Hanser Berlin E-Book

 

Philippe Pozzo di Borgo

 

Ziemlich beste Freunde

Ein zweites Leben

 

Aus dem Französischen von

Bettina Bach, Dorit Gesa Engelhardt

und Marlies Ruß

 

Hanser Berlin

 

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Le second souffle suivi du Diable gardien bei Bayard, Montrouge

 

ISBN 978-3-446-24054-4

© Bayard éditions 2011

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2012

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Greiner & Reichel, Köln

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Inhalt

 

Vorwort zur neuen Ausgabe   7

 

DER ZWEITE ATEM  13

 

Befreite Erinnerungen  15

Meine Sinne  20

Der Hintern des Engels  26

 

Erster Teil  Goldene Kindheit  29

Geboren …  31

… mit einem silbernen Löffel im Mund  38

Mutter »der tausend Lächeln«  48

 

Zweiter Teil  Béatrice  53

Zweite Geburt  55

Kiss Machine  59

Béatrice  65

Cherubino!  71

Operation am Herzen  73

La Pitance  79

 

Dritter Teil  Der Sturz des Engels  81

Gebrochene Flügel  83

Kopflose Flüge  89

Kerpape  103

Abdel  110

 

Vierter Teil  Der zweite Atem  117

Zeugen  119

Die Zypressen von Béatrice  128

Korsische Seele  139

Die Blutinseln  148

Sabrya  155

Tischrunde  160

Horizont  169

Stundengebet  173

 

DER SCHUTZTEUFEL  179

Pater Noster  181

Der schwere Junge  186

Die Kapuzinerinnen von Rivière-du-Loup  194

Dies kleine Mädchen Hoffnung  201

Die Trösterinnen  204

Die Fronten der Akkulturation  208

Rien ne va plus!  213

Eine Welt in den Wehen  220

Rollenspiele  223

Der großzügige Patenonkel  226

Bekiffte Redseligkeit  229

Die Hitze Marokkos  232

Die Stadt in Rosa  238

Lalla Khadija  243

Die Odyssee  246

 

Meinen Kindern, »auf dass es weitergehe«.

 

Vorwort zur neuen Ausgabe

 

 

Im Januar 2010 nahmen Olivier Nakache und Éric Toledano, die Regisseure des Films Ziemlich beste Freunde1, Kontakt mit mir auf. Sie hatten einige Jahre zuvor einen einstündigen Dokumentarfilm gesehen, den Jean-Pierre Devillers im Auftrag von Mireille Dumas gedreht hat. À la vie, à la mort2 erzählt von der überraschenden Begegnung eines reichen privilegierten Querschnittsgelähmten – also von mir – mit Abdel, dem jungen Araber aus der Pariser Vorstadt. Wider Erwarten unterstützen sich diese beiden jahrelang gegenseitig. Die Geschichte interessierte die beiden Filmemacher.

Zusammen mit den Schauspielern Omar Sy und François Cluzet besuchten sie meine Frau Khadija und mich in unserem Haus in Essaouira.

Seitdem haben wir uns noch oft gesehen und ich habe mit Vergnügen die Entwicklung des Drehbuchs verfolgt.

 

Mein erstes Buch, Le second souffle3, hatte damals eine gewisse Anerkennung erfahren. Frédéric Boyer, der Programmleiter der Éditions Bayard, schlug mir vor, es zum Erscheinen des Films neu aufzulegen, ergänzt um ein neues Vorwort und einen bisher unveröffentlichten Text.

 

Der Schutzteufel setzt die Geschichte von Der zweite Atem (die 1998 endet) bis zu meiner Begegnung mit Khadija in Marokko im Jahr 2004 fort; das entspricht der Zeitspanne des Drehbuchs von Ziemlich beste Freunde. Für den Spielfilm wurde die Geschichte allerdings vereinfacht, verändert, verkürzt und es wurden zahlreiche, der Phantasie der Regisseure entsprungene Situationen hinzugefügt.

