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Ernest Renan

Das Leben Jesu

Vollständige Ausgabe

Ernest Renan

Das Leben Jesu

Vollständige Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
6. Auflage, ISBN 978-3-954180-97-4

www.null-papier.de/jesu

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Er­nest Ren­an

Ein­lei­tung

Ers­tes Ka­pi­tel – Die Stel­lung Jesu in der Welt­ge­schich­te.

Zwei­tes Ka­pi­tel – Kind­heit und Ju­gend Jesu. Sei­ne ers­ten Ein­drücke.

Drit­tes Ka­pi­tel – Er­zie­hung Jesu.

Vier­tes Ka­pi­tel – Die Ge­dan­ken­ord­nung, in­ner­halb der sich Je­sus ent­wi­ckelt.

Fünf­tes Ka­pi­tel – Die ers­ten Apho­ris­men Jesu. – Sei­ne Ide­en von ei­nem Gott­va­ter und von ei­ner rei­nen Re­li­gi­on. – Sei­ne ers­ten Jün­ger.

Sechs­tes Ka­pi­tel – Jo­han­nes der Täu­fer. – Jesu Rei­se zu Jo­han­nes und sein Auf­ent­halt in der Wüs­te von Ju­däa. – Er nimmt von Jo­han­nes die Tau­fe an.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Ent­wick­lung der Ge­dan­ken Jesu über das Reich Got­tes

Ach­tes Ka­pi­tel – Je­sus zu Ka­per­na­um.

Neun­tes Ka­pi­tel – Die Jün­ger Jesu

Zehn­tes Ka­pi­tel – Pre­dig­ten am See.

Elf­tes Ka­pi­tel – Das Reich Got­tes als Herr­schaft der Ar­men hin­ge­stellt.

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Bot­schaft des ge­fan­ge­nen Jo­han­nes an Jesu. Jo­han­nes Tod. Be­zie­hun­gen sei­ner Schu­le zu der des Jesu.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Die ers­ten Ver­su­che in Je­ru­sa­lem.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Jesu Be­zie­hun­gen zu den Hei­den und zu den Sa­ma­ri­tern.

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Be­ginn der Le­gen­de Jesu. – Die Vor­stel­lung, die er selbst von sei­ner über­na­tür­li­chen Rol­le hat.

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Wun­der.

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Die de­fi­ni­ti­ve Form der Ge­dan­ken Jesu über das Got­tes­reich.

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Die In­sti­tu­tio­nen Jesu.

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel – Wach­sen­der Fort­schritt der Be­geis­te­rung und der Exal­ta­ti­on.

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Op­po­si­ti­on ge­gen Jesu.

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Die letz­te Rei­se Jesu nach Je­ru­sa­lem.

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – An­schlä­ge der Fein­de Jesu.

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Letz­te Wo­che Jesu.

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Ver­haf­tung und Pro­zess Jesu.

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Der Tod Jesu.

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Je­sus im Gra­be.

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Schick­sal der Fein­de Jesu.

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – We­sent­li­cher Cha­rak­ter des Wer­kes Jesu.

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Ernest Renan

Er­nest Ren­an wur­de am 27. Fe­bru­ar 1823 in Tré­guier, De­par­te­ment Côte du Nord, Frank­reich, ge­bo­ren. Mit der Ab­sicht dem Pries­ter­stand sich zu wei­hen, trat er 1844 in das Se­mi­nar zu Pa­ris, doch ver­ließ er es bald um sich nun­mehr dem Stu­di­um der ori­en­ta­li­schen Spra­chen zu wid­men. Im Jah­re 1856 wur­de er Mit­glied der Aka­de­mie. Vier Jah­re spä­ter über­nahm er die Lei­tung der wis­sen­schaft­li­chen Ex­pe­di­ti­on zur Durch­for­schung des al­ten Phö­ni­zi­ens. Von hier aus hat­te er – wie er in der Ein­lei­tung sei­nes Wer­kes auch er­wähn­te – Ge­le­gen­heit, die Stät­ten ken­nen zu ler­nen, wo Je­sus ge­bo­ren wur­de und her­an­reif­te; und im Mor­gen­land ent­warf er auch sein Werk: »Vie de Jésu«, das be­stimmt war, den ers­ten Band zu sei­ner um­fang­rei­chen »Ge­schich­te der An­fän­ge des Chris­ten­tums« zu bil­den. Heim­ge­kehrt, wur­de er (1862) Pro­fes­sor für die he­bräi­sche Spra­che an dem Pa­ri­ser Colé­ge de Fran­ce und vollen­de­te da­bei das er­wähn­te Buch. Die­ses er­schi­en ein Jahr spä­ter und er­reg­te ein ge­wal­ti­ges Auf­se­hen, aber da­bei auch den Hass der Kle­ri­ka­len. Die­sen zu­lie­be wur­de er im Juli 1863 sei­nes Am­tes ent­ho­ben. Die ihm von der Re­gie­rung an Stel­le des­sen an­ge­bo­te­ne Biblio­the­kar­stel­le lehn­te er ab. Erst 1871, nach dem Sturz des fran­zö­si­schen Kai­ser­reichs, nahm er sei­ne Vor­le­sun­gen wie­der auf.

Es war dem Ver­fas­ser ge­gönnt sein Werk ganz zu vollen­den und es folg­ten dem »Le­ben Jesu«: »Die Apos­tel«, »Der hei­li­ge Pau­lus«, »Der An­ti­christ«, »Die Evan­ge­lis­ten und die Zwei­te christ­li­che Ge­ne­ra­ti­on«, »Die christ­li­che Kir­che« und als Schluss »Mark Au­rel und das Ende der an­ti­ken Welt«. Ja es war ihm so­gar ge­gönnt, ein nicht min­der be­deut­sa­mes Werk in sei­ner »Ge­schich­te des Vol­kes Is­rael« zu schaf­fen. Über­dies schrieb er noch zahl­rei­che wis­sen­schaft­li­che Wer­ke und auch ei­ni­ge phi­lo­so­phi­sche Dra­men.

Da­vid Haek

Einleitung

Eine Ge­schich­te der »An­fän­ge des Chris­ten­tums« müss­te die gan­ze dunkle, so­zu­sa­gen un­ter­ir­di­sche Pe­ri­ode um­fas­sen, die sich von den ers­ten Re­gun­gen die­ser Re­li­gi­on bis auf den Zeit­punkt er­streckt, wo ihre Exis­tenz eine öf­fent­li­che, be­kann­te, je­der­mann kla­re Tat­sa­che wur­de. Eine der­ar­ti­ge Ge­schich­te wür­de aus vier Tei­len be­ste­hen. Der ers­te, den ich hier­mit ver­öf­fent­li­che, er­ör­tert die Tat­sa­che, die dem neu­en Kul­tus als Aus­gangs­punkt ge­dient hat: er be­schäf­tigt sich nur mit der heh­ren Per­son des Stif­ters. Der zwei­te Teil wür­de sich mit den Apos­teln und ih­ren un­mit­tel­ba­ren Schü­lern be­schäf­ti­gen, oder bes­ser ge­sagt, mit den Um­wäl­zun­gen, die der re­li­gi­öse Ge­dan­ke in den ers­ten zwei Ge­ne­ra­tio­nen aus­ge­setzt war. Ich wür­de ihn etwa mit dem Jah­re 100 ab­schlie­ßen, mit dem Zeit­punkt, wo die letz­ten Ge­nos­sen Jesu ge­stor­ben wa­ren und wo sämt­li­che Schrif­ten des Neu­en Te­sta­ments so ziem­lich ihre jet­zi­ge Ge­stalt schon er­hal­ten hat­ten. Der drit­te Teil wür­de das Chris­ten­tum un­ter den An­to­ni­ern dar­stel­len, zei­gen, wie es sich lang­sam ent­wi­ckel­te und einen bei­na­he ste­ten Kampf ge­gen Rom führ­te, das da­mals den Gip­fel ad­mi­nis­tra­ti­ver Voll­kom­men­heit er­reicht hat­te, von Phi­lo­so­phen re­giert wur­de und das in der neu­en Sek­te eine ge­hei­me, theo­kra­ti­sche Ver­bin­dung sah, wel­che die be­ste­hen­de Ord­nung hart­nä­ckig ver­leug­ne, sie be­stän­dig un­ter­gra­be. Die­ser Teil wür­de die Zeit des gan­zen 2. Jahr­hun­derts um­fas­sen. Der vier­te Teil end­lich wür­de den be­deu­ten­den Fort­schritt schil­dern, wel­chen das Chris­ten­tum mit dem Be­ginn der sy­ri­schen Kaiser­herr­schaft ge­macht hat. Es wür­de sich da zei­gen, wie der Wis­sens­bau der An­to­ni­den zu­sam­men­stürz­te, der Ver­fall an­ti­ker Zi­vi­li­sa­ti­on un­ab­wend­lich ein­trat; wie das Chris­ten­tum durch die­sen Ver­fall ge­wann, Sy­ri­en, das gan­ze Abend­land er­ober­te und Je­sus in Ge­sell­schaft der Göt­ter und gött­lich ver­ehr­ter Wei­sen Asi­ens in Be­sitz ei­ner Ge­sell­schaft ge­lang­te, der die Phi­lo­so­phie und der rein bür­ger­li­che Staat nicht mehr ge­nü­gen konn­te. Zu die­ser Zeit ver­än­der­ten sich auch ge­wal­tig die re­li­gi­ösen An­schau­un­gen der an den Ufern des Mit­tel­mee­res an­säs­si­gen Völ­ker. Der ori­en­ta­li­sche Kul­tus kam über­all zur Macht; das Chris­ten­tum wur­de zu ei­ner großen Kir­che, ver­gaß völ­lig die Träu­me­rei­en vom tau­send­jäh­ri­gen Reich, zer­riss die letz­ten Fä­den, die es noch an das Ju­den­tum knüpf­ten und ging völ­lig in die Welt des Grie­chen­tums und Rö­mer­tums über. Die Kämp­fe und die Ge­lehr­ten­ar­beit des 3. Jahr­hun­derts, die be­reits deut­lich her­vor­tre­ten, wür­den in die­sem Tei­le nur im All­ge­mei­nen ge­schil­dert wer­den. Noch kür­zer wür­de ich dar­stel­len die Ver­fol­gun­gen zum Be­ginn des 4. Jahr­hun­derts, die letz­ten Ver­su­che Roms zu den al­ten Grund­sät­zen zu­rück­zu­keh­ren, wo­nach der re­li­gi­ösen Ver­bin­dung je­der Zu­las­sung im Rei­che ver­wehrt wor­den wäre. End­lich wür­de ich den po­li­ti­schen Um­schwung nur an­deu­ten, der ein­trat, als un­ter Kon­stan­tin die Rol­len wech­sel­ten und aus frei­em in­ne­ren An­trieb ein dem Staa­te un­ter­wor­fe­nen Kul­tus ent­ste­hen ließ, wel­cher jetzt sei­ner­seits als Ver­fol­ger auf­trat.

