Inhalt

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Widmung
  4. 1. Beginnen 
  5. Wie ich es mit der Angst zu tun bekam
  6. 2. Horten 
  7. Auf Notfalldiät
  8. 3. Sammeln 
  9. Über Leben mit Kräutern
  10. 4. Züchten 
  11. Vom Pilz befallen
  12. 5. Anbauen 
  13. Gemüse für Großstadtgärtner
  14. 6. Jagen 
  15. Ich brauche Fleisch
  16. 7. Schmarotzen 
  17. Check-in bei modernen Nomaden
  18. 8. Reisen 
  19. Die Währung Solidarität
  20. 9. Wohnen 
  21. Check-in im Projekthaus
  22. 10. Einheizen 
  23. Wenn Autarkie auf Hedonismus trifft
  24. 11. Verbrauchen 
  25. Nicht mehr als drei Liter am Tag
  26. 12. Nähen 
  27. Nicht mehr als drei Liter am Tag
  28. 13. Bauen 
  29. Unterwegs ins postindustrielle Zeitalter
  30. 14. Teilen 
  31. Modedroge Sharing
  32. 15. Tauschen 
  33. Ein Jahr Konsumstreik
  34. 16. Schenken 
  35. Meine Laube ist mein Schloss
  36. 17. Beenden 
  37. Was ich in einem Jahr Apokalypse gelernt habe
  38. Zum Weiterlesen
  39. Dank

GRETA TAUBERT

APOKALYPSE
JETZT!

Wie ich mich
auf eine neue
Gesellschaft

vorbereite –
EIN SELBSTVERSUCH

BASTEI ENTERTAINMENT

Meiner Familie

1. Beginnen –
Wie ich es mit der Angst zu tun bekam

Alles hat mit der Wachstischtuchdecke meiner Oma angefangen. Das weiße abwischbare Tuch trennte das strapazierte Holz des Esstischs vom strapazierenden Mahl darauf: Käsekuchen, Vanillekipferl und schwedische Apfeltorte, Rührkuchen, Schichtcremetorte und ein Schälchen Sahne. Der Filterkaffee duftete aus der Thermoskanne. Zucker und Kondensmilch lösten sich unter klingelndem Rühren in den blassvioletten Porzellantassen auf. Wir hatten zwar gerade erst das Mittagessen beendet – Klöße mit Rouladen und Hirschbraten mit Rotkohl und Bohnensalat –, aber für die herzhafte Abwechslung zur Vesperzeit hatte meine Oma auf dem Tisch noch ein paar Butterbrote mit Schinken platziert. So war das immer, wenn sich die Familie am Sonntag bei meinen Großeltern traf. Wenn ich sagte: »Ich möchte Milch trinken«, stellte mir meine Oma gleich noch Einrührzeug in Schokoladen-, Bananen-, Vanille- oder Erdbeergeschmack auf den Tisch. Und wenn ich sagte: »Ich möchte keine Milch«, bekam sie sorgengeweitete Augen, ob denn ihr Vorrat an Säften, Brause und Sirup im Keller wohl ausreichte, um mich glücklich zu machen. Der Gedanke, geschweige denn der ausgesprochene Satz »Danke, ich möchte nichts«, war keine Option. Ich saß unter dem Bild mit dem röhrenden Hirsch und den Familienfotos und futterte wie eine Besinnungslose. Um zu zeigen, dass es mir gut ging. Dass es uns als Familie gut ging. Dass es diesem Land gut ging.