 

»Intouchables«, unberührbar, sind wir beide aus verschiedenen Gründen. Abdel ist maghrebinischer Herkunft und fühlt sich in Frankreich marginalisiert – ähnlich der Kaste der Unberührbaren in Indien. Wer ihn »berührt«, läuft Gefahr, Prügel einzustecken, und er kann so schnell rennen, dass die Bullen, wie er sie nennt, ihn in seiner langen Karriere als Kleinkrimineller nur ein einziges Mal erwischt haben.

Ich für meinen Teil bin hinter den hohen Mauern, die mein Pariser Stadthaus umgeben – in meinem goldenen Gefängnis, wie Abdel es nennt, in dem es mir dank meines Vermögens an nichts Käuflichem mangelt –, ein »Außerirdischer«; nichts kann an mich herankommen. Meine vollständige Lähmung und das Fehlen jeglichen Gefühls in den Gliedern hindern mich daran, irgendetwas zu berühren. Andere Menschen trauen sich nicht, mich zu berühren, weil mein Zustand sie einschüchtert; und meine Schulter kann man nicht berühren, ohne mir schreckliche Schmerzen zuzufügen.

»Unberührbar« sind wir also beide.

 

Nun sehe ich mich einer ungeheuren Herausforderung gegenüber: Ich soll über meine Vergangenheit schreiben.

 

Ein Hindernis taucht unerwartet auf: Ich erinnere mich nicht an sie! Zuerst schiebe ich das darauf, dass Abdel, meine Lebenshilfe, nicht da ist. Doch bei näherer Betrachtung ist es schlimmer. Mit Ausnahme einiger zeitlich nicht genau einzuordnender Episoden verweigert sich mein Gedächtnis dieser Aufgabe. Die Erinnerung ist der Luxus der Wohlhabenden und Gesunden. Für jemanden, der, in welcher Form auch immer, Not leidet, bleibt die Erinnerung in der Gegenwart stehen, bei der Schwierigkeit, zu überleben. Prousts Madeleine kann nur die fixe Idee eines Dandys der guten Gesellschaft sein.

Schon 1998 bis 2001, als ich, in tiefer Trauer um Béatrice, die kurz zuvor gestorben war, und gequält von Nervenschmerzen4, Le second souffle schrieb, hatte ich Mühe, die einzelnen Momente meiner Vergangenheit zusammenzufügen. Leid tötet das Gedächtnis. Die Gesunden sammeln im Lauf ihres Lebens Geschichten an und all die Dinge, die sie im Rückblick bedauern. Ich bin frei von jeglicher Erinnerung.

 

Eine Autobiographie ist immer, absichtlich oder nicht, voll von Auslassungen und Lügen. Wenn man das Leben eines anderen erzählt – in meinem Fall das von Abdel –, kann man höchstens »einen Eindruck vom anderen« vermitteln, eine Strichzeichnung mit zahlreichen Leerstellen.

Wie soll der wohlerzogene, gewisse Prinzipien respektierende Aristokrat, der ich sein soll, für Abdel das Wort ergreifen, der damals aufsässig war und jeder Norm feindselig gegenüberstand? Ich kann nur die Ereignisse wiedergeben und versuchen, sie zu analysieren. Ein Teil der Wahrheit entzieht sich meiner Kenntnis; Omar Sy – der Abdel auf der Leinwand darstellt – kann sich ihm sehr viel leichter nähern.

 

Ich wollte ein Buch schreiben, das nicht nur reine Unterhaltung ist.

Ich wollte das Unglück aber auch nicht »realistisch« abbilden, mit jener Mischung aus Verbitterung und besten Absichten, die an Herablassung grenzt. Noch weniger wollte ich Zweckoptimismus verbreiten, diese lächerliche Lüge.

Die zwanzig Jahre Nähe zur Welt der Ausgeschlossenen haben meinen Blick auf die Gesellschaft, den Blick für ihre Missstände geschärft. Einige Lösungsansätze, die sich mir im Lauf der Jahre aufgedrängt haben, möchte ich gern weitergeben.