Ob ich lan­ge ge­nug le­ben und Kraft ge­nug be­sit­zen wer­de die­sen großen Plan aus­zu­füh­ren, weiß ich nicht. Ich wer­de be­frie­digt sein, wenn es mir, nach­dem ich »Das Le­ben Jesu« vollen­det ha­ben wer­de, ge­gönnt wäre zu sa­gen, wie ich die Ge­schich­te der Apos­tel auf­fas­se, den Zu­stand christ­li­chen Be­wusst­seins in den nächs­ten Wo­chen nach Jesu Tod, die Bil­dung des Le­gen­den­krei­ses von der Au­fer­ste­hung, die ers­ten Hand­lun­gen der Kir­che von Je­ru­sa­lem, das Le­ben Pau­li, die Kri­sis zur­zeit Ne­ros, das Er­schei­nen der Apo­ka­lyp­se, die Zer­stö­rung Je­ru­sa­lems, die Grün­dung der jü­di­schen Chris­ten­ge­mein­de zu Ba­ta­nea, die Her­stel­lung der Evan­ge­li­en, der Ur­sprung der großen von Jo­han­nes aus­ge­gan­ge­nen Schu­len Klein­asi­ens. Es ist eine sel­te­ne Er­schei­nung in der Ge­schich­te, dass wir bes­ser wis­sen was in der christ­li­chen Welt vom Jah­re 50–75 ge­sche­hen ist, als das vom Jah­re 100 bis 150.

Der Plan, den ich im vor­lie­gen­den Wer­ke an­wen­de­te, ließ es nicht zu, dass ich über strit­ti­ge Text­stel­len lan­ge kri­ti­sche Ab­hand­lun­gen gebe. Die bei­ge­füg­ten An­mer­kun­gen je­doch er­mög­li­chen dem Le­ser alle hier fol­gen­den Be­haup­tun­gen nach den Quel­len zu prü­fen. Ich habe mich hier­bei ge­nau auf Zi­ta­te aus ers­ter Hand be­schränkt, dass heißt die Ori­gi­nal­stel­len an­ge­führt, auf die sich jede Be­haup­tung oder Ver­mu­tung stützt.1 Wohl weiß ich es, dass für Leu­te, die mit sol­chem Stu­di­um we­ni­ger ver­traut sind, eine ganz an­de­re Ent­wi­cke­lung nö­tig ist; al­lein ich bin nicht ge­wöhnt noch ein­mal zu ma­chen, was be­reits ge­macht, gut ge­macht ist. Wer da auf die Sa­che nä­her ein­ge­hen will, dem emp­feh­le ich vor al­lem: Strauß, »Le­ben Jesu«.

Wer die­ses treff­li­che Werk vor­nimmt, der wird so man­che Auf­klä­rung von Stel­len dar­in fin­den, die ich nur ober­fläch­lich be­rüh­ren konn­te. Be­son­ders die Text­kri­tik der Evan­ge­li­en ist von Strauß in ei­ner Wei­se voll­bracht wor­den, die nur we­nig zu wün­schen üb­rig ließ.

Was die Zeug­nis­se aus dem Al­ter­tum be­trifft, so habe ich, mei­ner Mei­nung nach, kei­ne ein­zi­ge Quel­le au­ßer acht ge­las­sen. Es sind uns fünf große Schrif­ten­samm­lun­gen über­lie­fert wor­den – von der Fül­le ein­zel­ner zer­streu­ter Da­ten ab­ge­se­hen – die sich mit Je­sus und sei­ner Zeit be­schäf­ti­gen. Es sind dies: 1) die Evan­ge­li­en und über­haupt die Schrif­ten des Neu­en Te­sta­men­tes, 2) die so­ge­nann­ten Apo­kry­phen des Al­ten Te­sta­men­tes, 3) die Wer­ke Phi­los, 4) die Wer­ke Jo­se­phus, 5) der Tal­mud.

Von un­schätz­ba­rem Wer­te sind die Schrif­ten Phi­los, denn sie zei­gen uns, wel­che An­schau­un­gen zur­zeit Jesu im Geis­te je­ner le­ben­dig wa­ren, die sich mit den großen re­li­gi­ösen Fra­gen be­schäf­tig­ten. Zwar leb­te Phi­lo in ei­ner an­de­ren Pro­vinz als Je­sus, aber so wie die­ser war auch er frei von al­len Klein­lich­kei­ten, die da­mals in Je­ru­sa­lem herrsch­ten. Er kann als äl­te­rer Ge­nos­se Jesu gel­ten. Zwei­und­sech­zig Jah­re zähl­te er, als der Pro­phet von Na­za­reth auf der Höhe sei­nes Wir­kens stand, und er über­leb­te ihn etwa um zehn Jah­re. Scha­de doch, dass ihn der Zu­fall nicht nach Ga­li­läa führ­te! Wie vie­les wür­den wir dann von ihm er­fah­ren ha­ben!

We­ni­ger Auf­rich­tig­keit zeigt in sei­nem Sti­le Jo­se­phus, der haupt­säch­lich für die Hei­den schrieb. Sei­ne kur­z­en Be­mer­kun­gen über Je­sus, Jo­han­nes den Täu­fer, Ju­das den Ga­lo­ni­ter sind tro­cken und matt. Man merk­te, dass er Er­eig­nis­se, die gänz­lich den Stem­pel jü­di­schen Cha­rak­ters und Geis­tes tra­gen, in ei­ner Wei­se dar­zu­stel­len such­te, die dem Ver­ständ­nis der Grie­chen und Rö­mer nahe la­gen. Die Stel­le über Je­sus (Ant. XVIII, III, 3) hal­te ich für au­then­tisch. Sie ent­spricht den An­schau­un­gen Jo­se­phus, so und nicht an­ders konn­te er von Je­sus spre­chen. Al­lein es lässt sich er­ken­nen, dass die­se Stel­le von ei­ner christ­li­chen Hand ver­bes­sert wur­de; es wur­den ei­ni­ge Wor­te zu­ge­fügt, ohne die sie bei­na­he Got­tes­läs­te­rung ge­we­sen wäre, viel­leicht wur­den auch ei­ni­ge Aus­drücke ge­än­dert oder ganz be­sei­tigt. Man muss in Be­tracht zie­hen, dass Jo­se­phus zur lit­te­ra­ri­schen Be­deu­tung durch die Chris­ten kam, die sei­ne Wer­ke als wich­ti­ge Ur­kun­den für ihre hei­li­ge Ge­schich­te gel­ten lie­ßen. Wahr­schein­lich wur­de von die­sen Schrif­ten im 2. Jahr­hun­dert eine nach christ­li­chen An­schau­un­gen ver­bes­ser­te Aus­ga­be ver­an­stal­tet. Be­son­ders die hel­len Schlag­lich­ter, die Jo­se­phus auf sei­ne Zeit wirft, sind es, die sei­nen Schrif­ten eine be­son­de­re Wich­tig­keit für un­se­ren Ge­gen­stand ver­lei­hen. Sie sind es, die He­ro­des, He­ro­di­as, An­ti­pas, Phil­ip­pus, Han­na, Kai­phas, Pila­tus fast sicht­bar und greif­bar uns vor­stel­len.

