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Inhaltsverzeichnis

Widmung
ERSTER TEIL - Sterben
1 - SEITEN
2 - DER VORAUSSEHENDE
3 - IN SIE EINGEBRANNT
4 - AUGEN AUS ROT UND BLAU
5 - ALDS UND MILP
6 - BETTLER UND SCHANKMÄDCHEN
7 - DER ELENDE
8 - DIE WEINUNG
9 - SCHADESMAR
10 - KIND VON TANAVAST
11 - STURMSEGNUNGEN
12 - ERDBEERE
13 - SICH KÜMMERN
14 - RÜCKENBRECHER- PULVER
15 - SAS NAHN
ZWISCHENSPIELE - BAXIL · GERANID · SZETH
Z-1 - BAXIL
Z-2 - GERANID
Z-3 - DER TOD TRÄGT WEISS
ZWEITER TEIL - Sturmesleuchten
16 - DIE STRASSE ZUR SONNE
17 - DUNNI
18 - KAUDERSCHWATZ
19 - EIN SMARAGDBROM
20 - DIESES STURMVERDAMMTE BUCH
21 - WANDERSEGEL
22 - DIE REISE
23 - EINE EHRE
24 - DAS, WAS WIR NICHT BEKOMMEN KÖNNEN
25 - RECHT UND UNRECHT
26 - DREI GLYPHEN
27 - ANGST
28 - EIN MANN DER EXTREME
29 - DER TURM
30 - DER KODEX
31 - WORTE
32 - ESCHONAI
33 - GERECHTIGKEIT
DRITTER TEIL - Das Schweigen darüber
34 - MEER AUS GLAS
35 - AUFGEZEICHNET IN BLUT
36 - VERISTITALISCH
37 - VERTRAUEN
38 - GEISTERBKLUT
39 - IM OBERSTEN ZIMMER
EPILOG - VON HÖCHSTEM WERT
SCHLUSSBEMERKUNG
ARS ARCANUM - DIE ZEHN ESSENZEN UND IHRE HISTORISCHEN BEZIEHUNGEN
DANKSAGUNG
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DANKSAGUNG

Ich habe den ersten Entwurf von Der Weg der Könige und Der Pfad der Winde 2003 beendet, aber schon in den späten Neunzigerjahren habe ich an Teilen des Buches gearbeitet. Einige Elemente dieses Romans reichen sogar noch tiefer in die Vergangenheit hinein. Keines meiner Bücher hat länger geköchelt; ich habe mehr als ein Jahrzehnt damit verbracht, diesen Roman zu schreiben. Daher sollte es keine Überraschung sein, dass mir eine Menge Leute dabei geholfen haben. Es ist unmöglich, sie alle aufzuführen; dazu ist mein Erinnerungsvermögen einfach nicht gut genug. Doch es gibt einige Hauptakteure, denen ich von ganzem Herzen zu Dank verpflichtet bin.

Zuerst kommt meine Frau Emily, der das vorliegende Buch auch gewidmet ist. Sie hat sehr großen Anteil daran, dass dieser Roman zustande gekommen ist. Das bezieht sich nicht nur auf das sachkundige Lesen des Textes und die guten Ratschläge für das Manuskript, sondern auch darauf, dass sie ihren Ehemann während des Schreibens oft für lange Zeit entbehren musste. Falls Sie, lieber Leser, ihr irgendwann einmal begegnen, wäre ein Dank an sie durchaus angebracht. (Sie mag Schokolade.)

Wie immer danke ich meinem ausgezeichneten Lektor und meinem Agenten – Moshe Feder und Joshua Bilmes –, die sehr hart an diesem Buch gearbeitet haben. Ich möchte hier erwähnen, dass Moshe keine bessere Bezahlung erhält, wenn seine Autoren ihm 400 000-Wörter-Monstrositäten abliefern. Er hat den Roman ohne ein Wort der Beschwerde lektoriert; seine Hilfe war unschätzbar und hat das Manuskript zu dem Buch werden lassen, das Sie nun in den Händen halten. Er hat sogar F. Paul Wilson für die medizinischen Szenen zurate gezogen, was diesen sehr gutgetan hat.