Ich musterte die Gummipalme mit ihren fleischigen Blättern. Ließ den Blick über die Salzlampe und den Fototeller von einer Kreuzfahrt meiner Großeltern streifen, träumte mich in den Ganzkörpermassagesessel und wanderte schließlich mit den Augen die wachsbetuchte Tischkante ab. Onkel Achim mit seiner lieben Frau. Tante Margot mit ihrem wortkargen Mann. Cousins, Cousinen, Großnichten, Großneffen. Sie alle verhandelten mit der Kuchengabel in der Hand wieder einmal das Lieblingsthema der Familie: Autos. »Erinnerst du dich noch an unseren blauen Trabant, Greta?«, fragte mein Vater und guckte mich erwartungsfroh an. Als die Mauer fiel, war ich noch nicht einmal sechs Jahre alt. Der himmelblaue Trabbi war für mich genau wie der real existierende Sozialismus eine Legende, die mir vom vielen Erzählen zur eigenen Erinnerung geworden war. Mit meinem Leben heute hatten beide wenig zu tun. »Der Trabbi hatte doch so ein schwarzes Dach«, sagte ich, um den Gesprächsfluss nicht zu hemmen. »Das war Tafellack, den wir aufgepinselt und dann so abgebürstet hatten, dass es wie Leder aussah«, antwortete mein Vater. »Lederdächer gab es ja nicht in der DDR.« Jetzt war er in seinem Element. Er hatte in den Siebzigerjahren Fahrzeugschlosser gelernt, eine Frau gefunden, Kinder bekommen, ein Haus ausgebaut. Seine mächtigen Hände waren wie Beweise dafür, dass er dem Leben in der DDR sein Stück vom Glück abgetrotzt hatte. Während er die handwerklichen Details des Lederdachs ausschmückte, versuchte ich mir vorzustellen, wie das damals gewesen sein musste, Ende der Achtziger in der thüringischen Provinz: das Häuschen mit den grauen Asbest-Schiefern, die damals noch als unbedenklich galten. Die Ausflüge mit Mutter-Vater-Kindern in den Zoo, dessen Hauptattraktion ein Luchs war, den man nie sah, sondern nur roch. Der vollgepackte Trabbi auf dem Weg in den Ostseeurlaub. Die Bilder vor meinem geistigen Auge von der Zeit vor 1989 hatten einen verzerrten Farbton, waren unscharf und unschuldig. Als mein Vater damals mit der groben Bürste das Dach bearbeitete, hatte er noch nicht damit gerechnet, dass der Trabbi bald nur noch zum Witzobjekt taugen würde. Dass er da eine Metapher striegelte für ein System, das zum Scheitern verurteilt war.

Mein Opa klinkte sich in die DDR-Karossen-Diskussion ein. Er hatte nur ein paar Monate vor dem Mauerfall einen grünen Wartburg Kombi bekommen. »Da haben wir 20 Jahre drauf gewartet!«, sagte er und lachte. Es lag kein Bedauern in seiner Stimme. Der Wartburg Kombi war für Opa, der am Anfang der Dreißigerjahre als Sohn eines einfachen Sattlers geboren wurde, eine Offenbarung. Kindheit und Jugend verbrachte er in echter Armut. Mit Feldarbeit und Kinderlandverschickung. Seine Anekdoten endeten meist mit dem Satz: »So war das damals eben.« Als Opa in den Zeiten des »Tausendjährigen Reiches« Schweine hütete, konnte er nicht ahnen, dass dieses schon nach zwölf Jahren vorbei sein würde und dass aus seinem Schweinestall irgendwann eine Garage für einen Wartburg und später für mehrere Toyotas werden sollte.

Über Opas Kopf entdeckte ich das Foto meines Uropas. Er hätte keine automobile Anekdote zu erzählen gehabt, weil er gar keinen Führerschein hatte. Er wurde ins Deutsche Kaiserreich hineingeboren – das auch wenig später nicht mehr existierte. Drei Generationen, drei Ideologien, drei Untergänge. War ich die Nächste, die sich in einem zum Untergang verdammten System eingerichtet hatte? Die darin ihr Glück suchte, ohne zu merken, dass es seine Berechtigung verspielte? Was machte mich so sicher, dass alles so bleiben würde, wie es war? Würde dieses System samt Wohlstand, Überfluss und Schichtcremetorte noch da sein, wenn ich irgendwann mit meinen Enkeln an einer Kaffeetafel saß?

Panik wanderte meinen Rückenmarkkanal hinunter, und vor meinem inneren Auge erschienen die sorgsam verdrängten Schreckensmeldungen aus den Nachrichten über Krieg und Terror, wirtschaftliche Krisenstimmung, Klimawandel, Rohstoffknappheit, Umweltzerstörung, demografischen Wandel, Prekarisierung, Raubtierkapitalismus. Düstere Bildercollagen von verbranntem Regenwald, endlosen Sojaplantagen, abrutschendem Gletschereis, ölverklebten Robben, verendeten Seevögeln mit Plastikmüll in den Gedärmen. Die Geräusche eines Feierabendstaus, das unregelmäßige Piepen einer Supermarktkasse, die Protestrufe der Occupy-Bewegung. Und vor allem die eigene Hilflosigkeit. All das hatte ich lange in mich aufgesogen und in eine hermetische Kapsel in meinem Hirn weggesperrt. Jetzt war sie aufgeplatzt und gab eine dumpfe Angst frei. Es war die Angst vor dem Ende der Welt, wie wir sie kannten.