Die Apo­kry­phen des Al­ten Te­sta­ments, be­son­ders der he­bräi­sche Teil der sy­bil­li­ni­schen Ver­se, das Buch He­noch, auch das Buch Da­niel, das gleich­falls wirk­lich apo­kryph ist, sind von be­son­de­rer Be­deu­tung für die Ge­schich­te der Ent­wi­cke­lung der mes­sia­ni­schen Leh­re und für das Ver­ständ­nis, wie Je­sus das Reich Got­tes auf­ge­fasst hat. Be­son­ders das in der Um­ge­bung Jesu viel­ge­le­se­ne Buch He­noch gibt uns Auf­klä­rung über den Aus­druck »Men­schen­sohn« und den hier­mit ver­bun­de­nen An­schau­un­gen. Das Al­ter die­ser Wer­ke ist heu­te nicht mehr zwei­fel­haft, dank den Ar­bei­ten von Alex­and­re, Ewald, Dill­mann, Reuß. Sie stim­men völ­lig über­ein, dass die wich­tigs­ten die­ser Schrif­ten im zwei­ten und ers­ten Jahr­hun­dert vor Chris­tum ent­stan­den sind. Die Ent­ste­hungs­zeit des »Buch Da­niel« lässt sich noch be­stimm­ter an­ge­ben. Der Cha­rak­ter der bei­den Spra­chen, in de­nen es ver­fasst ist, der Ge­brauch grie­chi­scher Wör­ter, die deut­li­che, ge­naue An­ga­be von Ge­scheh­nis­sen, die bis in die Zeit des An­tio­chus Epi­pha­nes rei­chen, die falsche Dar­stel­lung des al­ten Ba­by­lons, fer­ner der gan­ze Ton des Wer­kes, der mit nichts an die Schrif­ten aus der Zeit der Ge­fan­gen­schaft er­in­nert, viel­mehr durch eine Fül­le von Ana­lo­gi­en der Glau­bens­rich­tung, eher den Bräu­chen und der An­schau­ungs­wei­se der Se­leu­ci­den­zeit ent­spricht, die apo­ka­lyp­ti­sche Art der Vi­sio­nen, die Stel­le die die­ses Werk im he­bräi­schen Ka­non au­ßer­halb der Rei­he der Pro­phe­ten ein­nimmt, end­lich das Feh­len des Na­mens Da­niels in der Lo­b­re­de des Pre­di­gers Sa­lo­mo­nis, 49. Ka­pi­tel, wo sei­ne Stel­lung ge­wis­ser­ma­ßen an­ge­deu­tet war und noch viel an­de­re wie­der­holt dar­ge­leg­te Be­wei­se, las­sen kei­nen Zwei­fel zu, dass das Buch Da­niel die Frucht je­ner großen Auf­re­gung war, die bei den Ju­den durch die von An­tio­chus aus­ge­hen­de Ver­fol­gung ent­stand. Es ge­hört nicht zu der al­ten Pro­phe­ten­lit­te­ra­tur, es ge­hört viel­mehr an die Spit­ze der apo­ka­lyp­ti­schen, als ers­tes ei­ner Art, zu der die spä­te­ren Dich­tun­gen: das Buch He­noch, die Of­fen­ba­rung Jo­han­nes, die Him­mel­fahrt Je­sai­as, das vier­te Buch Esra, zu zäh­len sind.

Für die Ge­schich­te der An­fän­ge des Chris­ten­tums ist bis­her der Tal­mud nicht ge­nug be­ach­tet wor­den. Ich bin der An­sicht Gei­gers, dass das rech­te Ver­ständ­nis der Ver­hält­nis­se un­ter de­nen Je­sus auf­trat in die­ser selt­sa­men Kom­pi­la­ti­on ge­sucht wer­den muss, wo so vie­le wert­vol­le Mit­tei­lun­gen mit be­deu­tungs­lo­ser Scho­las­tik ver­mischt sind. Die christ­li­che und die jü­di­sche Theo­lo­gie sind ei­gent­lich in zwei par­al­le­len Bah­nen ge­wan­delt, es kann da­her die Ge­schich­te der einen ohne die der an­de­ren nicht recht ver­stan­den wer­den. Über­dies gibt der Tal­mud zu sehr vie­len ma­te­ri­el­len Ein­zel­hei­ten die Er­klä­rung. Schon die um­fas­sen­den la­tei­ni­schen Samm­lun­gen von Light­food, Schoett­gen, Bux­dorf, Otho bo­ten nach die­ser Rich­tung hin eine Fül­le be­leh­ren­der Mit­tei­lun­gen. Ich habe es mir zur Pf­licht ge­macht, alle von mir ge­ge­be­nen Zi­ta­te nach dem Ori­gi­nal zu prü­fen. Die Mit­hil­fe ei­nes ge­lehr­ten, in der Tal­mud­lit­te­ra­tur sehr er­fah­re­nen Ju­dens, des Herrn Neu­bau­er, ge­stat­te­te mir hier­bei noch wei­ter zu ge­hen und den dun­kels­ten Punk­ten mei­ner Un­ter­su­chung ei­ni­ge neue Auf­klä­run­gen zu ge­ben. Eine ge­naue Un­ter­schei­dung der ein­zel­nen Zeit­ab­schnit­te ist hier sehr wich­tig, da die Ab­fas­sung des Tal­muds die Zeit vom Jah­re 200 bis etwa 500 um­fasst. Wir ha­ben die Sa­che so­weit auf­zu­klä­ren ge­sucht, als dies bei dem jet­zi­gen Stand die­ser Stu­di­en mög­lich ist. Bei je­nen, die ge­wohnt sind, ei­nem Schrift­stück nur hin­sicht­lich der Zeit in der es ver­fasst wur­de einen Wert zu­zu­spre­chen, wer­den so neue Da­ten wohl ei­ni­ge Be­den­ken er­re­gen, doch sind die­se hier kei­nes­wegs am Plat­ze. Von der has­monei­schen Zeit bis zum zwei­ten Jahr­hun­dert er­folg­te bei den Ju­den die Über­lie­fe­rung zu­meist nur münd­lich; doch darf man der­glei­chen nicht mit dem Maß­sta­be ei­ner Zeit, in der viel ge­schrie­ben wird, mes­sen. Die Ve­den, die al­ten ara­bi­schen Dich­tun­gen sind durch Jahr­hun­der­te münd­lich fort­ge­pflanzt wor­den und den­noch er­schei­nen sie in ab­ge­run­de­ter, zar­ter Form. Im Tal­mud je­doch hat die Form gar kei­nen Wert. Ich be­mer­ke dazu, dass schon vor der Misch­na Ju­das des Hei­li­gen, die alle an­de­ren in den Hin­ter­grund dräng­te, Ver­su­che der Her­stel­lung statt­fan­den, de­ren An­fän­ge viel­leicht wei­ter zu­rück­wei­chen als man ge­wöhn­lich an­nimmt. Der Stil des Tal­muds ist der von No­ti­zen. Die­je­ni­gen, die ihn zu­sam­men­stell­ten, ha­ben ver­mut­lich nichts mehr ge­tan, als die große Men­ge Schrif­ten, die sich in ver­schie­de­nen Schu­len durch Ge­ne­ra­tio­nen an­ge­häuft hat­ten, un­ter be­stimm­ten Ti­teln zu ord­nen.

Noch habe ich von den Schrif­ten zu spre­chen, die bei ei­ner Dar­stel­lung des Le­ben Jesu den ers­ten Rang ein­neh­men, weil sie als Le­bens­be­schrei­bung des Grün­ders des Chris­ten­tums er­schei­nen. Eine voll­stän­di­ge Er­ör­te­rung über die Ab­fas­sung der Evan­ge­li­en böte an und für sich schon ein Werk. Dank der tüch­ti­gen Ar­bei­ten, die seit drei­ßig Jah­ren auf die­sem Ge­bie­te ge­leis­tet wur­den, ist ein Pro­blem, das frü­her für un­lös­lich schi­en, in ei­ner Wei­se ge­löst wor­den, die den Be­dürf­nis­sen der Ge­schich­te völ­lig zu ge­nü­gen ver­mag, ob­gleich sie noch man­chen Zwei­fel zu­lässt. In mei­nem nächs­ten Wer­ke wer­de ich Ge­le­gen­heit ha­ben, auf die­sen Ge­gen­stand zu­rück­zu­kom­men, denn die Her­stel­lung der Evan­ge­li­en ist eine der wich­tigs­ten Er­eig­nis­se, das in der zwei­ten Hälf­te des ers­ten Jahr­hun­derts für die Zu­kunft des Chris­ten­tums ge­sche­hen ist. Hier sei nur ein ein­zi­ger Um­stand be­rührt, der für mei­ne Dar­stel­lung un­be­dingt nö­tig ist. Was sich auf die Schil­de­rung der apo­sto­li­schen Zeit be­zieht, las­se ich un­be­rührt; ich wer­de nur un­ter­su­chen in­wie­fern die Da­ten der Evan­ge­li­en in ei­ner ra­tio­nell dar­ge­stell­ten Ge­schich­te ver­wen­det wer­den kön­nen.

Zwei­fel­los ist es, dass die Evan­ge­li­en teil­wei­se Le­gen­de sind, denn sie sind voll der Wun­der und des Über­na­tür­li­chen. Aber es gibt Le­gen­den und Le­gen­den. Kei­ner be­zwei­felt die Rich­tig­keit der Haupt­zü­ge in der Schil­de­rung des Le­bens des hei­li­gen Franz von As­si­si, trotz­dem wir da­bei auf eine Men­ge des Über­na­tür­li­chen sto­ßen. An­der­seits wie­der wird nie­mand die Dar­stel­lung des Le­bens Apol­lo­ni­us von Tya­na für wahr gel­ten las­sen, weil sie lan­ge Zeit nach dem Hel­den ver­fasst wur­de und sich nur als Ro­man dar­bie­tet. Wann, von wem und un­ter wel­chen Um­stän­den sind die Evan­ge­li­en ver­fasst wor­den? Das ist die Haupt­fra­ge von der die Mei­nung über die Glaub­wür­dig­keit ab­hängt.

Be­kannt­lich trägt je­des Evan­ge­li­um den Na­men ei­ner Per­son, die in der Apos­tel­ge­schich­te oder in der Evan­ge­li­en­ge­schich­te be­kannt ist. Die­se vier Per­so­nen wer­den ei­gent­lich nicht als die Ver­fas­ser be­zeich­net. Die Be­zeich­nun­gen »nach Mat­thä­us«, »nach Mar­kus«, »nach Lu­kas«, »nach Jo­han­nes« be­sa­gen kei­nes­wegs, wie frü­her ge­glaubt wur­de, dass die­se Mit­tei­lun­gen vom An­fang bis zum Ende von den Be­nann­ten nie­der­ge­schrie­ben wur­den. Sie deu­ten nur an, dass es die Über­lie­fe­run­gen sind, die von je­dem die­ser Apos­tel ab­stam­men und auf de­ren Au­to­ri­tät sich stüt­zen. Klar ist, dass wenn die­se Be­zeich­nun­gen ge­nau sind, die Evan­ge­li­en vom ho­hen Wer­te sind, mag ein Teil da­von auch Le­gen­de sein. Denn sie füh­ren uns zu dem hal­b­en Jahr­hun­dert zu­rück, das dem Le­ben Jesu folg­te, in zwei Fäl­len so­gar zu den Au­gen­zeu­gen sei­nes Wir­kens.

