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Jürgen Drews, 1933 in Berlin geboren, studierte Medizin, habilitierte sich und wurde Professor für Innere Medizin in Heidelberg und für Molekulare Genetik in New Jersey, USA. Von 1970 bis 1998 leitete er die weltweite Forschung und Entwicklung großer international tätiger Pharma-Firmen, zuletzt als Mitglied der Konzernleitung bei Hoffmann-La Roche. Er ist heute freiberuflich tätig und lebt in der Nähe von München und im Tessin. 2004 erhielt er den Beckmann Preis der American Laboratory Association für bedeutende Beiträge zur Arzneimittelforschung. Drews veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel und ist Autor und Herausgeber vieler Fachbücher, zum Beispiel »In Quest of Tomorrow’s Medicines« (Springer, New York, 2000). Daneben publizierte er mehrere Romane, unter anderem »El Mundo oder die Leugnung der Vergänglichkeit« (2003), »Menschengedenken« (2005), »Der Spiegelmord im Mörderspiel« (2006), »Wie wir den Krieg gewannen« (2007), »Jahresringe« (2008), »Der verschwundene Pianist« (2009) sowie Erzählungen und Gedichtbände.

Jürgen Drews

Unter der Himmelsuhr

Die Geschichte einer grenzenlosen Liebe

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Den Anstoß zu diesem Roman lieferte eine wahre Begebenheit. Dennoch ist die hier erzählte Geschichte frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten von Romanfiguren mit noch lebenden oder inzwischen verstorbenen Personen sind rein zufällig.

September 2010

Prolog


Sie waren getrennt gefahren. Zusammen in die S-Bahn zu steigen und dabei möglicherweise gesehen zu werden, wäre ihm unter den Umständen als zu riskant erschienen. Der vereinbarte Treffpunkt lag in der Nähe des Hellsees an einer Wegkreuzung im Wald, die sie von gemeinsamen Wanderungen her gut kannten. Der junge Mann stand schon dort, an einen Baum gelehnt, als Inge sich der Kreuzung näherte. Sie ging geradeaus, als hätte sie ihn gar nicht bemerkt. Als Inge an ihm vorübergegangen war, löste er sich aus seiner Wartestellung und kam mit ein paar raschen Schritten an ihre linke Seite. Dann gingen sie nebeneinander her, als befänden sie sich schon seit Stunden auf einem gemeinsamen Ausflug in die Umgebung Berlins.

»Also?«, fragte sie, ohne ihren Begleiter anzusehen. »Was hast du mir zu sagen?«

»Es muss Schluss sein«, sagte der junge Mann, »ich kann mich mit dir nicht mehr sehen lassen.«

Sie reagierte kaum. Nur ihr Gang wurde ein wenig schwerer.

»Jedenfalls vorläufig nicht«, fügte er hinzu.

»Was hat sich denn geändert?«

»Dein Bruder hat Republikflucht begangen, das hat sich geändert.«

»Aber Tinus«, das Mädchen blieb einen Augenblick lang stehen und sah dem jungen Mann ins Gesicht. »Das war allein seine Entscheidung. Ich hatte nichts damit zu tun, meine Eltern nicht, auch meine Geschwister nicht. Niemand von uns wusste etwas. Er hat das alleine ausgeheckt. Glaub mir das doch.«

Sie gingen weiter. Es war noch Spätsommer, aber der Tag war kühl, es hatte geregnet. Außerdem war heute Mittwoch. Sie trafen niemanden.

»Ob ich es glaube oder nicht, ist ziemlich gleichgültig. Die Stasi geht davon aus, dass zumindest deine Eltern etwas gewusst haben.«

Das Mädchen starrte beim Gehen geradeaus. Sie hatte die Hände in die Taschen ihres leichten Mantels gesteckt und den Kragen hochgeschlagen.

»Und das genügt dir, um mir den Laufpass zu geben! Weil die Stasi einen Verdacht hat, den sie nicht begründen können? Sie waren doch in unserer Wohnung, haben alles durchsucht und nichts Belastendes gefunden.« Sie schwieg ein paar Sekunden lang, dann brach es aus ihr heraus. »Nicht das Geringste haben sie gefunden. Als die bei uns auftauchten mit diesem Wisch, diesem Durchsuchungsbefehl, wusste keiner von uns, dass Helmuth abgehauen war. Wir waren völlig perplex.«

»Eben deswegen. Sie werden versuchen, Beweise zu finden. Sie werden euch beobachten, euer Telefon abhören, einige Leute auf euch ansetzen, auf deinen Vater, auf dich möglicherweise, um irgendeinen Hinweis zu bekommen.«

»Aber du?« Wieder blieb sie stehen. Etwas Flehentliches lag in ihrer Frage.