In einem Buch mit eben jenem Titel haben die Wissenschaftler Claus Leggewie und Harald Welzer schlüssige Argumente dafür gesammelt, warum es bald so weit sein wird: Wir befänden uns momentan nicht nur in einer »Krise«, die unser System für einen Augenblick der Geschichte erschüttert und aus der wir nach ein paar Reparaturen irgendwann auch wieder herauskommen. Vielmehr hätten wir es mit zahllosen verschiedenen Teilkrisen zu tun, die sich gegenseitig überlappten und verstärkten. Klimawandel, Energiekrise, Rohstoffknappheit, Bevölkerungswachstum – um nur die wichtigsten zu nennen. Die daraus entstehende Metakrise lasse sich nicht überwinden. Sie markiere das Ende einer Idee, die 250 Jahre lang extrem erfolgreich in der ganzen Welt verbreitet worden sei: »Der Siegeszug des kapitalistischen Wirtschaftssystems gerät im Moment seiner Vollendung zu seinem Tod, denn es funktioniert nicht als universales Reproduktionsmuster und war als solches auch nie gedacht«, behaupten die Autoren. Das heißt: Gerade weil der Kapitalismus so erfolgreich ist, muss er scheitern.

Das liegt an einem zentralen Widerspruch. Unser ökonomisches System braucht die Perspektive eines unendlichen Wachstums, unsere ökologische Welt aber ist begrenzt. »Wir erleben einen eigenartigen, kritischen Augenblick in der Geschichte«, schreibt Occupy-Vordenker David Graeber in seinem Buch Schulden – Die ersten 5000 Jahre. Es gebe berechtigte Zweifel daran, dass dieses System die nächsten ein oder zwei Generationen überleben wird. »Der Kapitalismus kann nicht richtig funktionieren, wenn die Menschen glauben, er werde ewig Bestand haben.«

Solche Warnungen vor dem drohenden Exitus sind so alt wie der Kapitalismus selbst. Immer wieder haben Kritiker vor der selbstzerstörerischen Logik der Gier gewarnt. Die Grenzen des Wachstums hatte schon der Club of Rome im Jahr 1972 ausgelotet und festgestellt: »Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.« Wir befänden uns jetzt also fast auf der Hälfte der Strecke bis zum prognostizierten Punkt X. 1992, 2004 und 2012 gab es aktualisierte Berichte des Club of Rome mit angepassten Statistiken und Zahlen. Die Grundaussage blieb stets gleich: Das geht nicht mehr lange gut, wenn wir so weitermachen mit dem Mantra des Mehr, Mehr, Mehr.

Viele Jahre konnte man die schlechte Laune produzierenden Argumente der Wachstumskritiker ausblenden. Es ließ sich aushalten mit dem feinen Unterschied zwischen Erkennen und Erkenntnis, denn die schreckliche Zukunft war weit weg. Das änderte sich am 15. September 2008, als die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers bankrottging. Ihr Ende war der Anfang eines Geschwürs, das sich über die ganze Welt ausbreitete: Immobilienkrise, Bankenkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, Staatskrisen – sie alle mündeten in eine einzige große Sinnkrise des westlichen Wohlstandsmodells. Plötzlich wurde wahr, was die Kapitalismuskritiker so lange orakelt hatten: Die alte Gesellschaft scheint ihre besten Tage hinter sich zu haben. Der Begriff der »spätrömischen Dekadenz« machte die Runde. Als ein sich dem Ende neigendes »goldenes Zeitalter der Vergeudung und des Überflusses« benannte es der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel. Mit einem rotbackigen Apfel im Mund werden wir dick und fett gemästeten Gewinner der Geschichte jetzt zur Schlachtbank geführt. So hörte sich das für mich an.

»Greta?«, hörte ich meine Oma wie von einem weit entfernten Ort zu mir sagen. »Willst du noch mehr?« Sie balancierte ein Stück Apfelkuchen auf dem Tortenheber. Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich wollte nicht mehr. Ich war satt. Sehr, sehr satt.