Was vor al­lem Lu­kas be­trifft, so ist kein Zwei­fel mög­lich. Das Evan­ge­li­um Lu­kas ist eine re­gel­rech­te, aus äl­te­ren Schrif­ten auf­ge­bau­te Ar­beit (Luk. I, 1–4). Es ist das Werk ei­nes Man­nes, der wählt, sich­tet, ver­bin­det. Sein Ver­fas­ser und der der Apos­tel­ge­schich­te ist si­cher­lich ein und die­sel­be Per­son (Apos­telg. I, 1) Der Ver­fas­ser die­ses Wer­kes ist ein Ge­nos­se Pau­li, was auf Lu­kas völ­lig passt. Die­ser Fol­ge­rung, ich weiß es wohl, kann so man­cher Ein­wand ent­ge­gen­ge­setzt wer­den, je­doch scheint ei­nes zwei­fel­los: dass der Ver­fas­ser des drit­ten Evan­ge­li­ums und der Apos­tel­ge­schich­te ein Mann aus der drit­ten Apos­tel­ge­ne­ra­ti­on war. Und die­ser Um­stand ge­nügt für un­sern Zweck. Die Zeit die­ses Evan­ge­li­ums lässt sich über­dies ziem­lich ge­nau be­stim­men durch Schlüs­se aus dem Wer­ke selbst. Ka­pi­tel XXI, das von dem an­de­ren Teil des Bu­ches nicht ge­trennt wer­den kann, ist si­cher­lich kur­ze Zeit nach der Be­la­ge­rung von Je­ru­sa­lem ge­schrie­ben wor­den (Vers 9, 20, 24, 28, 32, XXII 36). Hier ist also fes­ter Bo­den. Es ist ein Werk, das ganz von ei­ner Hand her­rührt und eine voll­stän­di­ge Ein­heit aus­weist.

Die Evan­ge­li­en des Mat­thä­us und des Mar­kus wei­sen nicht die­sel­be per­sön­li­che Prä­gung auf. Sie sind so­zu­sa­gen un­per­sön­li­che Ar­bei­ten, wo die Ver­fas­ser ganz ver­schwin­den. Der Name an der Spit­ze sol­cher Wer­ke will nicht viel be­deu­ten. Aber nicht nur bei Lu­kas, auch bei den Evan­ge­li­en des Mat­thä­us und des Mar­kus lässt sich der Zeit­punkt be­stim­men. Es ist näm­lich zwei­fel­los, dass das drit­te Evan­ge­li­um spä­ter als die bei­den ers­ten ver­fasst wur­den und die Zei­chen ei­ner viel bes­se­ren Re­dak­ti­on auf­wei­sen. Auch ha­ben wir da ein wich­ti­ges Zeug­nis aus der ers­ten Hälf­te des zwei­ten Jahr­hun­derts. Es rührt von Pa­pi­as her, dem Bi­schof von Hiera­po­lis, ei­nem wür­di­gen Man­ne, der sein le­be­lang be­müht war, al­les zu sam­meln, was er über die Per­son Jesu er­fah­ren konn­te. Nach­dem er be­merkt hat, dass er be­treffs die­ser Sa­che die münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen der Bü­cher vor­zie­he, er­wähn­te er zwei Schrif­ten, die sich mit den Wor­ten und Ta­ten Chris­ti be­schäf­ti­gen: 1) eine Schrift von Mar­kus, Dol­met­scher des Apos­tel Pe­tri, die kurz ge­schrie­ben ist, un­voll­stän­dig und nicht chro­no­lo­gisch ge­ord­net und Re­den und Er­zäh­lun­gen ent­hält (λεχθένταπρακθέντα), die nach den Mit­tei­lun­gen aus den Erin­ne­run­gen des Apos­tels Pe­tri ver­zeich­net wur­den; 2) eine he­brä­isch ge­schrie­be­ne Samm­lung von Sprü­chen (λόγια) von Mat­thä­us, die je­der, wie er es ver­moch­te, über­setzt hat. Die­se bei­den Be­schrei­bun­gen ent­spre­chen ziem­lich ge­nau den zwei Bü­chern, die jetzt als Mat­thäu­sevan­ge­li­um und als Mar­ku­sevan­ge­li­um gel­ten. Ers­te­res kenn­zeich­net sich durch sei­ne lan­gen Re­den, das zwei­te ist an­ek­do­ten­ar­tig, in den Ein­zel­hei­ten ge­nau­er als das ers­te, kurz bis zur Tro­cken­heit, arm an Re­den und schlecht re­di­giert. Frei­lich lässt sich nicht be­haup­ten, dass die­se zwei Bü­cher in ih­rer heu­ti­gen Ge­stalt ge­nau die­sel­ben sind, die Pa­pi­as vor­la­gen. Denn das Werk Mat­thä­us be­stand nach Pa­pi­as nur aus Re­den in he­bräi­scher Spra­che, von wel­chen meh­re­re un­ter­schied­li­che Über­set­zun­gen im Ver­kehr wa­ren, fer­ner wa­ren ihm die Schrif­ten des Mar­kus und des Mat­thä­us zwei grund­ver­schie­de­ne Wer­ke, ohne ir­gend­wel­chen Zu­sam­men­hang und, wie es scheint, je­des auch in ei­ner an­de­ren Spra­che ver­fasst. Die uns vor­lie­gen­den Tex­te die­ser zwei Evan­ge­li­en ent­hal­ten je­doch Par­al­lel­stel­len, die so lang und so gleich­lau­tend sind, dass man an­neh­men muss, ent­we­der hat­te der letz­te Re­dak­teur des ers­te­ren Wer­kes das zwei­te be­nutzt, oder um­ge­kehrt, der letz­te Re­dak­teur des zwei­ten Wer­kes das ers­te, oder schließ­lich, bei­de ha­ben das­sel­be Ori­gi­nal be­nutzt. Wahr­schein­lich ist, dass wir we­der bei dem einen noch bei dem an­de­ren die ur­sprüng­li­che Fas­sung be­sit­zen, dass un­se­re bei­den Evan­ge­li­en Be­ar­bei­tun­gen sind, wo­bei die Lücken des einen Tex­tes durch den Text des an­de­ren Wer­kes er­gänzt wur­den. Je­der woll­te ein voll­stän­di­ges Werk ha­ben. Wer in sei­nem Bu­che nur die Re­den hat­te, woll­te auch die Er­zäh­lun­gen be­sit­zen und um­ge­kehrt. Der­art hat das Mat­thäu­sevan­ge­li­um all­mäh­lich al­les An­ek­do­ten­haf­te des Mar­ku­sevan­ge­li­ums auf­ge­nom­men; und so ge­sch­ah es auch, dass die­ses wie­der vie­les ent­hält, was von den Lo­gia des Mat­thä­us ab­stammt. Über­dies be­nutz­te je­der auch reich­lich die Evan­ge­li­en­tra­di­ti­on, die in sei­ner Um­ge­bung sich fort­pflanz­te. Die­se Tra­di­ti­on wur­de in den Evan­ge­li­en nicht völ­lig auf­ge­nom­men; die Apos­tel­ge­schich­te und die Kir­chen­vä­ter zi­tie­ren man­ches Wort Jesu, das au­then­tisch zu sein scheint, je­doch in kei­nem der uns über­lie­fer­ten Evan­ge­li­en zu fin­den ist.

Für un­se­ren Ge­gen­stand ist es nicht nö­tig die­se ge­naue Zer­glie­de­rung fort­zu­set­zen, zu ver­su­chen fest­zu­stel­len, wel­ches die ur­sprüng­li­chen Lo­gia des Mat­thä­us und wel­ches die ur­sprüng­li­chen Er­zäh­lun­gen des Mar­kus sind. Si­cher­lich stel­len die Lo­gia die lan­gen Re­den Jesu dar, die einen be­trächt­li­chen Teil des ers­ten Evan­ge­li­ums bil­den. Vom üb­ri­gen ge­son­dert stel­len sie in der Tat auch ziem­lich ein selbst­stän­di­ges Gan­zes dar. Was aber die Er­zäh­lun­gen des ers­ten und zwei­ten Evan­ge­li­ums be­trifft, so dürf­ten bei­de ein und die­sel­be Schrift be­nutzt ha­ben, de­ren Text bald hier, bald dort zu fin­den ist und wo­von das zwei­te Evan­ge­li­um in sei­ner heu­ti­gen Ge­stalt eine nur we­nig ver­än­der­te Dar­stel­lung gibt. Mit an­de­ren Wor­ten ge­sagt: Bei den Syn­op­ti­kern2 grün­det sich das Dar­stel­lungs­sys­tem des Le­bens Jesu auf zwei Ur­schrif­ten und zwar: 1) auf die vom Apos­tel Mat­thä­us ge­sam­mel­ten Re­den Jesu, 2) auf die Samm­lung An­ek­do­ten und per­sön­li­cher Nach­rich­ten, die Mar­kus nach den Erin­ne­run­gen Pe­tri ver­zeich­net. Es lässt sich sa­gen, dass wir die­se zwei Schrif­ten noch in dem ers­ten und zwei­ten Evan­ge­li­um be­sit­zen, wo sie sich mit Mit­tei­lun­gen aus an­de­ren Quel­len ver­mischt vor­fin­den. Nicht ohne Grund wer­den sie da­her »Evan­ge­li­um nach Mat­thä­us« und »Evan­ge­li­um nach Mar­kus« be­nannt.