Dank meines Schutzteufels – alias Abdel – habe ich den Humor wiedergefunden, der mir vor den Schicksalsschlägen eigen war. Der Film Ziemlich beste Freunde spielt sich in einer Tonlage der Leichtigkeit und der Lachsalven ab; doch ein gewisser, unbesiegbarer Ernst ist mir geblieben. François Cluzet hat das sehr schön wiedergegeben.

 

Éric und Olivier, die Regisseure, ihr Produzent Nicolas Duval Adassovsky und mein Lektor Frédéric Boyer haben dem Verein »Simon de Cyrène5«, dessen Vorsitzender ich lange Zeit war und der sich zum Ziel gesetzt hat, gemeinsamen Lebensraum für erwachsene Behinderte und ihre Freunde oder Angehörigen zu schaffen, einen großzügigen Prozentsatz der Tantiemen eingeräumt. Dafür sei ihnen herzlich gedankt.

 

Ich danke auch Émeline Gabaut, Manel Halib und unserer Tochter Sabah, die mir ermöglicht haben, die Feder »wieder aufzunehmen«, und ohne die dieses Buch niemals entstanden wäre. Des Weiteren geht mein Dank an Soune Wade, Michel Orcel, Michel-Henri Bocara, Yves und Chantal Ballu, Max und Marie-Odile Lechevalier und Thierry Verley für die kluge und umsichtige Lektüre des Manuskripts.

 

1 Ziemlich beste Freunde, im Original Intouchables (2011), von Éric Toledano und Olivier Nakache, mit François Cluzet und Omar Sy in den Hauptrollen.

 

2 À la vie, à la mort (2002).

 

3 Le second souffle (dt. »Der zweite Atem«), Bayard, 2001.

 

4 Nervenschmerzen: Ungefähr ein Drittel der Tetraplegiker, also der Querschnittsgelähmten, die an allen vier Gliedmaßen gelähmt sind, leidet an Störungen des Nervensystems, die sich je nach Person, ihrer Konstitution und den klimatischen Bedingungen in stärkerem oder schwächerem Phantomnervenbrennen äußern. Ich habe das große Los gezogen: Seit fast zwanzig Jahren pendele ich ohne Unterbrechung auf einer Schmerzskala von 6 bis 9,5/10. Bei 10 ist man nicht mehr von dieser Welt.

 

5 Sie können Ihre Spende an Simon de Cyrène richten: 12 rue de Martignac, 75 007 Paris. Tel. 0033–1–82 83 52 33. www.simondecyrene.org

DER ZWEITE ATEM

Befreite Erinnerungen

Soll ich vom heutigen tristen Tag aus wehmütig in die Vergangenheit zurückblicken oder soll ich über eine Zukunft ohne Hoffnung klagen? Ich kann mich weder nach der Vergangenheit sehnen noch in die Zukunft flüchten. Alles, was ich bin, bin ich im Augenblick.

 

Der Tag meines Unfalls könnte die Bruchlinie meiner Knochen, meiner Atemzüge sein. Am 23. Juni 1993 bin ich in die Querschnittslähmung gestürzt.

 

Am 3. Mai 1996, am Tag des heiligen Philippus, ist Béatrice gestorben.

Ich habe keine Vergangenheit mehr, keine Zukunft, ich bin nur noch gegenwärtiger Schmerz. Béatrice hat keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr, sie ist gegenwärtige Trauer. Und doch gibt es eine Zukunft, die unserer Kinder, Laetitia und Robert-Jean.

 

Bis zu meinem Unfall stand ich mitten im Leben, ich wollte meine Spuren hinterlassen im Lauf der Welt, etwas erschaffen.

 

Nach dem Unfall fallen die Gedanken über mich her. Nach Béatrices Tod der Schmerz.

