Beutejagd am Geistersee
Kosmos
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© 2009, 2012 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-13365-1
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Kim rastet aus
Wutentbrannt stürmte Kim ins Café Lomo. Sie pfefferte ihre Tasche in die gemütliche Sofaecke, in der es sich ihre Freundinnen Marie und Franzi bereits bequem gemacht hatten, und schimpfte sofort los. »Ich hasse sie!« Kim ließ sich neben Franzi auf das Sofa fallen. »Ich hasse sie, ich hasse sie!«
Marie zog eine Augenbraue hoch und sah Franzi fragend an. Franzi schüttelte ratlos den Kopf. Die beiden hatten keine Ahnung, was mit Kim los war. Normalerweise ließ sie sich durch nichts so leicht aus der Ruhe bringen. Sie war fast immer ausgeglichen und freundlich – eigentlich gab es nur zwei Menschen, die Kim so auf die Palme bringen konnten …
»Was ist denn los?«, fragte Marie vorsichtig. „Haben die Zwillinge mal wieder was angestellt?«
Ben und Lukas, Kims jüngere Zwillingsbrüder, waren echte Nervensägen. Nicht nur, dass sie ständig in Kims Zimmer platzten, ohne anzuklopfen, nein, sie gingen auch gerne ungefragt an ihren Computer, um eins ihrer geliebten Computerspiele zu spielen. Es war schon vorgekommen, dass sie dabei aus Versehen wichtige Dateien gelöscht hatten. Darum hatte Kim ihren Computer inzwischen mit einem Passwort gesichert, das sie in regelmäßigen Abständen änderte.
»Sie haben doch nicht etwa dein Passwort geknackt und das Detektivtagebuch gelöscht, oder?«, fragte Franzi besorgt.
Kim schüttelte den Kopf. »Nein, das würden sie nicht mal in hundert Jahren schaffen. Dafür sind sie nicht clever genug. Zum Glück kann ich mit Computern immer noch besser umgehen als sie. Und das Detektivtagebuch habe ich sogar mehrfach gesichert.«
Kim, Franzi und Marie waren nicht nur gute Freundinnen, sondern auch Mitglieder des Detektivclubs Die drei !!!. Sie hatten schon zahlreiche Fälle gelöst und waren inzwischen beinahe so etwas wie berühmt. Manchmal mussten sie sogar Autogramme geben! Erst vor wenigen Wochen hatten sie einer gefährlichen Handy-Sekte das Handwerk gelegt und bei dieser Gelegenheit einmal mehr ihre kriminalistischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Kim war als Kopf der drei !!! für das Detektivtagebuch zuständig, in dem sie sehr sorgfältig alle Fälle dokumentierte und den Fortgang der aktuellen Ermittlungen festhielt. Wenn die Daten verschwinden oder in falsche Hände geraten würden, wäre das eine echte Katastrophe.
»Ein Glück!« Franzi lehnte sich erleichtert zurück. »Wie haben die kleinen Kröten es dann geschafft, dich so auf die Palme zu bringen?«
Kim seufzte. »Es geht überhaupt nicht um Ben und Lukas, sondern um meine Mutter.«
»O nein!« Franzi sah Kim mitfühlend an. »Habt ihr euch mal wieder gestritten?«
Eigentlich verstand sich Kim ganz gut mit ihren Eltern. Wenn ihre Mutter nur nicht diesen Schultick hätte! Für Frau Jülich gingen gute Noten über alles. Sie überwachte mit Argusaugen Kims Schularbeiten und bestand darauf, für sämtliche Klassenarbeiten mit ihr zu lernen. Dabei war Kim normalerweise eine sehr gute Schülerin. Wenn sie gerade in einem komplizierten Fall steckte, konnte es allerdings passieren, dass sie die Schule vorübergehend etwas vernachlässigte. Man musste schließlich Prioritäten setzen. Als Kim in der letzten Englischarbeit eine Vier geschrieben hatte, hatte Frau Jülich beinahe einen Nervenzusammenbruch bekommen und ein Riesentheater veranstaltet.
»Es ist so ungerecht!« Kim ballte die Fäuste. »Warum kapiert Mama nicht, dass ich beinahe erwachsen bin und meine eigenen Entscheidungen treffen kann? Stattdessen behandelt sie mich wie ein kleines Kind!«
»Möchtest du?« Marie schob Kim den Schokomuffin hinüber, den sie sich bestellt, aber bis jetzt noch nicht angerührt hatte. »Ich glaube, du brauchst jetzt dringend etwas Süßes.« Sie kannte ihre Freundin fast so gut wie sich selbst und wusste genau, dass Kims Körper in Stresssituationen jede Menge Zucker benötigte.