Al­len­falls gilt zwei­fel­los, dass schon in frü­her Zeit die Re­den Jesu in ara­mäi­scher Spra­che nie­der­ge­schrie­ben wur­den, und auch sei­ne merk­wür­di­gen Ta­ten ver­zeich­net wur­den. Ab­ge­run­de­te, dog­ma­tisch fest­ge­stell­te Tex­te wa­ren es frei­lich nicht. Au­ßer den uns über­lie­fer­ten Evan­ge­li­en gab es noch vie­le an­de­re, die an­geb­lich die Über­lie­fe­rung der Au­gen­zeu­gen ver­mel­de­ten. Die­sen Schrif­ten wur­de je­doch nur ein ge­rin­ger Wert zu­ge­mes­sen und Leu­te, die sie auf­be­wahr­ten, wie z. B. Pa­pi­as, er­klär­ten, dass sie den münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen den Vor­zug gä­ben. Vom Wahn des na­hen Welt­un­ter­gangs be­fan­gen, war man we­nig dar­auf be­dacht Bü­cher für die Zu­kunft zu schrei­ben. Als Haupt­sa­che galt im Her­zen ein le­ben­di­ges Bild des­sen zu er­hal­ten, den man bald im Him­mel wie­der­zu­se­hen hoff­te. Da­her die ge­rin­ge Au­to­ri­tät der Evan­ge­li­en­tex­te wäh­rend der ers­ten an­dert­halb Jahr­hun­der­te. Man scheu­te sich nicht im Ge­rings­ten Zu­sät­ze zu ma­chen, Text­kom­bi­na­tio­nen vor­zu­neh­men, sie ge­gen­sei­tig zu er­gän­zen. Der Arme, der nur ein Buch be­saß, woll­te, dass es al­les ent­hal­te, was sein Herz be­rühr­te. Man borg­te sich ge­gen­sei­tig die­se Büch­lein und je­der ver­zeich­ne­te auf dem Rand sei­nes Exem­plars Wor­te, Gleich­nis­se, die er an­der­wärts fand und die ihn rühr­ten. So ist aus ei­ner dun­keln, ganz volks­tüm­li­chen Be­ar­bei­tung das Schöns­te der Welt ent­stan­den. Kei­nes der Tex­te hat­te einen ab­so­lu­ten Wert. Jus­ti­nus, der sich oft auf die »Denk­wür­dig­kei­ten der Apos­tel« – wie er es nennt – be­ruft, be­zog sich da­bei auf Evan­ge­li­en, die von den uns­ri­gen ziem­lich ver­schie­den wa­ren; eine wört­li­che An­füh­rung un­ter­ließ er. Die Zi­ta­te aus den Evan­ge­li­en in den pseu­do-cle­men­ti­ni­schen Schrif­ten abio­ni­ti­scher Her­kunft zei­gen den glei­chen Cha­rak­ter. Der Geist war al­les, der Buch­sta­be nichts. Erst in der zwei­ten Hälf­te des zwei­ten Jahr­hun­derts, als die Tra­di­ti­on ver­blass­te, er­hiel­ten die mit den Na­men der Apos­teln ver­se­he­nen Schrif­ten ent­schie­de­ne Au­to­ri­tät und Ge­set­zes­kraft.

Wer wür­de nicht den Wert von Schrif­ten er­ken­nen, die sol­cher­ma­ßen aus der weh­mü­ti­gen Erin­ne­rung, aus den schlich­ten Er­zäh­lun­gen der bei­den ers­ten christ­li­chen Ge­ne­ra­tio­nen ent­stan­den sind, Ge­ne­ra­tio­nen, die noch ganz den star­ken Ein­druck fühl­ten, den der heh­re Stif­ter auf sie ge­macht hat? Fü­gen wir noch dazu, dass die er­wähn­ten Evan­ge­li­en aus je­nem Teil der christ­li­chen Ge­mein­de her­vor­ge­gan­gen sein moch­te, der Jesu am nächs­ten ver­wandt war. Die letz­te Be­ar­bei­tung – we­nigs­tens was den Text be­trifft, der den Na­men Mat­thä­us trägt – dürf­te in ei­nem der Län­der nord­öst­lich von Pa­läs­ti­na ent­stan­den sein, in Go­lo­ni­tis, Hau­ran, Ba­ta­nea, wo­hin zur­zeit des Rö­mer­krie­ges vie­le Chris­ten flüch­te­ten, wo noch im zwei­ten Jahr­hun­dert Ver­wand­te Jesu leb­ten, wo die ur­sprüng­li­che ga­li­läi­sche Rich­tung sich län­ger als an­der­wärts er­hielt.

Wir ha­ben bis­her nur von den drei so­ge­nann­ten syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en ge­spro­chen. Wir ha­ben da­her noch das vier­te in Be­tracht zu zie­hen, das den Na­men Jo­han­nes führt. Hier ist der Zwei­fel viel be­grün­de­ter, die Lö­sung viel schwie­ri­ger. Pa­pi­as, ein An­hän­ger der Schu­le des Jo­han­nes, der, wenn er nicht, wie Iri­näus be­haup­tet, Jo­han­nes Schü­ler war, we­nigs­tens doch mit des­sen Schü­lern ver­kehrt hat­te – so mit Aris­ti­on und mit dem, der Jo­han­nes Pres­by­ter ge­nannt wird – Pa­pi­as also, der die münd­li­chen Äu­ße­run­gen der er­wähn­ten zwei Schü­ler eif­rigst ge­sam­melt hat­te, er­wähnt kein Wort von ei­ner Le­bens­be­schrei­bung Jesu, die Jo­han­nes ver­fasst hät­te. Wäre in sei­nem Wer­ke eine der­ar­ti­ge Äu­ße­rung vor­han­den ge­we­sen, so wäre sie auch si­cher­lich von Eu­se­bi­us er­wähnt wor­den, der al­les auf­ge­nom­men hat, was für die Lit­te­ra­tur­ge­schich­te der Apo­stel­zeit von Wich­tig­keit ist. Nicht min­der be­lang­reich sind die in­ne­ren Schwie­rig­kei­ten, die sich beim Le­sen des vier­ten Evan­ge­li­ums dar­bie­ten. Wie kommt es, dass ne­ben ge­nau­en Mit­tei­lun­gen, die den Au­gen­zeu­gen be­kun­den, Re­den ste­hen, die völ­lig ver­schie­den sind von je­nen, die Mat­thä­us an­führt? Wie kommt es, dass ne­ben ei­nem all­ge­mei­nen Plan zu ei­ner Le­bens­be­schrei­bung Jesu, ein Plan, der bes­ser und ge­nau­er zu sein dünkt, als der der Syn­op­ti­ker, jene son­der­ba­ren Stel­len ste­hen, die des Ver­fas­sers ei­gen­tüm­li­ches dog­ma­ti­sches In­ter­es­se er­ken­nen las­sen, die Ge­dan­ken be­kun­den, wel­che Jesu ganz fremd sind, An­deu­tun­gen ge­ben, wel­che miss­trau­isch ma­chen ge­gen den gu­ten Glau­ben des Ver­fas­sers? Wie kommt es end­lich, dass ne­ben den reins­ten, ge­rech­tes­ten, dem Evan­ge­li­um völ­lig ent­spre­chen­den An­sich­ten, jene Fle­cken zu fin­den sind, die man ger­ne als Ein­schie­bun­gen ei­nes hit­zi­gen Schrei­bers be­trach­tet? Ist das Jo­han­nes, des Ze­be­dä­us Sohn, des Ja­ko­bus Bru­der – wel­cher im vier­ten Evan­ge­li­um auch nicht ein­mal er­wähnt wird – der in grie­chi­scher Spra­che die­se me­ta­phy­si­schen Auf­sät­ze schrei­ben moch­te, für die we­der die Syn­op­ti­ker noch der Tal­mud ein Glei­ches bie­ten? Dies al­les ist be­denk­lich, so­dass ich nicht die Mei­nung wa­gen möch­te, das vier­te Evan­ge­li­um sei durch­aus von der Hand ei­nes ehe­ma­li­gen ga­li­läi­schen Fi­schers ge­schrie­ben wor­den. Doch dass die­ses Evan­ge­li­um im We­sent­li­chen ge­gen Ende des ers­ten Jahr­hun­derts aus der großen Schu­le in Klein­asi­en, die sich auf Jo­han­nes Leh­re stütz­te, her­vor­ge­gan­gen ist; dass es eine Dar­stel­lung des Le­bens Jesu gibt, die große Be­ach­tung ver­dient, stel­len­wei­se so­gar den Vor­rang – das ist so­wohl durch ver­schie­de­ne Zeug­nis­se, wie auch durch Prü­fung der Schrift selbst in ei­ner Art er­wie­sen wor­den, die nichts zu wün­schen üb­rig lässt.

Vor al­lem be­zwei­felt kei­ner, dass um das Jahr 150 das vier­te Evan­ge­li­um be­reits vor­han­den war und Jo­han­nes zu­ge­spro­chen wur­de. In den Schrif­ten des hei­li­gen Jus­ti­nus, Athe­na­go­ras, Ta­ti­an, Theo­phi­lus von An­tio­chi­en, Ire­nä­us be­kun­den man­che Stel­len aufs Deut­lichs­te, dass die­ses Evan­ge­li­um schon da­mals in al­len Streit­fra­gen eine Rol­le spiel­te und dem Dog­men­bau als Eck­stein diente. Ire­nä­us spricht sehr be­stimmt. Und er ging ja aus der Schu­le Jo­han­nes her­vor und zwi­schen ihm und dem Apos­tel war nur Po­ly­karp. Nicht we­ni­ger be­stim­mend ist der Um­stand, dass die­ses Evan­ge­li­um im Gno­sti­cis­mus, be­son­ders im Sys­tem Va­len­tins, im Mon­ta­nis­mus und im Streit der Quar­to­dezi­ma­ner eine Haup­trol­le spiel­te. Die Schu­le Jo­han­nes ist die, de­ren Ver­lauf am bes­ten wäh­rend des zwei­ten Jahr­hun­derts sich be­merk­bar mach­te. Die­se Schu­le lässt sich je­doch nicht er­klä­ren, wenn man nicht das vier­te Evan­ge­li­um ihr vor­an­stellt. Be­merkt sei hier­bei, dass die ers­te der Jo­han­nes zu­ge­schrie­be­nen Epis­teln si­cher­lich den­sel­ben Ver­fas­ser hat wie das vier­te Evan­ge­li­um. Und die­se Epis­teln wer­den eben von Po­ly­karp, Pa­pi­as, Ire­nä­us dem Jo­han­nes zu­ge­spro­chen.