»Ich muss auf Distanz zu euch gehen, bis die Sache geklärt ist.« Er sagte es wie etwas Selbstverständliches.

»Auch zu mir?« Während sie langsam weiterging, hatte sie diese Frage fast geflüstert.

Eine Minute lang gingen sie schweigend nebeneinander her.

»Deswegen haben wir uns ja heute getroffen, hier im Wald, wo uns niemand sieht oder hört, damit ich dir das erkläre.«

Sie blieb stehen. »Und im Institut? In der Stadt?«

Er schüttelte den Kopf: »Wird man uns nicht mehr zusammen sehen.« Er wollte ihren Arm nehmen, um sie an sich zu ziehen, vielleicht, um ihr zu sagen, dass er sie immer noch liebe, dass wohl auch wieder bessere Zeiten kämen. Aber sie entzog sich und die Entschiedenheit, mit der sie das tat, zeigte ihm, dass er mit weiteren Erklärungsversuchen keinen Erfolg haben würde.

Sie setzten den Weg fort, ohne sich zu berühren. »Also hier im Wald, an einem Tag, an dem kein Mensch unterwegs ist, bist du noch mein Freund, willst mich sogar in den Arm nehmen, mich küssen, verstohlen natürlich, man muss ja sicher sein, dass einen wirklich niemand dabei beobachtet, was man mit dieser Bauer anstellt, die ja wohl Dreck am Stecken hat.« Ihre Stimme wurde lauter. »Man würde ja gern, im Bett war sie ja nicht schlecht, vielleicht wäre sie auch hier im Wald und auf der Heide …«

»Inge, bitte.« Er hatte sie laut unterbrochen.

»Verschone mich mit deinen Erklärungen. Hau ab jetzt. Ich habe genug.«

Aber der junge Mann geriet nicht aus der Fassung. Er hatte Inge Bauer noch etwas mitzuteilen. »Im Labor wird sich auch einiges ändern. Du kannst nicht mehr mit mir zusammenarbeiten. Ich habe Rehberger vorgeschlagen, dass du in die Gruppe von Elena eintrittst, sie wird dich unter ihre Fittiche nehmen.«

Inge schnaufte verächtlich durch die Nase. Aber ihr Begleiter ließ sich nicht beirren. »Wenn du dich mit Elena gut stellst, kannst du dich im Institut schnell rehabilitieren. Rehberger vertraut ihr.« Seine Stimme nahm einen persönlicheren Ton an: »Und dich mag er. Vermutlich würde er dir sogar glauben, was du mir eben erzählt hast.«

»Es reicht jetzt wirklich, Tinus. Bitte, geh.«

Er hatte gesagt, was er sagen musste. Nein, noch nicht alles. Etwas Versöhnliches zum Abschied. »Es kommen auch wieder bessere Tage.« Er tat einen Schritt auf sie zu, aber sie erstarrte sofort, als sei er ein Aussätziger.

»Na, dann.« Er wandte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Zunächst noch langsam, als wartete er darauf, noch einmal gerufen zu werden, dann immer schneller und entschiedener. Inge ging in die entgegengesetzte Richtung. Dann blieb sie stehen und sah ihm nach. Aber da lag nur der leere, von Buschwerk und Kiefern umstandene Weg. Sie setzte sich auf einen Baumstumpf und vergrub den Kopf in ihren Armen. Aus, dachte sie, alles aus. Und selbst das, überlegte sie sich, selbst etwas so Ursprüngliches und Menschliches wie das Ende einer Liebesbeziehung musste in der Einöde vollzogen werden, zwischen Bäumen und Sträuchern, die keine Ohren hatten und die nichts weitersagen würden.

Lange saß sie so. Irgendwann am späten Nachmittag brach die Sonne durch eine Lücke in der Wolkendecke und ließ die Kiefernstämme, die sie umstanden, rot aufglühen. Sie erhob sich, sah auf die Uhr. Eine Stunde Fußmarsch hatte sie bis zur nächsten S-Bahn-Station. Sie musste jetzt gehen, wenn sie noch vor Einbruch der Dunkelheit dort ankommen wollte.

Tinus – sie kannte ihn schon so lange. Sie hatten zusammen studiert, Gefallen aneinander gefunden, er hatte sich ihr und ihrer Familie angeschlossen. Ihre Mutter hatte den dunklen, hoch aufgeschossenen Jungen fast wie ein eigenes Kind in die Familie aufgenommen, was nahe lag, denn Tinus hatte selbst kein richtiges Zuhause. Die Eltern waren geschieden, beide hatten wieder geheiratet, der Vater irgendwo im Westen, die Mutter hier in Berlin.