Ein besonderer Dank geht auch an Harriet McDougal, eine der größten Lektorinnen unserer Zeit, die uns aus reiner Herzensgüte ein Lektorat für diesen Roman erstellt hat. Fans von Das Rad der Zeit werden sie als die Person kennen, die Robert Jordan zunächst entdeckt, dann seine Romane lektoriert und ihn schließlich geheiratet hat. Außer für Das Rad der Zeit arbeitet sie heute kaum mehr als Lektorin, und so fühle ich mich ausgesprochen geehrt, ihre Hilfe und Unterstützung erhalten zu haben. Alan Romanczuk, der mit ihr zusammenarbeitet, gebührt mein Dank dafür, dass er dieses Lektorat ermöglicht hat.

Bei Tor Books war Paul Stevens eine große Hilfe. Er ist der betriebsinterne Verbindungsmann für meine Bücher – und hat großartige Arbeit geleistet. Moshe und ich sind glücklich, seine Hilfe gehabt zu haben. Auch Irene Gallo – die künstlerische Leiterin – war wunderbar hilfreich und im Umgang mit einem aufdringlichen Autor, der hinsichtlich der künstlerischen Gestaltung des Buches einige verrückte Ideen hatte, auffallend geduldig. Herzlichen Dank an Irene, Justin Golenbock, Greg Collins, Karl Gold, Nathan Weaver, Heather Saunders, Mery Gross und das gesamte Team von Tor Books. Dot Lin, die bis zum Erscheinen dieses Buches meine Herausgeberin war (und die jetzt daran arbeitet, ein paar weitere Buchstaben vor ihren Namen setzen zu können), war eine wunderbare Hilfe nicht nur hinsichtlich der Werbung, sondern sie hat mir auch gute Ratschläge erteilt und mich drüben in New York aufgemuntert. Danke euch allen.

Da wir gerade von der künstlerischen Ausgestaltung sprechen: Vermutlich haben Sie bereits bemerkt, dass die Illustrationen in diesem Buch wesentlich zahlreicher sind als in anderen Werken der epischen Fantasy. Das ist den außerordentlichen Bemühungen von Greg Call, Isaac Stewart und Ben McSweeney zu verdanken. Sie haben hart dafür gearbeitet und etliche Bilder in vielen Versionen hergestellt, bis wir endlich alle damit zufrieden waren. Bens Darstellungen von Schallans Skizzenblockseiten sind einfach wunderschön und stellen einen Zusammenfluss meiner besten Erfindungen und seiner künstlerischen Interpretationen dar. Isaac, der auch die Innenzeichnungen für die Kinder des Nebels-Trilogie angefertigt hat, ist weit über das hinausgegangen, was man von ihm erwarten konnte. Nächtliche Arbeit und drohende Abgabetermine waren die Norm bei diesem Roman. Seine Arbeit ist wirklich empfehlenswert. (Die Vignetten über den Kapitelanfängen, die Karten, die kolorierten Vorsätze und die Seiten aus Navanis Notizbuch stammen übrigens auch von ihm.)

Wie immer hat meine Schreibgruppe auch jetzt wieder eine erstaunliche Hilfe dargestellt. Ohne eine besondere Reihenfolge einzuhalten, gehören dazu: Karen Ahlstrom, Geoff und Rachel Biesinger, Ethan Skarstedt, Nathan Hatfield, Dan Wells, Kaylynn ZoBell, Alan und Jeanette Layton, Janci Olds, Kristina Kugler, Steve Diamond, Brian Delambre, Jason Denzel, Mi’chelle Trammel, Josh Walker, Vhris King, Austin und Adam Hussey, Brian T. Hill und dann auch noch dieser Ben, dessen Nachnamen ich nie richtig buchstabieren kann. Ich bin sicher, dass ich einige von euch vergessen habe. Ihr alle seid so wundervolle Menschen, und ich würde euch Splitterklingen schenken, wenn ich könnte.

Wow, das wird jetzt ein regelrechtes Danksagungs-Epos. Aber es gibt noch einige Leute, die ich nicht vergessen darf. Ich schreibe diese Worte fast genau ein Jahr, nachdem ich den unverzichtbaren Peter Ahlstrom als persönlichen Assistenten, Lektoratshilfe und zusätzliches Hirn eingestellt habe. Wenn Sie sich frühere Danksagungen ansehen, werden Sie ihn immer wieder finden. Er ist seit vielen Jahren ein lieber Freund von mir und ein Anwalt meines Werkes. Ich freue mich sehr darüber, dass er bei mir jetzt endlich vollzeitbeschäftigt ist. Er ist heute Morgen um drei Uhr aufgestanden, um die letzten Seiten dieses Buches Korrektur lesen zu können. Wenn Sie ihn auf einer Convention begegnen, dann kaufen Sie ihm bitte ein großes Stück Käse.

