KAPITEL 3
Ein Trauerzug hatte sich in Bewegung gesetzt und rollte langsam die alleeartige Zufahrt entlang, die zur Straße führte. Er umfasste nur etwa ein Dutzend Fahrzeuge. Noch ehe der letzte Wagen das Gelände verlassen hatte, stürmten Michelle und ihr Team aus dem Haupteingang des Bestattungsinstituts und schwärmten in alle Richtungen aus.
»Sperren Sie das gesamte Gebiet ab!«, befahl sie den Agenten, die vor Brunos Wagenkolonne postiert waren. Dann sprach sie in ihr Walkie-Talkie: »Ich brauche Verstärkung, egal woher. Hauptsache, sie kommt sofort. Und verbinden Sie mich mit dem FBI.« Ihr Blick fiel auf den letzten Wagen des abfahrenden Trauerzugs. Ihr war klar, dass wegen dieses Vorfalls Köpfe rollen würden, vor allem ihr eigener. Doch im Augenblick dachte sie nur an eines: John Bruno musste wieder her, und zwar vorzugsweise lebendig.
Aus den Transportern der Medien quollen Reporter und Fotografen. Obwohl John Bruno bewusst gewesen war, dass sich ein paar Fotos von ihm am Sarg des Verstorbenen gut gemacht hätten, und trotz entsprechender Interventionen von Seiten Fred Dickers’ hatte er Rückgrat bewiesen und der Presse den Zugang zur Leichenhalle untersagt. Jetzt brach die Meute los, mit der vollen Wucht ihrer journalistischen Leidenschaft: Hatte sie sich zuvor murrend gefügt, witterte sie nun eine Story von weitaus größerer Brisanz, als sie der Beileidsbesuch eines Präsidentschaftskandidaten am Sarg eines alten Freundes je hätte bieten können.
Ehe die Reporter Michelle erreichten, packte diese einen Uniformierten am Arm, der auf sie zugelaufen war und offenbar auf Instruktionen wartete. »Sind Sie ein Kollege aus dem Ort?«, fragte sie ihn.
Er nickte. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht bleich. Der Mann sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen oder sich zumindest in die Hosen machen.
Michelle deutete auf die Straße. »Wessen Trauerzug ist das?«
»Harvey Killebrews. Sie bringen ihn zum Friedhof.«
»Halten Sie den Zug auf!«
Der Mann stierte sie dusselig an. »Aufhalten? Ich?«
»Jemand ist entführt worden. Und das da…« Wieder deutete Michelle in die Richtung, in der der Trauerzug verschwunden war. »Das da wäre eine optimale Gelegenheit, den Entführten aus dem Weg zu schaffen – meinen Sie nicht?«
»Ach ja«, erwiderte der Mann langsam. »Das könnte wohl sein.«
»Also sorgen Sie dafür, dass jedes einzelne Fahrzeug gründlich durchsucht wird, vor allem der Leichenwagen.«
»Der Leichenwagen? Aber entschuldigen Sie, Ma’am, da ist doch Harvey drin!«
Michelle musterte seine Uniform. Er war nur ein Hilfspolizist, aber sie konnte es sich jetzt nicht leisten, wählerisch zu sein. Nach einem Blick auf das Namensschildchen an seiner Brust sagte sie sehr ruhig: »Officer Simmons, wie lange sind Sie schon im… äh… im Wach- und Schließgewerbe tätig?«
»Ungefähr einen Monat, Ma’am. Aber ich bin berechtigt, Waffen zu tragen. Bin Jäger, schon seit meinem achten Lebensjahr. Schieß Ihnen die Flügel von ’ner Mücke weg, wenn’s drauf ankommt.«
»Sehr gut.« Einen Monat! So, wie der Bursche aussah, glaubte sie ihm noch nicht einmal das. »Okay, Simmons, hören Sie zu: Ich halte es für gut möglich, dass der Entführte bewusstlos ist – und für den Transport eines Bewusstlosen wäre ein Leichenwagen doch genau das Richtige, meinen Sie nicht auch?« Er nickte, anscheinend begriff er endlich, worauf sie hinauswollte. Ihr Mund verzog sich, und ihre Stimme klang nun knallhart wie ein Pistolenschuss. »Und jetzt ab mit Ihnen! Sie stoppen umgehend diesen Leichenzug und durchsuchen die Fahrzeuge!«
Simmons rannte sofort los. Michelle befahl einigen ihrer Leute, ihm bei dem Einsatz zu helfen und dafür zu sorgen, dass alles glatt ging. Eine andere Gruppe schickte sie in die Leichenhalle, die gründlich durchsucht werden sollte. Es war nicht ganz auszuschließen, dass Bruno irgendwo im Gebäude versteckt worden war.