Als die schwere Holztür zu meiner Leipziger Altbauwohnung ins Schloss fällt, warte ich darauf, dass sich Erleichterung einstellt. Wenn ich mich irgendwo beruhigen könnte, dann doch hier. Oder nicht? Das ist mein Zuhause, mein Schutzraum, meine Scholle: Ikea-Möbel, Flohmarkt-Schätze, ein paar Umzugskartons voller Bücher, leere Club-Mate-Flaschen, Schablonen-Graffiti an den Wänden, vertrocknende Zimmerpflanzen, eine Kleiderstange voll Klamotten, mein MacBook im Stand-by. Ich lasse meine Reisetasche und den Jutebeutel mit der Aufschrift »My other bag is Chanel« im Flur fallen, feuere die Sneakers in eine Ecke und trete auf den Balkon. Herbstsonne scheint in den Hinterhof, eine Tram surrt in der Ferne vorbei, die Nachbarn aus dem Kiez halten auf der Schwelle des Fahrradladens im Erdgeschoss einen fröhlichen Schwatz. Waren die Untergangsfantasien an der Wachstuchtischdeckentafel nur ein hässlicher kleiner Moment mentaler Schwäche gewesen? So, wie wenn man sich ausmalt, mit einem unheilbaren Tumor im Krankenbett zu liegen. Oder die Liebe seines Lebens bei einem Autounfall zu verlieren. Oder selbst abzutreten – nur um dann erleichtert festzustellen, dass das alles absurd ist.

Hier ist alles anders als an der Wachstuchtischdecke – und dann doch wieder nicht. Dieses große flaue Unbehagen habe ich mitgebracht, und es lässt mich nicht mehr los. Ich schippe schwarzes Espressopulver in die Glaskanne, gieße Wasser auf und sacke über dem Stapel Presseunrat nieder, der sich während meiner Abwesenheit angesammelt hat, und blättere durch die Seiten: »Experten warnen: Europa steuert auf eine Katastrophe zu«, »Wirtschaftsstimmung weiter verschlechtert«, »Merkel: Klimawandel wird verheerend«, »Klimawandel verschärft Hungerkrisen«, »Extremes Wetter wird zur Regel«, »Rohstoffe: Die Angst vor einer Nahrungsmittelkrise ist zurück«, »Abwärts geht’s auf jeden Fall«.

Es ist Herbst 2012, nach Umfragen des ARD-Deutschlandtrends sind 80 Prozent der Deutschen davon überzeugt, dass uns der schlimmste Teil der Eurokrise noch bevorstehe. Der ifo-Index, der das Geschäftsklima unter deutschen Managern ermittelt, befindet sich im gleichen Jahr im freien Fall. Laut einer Studie der Boston Consulting Group glaubt außerdem nur noch jeder Zehnte in Deutschland daran, dass es unsere Kinder einmal besser haben werden. In allen Ecken der Gesellschaft breitet sich Unsicherheit aus, wie es mit unserer Wirtschaft weitergehen soll. »Zum großen Knall fehlt eigentlich nur noch ein letzter Funken Angst«, formuliert es der Journalist Constantin Seibt.

Ich bleibe an einem Artikel über die Maya-Apokalypse am 21. Dezember hängen, in dem beschrieben wird, wie sich Hunderte von Menschen in weißer Kleidung und mit Meditationsblick auf den Weg in ein französisches Dorf machen, um dort auf das rettende Ufo zu warten. Wie sich brave Bürger einen Bunker in den Keller bauen und Esoteriker den großen Zeitenwandel heraufbeschwören. Überall wird plötzlich über diesen merkwürdigen prähistorischen Kalender berichtet, es gibt Countdowns, Survival-Tipps, Sonderhefte, Ausstellungen, Experteninterviews, ganze Sonderverkaufsflächen in Buchhandlungen. Das könnte alles sehr lustig sein, würde sich hinter dieser Lust am Untergang nicht ein tiefer liegender Zweifel verstecken: Die Tage der westlichen Hegemonie sind tatsächlich gezählt. Die Maya erinnern uns daran, dass die Weltgeschichte in Zyklen verläuft. Hochkulturen entwickeln sich, breiten sich aus – und vergehen. Warum sollte das bei uns anders sein?