Auch möchte ich es nicht versäumen, Tom Doherty dafür zu danken, dass er mir überhaupt erlaubt hat, dieses Buch zu schreiben. Toms Glauben an dieses Projekt haben wir es zu verdanken, dass der Roman so lang werden durfte, und aufgrund eines persönlichen Anrufs von Tom hat sich Michael Whelan bereiterklärt, den Umschlag zu gestalten. Tom hat mir vermutlich wesentlich mehr gegeben, als ich verdient habe. Dieser Roman ist aufgrund seiner Länge und der vielen Illustrationen genau das Projekt, vor dem viele Verleger im Galopp Reißaus nehmen. Dieser Mann ist der Grund dafür, dass Tor andauernd so Ehrfurcht gebietende Bücher herausbringt.

Schließlich sei noch ein Wort über Michael Whelans so wunderbare Umschlaggestaltung (der Originalausgabe, Anm. d. Ü.) gesagt. Für all jene, die die Geschichte noch nicht kennen, möchte ich hier wiederholen, dass ich wegen der wunderschönen Whelan-Umschläge als Teenager angefangen habe, Fantasy-Romane zu lesen, ja sie haben mich überhaupt erst an das Lesen herangeführt. Michael Whelan besitzt die einzigartige Fähigkeit, die wahre Seele eines Buches in einem Bild einzufangen. Ich habe immer gewusst, dass ich einem Roman mit einem Umschlagbild von ihm trauen kann. Und ich habe davon geträumt, eines Tages einmal eines seiner Bilder auf einem Umschlag eines Buches von mir zu sehen. Damals war mir das allerdings noch völlig unwahrscheinlich erschienen.

Dass es schließlich doch geschehen ist – und dies auch noch bei dem Roman meines Herzens, an dem ich so lange gearbeitet habe –, ist eine ungeheure Ehre für mich.

 

Brandon Sanderson

EPILOG

VON HÖCHSTEM WERT

Fühlt ihr es?«, fragte Schelm die freie Nacht. »Soeben hat sich etwas verändert. Ich glaube, das ist das Geräusch, das die Welt macht, wenn sie pisst.«

Drei Wachen standen dicht hinter dem dicken hölzernen Stadttor von Kholinar. Die Männer sahen Schelm besorgt an.

Das Tor war geschlossen, und diese Männer gehörten zur Nachtwache, was jedoch eine kaum angemessene Bezeichnung für sie war. Sie verbrachten die Nacht nicht wachend, sondern plauderten, gähnten, spielten oder – wie es heute Nacht der Fall war – standen unangenehm berührt herum und hörten einem Verrückten zu.

Zufälligerweise hatte dieser Verrückte blaue Augen, was ihn von allen Schwierigkeiten befreite. Vielleicht hätte Schelm von der Bedeutung verwirrt sein sollen, die diese Menschen etwas so Gewöhnlichem wie der Augenfarbe beimaßen, aber er war schon an vielen Orten gewesen und hatte viele Herrschaftsmethoden gesehen. Diese hier schien nicht lächerlicher als die meisten anderen zu sein.

Und natürlich gab es einen Grund für die Verhaltensweise der Leute. Nun, es gab eigentlich immer einen Grund. In diesem Fall war es zufällig ein sehr angenehmer.

»Hellherr?«, fragte einer der Wächter und sah Schelm an, der auf einigen Kisten saß. Sie waren hier von einem Kaufmann gestapelt und zurückgelassen worden, der den Nachtwächtern ein gutes Trinkgeld dafür gegeben hatte, dass sie darauf aufpassten. Schelm dienten sie einfach als eine angenehme Sitzgelegenheit. Sein Reisesack stand neben ihm, und auf den Knien stimmte er sein Enthir, ein viereckiges Saiteninstrument. Man spielte es von oben und zupfte an den Saiten, während es auf dem Schoß lag.

»Hellherr?«, wiederholte der Wächter. »Was macht Ihr da oben?«

»Ich warte«, sagte Schelm. Er hob den Blick und schaute nach Osten. »Ich warte auf den Sturm.«

Nun wurden die Wächter noch unruhiger. Für diese Nacht war kein Großsturm vorhergesagt.

