen Fotos berühmter Leute hingen, die im Lauf der Jahre den Wolkenkratzer bewundert hatten.

Die von Goodrich besorgten Tickets ersparten den beiden Männern das Anstehen. Sie ließen sich in den zweiten Stock führen, von wo die Aufzüge zur Aussichtsplattform fuhren. Auch wenn es nicht mehr schneite, verhieß die Bildschirmanzeige reduzierte Sicht wegen der Wolken, die über der Stadt hingen.

In knapp einer Minute brachte sie ein ultraschneller Aufzug in den 80. Stock. Dort stiegen sie in einen anderen, der zum Turm im 86. Stock fuhr, und betraten in 320 Meter Höhe den überdachten Saal der Aussichtsplattform, der von Glaswänden geschützt war.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich in diesem gut geheizten Raum«, bemerkte Nathan und zog den Gürtel seines Mantels fester zu.

»Ich rate Ihnen eher, mir zu folgen«, erwiderte Goodrich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Sie traten auf die offene Terrasse der Aussichtsplattform. Ein eisiger Polarwind, der vom East River heraufwehte, ließ den Anwalt bedauern, keinen Schal und keine Mütze dabeizuhaben.

»Meine Großmutter sagte immer: Man kennt New York erst, wenn man oben auf dem Empire State Building gewesen ist«, brüllte Goodrich im Brausen des Windes.

Der Ort war wirklich voller Magie. In der Nähe des Aufzugs wartete das Gespenst von Cary Grant auf eine Deborah Kerr, die nie kommen würde. Ein Stück weiter, auf das Geländer gestützt, machte sich ein japanisches Paar den Spaß, Tom Hanks und Meg Ryan in der letzten Szene von Schlaflos in Seattle nachzuahmen.

Nathan näherte sich vorsichtig dem Rand des Aussichtsturms und beugte sich vor.

Die Nacht, die Kälte und die Wolken verliehen der Stadt etwas Mysteriöses, und es dauerte nicht lange, bis er sich für das Schauspiel begeisterte. Dank seiner zentralen Lage bot das Gebäude zweifellos eine der beeindruckendsten Ansichten von Manhattan.

Von hier aus hatte man einen einmaligen Blick auf die Spitze des Chrysler Buildings und den Times Square, der vermutlich sehr belebt war.

»Seit meiner Kindheit bin ich nie mehr hier gewesen«, gestand der Anwalt und steckte einen Vierteldollar in den Schlitz eines Fernrohrs.

Die Autos, die 86 Stockwerke tiefer drängelten, waren so winzig und der Verkehrsstrom so weit entfernt, als gehöre er zu einem anderen Planeten. Dagegen wirkte die Brücke der 59. Straße unglaublich nah, und ihre prachtvolle Architektur spiegelte sich im schwarzen Wasser des East River.

Lange Zeit schwiegen Nathan und Garrett, begnügten sich damit, die Lichter der Stadt zu bewundern. Der Wind blies immer noch eisig, und die Kälte biss in die Gesichter. Eine freundliche Atmosphäre der Mitteilsamkeit entstand in der kleinen Menschenmenge, die sich für diesen einen Abend dreihundert Meter über dem Erdboden gebildet hatte. Ein Liebespaar umarmte sich leidenschaftlich, fasziniert von der elektrischen Aufladung ihrer Lippen. Eine Gruppe französischer Touristen stellte Vergleiche mit dem Eiffelturm an, während ein Paar aus Wyoming jedem, der es hören wollte, von seiner ersten Begegnung erzählte, die vor fünfundzwanzig Jahren genau an dieser Stelle stattgefunden hatte. In dicke Parkas eingemummte Kinder spielten Verstecken im Labyrinth aus den Beinen der Erwachsenen.

Über ihren Köpfen trieb der Wind in unbeschreiblicher Geschwindigkeit die Wolken dahin, enthüllte hie und da ein Stück Himmel, an dem ein einzelner Stern funkelte. Es war wirklich eine schöne Nacht.

Goodrich brach als Erster das Schweigen:

»Der Junge mit dem orangen Anorak«, flüsterte er Nathan ins Ohr.

»Was?«

»Schauen Sie sich den Jungen mit dem orangen Anorak an.«

Nathan kniff die Augen zusammen und musterte aufmerksam den jungen Mann, den Goodrich ihm gezeigt hatte: Er war gerade auf die Plattform getreten. Er war ungefähr zwanzig, hatte einen dünnen blonden Bart, und die langen, fettigen Haare waren zu Dreadlocks gedreht. Er lief zweimal um die Aussichtsterrasse herum und kam ganz dicht an Nathan vorbei, dem sein fiebriger, unruhiger Blick auffiel. Er war offensichtlich sehr aufgewühlt. Sein leidgeprüftes Gesicht stand in krassem Gegensatz zum Gelächter und der guten Laune der übrigen Besucher.

Nathan dachte, dass er vielleicht Drogen genommen hatte.

»Er heißt Kevin Williamson«, erklärte ihm Goodrich.

»Sie kennen ihn?«

»Nicht persönlich, aber ich kenne seine Geschichte. Sein Vater hat sich von dieser Plattform gestürzt, damals, als noch kein Gitter davor war. Seit einer Woche kommt Kevin regelmäßig hierher.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Sagen wir mal, ich habe Nachforschungen angestellt.«

Der Anwalt ließ sich Zeit, dann fragte er:

»Aber was geht mich das an?«

»Alles, was die Existenz unserer Artgenossen betrifft, geht uns an«, erwiderte der Arzt, als stelle er nur eine schlichte Tatsache fest.