»Danke! Das ist echt lieb von dir.« Ein Lächeln stahl sich auf Kims Gesicht, und ihre Hände entspannten sich wieder. Genüsslich biss sie in den Muffin.
»Und jetzt erzähl’ der Reihe nach, was los ist«, bat Franzi. »Ich verstehe nämlich immer noch nicht, worum es geht.«
Kim kaute und schluckte. Dann sah sie ihre Freundinnen ernst an. »Unser Zeltausflug in den Pfingstferien ist geplatzt. Meine Mutter erlaubt es nicht.«
»Was?« Marie riss die Augen auf, und ihre ordentlich gezupften Brauen schossen nach oben. Sie war wie immer perfekt zurechtgemacht. Ihr dezentes Make-up ließ ihr Gesicht strahlen, und ihre frisch geföhnten Haare flossen in honigfarbenen Wellen über ihren Rücken. Natürlich war auch ihr Outfit sorgfältig zusammengestellt. Zu einer verwaschenen Jeans, der man ihren astronomisch hohen Preis nicht ansah, trug sie eine Bluse in blauen und grünen Pastelltönen, die gut zu ihren blonden Haaren passte. »Sag bitte, dass das nicht wahr ist!«
Kim seufzte. »Leider doch.«
»Aber warum denn?« Franzi raufte sich ratlos die kurzen, roten Haare. »Hast du deiner Mutter nicht gesagt, dass eine Radtour mit Zelten kaum etwas kostet? Als meine Eltern begriffen haben, dass ich die Reise von meinem Taschengeld finanzieren kann, hatten sie nichts mehr dagegen.«
Herr Winkler verdiente als Tierarzt zwar nicht schlecht, trotzdem konnten und wollten Franzis Eltern ihrer Tochter keine teuren Reisen finanzieren. Ganz im Gegensatz zu Maries Vater. Herr Grevenbroich war ein bekannter Schauspieler und musste schon lange nicht mehr über Geld nachdenken. Er lebte mit Marie in einer schicken Penthouse-Wohnung und las seiner Tochter jeden Wunsch von den Augen ab. Marie bekam so viel Taschengeld, dass sie ihre Freundinnen regelmäßig zum Eisessen oder zu ausgedehnten Shopping-Touren einladen konnte, ein Luxus, den Kim und Franzi sehr genossen.
»Das Geld ist nicht das größte Problem.« Kim nahm noch einen Bissen von Maries Muffin. »Meine Mutter findet es zu gefährlich, wenn wir alleine durch die Gegend radeln und nachts irgendwo zelten.«
»Aber wir sind doch gar nicht allein!«, hielt Franzi dagegen. »Wir sind zu dritt! Was soll da schon passieren?«
Kim zuckte mit den Schultern. »Frag’ mich nicht. Ich kapier’ ja selbst nicht, wo das Problem liegt. Auf jeden Fall erlaubt Mama die Reise nicht, wenn keine erwachsene Aufsichtsperson dabei ist. Schluss, aus, basta!«
»Verflixter Mist!«, schimpfte Franzi. »Dabei hatte ich mich schon so gefreut!«
Seit Wochen fieberten die drei !!! den Pfingstferien entgegen, in denen sie endlich ihre lange geplante Radtour in die Tat umsetzen wollten. Sie hatten Reiseführer gewälzt, Karten studiert und über die beste Route diskutiert. Dann hatten sie beschlossen, einfach ins Blaue hineinzufahren, immer der Nase nach, und sich überraschen zu lassen, wo sie landen würden. Aber nun hatte Frau Jülich ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.
»Ich wusste schon, warum ich das Gespräch mit meiner Mutter so lange hinausgeschoben habe«, sagte Kim. »Irgendwie hatte ich von Anfang an die Befürchtung, sie würde sich querstellen. Seit der Vier in Englisch erlaubt sie mir fast gar nichts mehr. Ständig meckert sie herum, weil ich angeblich zu wenig lerne.«
»Und wenn wir noch mal gemeinsam mit ihr reden?«, schlug Marie vor. »Vielleicht schaffen wir es zu dritt, sie umzustimmen.«
Kim schüttelte den Kopf. »Das bringt nichts. Ich kenne meine Mutter, sie wird ihre Meinung nicht ändern.«
»Und was jetzt?«, fragte Franzi. »Sollen wir in den Pfingstferien einfach zu Hause bleiben und uns zu Tode langweilen?«
Darauf wusste niemand eine Antwort. Eine Weile saßen die drei !!! schweigend da. Marie betrachtete mürrisch ihre perfekt gefeilten Fingernägel, während Franzi ihren Kakao Spezial austrank. Die heiße Schokolade mit Vanillearoma, eine Spezialität des Café Lomo, war das absolute Lieblingsgetränk der drei !!!.