Schelm spielte auf seinem Enthir. »Wir sollten uns ein wenig unterhalten, um die Zeit zu vertreiben. Sagt mir: Was schätzen die Menschen an ihresgleichen?«

Die Musik strömte einer Zuhörerschaft aus stillen Häusern, Gassen und ausgetretenen Pflastersteinen entgegen. Die Wächter gaben ihm keine Antwort. Sie schienen nicht zu wissen, was sie von diesem schwarz gekleideten, helläugigen Mann halten sollten, der die Stadt kurz vor Anbruch der Nacht betreten, sich dann auf die Kisten gesetzt und Musik gemacht hatte.

»Also?«, fragte Schelm und hörte auf zu spielen. »Was glaubt ihr? Wenn ein Mann oder eine Frau ein Talent erhalten soll, welches ist das am höchsten geachtete, das am besten angesehene, das wertvollste?«

»Äh … Musik?«, schlug schließlich einer der Männer vor.

»Ja, das ist eine häufig gegebene Antwort«, sagte Schelm und zupfte noch ein paar tiefe Töne. »Ich habe diese Frage einmal einigen sehr weisen Gelehrten gestellt. Welches Talent betrachten die Menschen als das wertvollste? Einer erwähnte künstlerische Fähigkeiten, wie ihr schon so scharfsinnig vermutet habt. Ein anderer nannte große Verstandeskräfte. Der Letzte war der Meinung, es sei das Talent zu erfinden – die Fähigkeit, große Geräte zu erschaffen und zu gestalten.«

Er spielte keine besondere Melodie auf dem Enthir, sondern zupfte einfach nur hier und da eine Tonleiter oder einen Akkord. Es war wie Geplauder in musikalischer Form.

»Ästhetisches Genie«, sagte Schelm, »Erfindungsgabe, Scharfsinn, Kreativität. Das sind wirklich hehre Ideale. Die meisten Menschen würden etwas davon auswählen, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten, und dieses dann das größte aller Talente nennen.« Er zupfte eine Saite. »Was für wunderbare Lügner wir doch sind.«

Die Wächter sahen einander an; die Fackeln, die in Halterungen an der Mauer brannten, bemalten sie mit orangefarbenem Licht.

»Ich glaube, ich bin ein Zyniker«, sagte Schelm. »Ihr glaubt, ich werde euch sagen, dass die Menschen zwar behaupten, diese Ideale zu schätzen, insgeheim aber geringere Gaben begehren, zum Beispiel die Fähigkeit, viel Geld zusammenzukratzen oder Frauen zu bezaubern. Nun, ich bin durchaus ein Zyniker, aber in diesem Fall glaube ich wirklich, dass die Gelehrten aufrichtig waren. Ihre Antworten sprechen für die Seele des Menschen. Tief in unserem Herzen wollen wir an große Befähigungen und Tugenden glauben, und wir würden sie auch gewiss wählen. Aus diesem Grunde sind unsere Lügen – besonders jene, mit denen wir uns selbst belügen – auch so wunderbar.«

Nun spielte er ein richtiges Lied. Zunächst war es eine einfache, sanfte und gedämpfte Melodie – ein Lied für die stille Nacht, in der sich die ganze Welt veränderte.

Einer der Soldaten räusperte sich. »Was ist denn jetzt das wertvollste Talent, das ein Mensch haben kann?« Er klang aufrichtig neugierig.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete Schelm. »Zum Glück war das nicht meine Frage. Ich habe ja nicht wissen wollen, was die wertvollste Gabe ist, sondern was die Menschen als die wertvollste Gabe betrachten. Der Unterschied zwischen diesen beiden Fragen ist einerseits ganz winzig, zugleich aber so groß wie die Welt.«

Er zupfte weiter sein Lied. Man klimperte nicht einfach auf einem Enthir herum. Man tat es einfach nicht – zumindest dann nicht, wenn man ein Mensch mit einem gewissen Gefühl für Anstand war.

»Wie immer verraten uns unsere Taten auch in diesem Fall«, sagte Schelm. »Wenn eine Künstlerin ein Werk von machtvoller Schönheit erschafft, indem sie neue und einfallsreiche Techniken verwendet, wird sie als Meisterin gelobt und eine neue ästhetische Bewegung gründen. Aber was ist, wenn eine andere, die unabhängig von der ersten, jedoch mit gleichem Geschick, dasselbe im nächsten Monat erschafft? Wird sie einen ähnlichen Ruhm erringen? Nein, man wird sie eine Nachahmerin nennen.