Aus diesen Trümmern sind mir undurchdringliche schwarze Erinnerungen ins Gedächtnis zurückgekehrt. In meinen durchwachten Nächten haben die brennenden Schmerzen der Behinderung und der Trauer diese Bilder verwischt.

 

Tief in meinem Inneren habe ich die Spiegelungen der Abwesenden wiedergefunden. Mein Schweigen hat Momente vergessenen Glücks zurück an die Oberfläche gerufen. Mein Leben läuft von selbst als eine Bilderfolge ab.

 

In den ersten Monaten nach dem Unfall konnte ich wegen eines Luftröhrenschnitts nicht sprechen. Ein Freund stellte mir einen Computerbildschirm auf, den er an eine Steuerung unter meinem Kinn anschloss. Das Alphabet wanderte über den Bildschirm; ich hielt den Cursor an, ein Buchstabe erschien. Ganz langsam bildeten die Buchstaben ein Wort, einen Satz, eine halbe Seite. Die Wahl der Worte und die ungeheure Anstrengung waren köstlich; ich durfte keinen Fehler machen. Das Gewicht jedes Buchstabens verankerte den Satz tiefer; ich genoss die Präzision.

 

Ich hatte einen Kampfgefährten, dessen Augenblinzeln sein Stift war und der starb, nachdem der Schlusspunkt gesetzt war.6

 

Es schnürt mir die Kehle zu, wenn ich an all die denke, die gestorben sind, ohne zu reden, ohne Zeugnis abzulegen, hoffnungslos, einsam.

 

Nachts schlafe ich schlecht in meinem Bett. Ich bin gelähmt. Später legen sie mir ein Tonbandgerät auf den Bauch. Es bleibt stehen, wenn es nichts mehr hört – oder wenn ihm danach ist –, und springt erst wieder an, nachdem das nächste Wort gesprochen wurde. Ich weiß nie, ob ich aufgenommen wurde oder nicht. Und oft ist einer von uns beiden kaputt.

Es ist schwer, sich ohne weißes Blatt auszudrücken, ohne Bleistift zum Durchstreichen, nicht am Tisch zu sitzen, vor einem Blatt Papier, die Stirn in die linke Hand gestützt, sich nicht auf einem beschriebenen, zerknitterten Zettel austoben zu können. Nur eine fast verschwundene Stimme, die auf einem Tonband festgehalten wird, ohne etwas rückgängig machen, korrigieren zu können. Momentaufnahme eines zögernden Gedächtnisses.

 

Ich habe den Faden verloren, es ist dunkel und ich habe Schmerzen. Mein Kopf zieht sich zwischen die Schultern zurück. Oben an meiner rechten Schulter durchbohrt es mich wie ein Dolchstich. Ich muss aufhören. Fis, der Kater, amüsiert sich damit, auf meinem bebenden Körper herumzuturnen, der sich auflehnt, als wollte er den Himmel um Gnade anflehen. Zitternd vor Krämpfen mache ich schlapp. Der Kater spielt mit diesem Körper, die ganze Nacht: Durch meine Zuckungen fühlt er sich so schön lebendig.

 

Von den Schultern bis in die Finger- und Fußspitzen versengt mich ein Dauerfeuer, dessen Hitze manchmal, viel zu oft, noch zunimmt. Ich kann voraussagen, ob morgen schönes Wetter wird oder ob, wie es das Brennen in meinem Körper vermuten lässt, Regen bevorsteht. Ich spüre ein intensives Beißen in den Händen, im Gesäß, an den Schenkeln, um die Knie herum und unten in den Waden.

Man streckt mich, in der Hoffnung, dass mir das Erleichterung verschafft. Aber die Schmerzen bleiben. Die Ärzte nennen sie »Phantomschmerzen«. Phantom meiner … Eier! Ich weine, nicht aus Traurigkeit, sondern vor Schmerz. Ich warte, bis die Tränen mich beruhigen. Warte, dass ich abstumpfe.