»Vielleicht könnten wir ja woanders hinfahren«, schlug Marie halbherzig vor. Aber sie wusste genauso gut wie ihre Freundinnen, dass Frau Jülich jede Reise »ohne erwachsene Aufsichtsperson« verbieten würde.
Kim lachte bitter. »Wenn es nach meiner Mutter ginge, würde ich die Pfingstferien am Schiertaler See verbringen. Aber das kann sie vergessen, da mache ich nicht mit.«
Franzi horchte auf. »Schiertaler See? Ist das nicht dieser große Stausee?«
Kim nickte. »Genau. Dort wohnt meine Patentante Clarissa. Sie betreibt eine kleine Pension irgendwo am See und hat mich eingeladen.«
»Du hast eine Patentante?«, fragte Marie überrascht. »Das wusste ich gar nicht.«
Kim zuckte mit den Schultern. »Unser Kontakt hat sich bisher auch hauptsächlich auf Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke beschränkt. Ich habe Clarissa seit Jahren nicht gesehen. Eigentlich kenne ich sie gar nicht richtig. Sie ist eine Jugendfreundin meiner Mutter, aber die beiden haben sich nach dem Studium aus den Augen verloren.«
»Und warum lädt dich diese Clarissa jetzt plötzlich ein?«, wollte Franzi wissen.
»Keine Ahnung.« Kim steckte sich den restlichen Muffin in den Mund und genoss den Schokoladengeschmack auf der Zunge. »Mama und Clarissa haben sich vor ein paar Monaten bei ihrem Abitreffen wiedergesehen. Seitdem telefonieren sie wieder regelmäßig miteinander.«
»Vielleicht hat diese Clarissa ein schlechtes Gewissen, weil sie sich jahrelang nicht so richtig um dich gekümmert hat«, vermutete Marie. »Und jetzt will sie das Versäumte nachholen.«
Kim zog eine Grimasse. »Darauf kann ich echt verzichten. Meine Mutter ist natürlich total begeistert von der Idee. Sie versteht überhaupt nicht, warum ich keine Lust habe, Clarissa zu besuchen. Ihr hättet sie hören müssen: ›Jetzt sei doch nicht so undankbar, Kim!‹« Kim ahmte gekonnt die leicht genervte Stimme ihrer Mutter nach. »›Andere Mädchen würden sich freuen, ihre Ferien am Schiertaler See verbringen zu dürfen! Du kannst dort jeden Tag schwimmen, surfen oder segeln!‹« Kim schüttelte sich. »Als ob ich darauf Lust hätte! Mama sollte mich eigentlich besser kennen.«
Kim hasste alles, was mit Sport zu tun hatte. Wenn es irgendwie ging, versuchte sie, unnötige Bewegung zu vermeiden. Ganz im Gegensatz zu Franzi, die ein Ass in Sport war und leidenschaftlich gern reiten oder skaten ging.
Auch jetzt leuchteten ihre Augen sofort auf. »Dort kann man surfen und segeln?«, fragte sie. »Cool!«
Kim ignorierte den Einwurf. Sie wühlte in ihrer Tasche und zog einen zerknitterten Prospekt heraus. »Hier, das hat Mama mir vorhin in die Hand gedrückt. Ein Werbeprospekt vom Schiertaler See, den Clarissa ihr geschickt hat. Als ob ich mich davon umstimmen lassen würde!« Sie schnaufte verächtlich.