Verstand. Wenn ein großer Denker eine neue Theorie in der Mathematik, in einer anderen Wissenschaft oder in der Philosophie entwickelt, dann werden wir ihn einen Weisen nennen. Wir werden zu seinen Füßen sitzen, von ihm lernen und seinen Namen in die Geschichtsbücher schreiben, damit Tausende und Abertausende ihn verehren können. Aber was ist, wenn ein anderer Mann aus eigener Kraft dieselbe Theorie entwickelt hat und die Ergebnisse nur eine Woche später veröffentlicht? Wird man sich an seine Größe erinnern? Nein. Er wird vergessen werden.

Erfindungen. Eine Frau baut ein neues Gerät von erheblichem Wert – irgendein Fabrial oder ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Sie wird als Erfinderin berühmt sein. Aber eine andere Frau mit demselben Talent erschafft dasselbe Gerät ein Jahr später, ohne dabei zu wissen, dass es schon existiert. Wird diese zweite Frau für die gleiche Erfindungsgabe belohnt werden? Nein. Sie wird sogar eine Nachahmerin und eine Diebin genannt werden.«

Er zupfte die Saiten, die Melodie setzte sich fort, drehte sich, klang bewegend, aber auch ein wenig spöttisch. »Und zu welchem Schluss kommen wir am Ende?«, fragte er. »Ist es wirklich die Geistesgabe eines Genies, die wir verehren? Wenn es nur um ihre Kunstfertigkeit und die Schönheit ihres Verstandes ginge, würden wir sie dann nicht loben, obwohl wir das Ergebnis schon einmal gesehen haben?

Aber das tun wir nicht. Bei zwei Werken von künstlerischer Größe, die einander vollkommen ebenbürtig sind, rühmen wir stets diejenige Person, die es zuerst geschaffen hat. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, um was es geht. Wichtig ist nur, dass man es zuerst erschafft.

Also bewundern wir nicht die Schönheit selbst. Und auch nicht die Verstandeskraft. Es geht nicht um die Erfindung, um das ästhetische Werk oder die Fähigkeit, etwas dergleichen zu erschaffen. Was ist das größte Talent, das ein Mensch besitzen kann?« Er zupfte eine letzte Saite. »Es scheint mir, dass es bloß die Gabe ist, etwas Neues zu erschaffen. «

Die Wächter wirkten verwirrt.

Das Tor erzitterte. Etwas hämmerte von draußen dagegen.

»Der Sturm ist gekommen«, sagte Schelm und stand auf.

Die Wächter suchten nach ihren Speeren, die sie an der Mauer abgestellt hatten. Sie hatten ein Wächterhaus, aber das war leer; sie zogen die frische Nachtluft vor.

Das Tor erbebte abermals, als befände sich auf der anderen Seite etwas ungeheuer Gewaltiges. Die Wächter schrien auf und riefen den Männern auf der Mauer etwas zu. Chaos und Verwirrung waren vollständig ausgebrochen, als zum dritten Mal gegen das Tor gehämmert wurde. Nun vibrierte es, als wäre es von einem Felsbrocken getroffen worden.

Und dann wurde eine helle, silbrige Schwertklinge in das massive Tor gerammt und nach oben gerissen, bis die Stange, die die beiden Flügel verschloss, zerteilt war. Dies war eine Splitterklinge.

Die Torflügel schwangen auf. Die Wächter taumelten zurück. Schelm blieb auf seinen Kisten sitzen, hielt das Enthir in der einen Hand und warf sich mit der anderen seinen Reisesack über die Schulter.

Vor dem Tor stand auf der dunklen, mit Steinen gepflasterten Straße ein einsamer Mann mir dunkler Haut. Sein Haar war lang und verfilzt, und seine Kleidung schien kaum mehr als ein zerrissener Sack zu sein, der seine Hüften bedeckte. Er stand mit geneigtem Kopf da; das feuchte, schmutzige Haar hing vor seinem Gesicht und vereinigte sich mit einem Bart, in dem Holzsplitter und Blätter hingen.

Seine Muskeln glitzerten feucht, als wäre er soeben eine lange Strecke geschwommen. Er trug eine gewaltige Splitterklinge, hatte die Spitze etwa einen Fingerbreit in den Stein unter sich gerammt und die Hand auf den Griff gelegt. Die Klinge spiegelte den Fackelschein wider. Sie war lang, schmal und so gerade geformt wie ein gewaltiger Stachel.

»Willkommen, Verlorener«, flüsterte Schelm.

»Wer bist du?«, rief einer der Wächter nervös, während einer der beiden anderen davonlief und Alarm schlug. Ein Splitterträger war nach Kholinar gekommen.