Während Inge den Weg zurückging, durchlief sie in Gedanken die lange Lebensstrecke, die sie zusammen mit Tinus zurückgelegt hatte. Die ersten verstohlenen Zärtlichkeiten, die sie ausprobiert hatten, nachdem Tinus von einem langen Ferienaufenthalt mit einer FDJ-Gruppe zurückgekehrt war. Sehnig und braun hatte er da auf einmal gewirkt, nicht mehr wie ein großer Junge, sondern fast schon wie ein Mann. Und der wollte natürlich auf die Dauer mehr von ihr als Händchenhalten und ein paar Küsse. Trotzdem hatte es von diesem Zeitpunkt an noch ein Jahr gedauert, bis sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, in der Gartenlaube ihrer Eltern, draußen in Mahlsdorf. Danach hatten sie es immer wieder getan, so oft sich ihnen dazu eine Gelegenheit bot, in Mahlsdorf, auf Wanderungen, die sie unternahmen, oder in der Wohnung der Eltern, wenn niemand zu Hause war.

Durch die Kiefernstämme hindurch sah sie jetzt einige Häuser, dahinter lag die S-Bahn-Station. Tinus würde nun nicht mehr kommen. Bei dem Gedanken wurde ihr elend. Tinus hatte ihr gehört, aber auch der Familie. Für Werner und Helmuth war er fast wie ein Bruder, die Schwestern hatten Inge um Tinus beneidet und mit ihm gealbert und geflirtet, bis sie selbst Partner gefunden hatten, die diesen Spielen ein Ende setzten. Die Eltern hatten ihn fast als ihr sechstes Kind betrachtet. Sie selbst erlebte den Verlust doppelt. Sie hatte in Tinus ihren Freund verloren und die Familie einen Menschen, der einfach zu ihnen gehörte.

Wenn da nur nicht dieser Ehrgeiz gewesen wäre, dachte sie später, als sie schon im Zug saß. Der Ehrgeiz und dieser Opportunismus. In der FDJ musste er unbedingt Eindruck schinden, natürlich in die Partei eintreten. Vielleicht hatte er sich inzwischen auch mit der Stasi eingelassen. Lag das daran, dass er nie ein richtiges eigenes Zuhause gehabt hatte? Jetzt wunderte sie sich, dass es nicht schon früher zu Streit zwischen ihnen gekommen war, auch zwischen Tinus und den Eltern. Aber Tinus war immer liebenswürdig geblieben, auch wenn er und die Bauers in ihren Ansichten meilenweit auseinanderlagen.

Irgendetwas würde sie ihren Eltern ja sagen müssen, wenn Tinus plötzlich wegbliebe. Oder sollte er das selbst erledigen? Im Geist hörte sie ihn erklären: »Sie müssen das verstehen, Frau Bauer, Herr Professor. Dass der Helmuth abgehauen ist, das hat alle schockiert. Sie wissen ja, wie das bei uns läuft. Ich darf da nicht mit hineingezogen werden. Das kann ich mir einfach nicht leisten. Wenn sich alles beruhigt hat, komme ich wieder häufiger, wenn ich darf.« So wie sie ihren gutmütigen Vater einschätzte, hätte der sogar Verständnis für diese Einstellung. Und die Mutter? Die wohl nicht, jedenfalls nicht gleich. Allerdings: Auf lange Sicht tat sie ja immer, was ihr Mann wollte.

Der Zug näherte sich Berlin-Pankow. Sie musste aussteigen. Mit den Eltern könnte er dieses Spiel wohl treiben, dachte sie auf dem Weg nach Hause, aber mit ihr nicht.

Und dann stellte sie sich vor, wie der Mann sein müsste, dem sie sich ganz anvertrauen könnte. Aussehen dürfte er wie Tinus, ehrgeizig dürfte er auch sein. Aber Mut müsste er haben und einen starken Willen, sodass sie sich neben ihm geborgen fühlen konnte, geborgen und beschützt. So würde Tinus niemals sein.

»Nie«, sagte sie leise vor sich hin, als sie die Treppen zur elterlichen Wohnung emporstieg, »das steckt nicht in ihm drin.«

Nachts wurde sie wach. Ihre Mutter hatte sie so merkwürdig angesehen, als sie nach ihrem Ausflug in die Wohnung getreten war.