»Zeig’ mal her.« Franzi griff nach dem Heft und blätterte es durch. Von Seite zu Seite sah sie begeisterter aus. »Schaut mal!« Sie deutete auf ein Hochglanzfoto, das einen großen See mit funkelndem, blauem Wasser zeigte, auf dem ein paar Segelboote tanzten. »Sieht das nicht traumhaft aus?« Sie überflog den kurzen Werbetext. »Man kann am Schiertaler See nicht nur segeln und surfen, sondern auch tauchen! Und es gibt einen asphaltierten Rundweg, der sich für ausgedehnte Skater-Touren eignet.«
»Man kann dort tauchen?« Jetzt war auch Maries Interesse geweckt. »Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr getaucht. Darauf hätte ich echt mal wieder Lust! Darf ich?« Sie nahm Franzi den Prospekt aus der Hand und studierte ihn aufmerksam. »Wow! Der See ist ein ausgezeichnetes Tauchrevier. Und was das Beste ist: Auf dem Grund befinden sich die Ruinen eines alten Dorfes. Es wurde nach dem Bau des Stausees geflutet. Ich stelle es mir total spannend vor, zu den verfallenen Häusern zu tauchen und sie unter Wasser zu erforschen. Das wäre immerhin ein kleiner Ersatz für den ausgefallenen Gomera-Trip.« Eigentlich hatte Herr Grevenbroich seine Tochter in den Pfingstferien zu einem Tauchurlaub auf La Gomera einladen wollen, aber dann waren ihm kurzfristig angesetzte Dreharbeiten dazwischengekommen. Marie hatte es mit Fassung getragen – vor allem, nachdem ihr Vater ihr als kleines Trostpflaster eine neue Mini-Stereoanlage für ihr Zimmer geschenkt hatte.
Kim sah ihre Freundinnen Kopfschüttelnd an. »Sagt mal, arbeitet ihr neuerdings für das Tourismuszentrum des Schiertaler Sees? Oder hat meine Mutter euch bezahlt, damit ihr mir die Sache schmackhaft macht?«
Franzi grinste. »Hey, gute Idee. Das wäre eine prima Einnahmequelle für mich, ich bin nämlich leider schon wieder so gut wie pleite.« Franzi war nicht gerade die Sparsamste. Sie gab ihr Taschengeld meistens sofort aus und jammerte dann bis zum Ende des Monats herum, weil sie sich nichts mehr leisten konnte.
Marie ließ den Prospekt sinken. »Ich weiß echt nicht, was du hast, Kim. Dieser See bietet wirklich eine Menge Möglichkeiten.«
»Ja, wenn man ein verrückter Sportfreak ist, vielleicht.« Kim warf Marie einen genervten Blick zu. Sie hatte sich etwas mehr Verständnis und Unterstützung von ihren Freundinnen erhofft. Und jetzt fielen sie ihr einfach in den Rücken! Das hatte Kim nach dem Streit mit ihrer Mutter gerade noch gefehlt. Ihre Laune sank auf einen absoluten Tiefpunkt. »Ihr könnt ja zum Schiertaler See fahren, wenn ihr es da so toll findet!«, schimpfte sie. »Dann habt ihr bei meiner Mutter garantiert einen Stein im Brett.«
Franzi und Marie sahen sich an. »Sind wir denn auch eingeladen?«, fragte Franzi ungläubig.
Kim zuckte mit den Schultern. »Das dürfte kein Problem sein. Clarissa hat gesagt, ich kann gerne noch jemanden mitbringen, wenn ich möchte.«
»Also, ich bin dabei«, sagte Marie sofort.
»Ich auch.« Franzis Augen blitzten. Die Enttäuschung über die geplatzte Radtour war wie weggeblasen.
Kim starrte ihre Freundinnen mit offenem Mund an. Für einen Moment hatte es ihr glatt die Sprache verschlagen. »Ist … ist … ist das euer Ernst?«, stammelte sie dann. »Ihr wollt tatsächlich mit mir zu meiner Patentante fahren?«
»Klar«, antwortete Marie.
Auch Franzi nickte. »Das wird bestimmt super! Wir können den ganzen Tag im See baden, surfen, segeln oder tauchen. Wann fahren wir los?«
Kim stöhnte. Warum hatte sie den anderen nur diesen blöden Prospekt gezeigt? Sie wusste doch genau, wie sportbegeistert ihre Freundinnen waren! Eins war klar: Sie musste Franzi und Marie diese Schnapsidee unbedingt wieder ausreden. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, die Pfingstferien an diesem bescheuerten See zu verbringen!
Endlich Ferien!
»Grüß’ Clarissa schön von mir, ja?«, bat Frau Jülich. »Und benimm dich ordentlich, hörst du?«
Kim verdrehte die Augen und sparte sich die Antwort. Ihre Mutter tat mal wieder so, als wäre sie fünf Jahre alt. Zum Glück fuhr in diesem Moment der ICE ein, und Frau Jülichs restliche Ermahnungen gingen im Lärm des nahenden Zuges unter. Kim hasste es, von ihrer Mutter zum Bahnhof gebracht zu werden. Sie bombardierte Kim jedes Mal bis zur letzten Sekunde mit gut gemeinten Ratschlägen, als könnte ihre Tochter selbst keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Außerdem wurde sie immer furchtbar rührselig, wenn es ans Abschiednehmen ging. Wenigstens waren die Zwillinge diesmal nicht dabei. Sie waren bereits gestern zum Pfingstzeltlager ihres Fußballvereins aufgebrochen – nicht ohne Kim vorher stundenlang zu nerven, weil sie unbedingt ihren MP3-Player mitnehmen wollten. Natürlich hatte Kim nein gesagt. Sie hatte sich das Gerät erst kürzlich von ihrem Ersparten gekauft und hütete es wie ihren Augapfel.