Sie kämpfte sich durch die Reporter- und Fotografenmeute und bestimmte das Bestattungsinstitut zu ihrer Einsatzzentrale. Dann telefonierte sie wieder, studierte Landkarten der Umgebung und koordinierte die Fahndung. Sie legte einen inneren Ring um den Tatort mit einem Radius von einer Meile um das Bestattungsinstitut herum fest. Und dann kam der Anruf, den sie gerne vermieden hätte, der sich aber nicht länger hinausschieben ließ: Sie wählte die Nummer ihrer Vorgesetzten und sprach die Worte aus, die von nun an untrennbar mit ihrem Namen und ihrer gescheiterten Karriere beim Secret Service verbunden bleiben sollten.
»Hier spricht Agentin Michelle Maxwell, Einsatzleiterin Personenschutz John Bruno. Wir haben – ich habe – unsere Schutzperson verloren… ja, verloren. John Bruno ist offenbar entführt worden. Die Fahndung läuft, die örtlichen Polizeibehörden und das FBI sind informiert.« Sie hatte das Gefühl, das Fallbeil sause bereits auf ihren Nacken zu.
Michelle schloss sich dem Trupp an, der auf der Suche nach Bruno das Bestattungsinstitut vom Keller bis zum Dachgeschoss durchkämmte und dabei das Interieur buchstäblich in seine Einzelteile zerlegte. Ein solches Vorgehen am Tatort vor Eintreffen der Spurensicherung war, milde ausgedrückt, problematisch. Aber sie konnten sich jetzt nicht über die bevorstehenden Ermittlungen den Kopf zerbrechen; sie mussten den vermissten Kandidaten suchen.
In der Leichenhalle, aus der Bruno verschwunden war, wandte sich Michelle an einen der Männer, die den Raum vor Brunos Eintritt überprüft hatten. »Wie, zum Teufel, konnte das passieren?«, fuhr sie ihn an.
Der Angesprochene war ein Secret-Service-Veteran und ein guter Mann obendrein. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Der Raum war sauber, Mick«, sagte er. »Echt sauber.«
Bei der Arbeit kam es immer wieder vor, dass Michelle »Mick« genannt wurde. Sie hatte nichts dagegen: Irgendwie war sie auf diese Weise den Jungs näher, ihnen ähnlicher, und das war – wie sie sich zähneknirschend eingestand – gar nicht so übel.
»Haben Sie die Witwe überprüft? Sie befragt?«
Der Mann sah sie skeptisch an. »Sollten wir etwa eine alte Frau in die Mangel nehmen, deren Ehemann zwei Meter weiter im Sarg liegt? Wir haben ihre Handtasche angesehen, ja, aber eine intime Leibesvisitation war nun wirklich nicht angebracht.« Er atmete tief durch. »Wir hatten exakt zwei Minuten Zeit. Jetzt nennen Sie mir mal irgendwen, der so einen Job in zwei Minuten perfekt erledigen kann.«
Michelle versteifte sich, als ihr die Bedeutung dieser Worte bewusst wurde. Alle Beteiligten würden versuchen, die eigene Haut und den Pensionsanspruch zu retten. Im Nachhinein sah es verdammt schwach aus, dass sie nur zwei Minuten für die Sicherheitsüberprüfung genehmigt hatte. Michelles Blick fiel auf den Türknopf, mit dem die Tür von innen verriegelt worden war.
Zwei Meter weiter im…? Sie sah sich nach dem kupferfarbenen Sarg um und ließ den Bestattungsunternehmer rufen, der kurz darauf zu ihr kam. Er war jetzt noch viel blasser, als bei Leuten seiner Zunft gemeinhin üblich. Michelle fragte ihn, ob es sich bei dem Toten tatsächlich um Bill Martin handele. Ja, sagte der Mann.
»Und Sie sind sich ganz sicher, dass die Frau an seinem Sarg seine Witwe war?«
»Was für eine Frau?«, wollte er wissen.
»Eine Frau in Schwarz saß hier im Raum. Sie war verschleiert.«
»Ich weiß nicht, ob diese Frau Mrs Martin war oder jemand anders. Ich habe sie nicht hereinkommen sehen.«
»Ich brauche Mrs Martins Telefonnummer. Außerdem dürfen weder Sie noch Ihre Angestellten das Gebäude verlassen, bis das FBI eingetroffen ist und seine Ermittlungen abgeschlossen hat.«
Der Mann wurde noch blasser im Gesicht – sofern das überhaupt möglich war. »Das FBI?«
Michelle ließ ihn gehen, und ihr Blick fiel auf den Sarg und den Fußboden davor. Sie bückte sich, um ein paar Rosenblütenblätter aufzuheben, die heruntergefallen waren. Dabei geriet ihr Kopf auf Augenhöhe mit dem Sockel, auf dem der Sarg ruhte. Michelle beugte sich über die Blumen und zog vorsichtig den vorhangartigen Stoff beiseite, der den Sockel verdeckte. Eine Vertäfelung kam zum Vorschein. Michelle klopfte dagegen. Es klang hohl. Nachdem sie sich Handschuhe übergestreift hatte, hob sie mit einem Kollegen eines der Holzpaneele ab und legte einen Hohlraum frei, in dem sich problemlos ein ausgewachsener Mann verstecken konnte. Michelle schüttelte den Kopf über sich selbst. Das hatte sie gründlich versiebt.