»Was ist mit dir?«

»Was soll sein?«

»Ich weiß nicht, du bist so blass.« Frau Bauer nahm ihre Tochter in den Arm. »Du siehst müde aus, Kind. Gehst du gleich ins Bett oder soll ich dir noch was zu Essen machen?«

»Nein, gleich ins Bett. Danke.«

Es war jetzt ganz still im Haus. Inge sah auf die Uhr. Ein Uhr früh. Sie hatte noch Zeit. Um sieben musste sie raus. Aber jetzt hatte sie Mühe mit dem Einschlafen. Ihre Gedanken fingen an zu kreisen. Was würde jetzt aus ihrer Westreise, die sie im Sommer beantragt hatte. Rehberger hatte sie fast dazu gedrängt. »Ich habe mir das Programm angesehen. Das wäre was für Sie. Da treten einige der besten Leukämieforscher auf. Franzosen, Amerikaner. Melden Sie sich, stellen Sie einen Antrag. Ich werde ihn unterstützen.«

Und nun? Nachdem Helmuth abgehauen war? Würde sie immer noch mit Rehbergers Unterstützung rechnen dürfen? Der Waldspaziergang von gestern ging ihr durch den Kopf. Elena Blumentritt sollte sie »unter ihre Fittiche nehmen.« Aber Elena hatte ganz andere Interessen. Musste sie ihr Gebiet jetzt aufgeben? Aber sie war die Einzige im Institut, die sich für chromosomale Abweichungen bei kindlichen Leukämien interessierte. Ich muss mit Rehberger sprechen, sagte sie sich.

Ausgerechnet Rehberger. In der Dunkelheit, die sie umgab, verstand sie sich selbst nicht mehr. Alle wussten, dass Rehberger ein eingefleischter Kommunist war. Nicht nur das: Er war auch ein Anhänger der DDR, und die Regierung benutzte ihn, den berühmten Biochemiker, als Aushängeschild, wo immer sich dazu eine Gelegenheit bot. Aber so war es nun einmal. Er war der einzige Mensch, der ihr helfen konnte. Hilfe, was war das? Etwas Klarheit, Schutz vor ungerechtfertigten Angriffen, die doch von den Organen des Staates kamen, in dem sie lebte und dem Rehberger loyal ergeben war. Ein Widerspruch, den sie sich nicht erklären konnte. Aber sie war ja auch müde und immer noch aufgewühlt von ihrem Gespräch am vergangenen Nachmittag. Helmuth fühlte sich jetzt hoffentlich besser als sie. Er war drüben, er hatte es hinter sich. Für ihn konnte es eigentlich nur noch besser werden. In diesem Augenblick beneidete sie ihn glühend. Gleichzeitig warf sie ihm vor, dass er die Familie weiter belastet hatte und dass er ihre eigenen Chancen, jemals aus diesem Gefängnis DDR herauszukommen, um irgendwo im Westen ganz neu anzufangen, durch seine Aktion fast unmöglich gemacht hatte. Auch so ein Widerspruch, der sie quälte.

Sie schaute wieder auf die Uhr. Fast zwei Uhr. Wenn sie so weitermachte, wäre sie morgen völlig erschöpft und zu nichts zu gebrauchen. Dabei musste sie ruhig wirken. Selbstsicher, wie jemand, der nichts zu verbergen hat. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Sandalen und ging in die Küche. Vorhin, als sie nach Hause kam, hatte sie nichts gegessen. Jetzt hatte sie Hunger. Vielleicht würde es helfen, wenn sie etwas äße und dazu auch etwas tränke, ein Bier, das würde sie ein wenig beruhigen. Ihr Zimmer lag der Küche gegenüber. Sie machte Licht und sah auf dem Küchentisch einen Zettel liegen. Ihre Mutter hatte ihn geschrieben.

»Inge, mein Kind, du hast vielleicht doch irgendwann noch Hunger. In der Speisekammer steht ein Teller mit ein paar belegten Broten für Dich.« Sie setzte sich an den Küchentisch, öffnete eine Flasche Bier und aß die belegten Brote, die ihre Mutter für sie bereitgestellt hatte. Das Bier schmeckte gut. Es beruhigte sie, und der Gedanke, dass sie längst nicht so allein und verlassen war, wie sie sich eben noch gefühlt hatte, tat ein Übriges. Der Hunger verschwand, eine angenehme Ruhe durchströmte sie, und der Gedanke an ihre Eltern, die so viel Schlimmeres durchgestanden hatten als sie selbst, spendete ihr Trost. Kurz nachdem sie sich wieder hingelegt hatte, war sie eingeschlafen.