Ich schiebe die Zeitungen zur Seite. Das Lesen kann die Angst nicht nehmen. Im Gegenteil, im steten Strom der Nachrichten steigert sich die Paranoia ins Unermessliche. Ich würde die Angst zu gerne ausblenden, aber egal, wohin ich gucke: Es wird nur noch schlimmer. Was hier in dieser Wohnung steht, beweist doch nur, wie überkommen die westliche Idee vom Wohlstand ist. Alles ekelt mich an: der Kaffee in der Tasse, unfair gepflückt, geschält und geröstet. Selbst das Wasser darin ist ein bloßer Standortvorteil und für den größten Teil der Menschheit unerreichbar. Der Tisch vor mir vom Billighändler, für dessen günstigen Preis andere mit ausbeuterischen Löhnen bezahlt haben. Der Stuhl unter mir, über den ich nichts mehr weiß, als dass ich darauf sitzen kann. Der Teppich, den vermutlich Kinderhände in Nordafrika geknüpft haben. Das T-Shirt, dessen Baumwollfasern aufwendig angebaut und verarbeitet wurden, bevor ich es für einen Spottpreis kaufen konnte. Die Wurst auf dem Brötchen vor mir, die ich noch nicht einmal einem Körperteil des armen Schweins zuordnen kann, das dafür sein Leben auf brutale Weise lassen musste. Der iPod, von dem ich gar nicht wissen will, wie viele seltene Erden und selten werdendes Erdöl darin stecken. Die Dinge um mich herum befremden mich: Ich habe sie gekauft, aber ich will sie gar nicht wirklich kennen. Will nicht wissen, woher sie kommen, wie sie funktionieren, wer sie gefertigt hat. Obwohl doch genau darin der Kern meiner Angst steckt: Mein ganzer Lebensstil ist darauf aufgebaut, dass mein materielles Glück irgendwo auf der Welt oder irgendwann in der Zukunft Leid verursacht. Das lässt sich im Moment vielleicht noch aushalten, weil es mich persönlich nicht betrifft. Aber nicht mehr lange, davon bin ich überzeugt. Was mir vorhin noch so beruhigend vertraut und beschützend heimelig vorkam, macht mir jetzt Angst. Jeder Gegenstand und jede Tatsache ist ein stiller Beweis meiner unglaublichen Abhängigkeit davon, dass alles so bleibt, wie es ist. In dieser Wohnung und in diesem Lebensstil zu verharren ist, als ob ich während eines aufziehenden Gewitters unter dem höchsten Baum Platz genommen hätte.

Ich lehne mich erschöpft zurück. Ausgerechnet jetzt fragen mich Die Sterne, wie ich so fett und rosig werden konnte, ohne zu merken, was abgeht in diesem Land. Im Kopfhörer meines iPods schrillen die Zeilen von Frank Spilker: »Wo fing das an? Was ist passiert? Hast du denn niemals richtig rebelliert? Kannst du nicht richtig laufen? Oder was lief schief? Und sitzt die Wunde tief in deinem Inneren? Kannst du dich nicht erinnern? Bist du nicht immer noch Gott weiß wie privilegiert? Was hat dich bloß so ruiniert?«

Für einen kurzen Moment überlege ich, meinen Rucksack zu packen und abzuhauen. Aber wohin? Gibt es überhaupt einen Ort, an dem ich vor dem Ende der Welt sicher wäre? Und wenn ja: Hätte ich wirklich Lust, in einem Stollen oder Urwald oder Wüstenzelt mein Dasein zu fristen, oder wo auch immer sonst das Klima, die Wirtschaft, das Geld und die normalen Lebensbedürfnisse keine Gültigkeit besitzen?

Ich will nicht mehr fett und rosig sein. Ich will unabhängiger werden vom Ist-Zustand, vom Kapital, vom System. Aber geht das überhaupt als verwöhntes Großstadtkind – ohne meinen Trenchcoat abzulegen und meine soziale Haut darunter, ohne alle Brücken abzubrechen und in einer eigenen paranoiden Sphäre zu verschwinden?

Am Küchentisch fasse ich einen Entschluss: Ein Jahr gebe ich mir Zeit herauszufinden, wie ich ein Leben nach dem Crash meistern könnte. Ich will lernen, woher ich Essen bekomme, wo ich unterschlüpfen könnte, was ich selbst machen kann, wie viel ich wirklich brauche – wenn ich nicht die ausgetretenen Pfade des Konsums beschreite. Wie kann ich meine Bedürfnisse herunterschrauben? Wie kann ich sie anders befriedigen? Wie weit kann ich gehen? Ich will mich hineinstürzen in die Welt von Aussteigern, Anders-Machern, Freaks, Visionären, Utopisten – und von ihnen lernen. Wenn der Mainstream in den Abgrund führt, will ich nicht mehr mit ihm mitschwimmen. Jene Menschen, die sich heute schon vom Strom losgelöst haben, sollen meine Lehrer sein. Es soll keine Tabus und keine Berührungsängste geben. Alles, was mir helfen könnte, den alten Affen Angst abzuschütteln, ist willkommen. Jede Idee, die mir beim Überleben des drohenden Exitus helfen kann, möchte ich nicht nur kennenlernen, sondern in Selbstversuchen ausprobieren. Ich habe keine Ahnung, was ein Jahr Apokalypsen-Training mit mir machen wird. Aber ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe. Ich muss mich vorbereiten auf eine Zeit nach der Wachstuchtischdecke. Und zwar sofort.