Einer ihrer Leute trat zu ihr und zeigte ihr ein technisches Gerät in einem durchsichtigen Plastikbeutel. »Eine Art digitales Tonbandgerät«, sagte er.
»Brunos Stimme! Damit haben sie uns also geleimt!«
»Sie müssen eine Rede von ihm oder so etwas mitgeschnitten haben. Den Ausruf ›Augenblick noch!‹ hielten sie dann offenbar für am besten geeignet, uns noch eine Weile zu vertrösten, weil er auf alle möglichen Fragen Antwort gibt. Sie haben ihn mit Ihrer Bemerkung über Brunos Kinder ausgelöst. Irgendwo muss noch eine Wanze versteckt sein…«
»… weil das Gerät ja sonst auf meinen Ruf hin nicht angesprungen wäre«, ergänzte Michelle.
»Genau.« Der Mann deutete auf die gegenüberliegende Wand, wo gerade ein Teil der gepolsterten Verkleidung entfernt worden war. »Da hinten ist eine Tür, die zu einem geheimen Durchgang führt.«
»Dann sind sie also dort hinaus.« Michelle gab dem Agenten den Plastikbeutel zurück. »Stellen Sie das Gerät wieder genau dort hin, wo Sie es gefunden haben. Ich habe keine Lust, mich vom FBI darüber aufklären zu lassen, dass man an einem Tatort nichts verändern darf.«
»Es muss doch einen Kampf gegeben haben«, sagte der Agent. »Wie ist es möglich, dass wir keinen Ton gehört haben?«
»Na wie schon, bei dieser Totenmusik, die hier überall plärrt?«, gab Michelle scharf zurück.
Sie betraten den verborgenen Gang. Die rollbare Bahre mit dem leeren Sarg war an der Tür zurückgelassen worden, die nach draußen hinter das Gebäude führte. Nach der Rückkehr in die Leichenhalle ließ Michelle noch einmal den Bestattungsunternehmer kommen und zeigte ihm den Gang.
Der Mann wirkte völlig perplex. »Davon habe ich nichts gewusst«, sagte er.
»Wie bitte?«, fragte Michelle ungläubig.
»Wir arbeiten hier erst seit zwei Jahren – das heißt, seitdem das einzige andere Bestattungsinstitut weit und breit dicht gemacht hat. Das Gebäude konnten wir nicht übernehmen, weil es unter den Hammer kam. Das Haus hier war schon alles Mögliche, bevor wir es anmieteten und in ein Bestattungsunternehmen umwandelten. Die gegenwärtigen Eigentümer haben nur einige wenige bauliche Verbesserungen vorgenommen. Gerade dieser Raum hier, die Leichenhalle, ist kaum verändert worden. Von dieser Tür und dem Gang dahinter hatte ich keine Ahnung.«
»Sie vielleicht nicht, aber jemand anders«, erwiderte Michelle schroff. »Am Ende des Gangs befindet sich eine Tür, die nach draußen führt, zur Rückseite des Gebäudes. Wollen Sie mir weismachen, dass Sie auch von dieser Tür keine Ahnung haben?«
»Der rückwärtige Teil des Hauses dient als Lager. Man kommt durch mehrere Türen von innen da rein.«
»Haben Sie da hinten ein Fahrzeug stehen sehen?«
»Nein, aber da komme ich ja auch nie hin.«
»Ist sonst jemandem irgendetwas aufgefallen?«
»Da muss ich mich erst erkundigen.«
»Nein, ich werde mich erkundigen.«
»Ich versichere Ihnen, dass wir ein absolut seriöses Unternehmen sind.«
»Sie haben geheime Gänge und Außentüren im Haus, von denen Sie keine Ahnung haben. Haben Sie denn keine Angst vor Einbrechern und dergleichen?«
Er sah sie mit leerem Blick an und schüttelte den Kopf. »Wir sind hier nicht in der Großstadt. Hier hat es noch nie ein Verbrechen gegeben.«
»Mit dieser Glückssträhne ist es jetzt vorbei. Können Sie mir Mrs Martins Telefonnummer geben?«
Er gab sie ihr, doch als sie die Nummer wählte, ging niemand an den Apparat.
Eine Weile lang stand Michelle mutterseelenallein mitten im Raum. Ihre ganze Arbeit, all die Jahre, in denen sie sich und allen anderen bewiesen hatte, dass sie ihr Fach beherrschte – alles für die Katz! Ihr blieb nicht einmal der Trost, mit ihrem Körper eine dem Kandidaten zugedachte tödliche Kugel abgefangen zu haben. Michelle Maxwell war nun Geschichte – und wusste genau, dass ihre Rolle beim Secret Service ebenfalls Geschichte war. Mit ihrer Karriere war es aus und vorbei.