Die Gestalt beachtete die Frage nicht. Der Mann machte einen Schritt nach vorn, zog seine Splitterklinge hinter sich her, als wöge sie ungeheuer schwer. Sie schnitt durch den Fels hinter ihm und hinterließ eine flache Rille. Die Gestalt ging mit wackligen Schritten und wäre beinahe gestürzt. Der Mann stützte sich am Tor ab, da glitt eine Haarlocke zur Seite und enthüllte seine Augen. Es waren dunkelbraune Augen – wie die eines Mannes aus der Unterschicht. Die Augen blickten wild und gleichzeitig benommen drein.

Schließlich bemerkte der Mann die beiden Wächter, die entsetzt vor ihm standen und ihre Speere auf ihn gerichtet hatten. Er streckte die leere Hand zu ihnen aus. »Geht«, sagte er heiser in vollkommenem Alethi und ohne die Spur eines Akzents. »Lauft weg! Warnt die anderen!«

»Wer bist du«, brachte einer der Wächter mühsam heraus. »Was für eine Warnung? Wer greift uns an?«

Der Mann hielt inne. Er hob die Hand an die Stirn und schwankte. »Wer ich bin? Ich … ich bin Talenel’Elin Steinsehne, Herold des Allmächtigen. Die Wüstwerdung ist da. O Gott … sie ist da. Und ich habe versagt.«

Er brach zusammen und fiel auf den Boden. Die Splitterklinge klapperte neben ihm auf die Steine. Sie verschwand nicht. Die Wächter wagten sich ein wenig nach vorn. Einer stieß den Mann mit dem Schaft seines Speeres an.

Der Mann, der sich selbst als Herold bezeichnet hatte, regte sich nicht mehr.

»Was schätzen wir?«, flüstere Schelm. »Erfindungsgabe. Originalität. Neuartigkeit. Aber am meisten … die Zeitlosigkeit. Ich fürchte, du bist zu spät gekommen, mein verwirrter, unglücklicher Freund.«

SCHLUSSBEMERKUNG

»Über dem Schweigen die erleuchtenden Stürme –
die sterbenden Stürme –
erleuchten das Schweigen darüber.«

Dieses Beispiel ist bemerkenswert, da es sich um ein Ketek handelt, eine komplexe Form eines heiligen Vorin-Gedichtes. Das Ketek kann nicht nur von vorn nach hinten und von hinten nach vorn gelesen werden (mit kleinen Abwandlungen, die von der Grammatik vorgegeben werden), sondern ist auch in fünf deutlich voneinander getrennte kleinere Abschnitte unterteilbar, von denen jeder einen vollständigen Gedanken wiedergibt.

Das vollständige Gedicht muss einen Satz ergeben, der grammatikalisch korrekt und (theoretisch) von tiefer Bedeutung ist. Wegen der Schwierigkeiten, ein Ketek zu schaffen, wurde es als die höchste und beeindruckendste Form der Vorin-Lyrik angesehen.

Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass dieses Ketek von einem ungebildeten, sterbenden Herdazianer in einer Sprache wiedergegeben wurde, die er kaum beherrschte. Nirgendwo in der niedergeschriebenen Vorin-Lyrik ist dieses Ketek verzeichnet, und daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Person nur etwas wiederholt hat, das sie irgendwo gehört hat. Keiner der Feuerer, dem wir es gezeigt haben, wusste etwas darüber, aber drei lobten die Struktur und baten, mit dem Dichter sprechen zu dürfen.

Wir überlassen es dem Verstand Seiner Majestät, an einem starken Tag herauszufinden, warum die Stürme wichtig sind und was das Gedicht meint, wenn es andeutet, dass sowohl über als auch unter den besagten Stürmen Schweigen herrscht.

 

Joschor, Haupt der Stillen Sammler
Seiner Majestät, Tanatanev 1173

ARS ARCANUM

DIE ZEHN ESSENZEN UND IHRE HISTORISCHEN BEZIEHUNGEN

Die vorstehende Liste ist eine unvollkommene Zusammenstellung des traditionellen Vorin-Symbolismus, der in Beziehung zu den Zehn Essenzen steht. In ihrer Gesamtheit bilden sie das Doppelauge des Allmächtigen, ein Auge mit zwei Pupillen, das die Erschaffung der Pflanzen und Geschöpfe darstellt. Dies ist auch die Grundlage für die Form des Stundenglases, das oft mit den Strahlenden Rittern in Beziehung gebracht wird.