 

Abends liebten wir uns flüsternd bei Kerzenlicht. Spät schlief sie in meiner Halsbeuge ein. Ich spreche immer noch mit ihr, ohne Antwort.

 

Manchmal, wenn ich es vor Einsamkeit nicht mehr aushalte, rufe ich Flavia, eine Filmstudentin, zu mir. Sie hat ein breites Lächeln, einen wunderschönen Mund, eine fragende linke Augenbraue.

Sie weiß nicht, dass das Gegenlicht sie enthüllt in ihrem leichten langen blauen Kleid, dass ihre siebenundzwanzigjährige Silhouette auch ein Phantom noch rühren kann. Ich diktiere ihr alles, ich empfinde keine Scham, sie ist durchsichtig.

 

Der Kater nimmt wieder seinen Posten auf meinem Bauch ein. Wenn er sich dreht, verkrampft sich mein Körper, als wäre er empört über die Anwesenheit des Tieres, die Abwesenheit von Béatrice und dieses permanente Leiden.

 

Aber ich sollte von den guten Momenten erzählen, ich sollte vergessen, dass ich leide.

Ich würde gern mit den letzten Augenblicken beginnen, dem unvermeidlich bevorstehenden und manchmal herbeigesehnten Ende, das mich wieder zu Béatrice führen wird. Ich verlasse diejenigen, die ich liebe, um die wiederzusehen, die ich so sehr geliebt habe. Selbst wenn es ihr Paradies nicht gibt, weiß ich doch, dass sie dort ist, weil sie daran geglaubt hat und weil ich es möchte. Da sind wir dann, all unserer Leiden ledig, in inniger Umarmung, die Augen für alle Ewigkeit geschlossen.

 

Béatrice, die du bist im Himmel, erlöse mich.

 

6 J.-D. Bauby, Schmetterling und Taucherglocke, Zsolnay 1997.

Meine Sinne

Ich war jemand. Jetzt bin ich gelähmt; ein Teil meiner Sinne hat sich davongemacht. Doch unter die quälenden Bisse der Lähmung mischen sich die köstlichen Erinnerungen an meine verflüchtigten Sinne.

Sich Zentimeter für Zentimeter, Erinnerung für Erinnerung die Wahrnehmungen eines zertrümmerten Körpers ins Gedächtnis zu rufen bedeutet schon zu überleben.

Von meiner gegenwärtigen Unbeweglichkeit aus das Chaos der toten Empfindungen zu einer Chronologie zu ordnen, bedeutet, mir die Vergangenheit zurückzuerobern, zwei bis dahin getrennte Leben miteinander zu verbinden.

 

*

 

Der Körper errötet verlegen. Selbst die Erinnerung an ihn macht mich benommen. Der Geist ist weg, es überkommen mich nur ferne Empfindungen. Ich als Sieben- oder Achtjähriger unter der brennenden Sonne von Casablanca. Meine Brüder und ich besuchen die christliche Schule Charles-de-Foucauld. In den Pausen spielen einige Kinder auf dem Schulhof Ball und wirbeln Staub auf, der ihnen an Armen und Beinen kleben bleibt und ihre Shorts und die marineblauen Hemden grau färbt. Andere Kinder stehen an der Mauer aufgereiht, eingeteilt in die Gruppe der Händler und die der Spieler. Ich bin Händler; Alain, mein Zwillingsbruder, der sehr gut zielt, ist Spieler. Der Spieler muss mit einem Aprikosenkern einen anderen, zwischen den Beinen des Händlers liegenden Kern treffen. Ich stelle mich an der Mauer auf, das Gesicht in die Morgensonne gereckt. Ich liebe es, mich von der Sonne braten zu lassen. Ich warte auf den Schuss, die halb zusammengekniffenen Augen auf meinen Kern gerichtet. Ich zähle bis drei. Wohlige Schauer. Benommen vom lauwarmen Staub im Hof, schließe ich die Augen. Als ich wieder zu mir komme, ist meine Klasse verschwunden. Andere Schüler spielen im Hof. In Panik springe ich auf und wickele meinen Kernvorrat in ein Taschentuch. Ich laufe immer schneller, mein Körper steht in Flammen. Zum ersten Mal spüre ich eine seltsame Wärme zwischen den Beinen. Kommt das von der Reibung oder von der Angst vor der strengen Lehrerin? Auf jeden Fall tut sich dort unten etwas. Ich klopfe verzweifelt an die Tür, die Lehrerin blafft mich an, und ich bleibe wie angewurzelt im Türspalt stehen.