Be­son­ders aber ver­mag das Le­sen die­ser Schrift selbst einen Ein­druck aus­zuü­ben. Der Ver­fas­ser spricht stets als Au­gen­zeu­ge, er will für den Apos­tel Jo­han­nes gel­ten. Rührt also die­se Schrift nicht von dem Apos­tel her, so muss man einen Be­trug an­neh­men, den der Ver­fas­ser aus­üb­te. Mag auch die An­sicht je­ner Tage über das lit­te­ra­risch Zu­läs­si­ge sehr ver­schie­den von un­se­rer heu­ti­gen ge­we­sen sein, so gibt es doch in der apo­sto­li­schen Welt kein Bei­spiel von ei­ner Fäl­schung die­ser Art. Fer­ner will der Ver­fas­ser nicht nur für den Apos­tel Jo­han­nes gel­ten, son­dern man ver­mag auch deut­lich zu er­se­hen, dass er im In­ter­es­se die­ses Apos­tels die Fe­der führt.

Auf je­der Sei­te ver­rät sich sein Stre­ben des­sen Au­to­ri­tät zu be­fes­ti­gen, zu be­wei­sen, dass er der Lieb­ling Jesu war und auch an al­len be­son­de­ren Vor­fäl­len teil­ge­nom­men habe. Die im gan­zen und großen ge­nom­me­nen brü­der­li­chen Be­zie­hun­gen des Ver­fas­sers zu Pe­trus (ob auch eine ge­wis­se Ei­fer­süch­te­lei vor­han­den war), sein Hass ge­gen Ju­das, ein Hass, der viel­leicht frü­her vor­han­den war als des­sen Ver­rat, schei­nen an man­chen Stel­len durch­zu­schim­mern. Man möch­te an­neh­men, dass Jo­han­nes in sei­nem Al­ter, als er die ver­schie­de­nen im Ver­kehr sich be­find­li­chen evan­ge­li­schen Er­zäh­lun­gen las, man­cher­lei Un­rich­tig­kei­ten hier be­merk­te und auch emp­find­lich ge­wor­den war, dass ihm in den Dar­stel­lun­gen des Le­bens Jesu kei­ne ge­büh­ren­de, be­deu­ten­de­re Stel­le ein­ge­räumt wur­de. So dürf­te er denn vie­les ver­zeich­net ha­ben, das er bes­ser als die an­de­ren kann­te, in der Ab­sicht dar­zu­le­gen, dass er oft, wo man nur Pe­trus er­wähn­te, mit die­sem und auch vor die­sem eine Rol­le spiel­te (1. Joh. XVIII, 15 und Matth. XXVI, 58 – Joh. XX, 2-6 und Mark. XVI, 7, auch Joh. XIII, 24, 25). Schon zu Leb­zei­ten Jesu äu­ßer­ten sich der­ar­ti­ge klei­ne Ei­fer­süch­te­lei­en zwi­schen den Söh­nen des Ze­be­dä­us und den an­de­ren Jün­gern. Nach sei­nes Bru­ders Ja­ko­bus Tod war Jo­han­nes der ein­zi­ge Erbe ver­trau­ter Erin­ne­run­gen, in de­ren Be­sitz die­se bei­den Apos­teln nach der Aus­sa­ge al­ler wa­ren. Da­her sein ste­ter Hin­weis auf den Um­stand, dass er der letz­te noch le­ben­de Au­gen­zeu­ge sei, sei­ne Vor­lie­be be­son­ders zu er­wäh­nen, was er al­lein nur wis­sen konn­te. Da­her auch die vie­len klei­nen Ein­zel­hei­ten, die wie An­mer­kun­gen ei­nes Er­klä­rers sich dar­stel­len, so: »Es war sechs Uhr«, »es war Nacht«, »die­ser Mann hieß Mal­chus«, »sie hat­ten ein Feu­er an­ge­zün­det, denn es war kalt«, »die­ser Rock war ohne Naht«. Da­her schließ­lich die nach­läs­si­ge Re­dak­ti­on, die un­re­gel­mä­ßi­ge Dar­stel­lung, dies Frag­men­ta­ri­sche der ers­ten Ka­pi­tel – lau­ter Un­be­greif­lich­kei­ten, wenn man an­neh­men will, die­ses Evan­ge­li­um sei nur eine theo­lo­gi­sche The­sis ohne his­to­ri­schen Wert, die je­doch sehr ver­ständ­lich sind, wenn man in ih­nen, mit der Über­lie­fe­rung über­ein­stim­mend, die Erin­ne­run­gen ei­nes Grei­ses liest, die bald von ei­ner wun­der­ba­ren Fri­sche sind, bald wie­der selt­sa­me Ver­än­de­run­gen auf­wei­sen. Ein Haupt­un­ter­schied muss je­doch im Evan­ge­li­um Jo­han­nes ge­macht wer­den. Denn ei­ner­seits weist es einen Plan zur Dar­stel­lung des Le­bens Jesu auf, der von dem der Syn­op­ti­ker be­deu­tend ab­weicht; an­der­seits wie­der lässt er Jesu Re­den füh­ren, die im Ton, Stil und Geist grund­ver­schie­den von den von den Syn­op­ti­kern mit­ge­teil­ten Lo­gia sind. Hier ist der Un­ter­schied so groß, dass man zu wäh­len ge­nö­tigt ist. Sprach Je­sus, wie Mat­thä­us be­rich­te­te, so konn­te er nicht spre­chen, wie Jo­han­nes mit­teil­te. Doch zwi­schen die­sen bei­den Au­to­ri­tä­ten hat noch kein Kri­ti­ker ge­schwankt, wird auch nie ei­ner schwan­ken. Im Ge­gen­satz zu den schlich­ten, un­be­fan­ge­nen, sach­li­chen Wor­ten der Syn­op­ti­ker, gibt das Evan­ge­li­um Jo­han­nes stets die Vor­ein­ge­nom­men­heit des Apo­lo­gis­ten, die Hin­ter­ge­dan­ken des Sek­tie­rers zu er­ken­nen, die Ab­sicht ei­ner The­se und be­wei­sen, Geg­ner zu be­keh­ren. (S. Joh. IX und X. Be­son­ders ist der ei­gen­tüm­li­che Ein­druck zu be­ach­ten, den Stel­len wie XIX, 35, XX, 31, XXI, 20–23, 24, 25 ma­chen, wenn man an das Feh­len je­der Re­fle­xi­on denkt, das die Syn­op­ti­ker kenn­zeich­net.) Jesu hat sein gött­li­ches Werk nicht durch prun­ken­de, schwer­fäl­li­ge, schlecht ver­fass­te und im mo­ra­li­schen Sin­ne we­nig sa­gen­de Phra­sen ge­grün­det. Auch wenn Pa­pi­as uns nicht be­rich­tet hät­te, dass Mat­thä­us die Auss­prü­che Jesu in der Ur­spra­che ver­zeich­ne­te, so wür­den doch das Na­tür­li­che, die ewi­ge Wahr­heit, der un­ver­gleich­li­che Zau­ber der syn­op­ti­schen Re­den, ihre durch­drin­gen­de he­bräi­sche Fär­bung, ihre Gleich­ar­tig­keit mit den Auss­prü­chen jü­di­scher Ge­lehr­ter je­ner Zeit, ihre voll­kom­me­ne Har­mo­nie mit der Be­schaf­fen­heit Ga­li­lä­as – kurz, alle die­se Kenn­zei­chen wür­den, ver­gli­chen mit der dun­keln Gno­sis, der ge­schraub­ten Me­ta­phy­sik der Wor­te Jo­han­nes, deut­lich ge­nug spre­chen. Da­mit soll nicht ge­sagt sein, dass die Re­den des Jo­han­ni­sevan­ge­li­um nicht auch be­wun­derns­wer­te Licht­strah­len auf­wei­sen, Züge, wie sie wirk­lich Jesu zu ei­gen wa­ren. Al­lein ihr mys­ti­scher Ton ent­spricht nicht der Ei­gen­art der Be­red­sam­keit Jesu, wie die­se nach der Dar­stel­lung der Syn­op­ti­ker er­scheint. Sie sind von ei­nem neu­en Geist er­füllt. Die Gno­sis hat­te schon be­gon­nen, die ga­li­läi­sche Ära des Rei­ches Got­tes war da­hin, die Hoff­nung auf eine nahe Wie­der­kehr Chris­ti schwand nach und nach, man be­trat das Ge­biet tro­ckener Me­ta­phy­sik, das Dun­kel ab­strak­ten Dog­mas. Das ist nicht der Geist Jesu. Und wenn der Sohn des Ze­be­dä­us wirk­lich die­se Blät­ter ver­fasst hät­te, so hät­te er da­bei si­cher­lich des Sees Ge­ne­za­reth ver­ges­sen und der köst­li­chen Ge­sprä­che, die er an des­sen Ufern ver­nom­men.