Alte Gelehrte haben auch die zehn Orden der Strahlenden Ritter auf diese Liste gesetzt, zusammen mit den Herolden, von denen jeder eine althergebrachte Beziehung zu einer der Zahlen und Essenzen besaß.

Ich bin mir noch nicht sicher, wie die zehn Stufen des Bindens der Leere oder ihre Verwandte, die Alte Magie, in dieses Schema passen, falls sie überhaupt dort hineingehören. Meine Nachforschungen deuten an, dass es tatsächlich eine weitere Reihe von Fähigkeiten gibt, die noch esoterischer als die des Bindens der Leere sind. Vielleicht passte die Alte Magie dort hinein, obwohl ich allmählich vermute, dass es sich bei ihr um etwas vollkommen anderes handelt.

ÜBER DIE ERSCHAFFUNG DER FABRIALE

Bisher wurden fünf Gruppen von Fabrialen entdeckt. Die Methoden ihrer Erschaffung werden von der Gemeinschaft der Fabrialkünstlerinnen sorgsam gehütet, aber sie scheinen das Werk passionierter Wissenschaftlerinnen zu sein und im Gegensatz zum mystischen Wogenbinden zu stehen, wie es von den Strahlenden Rittern durchgeführt wurde.

Verändernde Fabriale

Verstärker: Diese Fabriale sind so gestaltet, dass sie etwas verstärken. Sie können Hitze, Schmerz oder sogar einen nicht allzu starken Wind hervorrufen. Sie werden – wie alle Fabriale – mit Sturmlicht betrieben. Am besten scheinen sie bei Kräften, Gefühlen und Sinneseindrücken zu funktionieren.

Die sogenannten Halbsplitter von Jah Keved werden aus dieser Art von Fabrialen hergestellt, die mit einem Metallstück verbunden werden, was ihre Haltbarkeit verstärkt. Ich habe Fabriale dieses Typs gesehen, in denen viele verschiedene Edelsteine steckten. Ich vermute, dass jeder der zehn Polsteine darin funktionieren wird.

Verminderer: Diese Fabriale bewirken das Gegenteil der Verstärker und scheinen denselben Beschränkungen wie ihre Vettern zu unterliegen. Diejenigen Fabrialkünstlerinnen, die mich in ihr Vertrauen gezogen haben, glauben offenbar, dass sogar noch größere Fabriale als jene möglich sind, die wir bislang hergestellt haben, was besonders auf die Verstärker und Verminderer zutrifft.

Paarbildende Fabriale

Vereiniger: Durch das Aufladen eines Rubins und mit einer Methode, die mir nicht enthüllt wurde (auch wenn ich einen Verdacht habe), kann ein vereinigtes Paar von Edelsteinen erschaffen werden. Dieser Prozess macht es nötig, den ursprünglichen Rubin zu zerteilen. Die beiden Hälften rufen dann parallele Reaktionen über eine bestimmte räumliche Entfernung hinweg hervor. Spannfedern sind die gewöhnlichste Form dieses Fabrialtyps.

Die Kraft wird dabei bewahrt. Wenn eines zum Beispiel mit einem schweren Stein verbunden ist, benötigt man dieselbe Kraft, um das verbundene Fabrial zu heben, die man einsetzen müsste, um den Stein zu heben. Bei der Erschaffung des Fabrials scheint ein Prozess benutzt zu werden, durch den bestimmt wird, wie weit die beiden Hälften voneinander entfernt sein dürfen, um noch eine Wirkung hervorzurufen.

Umkehrer: Wenn man einen Amethyst anstelle eines Rubins benutzt, kann man ebenfalls vereinigte Hälften eines Edelsteins erschaffen, aber diese beiden arbeiten dann in entgegengesetzte Richtungen. Wenn man zum Beispiel den einen anhebt, wird der andere niedergedrückt.

Diese Fabriale sind erst vor kurzer Zeit entdeckt worden, und schon werden die Möglichkeiten ihres Einsatzes erforscht. Diese Art von Fabrialen scheinen gewissen Beschränkungen zu unterliegen, aber ich konnte bislang nicht herausfinden, worin sie bestehen.

Warnfabriale

Hierbei gibt es nur eine einzige Art von Fabrialen, die landläufig als Warner bekannt sind. Ein Warner kann jemanden vor einem Gegenstand in der Nähe, einem Gefühl, einer Sinnesempfindung oder einem Phänomen warnen. Diese Fabriale benutzen als Brennpunkt einen Heliodor. Ich weiß nicht, ob dies der einzige Edelstein ist, mit dem sie funktionieren, oder ob Heliodore aus einem anderen Grund benutzt werden.