 

Ich werde immer noch rot, wenn ich, allein in meinem Bett, an diese ersten Regungen denke.

 

*

 

Ein wenig später sind wir in Holland. Mein Vater arbeitet für einen britisch-niederländischen Mineralölkonzern. Meine Brüder, meine kleine Schwester Valérie, das Kindermädchen Christina und ich wohnen im ersten Stock. Christina ist sehr schön mit ihren rotbraunen Haaren, den grünen Augen und den Sommersprossen, die ich überall da entdecke, wo ihr Körper nicht von Stoff bedeckt ist. Es ist die Zeit der Miniröcke. Sie steht auf dem Treppenabsatz und bügelt. Ich beobachte sie lange; wieder ist da dieses peinliche Gefühl unterhalb der Gürtellinie, ich werde rot und wage nicht, den Blick auf meine schrecklichen englischen grauen Flanellshorts zu senken. Haben Christinas Augen kurz aufgeblitzt? Ich bin geliefert. Dann tut das Luder etwas Eigenartiges: Sie geht um das Bügelbrett herum auf mich zu, kehrt mir den Rücken zu und beugt sich nach vorn; will sie wirklich etwas vom Boden aufheben? Wenn ich gewusst hätte, wie, wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich sie in dem Moment genommen. Aber ich blieb da stehen, kurzatmig, mit baumelnden Armen und weniger baumelndem Rest. Der Anblick dieses ausgestellten Hinterteils dauert eine Ewigkeit.

Sehr viel später habe ich mir Fotos von ihr angesehen. Ich fand sie nicht mehr so schön mit ihren schiefen Zähnen, dem schlaffen Körper und den knochigen Knien. Es ist alles eine Frage der Perspektive.

 

*

 

In der Nacht habe ich tief geatmet, um die Schmerzen loszuwerden, die mich isolieren. Bilder, schön in ihrer Einfachheit, sind mir in den Sinn gekommen. Das Leiden bleibt.

 

*

 

Ich bin fünfzehn. Ich will meine Kameraden beeindrucken. Ich betrete eine gutbesuchte Apotheke. Als ich an der Reihe bin, sage ich: »Ich hätte gern eine Schachtel (flüsternd) Kondome.« Die Apothekerin bittet mich, es zu wiederholen. In die Enge getrieben und schon ganz rot im Gesicht, sage ich es noch einmal. »Klein, mittel oder groß?«, fragt sie spöttisch. Ich renne aus dem Laden.

Sie meinte natürlich die Größe der Schachtel.

 

*

 

Ein Lachen steigt in meiner Kehle auf, ein Krampf antwortet ihm; das Aufnahmegerät rutscht mir von der Brust. Eine entmutigte Stille tritt ein. Ich muss von vorne anfangen, mich wieder zusammenfügen.

 

Ich rufe nach Abdel, meinem Assistenten. Er legt mir das Aufnahmegerät wieder hin. Meine dumpfe neue, mir noch fremde Stimme fängt an zu sprechen. Meine Identität bröckelt in dieser unsteten Stimme. Ich habe keine Brustmuskulatur mehr. Es gibt weder Intonation noch Zeichensetzung. Nur die Worte, für die ich ausreichend Atem ansammeln kann, werden auf dem Tonband festgehalten.