Was fer­ner be­weist, dass die Re­den im vier­ten Evan­ge­li­um nicht his­to­ri­sche Ur­schrif­ten sind, son­dern Auf­sät­ze, die ge­wis­se, vom Ver­fas­ser hoch­ge­hal­te­ne Leh­ren mit der Au­to­ri­tät Jesu de­cken soll­ten, ist ihre voll­stän­di­ge Über­ein­stim­mung mit den da­ma­li­gen geis­ti­gen Ver­hält­nis­sen Klein­asi­ens. Die­ses war zu je­ner Zeit der Schau­platz ei­ner ei­gen­ar­ti­gen Be­we­gung syn­kre­ti­scher Phi­lo­so­phie. Alle Kei­me des Gno­sti­cis­mus wa­ren schon vor­han­den. Jo­han­nes moch­te an die­ser frem­den Quel­le ge­trun­ken ha­ben. Es mag sein, dass nach den Er­eig­nis­sen des Jah­res 68 (Zeit der Apo­ka­lyp­se) und des Jah­res 70 (Zer­stö­rung Je­ru­sa­lems) der grei­se Apos­tel, mit dem Feu­er­geis­te zu­rück­ge­kehrt war vom Glau­ben an die bal­di­ge Er­schei­nung des Men­schen­soh­nes in den Wol­ken, und den An­sich­ten sich zu­ge­wen­det hat­te, die er rings­um ver­brei­tet sah und wo­von sich man­che mit ge­wis­sen Leh­ren des Chris­ten­tums sich recht gut ver­eint hat­ten. Die­se neu­en An­sich­ten Jesu zu­schrei­bend, folg­te er nur ei­nem sehr na­tür­li­chen Gan­ge. Un­se­re Erin­ne­rung ver­än­dert sich mit al­lem üb­ri­gen; die Vor­stel­lung von ei­ner Per­son, die wir ge­kannt ha­ben, formt sich um mit uns selbst. Je­sus wur­de von Jo­han­nes als die Ver­kör­pe­rung der Wahr­heit be­trach­tet, er moch­te ihm da­her Wor­te zu­schrei­ben, die er selbst im Lau­fe der Zeit als Wahr­heit er­kannt hat­te.

Wenn es nö­tig ist al­les an­zu­füh­ren, so sei noch be­merkt, dass wahr­schein­lich Jo­han­nes selbst an die­sen Än­de­run­gen we­nig An­teil hat­te, dass sie viel­mehr in sei­ner Um­ge­bung er­folg­ten. Oft könn­te man glau­ben, Jo­han­nes Jün­ger hat­ten sei­ne wert­vol­len An­mer­kun­gen in ei­nem vom ur­sprüng­li­chen evan­ge­li­schen Geist recht un­ter­schied­li­chem Sin­ne ver­wen­det. Tat­säch­lich sind auch man­che Stel­len des vier­ten Evan­ge­li­ums erst nach­träg­lich bei­ge­fügt wor­den. So z. B. das gan­ze 21. Ka­pi­tel – die Ver­se XX, 30, 31 bil­de­ten si­cher­lich den al­ten Schluss – wo der Ver­fas­ser die Ab­sicht zu ha­ben schi­en, dem Apos­tel Pe­trus nach sei­nem Tode eine Hul­di­gung dar­zu­brin­gen und den Ein­wen­dun­gen zu ent­geg­nen, die der Tod des Jo­han­nes her­vor­brin­gen wür­de, oder viel­leicht schon her­vor­ge­bracht hat­te. (Vers 21–23.) An­de­re Stel­len wie­der (VI, 2,22; VII, 22) deu­ten auf Aus­las­sun­gen oder Ver­bes­se­run­gen hin.

Es ist un­mög­lich nach so lan­ger Zeit alle die­se Pro­ble­me zu lö­sen; si­cher­lich wür­den uns vie­le Über­ra­schun­gen zu teil, wäre es uns ge­gönnt in die Ge­heim­nis­se der mys­te­ri­ösen Schu­le von Ephe­sus ein­zu­drin­gen, die mehr als ein­mal auf dun­keln Pfa­den ge­wan­delt zu sein scheint. Doch ein Haupt­ver­such wäre fol­gen­des: Wer da un­ter­neh­men woll­te das Le­ben Jesu zu schil­dern, und hier­bei ohne eine ge­fes­te­te An­sicht über den Wert der Evan­ge­li­en zu ha­ben, nur von sei­nem Ge­füh­le sich lei­ten lie­ße, der wür­de in so man­chen Fäl­len die Er­zäh­lung Jo­han­nes der der Syn­op­ti­ker vor­zie­hen. Be­son­ders die letz­ten Mo­na­te des Le­bens Jesu lernt man nur aus dem Jo­han­nes­evan­ge­li­um ken­nen. So man­che Ge­scheh­nis­se in der Lei­dens­zeit, die bei den Syn­op­ti­kern un­ver­ständ­lich sind – z. B. die Voraus­sa­gung des Ver­ra­tes Ju­das – wer­den erst durch die Dar­stel­lung des vier­ten Evan­ge­li­ums wahr­schein­lich und mög­lich. Da­ge­gen möch­te ich be­haup­ten, dass schwer­lich ei­ner das Le­ben Jesu ver­nünf­tig dar­stel­len könn­te, wenn er nur die Re­den in Be­tracht zieht, die Jo­han­nes Jesu in den Mund legt. Die­se Art stets nur von sich zu pre­di­gen und nur sich zu zei­gen, die­ses be­stän­di­ge Ar­gu­men­tie­ren, die­se ge­küns­tel­te Ins­ze­nie­rung, die­se lan­gen Er­ör­te­run­gen nach je­der Wun­der­tat, die­se höl­zer­nen und un­ge­schick­ten Re­den, de­ren Ton zu­wei­len auch falsch und un­gleich­ar­tig klingt (II, 25; III, 32, 33; und die lan­gen Er­ör­te­run­gen III, V, VIII, XIII u. s. w.) wür­den vor ei­nem ge­schmack­vol­len Men­schen ne­ben den herr­li­chen Sprü­chen der Syn­op­ti­ker nicht zur Gel­tung kom­men kön­nen. Das sind zwei­fel­los Er­dich­tun­gen, die uns das Wort Jesu der­art wie­der­gibt, wie die Dia­lo­ge des Pla­to die Ge­sprä­che des So­kra­tes. Sie glei­chen so­zu­sa­gen die frei­en Va­ria­tio­nen ei­nes Mu­si­kers über ein ge­ge­be­nes The­ma. Die­ses ist wohl ur­sprüng­lich, doch in der Aus­füh­rung hat die Fan­ta­sie des dar­stel­len­den Künst­lers frei­en Spiel­raum. Man merkt das Ge­küns­tel­te, das Ge­zier­te, die Rhe­to­rik die­ser Schrift (s. XVII).

Noch sei be­merkt, dass die ge­wöhn­li­che Re­de­wei­se Jesu hier nicht zu fin­den ist. Der Aus­druck »Reich Got­tes«, der dem Meis­ter so ge­läu­fig war, kommt hier nur ein ein­zi­ges Mal (III, 3, 5) vor. Hin­ge­gen weist der Stil der Re­den, die das vier­te Evan­ge­li­um Jesu zu­mu­tet, eine auf­fal­len­de Ähn­lich­keit auf mit den Epis­teln Jo­han­nes. Man er­kennt, der Ver­fas­ser habe bei der Nie­der­schrift sei­ner Re­den nicht sei­ner Erin­ne­rung ge­folgt, son­dern dem recht ein­tö­ni­gen ei­ge­nen Ge­dan­ken­gang. Eine neue mys­ti­sche Spra­che kommt hier zur Gel­tung, eine Spra­che, die den Syn­op­ti­kern ganz un­be­kannt war (»Welt«, »Wahr­heit«, »Le­ben«, »Licht«, »Fins­ter­nis« u.s.w.). Hät­te Je­sus wirk­lich je in die­ser Wei­se ge­spro­chen, die so­zu­sa­gen nichts jü­di­sches, nichts tal­mu­di­sches an sich hat­te, so wür­den doch nicht alle sei­ne Zu­hö­rer da­von ge­schwie­gen ha­ben.

Üb­ri­gens bie­tet die Lit­te­ra­tur­ge­schich­te ein Bei­spiel, das der er­wähn­ten his­to­ri­schen Er­schei­nung sehr ähn­lich ist und auch zu des­sen Er­klä­rung die­nen kann. So­kra­tes, der gleich Je­sus nicht selbst schrieb, ist uns durch zwei sei­ner Schü­ler, Xe­no­phon und Pla­to be­kannt. Die kla­re, sach­li­che Dar­stel­lungs­wei­se des ers­te­ren er­in­nert an die Syn­op­ti­ker, wäh­rend der an­de­re durch sei­ne kräf­ti­ge In­di­vi­dua­li­tät dem Ver­fas­ser des vier­ten Evan­ge­li­ums äh­nelt. Was er­klärt uns nun bes­ser die Leh­re So­kra­tes: Die »Dia­lo­ge« des Pla­to, oder die »Ge­sprä­che« des Xe­no­phon? Hier ist kein Zwei­fel mög­lich und je­der gab noch den »Ge­sprä­chen« den Vor­zug. Lehrt uns aber Pla­to nichts über So­kra­tes? Wäre es gut ge­tan, wenn man eine Le­bens­schil­de­rung des So­kra­tes schrei­ben wür­de, ohne da­bei die Dia­lo­ge zu be­ach­ten? Wer könn­te das be­haup­ten! Der Ver­gleich ist üb­ri­gens nicht ganz aus­rei­chend, denn der Un­ter­schied spricht für den Ver­fas­ser des vier­ten Evan­ge­li­ums. Gera­de er ist der bes­se­re Bio­graf. Es ist wie wenn Pla­to, ob­gleich er dem Meis­ter er­dich­te­te Wor­te in den Mund legt, Wich­ti­ges von des­sen Le­ben wüss­te, was Xe­no­phon un­be­kannt blieb.