Bei dieser Art von Fabrial bestimmt die Menge an Sturmlicht, mit der man es auflädt, seine Reichweite. Daher ist die Größe des Edelsteins in diesem Fall sehr wichtig.

WINDLAUFEN UND PEITSCHEN

Die Berichte über die seltsamen Fähigkeiten des Attentäters in Weiß haben mich zu einigen Informationsquellen geführt, die, wie ich annehme, allgemein unbekannt sind. Die Windläufer waren ein Orden der Strahlenden Ritter und haben zwei grundlegende Arten des Wogenbindens praktiziert. Die Auswirkungen dieses Wogenbindens waren unter den Mitgliedern des Ordens als die drei Arten des Peitschens bekannt.

Einfaches Peitschen: Änderung der Schwerkraft

Diese Art von Peitschen war diejenige, die im Orden am häufigsten benutzt wurde, auch wenn es nicht die einfachste war. (Diese Auszeichnung gebührt dem Vollen Peitschen, siehe unten.) Das Einfache Peitschen bedeutete die Aufhebung des Gravitationsbandes zwischen einem Wesen oder einem Gegenstand und dem Planeten unter ihm und verband es zeitweise mit einem anderen Gegenstand oder einer anderen Richtung.

Dies erzeugte eine Veränderung der Schwerkraft und drehte die Energien des Planeten um. Das Einfache Peitschen erlaubte es einem Windläufer, die Wände hochzulaufen, Gegenstände und Personen in die Luft zu schleudern und ähnliche Effekte hervorzurufen. Wenn ein Windläufer in der Beherrschung dieser Art des Peitschens weit fortgeschritten war, konnte er sich leichter machen, indem er einen Teil seiner Körpermasse an einen Gegenstand über ihm band. (Physikalisch gesprochen wurde das Gewicht einer Person halbiert, wenn sie ein Viertel ihrer Masse an etwas über sich band. Wenn sie die Hälfte ihrer Masse an einen Gegenstand über sich band, machte sie sich dadurch schwerelos.)

Mehrmaliges Einfaches Peitschen konnte auch einen Gegenstand oder eine Person mit dem doppelten dreifachen oder mehrfachen Eigengewicht nach unten drücken.

Volles Peitschen: Das Zusammenbinden von Objekten

Ein Volles Peitschen scheint auf den ersten Blick dem Einfachen Peitschen sehr ähnlich zu sein, aber es gehorcht völlig anderen Prinzipien. Während das eine mit der Schwerkraft zu tun hatte, unterlag das andere der Kraft (oder der Woge, wie es die Strahlenden nannten) der Haftung, denn es band Gegenstände so zusammen, als wären sie nur ein einziges Ding. Ich glaube, diese Woge hat etwas mit dem atmosphärischen Druck zu tun.

Um ein Volles Peitschen durchzuführen, lud ein Windläufer einen Gegenstand mit Sturmlicht auf und drückte ihn dann gegen einen anderen Gegenstand. Die beiden Gegenstände wurden dann durch ein äußerst kräftiges Band zusammengehalten, als wären sie gemeinsam von einer Woge der Kraft erfasst worden, und es war kaum möglich, sie wieder voneinander zu trennen. Die meisten Materialien brachen eher auseinander, als dass das Band zwischen ihnen durchtrennt wurde.

Umgekehrtes Peitschen: Aufladen eines Gegenstandes mit Gravitationszug

Ich glaube, dass dies nur eine besondere Abart des Einfachen Peitschens war. Dieses Peitschen erforderte von allen drei Arten das wenigste Sturmlicht. Der Windläufer lud etwas auf, gab einen geistigen Befehl und verlieh dem Gegenstand dadurch Schwerkraft, wodurch andere Objekte von ihm angezogen wurden.

Im Prinzip erschuf dieses Peitschen eine Blase um den Gegenstand, die das spirituelle Band zwischen ihm und dem Boden nachahmte. Daher war es bei diesem Peitschen viel schwerer, auf Dinge einzuwirken, die den Boden berührten, da dort ihre Verbindung mit dem Planeten am stärksten war. Fallende oder fliegende Gegenstände waren am leichtesten zu beeinflussen. Auch auf andere Dinge konnte eingewirkt werden, aber dazu waren weitaus mehr Sturmlicht und Geschick erforderlich.