 

*

 

Ich bin siebzehn. Wir sind beim Wintersport. Alain, mein Zwillingsbruder, hat schon eine Freundin. Es sind Jungen da – und Mädchen; ich bin noch nie zuvor so rot geworden in ihrer Gegenwart. Nach dem Abendessen sitzen wir ums Kaminfeuer, trinken Wein und singen zur Gitarre. Ein Mädchen setzt sich neben mich. Sie lehnt sich an mich und legt den Kopf an meine Schulter. Sie ist eine Freundin von Alains Freundin, älter als ich und in einer französischen Familie in Vietnam aufgewachsen. Sie hat Schlitzaugen und dunkle Haut. Sie lacht und rückt noch näher. Ich kann jetzt ihren Pfefferduft riechen. Ich versuche, in den Flammen des Kamins zu verschwinden; aber keine Chance. Heißes Verlangen überkommt mich. Ich will dieses Mädchen. Als sie mich im Moment des allgemeinen Aufbruchs in das einzige Zimmer zieht, das etwas abseits liegt und in dem ein kleines Bett an der Wand steht, gehe ich mit, ohne mich umzudrehen. Seit Jahren träume ich von diesem Moment. Sie zieht sich ohne Umschweife aus und legt sich auf mich. Ich muss mich wohl ungeschickt anstellen, denn sie lächelt. Dann lacht sie: »Du hast ja deine Unterhose noch gar nicht ausgezogen!« Sie hilft mir. Wir bleiben einige Monate zusammen.

 

*

 

Trotz meiner Lähmung spielen mir meine abwesenden Sinne noch Streiche.

Ich darf zum ersten Mal seit meiner Ankunft im Rehazentrum von Kerpape an der bretonischen Küste nach draußen gehen. Béatrice schiebt meinen neuen Rollstuhl zu einem kleinen Café am Strand. Sie setzt sich mir gegenüber. Hinter ihr hüpfen die Surfer über die Wellen. Der Himmel ist grau. Kalter Schweiß klebt mir im Nacken, aber ich möchte so lange wie möglich die Wärme von Béatrices Gesicht neben meinem spüren. Wie schafft sie es, den Schatten des Mannes, den sie einmal geliebt hat, immer noch mit diesem frisch verliebten Blick anzusehen?

Ich muss husten, dann spucken. Besorgt schiebt sie mich zurück ins Rehazentrum. Die Krankenschwester diagnostiziert eine Lungeninfektion. Ich lande zum zweiten Mal auf der Intensivstation, im Krankenhaus von Lorient, und bekomme einen Luftröhrenschnitt. Eine Batterie von Flaschen verströmt ihr Gift. Die Venen meines linken Arms geben unter dem Druck nach. Er wird bis zum Ellbogen mit Alkoholkompressen bandagiert; es macht mich ganz benommen. Ich bin in einem Raum ohne Fenster. Es muss Nacht sein. Keine Krankenschwester weit und breit. Die roten, grünen und weißen Lämpchen der Apparate blinken. Ich verschwinde. Als plötzlich diese angenehme Empfindung über mich hereinbricht. Seit fast einem Jahr habe ich nicht mehr dieses köstliche Verlangen nach einer endlosen Umarmung mit Béatrice verspürt. Bilder von unseren ineinander verschlungenen Körpern überfluten mich. Plötzlich werde ich von Neonlicht geblendet: Béatrice beugt sich über mich. Sie braucht nicht lange, um die Regung, die mich ergriffen hat und die ich ihr durch Augenblinzeln mitzuteilen versuche, zu verstehen. Ich bitte sie, den Arzt zu informieren. Sie lacht, läuft auf den Flur. Der Arzt kommt genervt mit ihr zurück. Er hört das Objekt der Belustigung ab. Negativ. Phantomregungen. Schlaf, mein Engel.

Der Hintern des Engels

Nach dem Aufwachen ist DA7. Dann Duschen.