Die Bremsen des ICE quietschten, und der Zug kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich zischend und spuckten jede Menge Reisende aus, die sofort über den Bahnsteig strömten. Kim, Frau Jülich, Franzi und Marie bildeten eine kleine Insel mitten im Gewimmel.
»Da hinten ist unser Wagen!« Franzi zeigte auf den übernächsten Waggon, der die Nummer fünf trug. Sie hatten Plätze reserviert, worüber Kim angesichts der Menschenmassen, die sich jetzt in den Zug drängten, heilfroh war.
»Tschüss, Mama.« Kim beschloss, den Abschied am besten kurz und schmerzlos zu gestalten. »Bis nächste Woche.«
Frau Jülich drückte ihre Tochter an sich. »Ruf’ mich gleich an, wenn du da bist, ja?« Ihre Stimme zitterte, und in ihren Augen glitzerten Tränen. Auch das noch! Kim wäre am liebsten im Erdboden versunken. Es war wirklich peinlich, dass ihre Mutter bei jedem Abschied heulen musste.
»Kim, kommst du?« Marie und Franzi waren mit ihrem Gepäck bereits auf dem Weg zu Wagen Nummer fünf. Marie hatte wie immer den größten Koffer dabei, und ihr schickes, knallrotes Beauty-Case durfte natürlich auch nicht fehlen. Franzis Gepäck bestand nur aus einem Rucksack. Und aus ihren geliebten Inlinern, die über ihrer Schulter baumelten. Kim winkte ihrer Mutter noch einmal zu und folgte ihren Freundinnen.
Zehn Minuten später saßen die drei !!! auf ihren Plätzen an einem Vierer-Tisch. Marie hatte einen Taschenspiegel herausgeholt und überprüfte ihr Make-up, während Franzi eine Flasche Cola aus ihrem Rucksack zog und einen großen Schluck nahm. Draußen zog die Landschaft vorbei wie ein Film im Schnelldurchlauf.
»In einer Stunde müssen wir umsteigen.« Kim studierte die Reiseunterlagen. »Dann geht es mit dem Regionalexpress weiter bis Schiertal. Wenn alles glatt geht, sind wir um drei Uhr da.«
»Ich find’s toll, dass wir mal wieder zusammen Urlaub machen.« Franzi reichte die Colaflasche an Kim weiter. »Das Wetter soll übrigens über Pfingsten total schön werden. Sonne und bis zu achtundzwanzig Grad. Genau richtig, um eine Runde um den See zu skaten oder ein bisschen zu surfen.«
Kim rümpfte die Nase. »Ohne mich. Ich werde es mir am Seeufer bequem machen und endlich mal wieder in aller Ruhe lesen.«
Kim hatte in der Bücherei sämtliche Krimi-Neuerscheinungen ausgeliehen und war so bestens mit Lesefutter ausgerüstet. Ihre Leidenschaft für Bücher kam neben dem Detektivclub manchmal etwas zu kurz. Wenn die drei !!! einen neuen Fall hatten, blieb einfach keine Zeit, um in einem Krimi zu schmökern. Dann erlebte Kim ihren eigenen Krimi. Aber an diesem langweiligen Stausee würde bestimmt nichts Spannendes passieren, sodass Kim genug Muße zum Lesen haben würde. Das war auch einer der Gründe gewesen, warum sie schließlich doch damit einverstanden gewesen war, ihre Patentante zu besuchen. Wenn es einen Ort gab, an dem sie garantiert in keinen Fall verwickelt werden würden, dann war es das Urlaubsparadies Schiertaler See. Und ein bisschen Erholung würde den drei !!! nach all der anstrengenden und nervenaufreibenden Ermittlungsarbeit sicher gut tun.
Marie klappte ihren Schminkspiegel zu. »Wenn wir zurückkommen, sind wir bestimmt alle knackig braun gebrannt. Hab ich euch übrigens schon erzählt, dass Adrian mir letztens ein supersüßes Kompliment gemacht hat?« Marie wickelte verträumt eine blonde Haarsträhne um ihren Finger. »Er meinte, meine Augen wären so blau wie das Meer.«
Franzi verzog das Gesicht. »Na, das ist aber nicht gerade originell.«