Die Fra­ge, wer das vier­te Evan­ge­li­um nie­der­ge­schrie­ben habe, blei­be hier un­er­ör­tert; und wenn ich mich auch der An­sicht zu­nei­ge, dass we­nigs­tens die Re­den nicht vom Soh­ne des Ze­be­dä­us her­rüh­ren, so sei doch zu­ge­ge­ben, dass hier ein »Evan­ge­li­um nach Jo­han­nes« vor­liegt, in dem­sel­ben Sin­ne wie das ers­te und zwei­te Evan­ge­li­um als »nach Mat­thä­us« und »nach Mar­kus« gel­ten. Die ge­schicht­li­chen Grund­li­ni­en des vier­ten Evan­ge­li­ums ist die Le­bens­kun­de Jesu, wie sie in der Schu­le Jo­han­nes be­kannt war. Es ist die Er­zäh­lung, die Ari­ston und Jo­han­nes Pres­by­ter dem Pa­pi­as ga­ben, ohne zu be­mer­ken, dass sie nie­der­ge­schrie­ben sei, oder viel­mehr ohne dem eine be­mer­kens­wer­te Be­deu­tung bei­zu­mes­sen. Auch glau­be ich, dass die­se Schu­le die Le­ben­sum­stän­de des Stif­ters bes­ser kann­te als jene aus de­ren Erin­ne­rung die syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en her­vor­zu­brin­gen. Sie hat­te über den je­wei­li­gen Auf­ent­halt Jesu zu Je­ru­sa­lem Da­ten, die die letz­te­ren nicht be­sa­ßen. Die Jün­ger die­ser Schu­le sa­hen in Mar­kus nur einen mit­tel­mä­ßi­gen Bio­gra­fen und hat­ten ein Sys­tem ge­schaf­fen, um sei­ne Lücken aus­zu­fül­len. Man­che Stel­len bei Lu­kas, die ge­wis­ser­ma­ßen ein Wi­der­hall der Tra­di­tio­nen des Jo­han­nes sind, be­kun­den auch, dass die­se Über­lie­fe­run­gen den üb­ri­gen An­hän­gern des Chris­ten­tums nicht völ­lig un­be­kannt wa­ren.

Die­se Er­klä­run­gen dürf­ten, mei­ner An­sicht nach, ge­nü­gen, die Mo­ti­ve zu er­ken­nen, die mich ver­an­lass­ten die­sem oder je­nem der vier Füh­rer den Vor­zug ein­zuräu­men. Im gan­zen und großen hal­te ich die vier ka­no­ni­schen Evan­ge­li­en für au­then­tisch. Alle stam­men, mei­ner Mei­nung nach, aus dem ers­ten Jahr­hun­dert und sind größ­ten­teils von den Ver­fas­sern, de­nen sie zu­ge­spro­chen wer­den. Doch ist ihr ge­schicht­li­cher Wert ver­schie­den. In Be­zug auf die Re­den ver­dient wohl Mat­thä­us un­be­schränk­tes Ver­trau­en. Hier sind die Lo­gia der le­ben­di­gen, kla­ren Erin­ne­rung an die Leh­re Jesu ent­nom­men. Ein mil­der und zu­gleich schreck­li­cher Glanz, eine gött­li­che Kraft er­hellt so­zu­sa­gen die­se Wor­te, hebt sie aus der Ver­bin­dung her­vor und gibt sie dem Kri­ti­ker leicht zu er­ken­nen. Wer da mit Hil­fe der Evan­ge­li­en­ge­schich­te eine rech­te und rich­ti­ge Ar­beit her­stel­len will, der hat in die­ser Be­zie­hung einen vor­züg­li­chen Prüf­stein. Die wah­ren Wor­te Jesu of­fen­ba­ren sich gleich­sam von selbst. So­bald man sie in die­sem Ge­wirr von Tra­di­tio­nen un­glei­cher Authen­ti­zi­tät be­rührt, fühlt man sie vi­brie­ren; sie äu­ßern sich frei­wil­lig und neh­men von selbst ihre Stel­le in der Er­zäh­lung ein, wo sie dann ihre große Be­deu­tung gel­tend zu ma­chen wis­sen.

We­ni­ger Au­to­ri­tät be­sitzt der er­zäh­len­de Teil des ers­ten Evan­ge­li­ums, der sich um den ur­sprüng­li­chen Kern an­ge­sam­melt hat. Es er­schei­nen da in un­deut­li­chen Um­ris­sen so man­che Le­gen­den, die in der Fröm­mig­keit der zwei­ten christ­li­chen Ge­ne­ra­ti­on ih­ren Ur­sprung fan­den (s. I u. II; auch XXVII 3, 19, 60, im Ver­gleich mit Mar­kus). Das Mar­ku­sevan­ge­li­um zeigt sich viel kla­rer, be­stimm­ter und ist we­ni­ger mit nach­träg­lich ein­ge­scho­be­nen Fa­beln er­füllt. Es ist das äl­tes­te, ur­sprüng­li­che der drei syn­op­ti­schen Wer­ke und hat am we­nigs­ten spä­te­re Ele­men­te in sich auf­ge­nom­men. Die sach­li­chen Ein­zel­hei­ten zei­gen bei Mar­kus eine Klar­heit, die man bei den an­de­ren Evan­ge­lis­ten ver­geb­lich su­chen wür­de. Er liebt es man­che Wor­te Jesu in syro-chal­däi­scher Spra­che an­zu­füh­ren (V 41; VII 34; XV 34). Er be­kun­det eine bis aufs kleins­te sich er­stre­cken­de Beo­b­ach­tung, wie sie si­cher­lich nur von ei­nem Au­gen­zeu­gen kom­men mö­gen. Nichts spricht da­ge­gen, dass, wie Pa­pi­as meint, die­ser Au­gen­zeu­ge, der Jesu au­gen­schein­lich ge­folgt ist, der ihn ge­liebt hat und in nächs­ter Nähe ein le­ben­di­ges Bild von ihm ge­wann, der Apos­tel Pe­trus ge­we­sen sei.

Merk­lich ge­rin­ger ist der his­to­ri­sche Wert des Lu­ka­sevan­ge­li­ums. Es ist ein Do­ku­ment aus zwei­ter Hand, des­sen Dar­stel­lung rei­fer ist. Die Wor­te Jesu sind hier be­dach­ter, ge­fes­te­ter. Ei­ni­ge Auss­prü­che sind über­trie­ben und ge­fälscht (XIV 26; X). Da der Ver­fas­ser au­ßer­halb Pa­läs­tinas sein Werk schuf und si­cher­lich auch nach der Be­la­ge­rung Je­ru­sa­lems, so sind sei­ne Orts­an­ga­ben min­der ge­nau als bei den an­de­ren Syn­op­ti­kern. Er hat­te eine falsche Vor­stel­lung von dem Tem­pel, den er für ein Bet­haus hielt, wo­hin man ging, um sei­ne An­dacht zu ver­rich­ten. Er ver­än­dert Ein­zel­hei­ten, um eine Über­ein­stim­mung der ver­schie­de­nen Er­zäh­lun­gen zu ver­su­chen (IV 16). Er mil­dert Stel­len, die vom Stand­punkt ei­ner über­spann­ten An­nah­me der Gott­heit Jesu stö­rend ge­wor­den (III 23. Er über­geht Matth. XXIV 36). Er über­treibt das Wun­der­ba­re (IV 14; XXII 43, 44). Er irrt sich in der Zeit; er kennt nicht he­brä­isch, zi­tiert nicht Jesu in die­ser Spra­che und gibt von al­len Or­ten nur die grie­chi­schen Na­men. Man er­kennt den Kom­pi­la­tor, den Mann, der die Zeu­gen nicht un­mit­tel­bar ge­se­hen hat, son­dern nach Tex­ten ar­bei­tet, wo­bei er sich große Frei­hei­ten er­laubt hat, um eine Über­ein­stim­mung her­vor­zu­ru­fen. Wahr­schein­lich hat­te Lu­kas die bio­gra­fi­schen Mit­tei­lun­gen des Mar­kus und die Lo­gia des Mat­thä­us vor sich, al­lein er hielt sich nicht ge­nau dar­an. Hier ver­ei­nig­te er zwei An­ek­do­ten oder zwei Pa­ra­beln zu ei­ner (XIX 12–27), dort wie­der schuf er aus ei­ner zwei. (So mach­te er aus dem Gast­mahl von Betha­ni­en zwei Er­zäh­lun­gen VII 36 bis 48 u. X 38–42.) Die Ur­kun­den deu­tet er nach sei­ner be­son­de­ren Wei­se; er zeigt nicht die ab­so­lu­te Gleich­mü­tig­keit des Mat­thä­us und des Mar­kus. Sein Ge­schmack, sei­ne Ei­gen­ar­ten las­sen sich recht ge­nau fest­stel­len: Er war streng re­li­gi­ös, hielt dar­an fest, dass Je­sus alle jü­di­schen Bräu­che be­ob­ach­tet habe, war De­mo­krat und eif­ri­ger Ebio­nit, d. h. ein Feind des Be­sitz­tums und über­zeugt, dass die Ver­gel­tung der Ar­men kom­men wer­de; er hat­te eine Vor­lie­be für jene Er­zäh­lun­gen, wo sich die Be­keh­rung des Sün­ders, die Er­hö­hung des Nied­ri­gen äu­ßert, ja ver­än­dert so­gar die alte Über­lie­fe­rung, um sie der­art zu for­men. Auf den ers­ten Sei­ten sei­nes Wer­kes gibt er weit­schwei­fig und un­ter An­füh­rung der Lob­ge­sän­ge und der üb­li­chen Bräu­che, die ein Haupt­merk­mal apo­kry­phi­scher Evan­ge­li­en bil­den, Le­gen­den über die Kind­heit Jesu. Fer­ner äu­ßert er in der Er­zäh­lung der letz­ten Le­bens­zeit Jesu ei­ni­ge zart­sin­ni­ge Um­stän­de und ge­wis­se wun­der­voll schö­ne Wor­te Jesu, die in den au­then­ti­schen Er­zäh­lun­gen nicht zu fin­den sind und de­ren le­gen­dären Cha­rak­ter man er­kennt. Wahr­schein­lich ent­nahm er sie ei­ner neue­ren Samm­lung, de­ren Zweck haupt­säch­lich war, from­me Ge­füh­le zu er­we­cken.

Eine der­ar­ti­ge Ur­kun­de er­for­dert na­tür­lich große Vor­sicht. Es wäre für die Kri­tik eben­so un­rich­tig, sie un­be­ach­tet zu las­sen, wie ohne wei­te­res zu ver­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­