Alles ist schwarz. Ich existiere fast nicht mehr. Es gibt weder Körper noch Geräusche noch Empfindungen, außer vielleicht einem kleinen lauwarmen Luftzug, der durch meine Nasenlöcher streift. Plötzlich kippt alles zur Seite. Es geht wieder los. Mein Kopf sackt nach vorne. Ich höre das Rauschen der Dusche, spüre das Wasser auf meinem Gesicht. Ich öffne die Augen. Nach und nach erscheint ein Bild: Marcelle, die massige Martinikanerin mit der sanften Stimme, hat meine Beine auf ihren Schultern. Sie lächelt: »Da sind wir ja wieder, Monsieur Pozzo. Diesmal musste ich Ihnen gar keine Ohrfeige verpassen!« Mein rechter Arm hat den Halt verloren, ich bin auf dem Duschsitz zur Seite gekippt. Er hat Löcher.

Ich bin nackt. Bis auf den Urinbeutel, der an einem langen Schlauch mit einer Art Kondom an meinem Penis befestigt ist. Ich kann nicht sitzen. Um zu überleben, muss ich mit dem riesigen Brustgurt festgeschnallt werden und die dicken Kompressionsstrümpfe angezogen bekommen, die mich von den Zehen bis zum Hintern einhüllen, damit ein kleiner Rest Blut in meinem Gehirn bleibt. Wenn ich ohnmächtig werde, bin ich ein Engel der Dunkelheit; Engel spüren nichts. Wenn ich ins Licht zurückkehre, Beine in der Luft, mit oder ohne Ohrfeige, überwältigt mich das Elend, und das Gleißen der Hölle treibt mir die Tränen in die Augen.

 

Pozzo hat seine Potenz verloren. Er wird zum schiefen Turm von Pisa, immer kippt er zur einen oder zur anderen Seite.

 

Marcelle, die Pflegerin, ruft Abdel, meinen Assistenten, damit er mich aufs Bett legt. Er befreit meine Beine aus den Fußstützen, beugt sich vor, bis sein Kopf meinen Brustkorb berührt, presst seine Knie gegen meine und umfasst mein Kreuz mit seinen kräftigen Armen. Hopp! Er lehnt sich nach hinten und im Spiegel der noch geschlossenen Fensterläden sieht es plötzlich so aus, als ob ich stünde. Ich war einmal schön; davon ist nicht viel übrig geblieben. Das Blut fließt mir in die Zehen; ich werde wieder zum Engel. Abdel legt mich auf die Antidekubitusmatratze8. Marcelle beginnt mit dem, was sie lächelnd meine »Katzenwäsche« nennt. Sie nimmt den Urinbeutel ab, um die Bestie zu versorgen. Béatrice nannte sie zärtlich »Toto«. Ich höre Marcelle lachen. Toto hat sich aufgerichtet. Sie kann den Urinbeutel nicht mehr anbringen.

 

Im Rehazentrum von Kerpape sind die Tetraplegiker die Aristokraten. Wir sind die Oberschicht, ganz nah bei Gott. Wir sehen auf die anderen herab. Wir sind die Tetras. Aber unter uns nennen wir uns die Kaulquappen, weil Kaulquappen genau wie Tetraplegiker weder Arme noch Beine haben, nur einen zuckenden Schwanz.

 

7 Darmausräumen: Morgens, nachdem man meinen Urinbeutel ausgeleert hat, legt man mich auf die Seite, streift einen Handschuh über, taucht den Zeigefinger in Vaseline und schiebt ihn mir Sie wissen schon wo rein. Ich mag in Verhältnissen aufgewachsen sein, wo einem alles in den Hintern geschoben wurde, aber das ist dann doch zu viel. Ich schließe die Augen, während die Damen in mir herumwühlen.

Dank an all die Marcelles, Berthes, Paulines, Catherines, Isabelles, Sabryas, Sandrines … für ihre Fingerfertigkeit und ihre Freundlichkeit. Ich bin der, der am ausgestreckten Zeigefinger am Leben erhalten wird.

 

8 Dekubitus: Wundliegegeschwür.

ERSTER TEIL   Goldene Kindheit