In diesem Augenblick fegte ein heftiger Windstoß über die Aussichtsterrasse. Nathan ging dichter auf Goodrich zu.

»Du lieber Himmel, Garrett, warum soll ich mir diesen Mann anschauen?«

»Weil er sterben wird«, erwiderte Goodrich ernst.

»Sie sind … Sie sind ja übergeschnappt«, rief der Anwalt. Aber während er diese Worte aussprach, musste er wie gebannt auf Kevin starren und spürte, wie eine seltsame Unruhe in ihm aufstieg.

Es wird nichts passieren. So etwas kann einfach nicht passieren …

Aber keine Minute verging zwischen Goodrichs unerwarteter Vorhersage und dem Augenblick, in dem der junge Mann einen Revolver aus der Anoraktasche zog. Einige Sekunden lang hielt er die Waffe in seiner zitternden Hand und betrachtete sie voller Abscheu.

Anfangs schien niemand sein seltsames Verhalten zu bemerken. Dann schrie eine Frau plötzlich:

»Dieser Mann ist bewaffnet!«

Sofort hefteten sich alle Blicke auf den jungen Mann.

Kevin geriet in Panik und richtete die Waffe gegen sich selbst. Seine Lippen bebten vor Angst, Tränen der Wut rollten über seine Wangen, ein Schrei tiefster Verzweiflung verlor sich in der Dunkelheit der Nacht.

»Tun Sie’s nicht«, rief ein Familienvater, während sich alle Besucher der Plattform in einem unglaublichen Durcheinander zu dem überdachten Raum drängelten.

Nathan blieb reglos vor dem Jungen stehen. Er war fasziniert und erschreckt zugleich von dem, was sich vor seinen Augen abspielte, er wagte nicht sich zu rühren, aus Angst, das Unvermeidliche zu beschleunigen. Er fror nicht mehr, ganz im Gegenteil. Plötzlich hatte er das Gefühl, sein Körper stehe in Flammen.

Hoffentlich schießt er nicht

Tu’s nicht, Junge, tu’s nicht

Doch Kevin schaute nach oben, betrachtete ein letztes Mal den sternenlosen Himmel, dann drückte er ab.

Der Knall zerriss die New Yorker Nacht. Die Beine des Jungen gaben unter ihm nach, er brach zusammen.

Für einen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben.

Dann hörte man angstvolle Schreie, und auf der Aussichtsplattform entstand großer Aufruhr. Die Menschen drängelten sich vor den Aufzügen. Kopflos rempelten sie einander an, rannten in alle Richtungen. Einige hatten bereits ihr Handy am Ohr . schnell . die Familie benachrichtigen … die Freunde. Seit jenem berühmten Septembermorgen waren sich die meisten New Yorker ihrer Verletzlichkeit schmerzhaft bewusst. Alle hier waren bis zu einem bestimmten Grad traumatisiert, und die Touristen wussten wohl, dass sie in Manhattan auf alles gefasst sein mussten.

Zusammen mit einigen anderen war Nathan auf der Aussichtsplattform geblieben. Um Kevins Leiche bildete sich ein Kreis. Das Liebespaar war blutbespritzt, die junge Frau weinte lautlos.

»Gehen Sie weiter! Lassen Sie ihm Luft zum Atmen«, rief ein Sicherheitsbeamter und beugte sich über den jungen Mann.

Er griff nach seinem Walkie-Talkie und bat die Lobby um Hilfe.

»Rufen Sie die Feuerwehr und einen Krankenwagen! Wir haben im 86. Stock einen Mann mit einer Schussverletzung.«

Dann beugte er sich wieder über Kevin, um festzustellen, dass jede Hilfe zu spät kam und man ihn nur noch ins Leichenschauhaus transportieren konnte.

Nathan war nur einen Meter von dem Toten entfernt und konnte seinen Blick nicht von der Leiche lösen. Das schmerzverzerrte Gesicht war mitten in einem Angstschrei erstarrt. Die weit aufgerissenen, glasigen Augen blickten ins Leere. Hinter dem Ohr konnte man eine klaffende, dunkelrote Brandwunde erkennen. Ein Teil des Schädels war vom Einschuss aufgerissen, der andere war mit Blut und Hirnmasse verschmiert. Plötzlich wusste Nathan, dass er diesen Anblick sein Leben lang nicht vergessen würde, dass er ihn quälen würde, immer wieder, des Nachts und in den Augenblicken unerträglicher Einsamkeit.

Die Neugierigen verteilten sich allmählich wieder. Ein kleiner Junge hatte seine Eltern verloren, stand drei Meter von der Leiche entfernt und starrte hypnotisiert auf die Blutlache.

Nathan nahm ihn auf den Arm, um ihn vom Schauspiel des Todes abzulenken.

»Komm, Kleiner. Schau nicht hin. Alles wird gut. Alles wird gut.«

Als er sich erhob, entdeckte er Goodrich, der in der Menge untertauchte. Er lief ihm nach.

»Garrett, warten Sie, verdammt noch mal.«

Mit dem Kind auf dem Arm bahnte sich Nathan mit den Ellenbogen einen Weg, um den Arzt einzuholen.

»Woher wussten Sie das?«, schrie er und zerrte ihn an der Schulter.

Abwesend wie er war, reagierte Goodrich gar nicht auf die Frage.

Nathan versuchte ihn aufzuhalten, aber er wurde von den Eltern des Jungen angesprochen, die überaus erleichtert waren, ihren Sohn wiederzuhaben.

»Oh, James, du hast uns solche Angst eingejagt, Süßer!«